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date Fri, 07 Dec 2012 17:05:22 +0100
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    <dcterms:creator identifier="GND:119083787">Bernstein, Aaron</dcterms:creator>
    <dcterms:title xml:lang="de">Naturwissenschaftliche Volksbücher, Bd. 6/11</dcterms:title>
    <dcterms:date xsi:type="dcterms:W3CDTF">1897</dcterms:date>
    <dcterms:language xsi:type="dcterms:ISO639-3">deu</dcterms:language>
    <dcterms:rights>CC-BY-SA</dcterms:rights>
    <dcterms:license xlink:href="http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/">CC-BY-SA</dcterms:license>
    <dcterms:rightsHolder xlink:href="http://www.mpiwg-berlin.mpg.de">Max Planck Institute for the History of Science, Library</dcterms:rightsHolder>
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<div xml:id="echoid-div2" type="section" level="1" n="2">
<head xml:id="echoid-head1" xml:space="preserve"><emph style="bf">Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher</emph> <lb/>von <lb/><emph style="bf">A. Bernſtein.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head2" xml:space="preserve"><emph style="bf">Fünfte, reich illuſtrierte Auflage.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head3" xml:space="preserve">Durchgeſehen und verbeſſert <lb/>von <lb/><emph style="bf">H. Hotonié</emph> und <emph style="bf">R. Hennig.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head4" xml:space="preserve">Sechster Ceil.</head>
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<div xml:id="echoid-div3" type="section" level="1" n="3">
<head xml:id="echoid-head5" xml:space="preserve"><emph style="bf">Berlin.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head6" xml:space="preserve">Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.</head>
<pb file="006" n="6"/>
<handwritten/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1" xml:space="preserve">Oas Recht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s2" xml:space="preserve"/>
</p>
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<p>
  <s xml:id="echoid-s3" xml:space="preserve">MAX-PLANCK-INSTITUT <lb/>FÜR WISSENSCHAFTS@E@@@ICHTE <lb/>Biblioth@k</s>
</p>
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</div>
<div xml:id="echoid-div4" type="section" level="1" n="4">
<head xml:id="echoid-head7" xml:space="preserve"><emph style="bf">Inhaltsverzeichnis.</emph></head>
<note position="right" xml:space="preserve"> <lb/># # Seite <lb/>I. # Wichtigkeit der Chemie fürs Leben . . . . . . . # 1 <lb/>II. # Sauerſtoff mit Kohle und mit Schwefel . . . . . . # 3 <lb/>III. # Sauerſtoff und Phosphor. — Sauerſtoff und Eiſen . . # 5 <lb/>IV. # Wie gewinnt man Sauerſtoff? . . . . . . . . . # 8 <lb/>V. # Was iſt eine ſogenannte chemiſche Verbindung? . . . # 11 <lb/>VI. # Die Verbrennung . . . . . . . . . . . . . # 14 <lb/>VII. # Die Lehre der Chemie über das Verbrennen . . . . # 16 <lb/>VIII. # Chemie allenthalben . . . . . . . . . . . . # 19 <lb/>IX. # Die Wanderung des Sauerſtoffes durch unſeren Körper . # 22 <lb/>X. # Atmen und Einheizen . . . . . . . . . . . . # 25 <lb/>XI. Die chemiſche Wärme . . . . . . . . . . . . # 27 <lb/>XII. # Die Chemie in aller Welt Händen . . . . . . . # 29 <lb/>XIII. # Verſuche mit einem Zündhölzchen . . . . . . . . # 32 <lb/>XIV. # Ein chemiſches Geſetz . . . . . . . . . . . . # 34 <lb/>XV. # Einiges vom Waſſerſtoff . . . . . . . . . . . # 37 <lb/>XVI. # Anleitung zu einem Verſuch . . . . . . . . . . # 39 <lb/>XVII. # Von der Zerlegung des Waſſers auf elektriſchem Wege . # 43 <lb/>XVIII. # Etwas vom Stickſtoff . . . . . . . . . . . . # 44 <lb/>XIX. # Die chemiſche Trägheit des Stickſtoffes und deren wohl-<lb/># thätige Folgen . . . . . . . . . . . . . # 47 <lb/>XX. # Merkwürdige Verbindungen des Stickſtoffs . . . . . # 50 <lb/>XXI. # Was iſt Kohlenſtoff? . . . . . . . . . . . . # 54 <lb/>XXII. # Kohle und Diamant . . . . . . . . . . . . # 58 <lb/>XXIII. # Sonderbare Eigenſchaften des Kohlenſtoffs . . . . . # 60 <lb/>XXIV. # Einige Verſuche mit Kohlenſäure . . . . . . . . # 63 <lb/>XXV. # Kleine Verſuche und große Folgerungen . . . . . . # 65 <lb/>XXVI. # Ein wenig organiſche Chemie . . . . . . . . . # 70 <lb/>XXVII. # Die wichtigen Aufgaben der organiſchen Chemie . . . # 73 <lb/></note>
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<pb o="1" file="009" n="9"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div5" type="section" level="1" n="5">
<head xml:id="echoid-head8" xml:space="preserve"><emph style="bf">I. Wichtigkeit der Chemie fürs Leben.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4" xml:space="preserve">Über keinen Zweig der Wiſſenſchaft herrſchen im Volke <lb/>ſo wunderbare und ſonderbare Begriffe wie über die Chemie.</s>
  <s xml:id="echoid-s5" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6" xml:space="preserve">In gebildeten und ungebildeten Kreiſen giebt es Unzählige, <lb/>die ſich vom Sauerſtoff eine Vorſtellung machen, als wäre <lb/>das etwas ſo Saures, daß Einem die Zähne weh thun, wenn <lb/>man es nur anſieht; </s>
  <s xml:id="echoid-s7" xml:space="preserve">als wäre Waſſerſtoff noch zehnmal naſſer <lb/>als Waſſer, und als wäre Stickſtoff ein Ding, daß alle <lb/>Menſchen daran erſticken, wenn es nur in die Stube hinein-<lb/>guckt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8" xml:space="preserve">Und doch ſind die Namen Sauerſtoff, Waſſerſtoff, Stick-<lb/>ſtoff ſo geläufig geworden, daß man ſie fortwährend gebrauchen <lb/>hört und man meinen müßte, es könnte kein Menſch auf der <lb/>Welt exiſtieren, der dieſe Dinge nicht in- und auswendig <lb/>genau kennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10" xml:space="preserve">In Wahrheit ſollte es keinen Menſchen geben, der nicht <lb/>mindeſtens Etwas von den einfachſten Elementen der Chemie <lb/>weiß. </s>
  <s xml:id="echoid-s11" xml:space="preserve">Die Chemie iſt in Wirklichkeit zu einer Grundquelle der <lb/>Naturwiſſenſchaft geworden. </s>
  <s xml:id="echoid-s12" xml:space="preserve">Wer ſich in derſelben nicht einiger-<lb/>maßen zurecht finden kann, der wird auf jedem Schritt der <lb/>Naturwiſſenſchaft unzähligen Dunkelheiten begegnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s13" xml:space="preserve">Es iſt in <lb/>vollem Sinne des Wortes wahr, daß unſer Atmen, unſer Eſſen, <lb/>das Wachstum der Pflanze, das Leben des Tieres, das Daſein <lb/>der Geſteine und die Bildung des Waſſers, mit einem Worte, <lb/>daß alles in der Welt durchdrungen iſt von einer Reihe fort-<lb/>währender chemiſcher Vorgänge, und daß kein Lichtſtrahl der</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s14" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s15" xml:space="preserve">Bernſtein, Naturw, Volksbücher VI.</s>
  <s xml:id="echoid-s16" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="2" file="010" n="10"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s17" xml:space="preserve">wirklichen Erkenntnis der Welt möglich iſt, wenn man im Reiche <lb/>der Chemie im Finſtern herumwandelt.</s>
  <s xml:id="echoid-s18" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s19" xml:space="preserve">Wir wollen nun den Verſuch machen, in einer Reihe von <lb/>Artikeln ein wenig Chemie den Leſern vorzuführen. </s>
  <s xml:id="echoid-s20" xml:space="preserve">Wir wollen <lb/>aber von vornherein die Schwierigkeiten aufdecken, mit denen <lb/>wir und auch der Leſer hierbei wird zu kämpfen haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s21" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s22" xml:space="preserve">Die Chemie iſt eigentlich die Wiſſenſchaft von den Grund-<lb/>ſtoffen aller Dinge. </s>
  <s xml:id="echoid-s23" xml:space="preserve">Das heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s24" xml:space="preserve">die Chemie lehrt, aus welchen <lb/>einfachen Dingen jedes Ding in der Welt zuſammengeſetzt iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s25" xml:space="preserve">Sie lehrt die Dinge zerlegen in ihre einfachſten Beſtandteile <lb/>und auch wieder, ſo weit es geht, aus den einfachſten Beſtand-<lb/>teilen zuſammenſetzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s26" xml:space="preserve">Könnten wir nun vor jeden unſerer <lb/>Leſer hintreten mit irgend einem Ding in der Hand, und wäre <lb/>es auch nur ein wenig gewöhnliches Kochſalz, und könnten ihm <lb/>zeigen: </s>
  <s xml:id="echoid-s27" xml:space="preserve">Sieh her, dieſes Salz, von dem wir täglich ganze <lb/>Maſſen genießen, es beſteht aus zwei ganz kurioſen Grundſtoffen, <lb/>von denen der eine eine giftige Luftart und der andere ein <lb/>Metall, ein wirkliches Metall iſt, — könnten wir hierzu vor <lb/>ſeinen Augen zeigen, daß es ſo iſt, indem wir die Zerlegung <lb/>auf chemiſchen Wege vornehmen, bis beide Grundſtoffe entſtehen, <lb/>— ſo würde dieſer einzige Verſuch allein ſchon hinreichen, einen <lb/>ganz bedeutenden Blick in das Weſen der Chemie darzubieten. </s>
  <s xml:id="echoid-s28" xml:space="preserve"><lb/>Die Verſtändigung über alles Übrige würde dadurch ungeheuer <lb/>erleichtert.</s>
  <s xml:id="echoid-s29" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s30" xml:space="preserve">Leider aber können wir nicht ſo vor den leibhaftigen Augen <lb/>unſerer Leſer Verſuche machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s31" xml:space="preserve">Wir müſſen das, was man <lb/>mit einem Blick ſehen kann, mit vielen, vielen Worten durch <lb/>Beſchreibung deutlich zu machen ſuchen — eine Arbeit, die <lb/>gerade in dieſem Fache ſehr ſchwierig iſt — und müſſen dabei <lb/>uoch vom Leſer hoffen, daß er ſich gleichfalls einige Mühe <lb/>gebe, und durch beſondere Aufmerkſamkeit dem Verſtändnis ent-<lb/>gegenkommen möge.</s>
  <s xml:id="echoid-s32" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s33" xml:space="preserve">Darum aber wollen wir nur um ſo mutiger daran gehen
<pb o="3" file="011" n="11"/>
und unſeren Leſern, wenn auch nicht gleich eine Handvoll <lb/>Kochſalz, ſo doch wenigſtens etwas Sauerſtoff vorführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s34" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div6" type="section" level="1" n="6">
<head xml:id="echoid-head9" xml:space="preserve"><emph style="bf">II. Sauerſtoff mit Kohle und mit Schwefel.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s35" xml:space="preserve">Sehen wir uns einmal an, was denn eigentlich Sauer-<lb/>ſtoff iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s36" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s37" xml:space="preserve">Geſetzt, es brächte jemand einem Unkundigen eine Flaſche <lb/>voll Sauerſtoff, ſo würde dieſer ſicherlich behaupten, es ſei <lb/>eine leere Flaſche. </s>
  <s xml:id="echoid-s38" xml:space="preserve">Er würde die Flaſche ſchütteln und finden, <lb/>daß garnichts darin iſt, denn Sauerſtoff iſt wie Luft durch-<lb/>ſichtig und farblos. </s>
  <s xml:id="echoid-s39" xml:space="preserve">Er würde den Stöpſel aufmachen und <lb/>daran riechen; </s>
  <s xml:id="echoid-s40" xml:space="preserve">aber auch da nichts finden, denn Sauerſtoff iſt <lb/>ein geruchloſes Gas. </s>
  <s xml:id="echoid-s41" xml:space="preserve">Er würde die Zunge hineinſtecken, um <lb/>davon etwas zu ſchmecken; </s>
  <s xml:id="echoid-s42" xml:space="preserve">aber auch da nicht die Spur ent-<lb/>decken, denn Sauerſtoff iſt auch ein geſchmackloſes Gas. </s>
  <s xml:id="echoid-s43" xml:space="preserve">Das <lb/>heißt, es ſchmeckt nicht etwa ſchlecht, ſondern garnicht.</s>
  <s xml:id="echoid-s44" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s45" xml:space="preserve">Und doch wird der Unkundige Mund und Augen auf-<lb/>ſperren, wenn er durch eigene Verſuche erſt ſehen wird, was <lb/>denn mit dieſem Sauerſtoff eigentlich los iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s46" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s47" xml:space="preserve">Wir wollen uns einmal ein paar Verſuche derart anſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s48" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s49" xml:space="preserve">Man nimmt ein Stückchen Holzkohle und ſteckt’s auf einen <lb/>Draht, zündet es an, daß es ein wenig glimmt und ſteckt es <lb/>ſo in die Flaſche mit Sauerſtoff, und ſofort wird man ſehen, <lb/>wie die Kohle mit wundervoll lebhafter Flamme darin zu <lb/>brennen anfängt. </s>
  <s xml:id="echoid-s50" xml:space="preserve">Zieht man’s ſchnell heraus, ſo glimmt’s <lb/>wieder nur, ſteckt man’s wieder hinein, ſo flackert’s wieder leb-<lb/>haft auf, bis die Kohle ganz und gar verzehrt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s51" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s52" xml:space="preserve">Alſo in der Flaſche muß doch etwas anderes ſein als ge-<lb/>wöhnliche Luft!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s53" xml:space="preserve">Wie aber, wenn man viel Kohle zu dieſem Verſuche <lb/>nimmt? </s>
  <s xml:id="echoid-s54" xml:space="preserve">Wird ſie immerfort ſo ſchön verbrennen? </s>
  <s xml:id="echoid-s55" xml:space="preserve">Dies wird
<pb o="4" file="012" n="12"/>
nicht der Fall ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s56" xml:space="preserve">Es wird nur eine beſtimmte Maſſe von <lb/>Holzkohle in der Flaſche verbrennen, und dann iſt es aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s57" xml:space="preserve">Der <lb/>Verſuch kann nicht wiederholt werden, wenn man nicht neuen <lb/>Sauerſtoff in die Flaſche hineinthut; </s>
  <s xml:id="echoid-s58" xml:space="preserve">denn es iſt kein Sauerſtoff <lb/>mehr drinnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s59" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s60" xml:space="preserve">Wo aber, muß der Unkundige fragen, iſt der Sauerſtoff <lb/>geblieben? </s>
  <s xml:id="echoid-s61" xml:space="preserve">Und wo iſt eigentlich der Teil Kohle geblieben, <lb/>der darin rein aufgebrannt iſt? </s>
  <s xml:id="echoid-s62" xml:space="preserve">Und endlich, was iſt denn <lb/>jetzt in der Flaſche drin? </s>
  <s xml:id="echoid-s63" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s64" xml:space="preserve">Hierauf wird ihm der Kundige antworten: </s>
  <s xml:id="echoid-s65" xml:space="preserve">Der Sauerſtoff <lb/>iſt nicht verſchwunden, und die Kohle iſt nicht verſchwunden, <lb/>ſondern beides iſt noch immer in der Flaſche, und zwar iſt in <lb/>der Flaſche jetzt eine neue Luftart, die man Kohlenſäure nennt, <lb/>weil eben dieſe Luftart beſteht aus Kohlen- und Sauerſtoff, <lb/>die ſich chemiſch verbunden haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s66" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s67" xml:space="preserve">Gewiß wird der Unkundige hierüber ſtaunen und über das, <lb/>was man chemiſche Verbindung nennt, eine Aufklärung haben <lb/>wollen; </s>
  <s xml:id="echoid-s68" xml:space="preserve">denn das muß doch ein ganz eigentümlich Ding ſein, <lb/>wenn es eine ſchwarze, rußige Kohle mit der klaren, durch-<lb/>ſichtigen Luftart, wie der Sauerſtoff, ſo durcheinander arbeiten <lb/>kann, daß aus beiden zuſammen eine neue Luft wird, die gar-<lb/>nicht ein bißchen rußig iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s69" xml:space="preserve">Aber ohne Zweifel wird der <lb/>Kundige ſagen: </s>
  <s xml:id="echoid-s70" xml:space="preserve">Halt ein, Freund, mit Fragen, das ſoll Dir <lb/>alles ſchon ſpäter klar werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s71" xml:space="preserve">für jetzt wollen wir noch ein <lb/>paar andere Verſuche machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s72" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s73" xml:space="preserve">Und wir wollen’s auch ſo machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s74" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s75" xml:space="preserve">Wir nehmen nun eine neue Flaſche voll Sauerſtoff und <lb/>ſtecken ſtatt der Kohle ein paar Schwefelfäden an den Eiſendraht, <lb/>zünden dieſe an und ſtecken ſie brennend in die Flaſche. </s>
  <s xml:id="echoid-s76" xml:space="preserve">Sofort <lb/>wird man ſehen, daß der Schwefel in wundervoller, blauer <lb/>Flamme verbrennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s77" xml:space="preserve">— Wenn man damit fertig iſt, ſo wird <lb/>man bemerken, daß wieder der Sauerſtoff fort iſt, denn weder <lb/>Kohle noch Schwefel wollen in der Flaſche brennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s78" xml:space="preserve">Auch
<pb o="5" file="013" n="13"/>
vom Schwefel iſt ein Teil weg; </s>
  <s xml:id="echoid-s79" xml:space="preserve">dafür aber iſt in dieſer Flaſche <lb/>eine neue Luftart, die ſehr ſtechend riecht, und von der jeder <lb/>am Geruch erkennen wird, daß dies ſo etwas von Schwefelſäure <lb/>ſein muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s80" xml:space="preserve">Und wirklich iſt die Luftart etwas Derartiges, es <lb/>iſt ſchweflige Säure, die man, wie wir ſpäter erfahren werden, <lb/>in wirkliche, flüſſige Schwefelſäure verwandeln kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s81" xml:space="preserve">— Genug, <lb/>wir haben hier wieder einen Fall, wo ſich ein feſter Körper, <lb/>Schwefel, mit einem luftförmigen, Sauerſtoff, chemiſch verbunden <lb/>hat und dadurch iſt eine neue Luftart entſtanden, die nicht wie <lb/>Schwefel riecht und nicht wie Sauerſtoff geruchlos iſt, ſondern <lb/>einen ſtechenden, das Atmen erſchwerenden Geruch hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s82" xml:space="preserve">— Ja, <lb/>wenn wir verſichern, daß man aus Schwefel und aus Sauer-<lb/>ſtoff wirkliche Schwefelſäure macht und alle Schwefelſäure in <lb/>der Welt nur aus dieſen Dingen gemacht worden iſt, ſo wird <lb/>man geſtehen müſſen, daß es um die Chemie etwas ganz <lb/>Wunderliches iſt, denn ſie kann eine Luftart und einen feſten <lb/>Körper mit einander ſo verbinden, daß daraus eine Flüſſigkeit <lb/>entſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s83" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s84" xml:space="preserve">Doch wir können uns jetzt auch bei der Erklärung dieſes <lb/>Vorganges noch nicht aufhalten, ſondern wollen im nächſten <lb/>Abſchnitte noch einen dritten Verſuch mit dem Sauerſtoff an-<lb/>ſtellen.</s>
  <s xml:id="echoid-s85" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div7" type="section" level="1" n="7">
<head xml:id="echoid-head10" xml:space="preserve"><emph style="bf">III. Sauerſtoff und Phosphor. — Sauerſtoff</emph> <lb/><emph style="bf">und Eiſen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s86" xml:space="preserve">Der Verſuch, den wir jetzt mit dem Sauerſtoff anſtellen, <lb/>beſteht darin, daß wir ihn einmal mit Phosphor in Verbindung <lb/>bringen wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s87" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s88" xml:space="preserve">Die früher gewöhnlichen Schwefelhölzchen, die man durch <lb/>Reibung zum Brennen bringt, erhalten dieſe Eigenſchaft eben <lb/>durch den Phosphor, in welchen man ihre Spitze eingetaucht hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s89" xml:space="preserve">
<pb o="6" file="014" n="14"/>
Phosphor iſt ſo leicht entzündlich, daß er durch die Wärme, <lb/>welche beim Reiben entſteht, in Brand gerät. </s>
  <s xml:id="echoid-s90" xml:space="preserve">Der brennende <lb/>Phosphor bringt nun den Schwefel in Brand, mit welchem jedes <lb/>Zündhölzchen überzogen iſt, und der Schwefel zündet wiederum <lb/>das Hölzchen ſelber an. </s>
  <s xml:id="echoid-s91" xml:space="preserve">Der Phosphor iſt es, den man leuchten <lb/>ſieht, wenn man im Finſtern mit der warmen Hand über die <lb/>Zündhölzchen fährt. </s>
  <s xml:id="echoid-s92" xml:space="preserve">Man bemerkt ſowohl über dem Zünd-<lb/>hölzchen wie auf der Hand einen leuchtenden Nebel ſchwimmen, <lb/>der eben nichts iſt als der ſehr leicht brennende Phosphor. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s93" xml:space="preserve">Allein an unſeren Zündhölzchen iſt der Phosphor nicht rein, <lb/>und hat außerdem noch einen Lacküberzug, damit die Ent-<lb/>zündung nicht gar zu leicht geſchehe, was viel Unglück ver-<lb/>anlaſſen würde. </s>
  <s xml:id="echoid-s94" xml:space="preserve">Ein reines Stückchen Phosphor iſt weiß und <lb/>weich wie Wachs; </s>
  <s xml:id="echoid-s95" xml:space="preserve">und ein ſolches Stückchen, ungefähr ſo groß <lb/>wie eine Erbſe, wollen wir zu unſerem jetzigen Verſuche ver-<lb/>wenden.</s>
  <s xml:id="echoid-s96" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s97" xml:space="preserve">Bringt man ſolch ein Stückchen Phosphor an einen Draht <lb/>an und hält ihn in die Flaſche, die mit Sauerſtoff gefüllt iſt, <lb/>ſo braucht man den Phosphor nur mit einer erwärmten Strick-<lb/>nadel zu berühren, um ihn in Brand zu bringen, und der <lb/>Phosphor brennt in dem Sauerſtoff mit einem herrlich leuch-<lb/>tenden Glanz, der das Auge faſt blendet und den Eindruck <lb/>des Sonnenlichts auf dasſelbe macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s98" xml:space="preserve">Hierbei füllt ſich die <lb/>Flaſche mit einem weißen Rauch an, der, wenn man die Flaſche <lb/>ruhig ſtehen läßt, ſich zu Boden legt, und wenn man vorher <lb/>etwas Waſſer in die Flaſche gethan hat, ſich mit dem Waſſer <lb/>miſcht und dieſem einen ſauren Geſchmack giebt.</s>
  <s xml:id="echoid-s99" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s100" xml:space="preserve">Auch bei dieſem Verſuch iſt der Sauerſtoff fort und der <lb/>Phosphor fort; </s>
  <s xml:id="echoid-s101" xml:space="preserve">aber ſie ſind nicht verſchwunden, ſondern ſie <lb/>haben ſich chemiſch verbunden und haben einen nebligen Stoff <lb/>gebildet, der, weil er eben aus Sauerſtoff und Phosphor be-<lb/>ſteht, den Namen Phosphorſäure führt.</s>
  <s xml:id="echoid-s102" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s103" xml:space="preserve">Man wird nun ſchon einſehen, weshalb das Gas, mit
<pb o="7" file="015" n="15"/>
dem wir eben die Verſuche anſtellen, den Namen Sauerſtoff <lb/>hat, denn in der That iſt es dieſe Luft, die in Verbindung <lb/>mit Kohle, mit Schwefel und mit Phosphor und noch vielen <lb/>anderen Dingen Stoffe erzeugt, die einen ſaueren Geſchmack <lb/>haben, und wir werden ſpäter ſehen, daß es der Sauerſtoff <lb/>wirklich iſt, der auch andere Dinge ſauer macht, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s104" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s105" xml:space="preserve">das <lb/>Bier, die Milch, wenn ſie lange offen geſtanden haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s106" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s107" xml:space="preserve">Wir werden ſogleich den merkwürdigen Sauerſtoff noch <lb/>gründlicher kennen lernen, wollen aber für jetzt noch einen ſehr <lb/>intereſſanten Verſuch mit ihm machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s108" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s109" xml:space="preserve">Man nehme einen feinen Eiſendraht und drehe ihn ſo <lb/>über einen Bleiſtift, daß der Draht wie ein Pfropfenzieher <lb/>ausſieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s110" xml:space="preserve">Nun ziehe man den Bleiſtift heraus und ſtecke <lb/>unten an das Ende dieſes künſtlichen Pfropfenziehers ein <lb/>Stückchen Feuerſchwamm. </s>
  <s xml:id="echoid-s111" xml:space="preserve">Zündet man dieſen Schwamm an <lb/>und ſteckt ihn mit dem Draht hinein in eine Flaſche, die mit <lb/>Sauerſtoff gefüllt iſt, ſo fängt erſt der Schwamm an lebhaft <lb/>zu brennen; </s>
  <s xml:id="echoid-s112" xml:space="preserve">dann aber zündet er auch den Draht ſelbſt an, <lb/>und dieſer fängt an zu glühen und Funken zu ſprühen, als <lb/>ob er ein leichtes Stückchen trockenes Holz wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s113" xml:space="preserve">Ja, der <lb/>Draht verbrennt vollſtändig und fällt in kleinen Kügelchen <lb/>auf den Boden der Flaſche, und dieſe Kügelchen ſind ſo furcht-<lb/>bar heiß, daß ſelbſt, wenn ein wenig Waſſer unten in der <lb/>Flaſche iſt, die Kügelchen im Waſſer nicht erkalten, ſondern ſich <lb/>in den Boden der Flaſche einſenken und in dem Glaſe ein-<lb/>ſchmelzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s114" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s115" xml:space="preserve">Aus dieſem intereſſanten Verſuch ſieht man, daß nicht <lb/>nur Kohle, Schwefel und Phosphor im Sauerſtoff lebhafter <lb/>brennen als in der gewöhnlichen Luft, ſondern daß auch Eiſen, <lb/>welches in der gewöhnlichen Luft ſofort zu glühen aufhört, <lb/>ſowie man es aus dem Feuer nimmt, im Sauerſtoff fortglüht <lb/>und rein verbrennt, als wäre es ein Streifchen Holz.</s>
  <s xml:id="echoid-s116" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s117" xml:space="preserve">Auch bei dieſem Verſuch iſt der Sauerſtoff aus der Flaſche
<pb o="8" file="016" n="16"/>
fort, und ebenſo iſt das Eiſen verbrannt: </s>
  <s xml:id="echoid-s118" xml:space="preserve">dafür aber hat man <lb/>die Kügelchen, die herabgefallen ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s119" xml:space="preserve">und woraus beſtehen <lb/>dieſe Kügelchen? </s>
  <s xml:id="echoid-s120" xml:space="preserve">Sie beſtehen wirklich aus Eiſen in chemiſcher <lb/>Verbindung mit Sauerſtoff. </s>
  <s xml:id="echoid-s121" xml:space="preserve">— Man kann es beweiſen, daß <lb/>dies ſo iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s122" xml:space="preserve">Wenn man nämlich den Eiſendraht vor dem Ver-<lb/>ſuch ganz genau gewogen hat, und man auch weiß, daß man <lb/>etwa 1 Gramm Sauerſtoff in der Flaſche hatte, ſo wird man <lb/>finden, daß der Sauerſtoff ganz verzehrt iſt und die Kügelchen <lb/>und der etwaige Reſt vom Draht jetzt netto 1 Gramm mehr <lb/>wiegen als vor dem Verſuch.</s>
  <s xml:id="echoid-s123" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s124" xml:space="preserve">Wir wollen nun vorläufig keine neuen Verſuche vor-<lb/>nehmen, ſondern die Erklärung all’ derſelben unſern Leſern <lb/>vorführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s125" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div8" type="section" level="1" n="8">
<head xml:id="echoid-head11" xml:space="preserve"><emph style="bf">IV. Wie gewinnt man Sauerſtoff?</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s126" xml:space="preserve">Bevor wir weiter gehen in unſeren Mitteilungen über <lb/>den Sauerſtoff, müſſen wir erſt eine Frage beantworten, die <lb/>gewiß ſchon vielen unſerer Leſer mehrmals auf der Zunge ge-<lb/>ſchwebt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s127" xml:space="preserve">Wir meinen die Frage: </s>
  <s xml:id="echoid-s128" xml:space="preserve">Wo bekommt man denn <lb/>eine Flaſche voll Sauerſtoff her?</s>
  <s xml:id="echoid-s129" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s130" xml:space="preserve">Den Sauerſtoff findet man überall, aber nirgend in der <lb/>Natur rein, das heißt, unvermiſcht und unverbunden mit <lb/>anderen Stoffen. </s>
  <s xml:id="echoid-s131" xml:space="preserve">Reines Sauerſtoffgas muß man ſich erſt <lb/>künſtlich darſtellen, wenn man es haben will.</s>
  <s xml:id="echoid-s132" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s133" xml:space="preserve">Die Luft, die die ganze Erde umgiebt, die Luft, die in <lb/>unſeren Stuben, auf den Straßen, in Wald und Feld und <lb/>Garten iſt, beſteht aus Sauerſtoff, aber dieſer Sauerſtoff iſt <lb/>mit einer zweiten Luftart gemiſcht, die man Stickſtoff nennt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s134" xml:space="preserve">Sauerſtoff und Stickſtoff beiſammen atmen wir fortwährend <lb/>ein, und zwar beſteht der größte Teil der Luft aus vier Teilen <lb/>Stickſtoff und einem Teil Sauerſtoff, die untereinander gemengt
<pb o="9" file="017" n="17"/>
ſind und die merkwürdigerweiſe ſich allenthalben in ſolchem <lb/>Verhältnis mengen. </s>
  <s xml:id="echoid-s135" xml:space="preserve">Alexander von Humboldt hat ſchon <lb/>vor ſechzig Jahren Proben angeſtellt und die Luft in den <lb/>überfüllteſten Theatern in Paris, auf den höchſten Spitzen der <lb/>Berge der Erde, und in den höchſten Regionen der Luft, welche <lb/>er mit Luftballons erreichen konnte, unterſucht, und hat das <lb/>merkwürdige Reſultat gefunden, daß allenthalben die Luft <lb/>genau aus derſelben Miſchung beſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s136" xml:space="preserve">Die verdorbene Luft in <lb/>Theatern und überfüllten Räumen rührt nur daher, daß ſich <lb/>noch andere Stoffe der Luft beimiſchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s137" xml:space="preserve">Das Verhältnis des <lb/>Stickſtoffs zum Sauerſtoff bleibt aber merkwürdigerweiſe allent-<lb/>halben dasſelbe.</s>
  <s xml:id="echoid-s138" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s139" xml:space="preserve">Genug, es fehlt nicht an Sauerſtoff; </s>
  <s xml:id="echoid-s140" xml:space="preserve">aber ihn rein zu er-<lb/>halten, das iſt ein Kunſtſtück, das nur der Chemiker kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s141" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s142" xml:space="preserve">Das Kunſtſtück wäre ſehr leicht, wenn man nur wüßte, <lb/>wie man den Stickſtoff fortbringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s143" xml:space="preserve">Jede leere Flaſche iſt be-<lb/>kanntlich nicht leer, ſondern es iſt Luft darin, das heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s144" xml:space="preserve">in <lb/>der Flaſche ſtecken vier Teile Stickſtoff und ein Teil Sauer-<lb/>ſtoff. </s>
  <s xml:id="echoid-s145" xml:space="preserve">Erfände nun ein Menſch ein Ding, das die Eigenſchaft <lb/>hätte, nur Stickſtoff in ſich einzuſaugen und keinen Sauerſtoff, <lb/>ſo brauchte man nur dies Ding in die Flaſche zu werfen, <lb/>dieſe zuzuſtopfen, und nach einer Weile, wenn aller Stickſtoff <lb/>aufgeſogen iſt, wäre in der Flaſche wirklich reiner Sauerſtoff <lb/>vorhanden. </s>
  <s xml:id="echoid-s146" xml:space="preserve">Aber das Ding iſt noch nicht erfunden und wird <lb/>vielleicht nie erfunden werden, obgleich dieſe Erfindung die <lb/>größte der Welt wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s147" xml:space="preserve">Es iſt nämlich eigentümlich, daß alles, <lb/>was wir in der Welt kennen, weit eher den Sauerſtoff an ſich <lb/>zieht, als den Stickſtoff.</s>
  <s xml:id="echoid-s148" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s149" xml:space="preserve">Wir haben es geſehen, daß ſich Kohle mit Sauerſtoff <lb/>verbindet und Kohlenſäure bildet, desgleichen wie es Schwefel, <lb/>Phosphor und Eiſen thue. </s>
  <s xml:id="echoid-s150" xml:space="preserve">Es thun dies aber alle Dinge <lb/>in der Welt, die wir kennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s151" xml:space="preserve">Unter gewiſſen Umſtänden ver-<lb/>binden ſich alle Stoffe leicht mit Sauerſtoff; </s>
  <s xml:id="echoid-s152" xml:space="preserve">aber bei weitem
<pb o="10" file="018" n="18"/>
ſchwerer mit dem Stickſtoff. </s>
  <s xml:id="echoid-s153" xml:space="preserve">Daher kommt es denn, daß man <lb/>ſehr leicht reinen Stickſtoff darſtellen kann, aber nicht ſo leicht <lb/>reinen Sauerſtoff.</s>
  <s xml:id="echoid-s154" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s155" xml:space="preserve">Will man nun aber reinen Sauerſtoff haben, ſo muß man <lb/>dies künſtlich anſtellen.</s>
  <s xml:id="echoid-s156" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s157" xml:space="preserve">Wir wollen nun einen ſolchen Verſuch anführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s158" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s159" xml:space="preserve">Es giebt ein rotes Pulver, das den Namen hat: </s>
  <s xml:id="echoid-s160" xml:space="preserve">Queck-<lb/>ſilber-Oxyd, und dies beſteht aus Queckſilber und Sauerſtoff, <lb/>die chemiſch verbunden ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s161" xml:space="preserve">Queckſilber hat gewiß ſchon jeder <lb/>unſerer Leſer geſehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s162" xml:space="preserve">dieſes flüſſige, ſchwere Metall kann man <lb/>in Salpeterſäure auflöſen und durch weitere chemiſche Be-<lb/>handlung dahin bringen, daß es zu einem roten Pulver wird, <lb/>das, beiläufig geſagt, ſehr giftig iſt, dem aber kein Menſch <lb/>anſehen wird, daß dies Queckſilber geweſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s163" xml:space="preserve">Dieſes Queckſilber <lb/>hat nun ebenſo Sauerſtoff in ſich aufgenommen, wie es bei den <lb/>Kügelchen der Fall war, die während des Verbrennens des <lb/>Eiſendrahtes entſtanden ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s164" xml:space="preserve">— Und dieſer Sauerſtoff eben <lb/>kann durch Hitze wieder ausgetrieben und durch geeignete Vor-<lb/>richtungen aufgefangen werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s165" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s166" xml:space="preserve">Wie man das macht, das kann man durch bloße Be-<lb/>ſchreibung nicht gut deutlich zeigen, genug, wenn unſere Leſer <lb/>ſich das eine merken, daß man des Sauerſtoffs nicht rein <lb/>habhaft werden kann, wenn man ihn nicht aus einer chemiſchen <lb/>Verbindung treibt, in welcher er mit einem anderen Stoff ſich <lb/>befindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s167" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s168" xml:space="preserve">Nun aber iſt es hohe Zeit, ſich klar zu machen: </s>
  <s xml:id="echoid-s169" xml:space="preserve">was iſt <lb/>denn das: </s>
  <s xml:id="echoid-s170" xml:space="preserve">eine chemiſche Verbindung? </s>
  <s xml:id="echoid-s171" xml:space="preserve">— Warum iſt der <lb/>Stickſtoff ſo eigenſinnig, ſich nicht zu verbinden und warum <lb/>der Sauerſtoff ſo gutwillig, allenthalben eine Verbindung ein-<lb/>zugehen?</s>
  <s xml:id="echoid-s172" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s173" xml:space="preserve">Wir haben geſehen, daß ſich Kohle verbindet mit Sauer-<lb/>ſtoff, Schwefel verbindet mit Sauerſtoff, daß Phosphor, Eiſen, <lb/>Queckſilber ſich mit Sauerſtoff verbinden, und können noch ver-
<pb o="11" file="019" n="19"/>
ſichern, daß auch Silber, Kupfer, Blei, Zink und noch viel, <lb/>viel andere Dinge die Verbindung mit Sauerſtoff eingehen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s174" xml:space="preserve">Wie iſt es denn nun, wenn ſich mehrere Dinge dem Sauer-<lb/>ſtoff darbieten, mit denen er ſich verbinden kann, — kann man <lb/>da auch ſagen, welche Verbindung er vorziehen wird?</s>
  <s xml:id="echoid-s175" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s176" xml:space="preserve">Das ſind Fragen, die uns, verehrter Leſer, ſchon ein <lb/>ganzes Stück tief in die Chemie hineinführen; </s>
  <s xml:id="echoid-s177" xml:space="preserve">und darum <lb/>eben wollen wir daran gehen, dieſe Fragen zu ordnen und <lb/>möglichſt klar zu beantworten.</s>
  <s xml:id="echoid-s178" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div9" type="section" level="1" n="9">
<head xml:id="echoid-head12" xml:space="preserve"><emph style="bf">V. Was iſt eine ſogenannte chemiſche Verbindung?</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s179" xml:space="preserve">Wir wollen es vorerſt einmal klar zu machen ſuchen, was <lb/>denn eigentlich eine chemiſche Verbindung iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s180" xml:space="preserve">wir werden da-<lb/>durch in den Stand geſetzt werden, die äußerſt wichtige Ver-<lb/>bindung des Sauerſtoffs mit andern Stoffen unſern Leſern <lb/>deutlicher zu machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s181" xml:space="preserve">Vorerſt aber müſſen wir eine Haupt-<lb/>frage der Chemie etwas näher kennen lernen.</s>
  <s xml:id="echoid-s182" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s183" xml:space="preserve">Faſt alle Dinge, die man im gewöhnlichen Leben oder <lb/>in der Natur zu Geſichte bekommt, ſind nicht einfache Stoffe, <lb/>ſondern ſie ſind zuſammengeſetzt aus verſchiedenen Stoffen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s184" xml:space="preserve">Nur einzelne Metalle, wie Gold, Silber, Kupfer, Eiſen, Blei, <lb/>Zink u. </s>
  <s xml:id="echoid-s185" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s186" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s187" xml:space="preserve">ſind einfache Stoffe, und kommen im gewöhnlichen <lb/>Leben vor.</s>
  <s xml:id="echoid-s188" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s189" xml:space="preserve">Die Chemie hat ſich aber die Aufgabe geſtellt, herauszu-<lb/>bringen, aus wie viel einzelnen Stoffen eigentlich die Welt be-<lb/>ſteht und hat zu dieſem Zweck alles, was nur zu haben iſt, <lb/>der Unterſuchung unterworfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s190" xml:space="preserve">Bei dieſer Unterſuchung fand <lb/>ſich denn, daß all die vielen Millionen Dinge, die auf Erden <lb/>vorhanden ſind, nur beſtehen aus verhältnismäßig wenigen ein-<lb/>fachen Stoffen, die, in verſchiedener Weiſe mit einander ver-<lb/>bunden, die verſchiedenſten Dinge in der Welt bilden.</s>
  <s xml:id="echoid-s191" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="12" file="020" n="20"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s192" xml:space="preserve">Man nennt dieſe einfachen, unzerlegbaren Stoffe Elemente, <lb/>und man hat bisher 73 derartige Elemente kennen gelernt, von <lb/>denen freilich eine ſehr große Anzahl nur ganz ſelten vorkommt.</s>
  <s xml:id="echoid-s193" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s194" xml:space="preserve">Wir haben ſchon das Beiſpiel mit dem Kochſalz angeführt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s195" xml:space="preserve">Wer in aller Welt würde glauben, daß Kochſalz aus zwei <lb/>Elementen gemacht iſt, von denen das eine ein Metall und <lb/>das andere eine Luftart iſt? </s>
  <s xml:id="echoid-s196" xml:space="preserve">und doch iſt es ſo. </s>
  <s xml:id="echoid-s197" xml:space="preserve">Das <lb/>Metall heißt Natrium, und die Luftart heißt Chlor. </s>
  <s xml:id="echoid-s198" xml:space="preserve">Dieſe <lb/>beiden werden, wenn ſie ſich chemiſch verbinden, reines Koch-<lb/>ſalz. </s>
  <s xml:id="echoid-s199" xml:space="preserve">Aber man glaube nun ja nicht etwa, daß aus dem Na-<lb/>trium etwa nichts weiter gemacht werden kann als Kochſalz, <lb/>oder daß das Chlor nur dazu gebraucht wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s200" xml:space="preserve">Das Natrium <lb/>verbindet ſich mit vielen andern Stoffen zu ganz andern Dingen, <lb/>ſo z. </s>
  <s xml:id="echoid-s201" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s202" xml:space="preserve">zu Soda, Glauberſalz, Salpeter u. </s>
  <s xml:id="echoid-s203" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s204" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s205" xml:space="preserve">und das <lb/>Chlor nicht minder. </s>
  <s xml:id="echoid-s206" xml:space="preserve">Und ſo geht es mit allen andern Grund-<lb/>ſtoffen; </s>
  <s xml:id="echoid-s207" xml:space="preserve"><emph style="sp">ſobald ſie ſich chemiſch mit einem andern Stoff <lb/>verbinden, wird aus ihnen ein ganz ander Ding, das <lb/>weder in Anſehen, noch in Geſchmack, noch im Geruch <lb/>den Grundſtoffen oder einer andern Verbindung der-<lb/>ſelben ähnlich wird</emph>. </s>
  <s xml:id="echoid-s208" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s209" xml:space="preserve">Wie aber iſt es eigentlich mit der chemiſchen Verbindung? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s210" xml:space="preserve">Wie wird ſie bewerkſtelligt? </s>
  <s xml:id="echoid-s211" xml:space="preserve">und wodurch wird ſie hervor-<lb/>gerufen? </s>
  <s xml:id="echoid-s212" xml:space="preserve">Kann man alle Dinge in der Welt chemiſch mit ein-<lb/>ander verbinden?</s>
  <s xml:id="echoid-s213" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s214" xml:space="preserve">Hierauf giebt die Chemie folgende Antwort.</s>
  <s xml:id="echoid-s215" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s216" xml:space="preserve">Die Elemente haben die beſondere Eigenſchaft, daß unter <lb/>gewiſſen Umſtänden die kleinſten Teilchen eines Stoffes eine <lb/>Anziehung ausüben auf die kleinſten Teilchen eines andern <lb/>Stoffes, und dadurch verbinden ſich zwei Stoffe durch eine <lb/>eigene Kraft der Anziehung und bilden in ihrer Vereinigung <lb/>ein ganz neues Ding, das den Stoffen oft gar nicht mehr <lb/>ähnlich iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s217" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s218" xml:space="preserve">In den gewöhnlichen Lehrbüchern iſt dieſe Neigung eines
<pb o="13" file="021" n="21"/>
Stoffes, ſich mit einem andern Stoffe zu verbinden, mit dem <lb/>Namen “Verwandtſchaft” bezeichnet; </s>
  <s xml:id="echoid-s219" xml:space="preserve">und man ſagt z. </s>
  <s xml:id="echoid-s220" xml:space="preserve">B.</s>
  <s xml:id="echoid-s221" xml:space="preserve">: der <lb/>Sauerſtoff hat eine Verwandtſchaft zur Kohle und verbindet <lb/>ſich mit ihr chemiſch, um Kohlenſäure zu bilden. </s>
  <s xml:id="echoid-s222" xml:space="preserve">Allein dieſe <lb/>Bezeichnung “Verwandtſchaft” führt ſehr leicht irre, denn man <lb/>glaubt, daß die Stoffe, die eine Verwandtſchaft zu einander <lb/>haben, auch unter einander in irgend welcher Weiſe ſich gleich <lb/>oder ähnlich ſein müſſen, wie das eben im gewöhnlichen Leben <lb/>bei Verwandten der Fall iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s223" xml:space="preserve">— Die Sache iſt aber gerade <lb/>umgekehrt: </s>
  <s xml:id="echoid-s224" xml:space="preserve">Je verſchiedener und abweichender die Eigenſchaften <lb/>zweier Stoffe von einander ſind, deſto lebhafter findet ihre Ver-<lb/>bindung ſtatt.</s>
  <s xml:id="echoid-s225" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s226" xml:space="preserve">Zwei Stoffe, die ihrer Natur, ihren Eigenſchaften nach <lb/>ſich ähnlich ſind, verbinden ſich gar nicht mit einander oder <lb/>nur äußerſt ſchwierig. </s>
  <s xml:id="echoid-s227" xml:space="preserve">Z. </s>
  <s xml:id="echoid-s228" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s229" xml:space="preserve">Eiſen und Silber ſind zwei <lb/>Grundſtoffe, die ihrer Natur nach viel Ähnlichkeit mit einander <lb/>haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s230" xml:space="preserve">aber ſie verbinden ſich nicht chemiſch mit einander. </s>
  <s xml:id="echoid-s231" xml:space="preserve">Dahin-<lb/>gegen iſt Sauerſtoff ein Ding, das nicht die geringſte Ähnlich-<lb/>keit mit Silber hat und eben ſo wenig mit Eiſen, und doch <lb/>verbindet ſich unter geeigneten Umſtänden Silber mit Sauer-<lb/>ſtoff und bildet ein dunkles Pulver, dem es kein Menſch an-<lb/>ſehen möchte, daß dies das blanke Silber und der lichte, durch-<lb/>ſichtige Sauerſtoff iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s232" xml:space="preserve">und ebenſo verbindet ſich Sauerſtoff <lb/>mit Eiſen und bildet unſern gewöhnlichen Roſt, der alles Eiſen <lb/>überzieht, wenn es der feuchten Luft ausgeſetzt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s233" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s234" xml:space="preserve">Wir wollen uns vorläufig mit dem einen Lehrſatz begnügen, <lb/>daß unter den Elementen eine Verbindungsluſt ſtattfindet, die <lb/>aber immer größer wird, je unähulicher ſich die Stoffe ihrer <lb/>Natur nach ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s235" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="14" file="022" n="22"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div10" type="section" level="1" n="10">
<head xml:id="echoid-head13" xml:space="preserve"><emph style="bf">VI. Die Verbrennung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s236" xml:space="preserve">Nachdem wir geſehen, daß die chemiſchen Grundſtoffe <lb/>einen eigentümlichen Trieb haben, ſich mit einander zu ver-<lb/>binden, und auch zugleich erfahren haben, daß dieſer Trieb der <lb/>Verbindung immer ſtärker iſt, je weniger die Stoffe ſich ihrer <lb/>Natur nach ähnlich ſind, wollen wir nunmehr daran gehen, <lb/>die Verbindungen des Sauerſtoffs, die Umſtände und die Er-<lb/>ſcheinungen, unter welchen ſie ſtattfinden, etwas näher kennen <lb/>zu lernen.</s>
  <s xml:id="echoid-s237" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s238" xml:space="preserve">Man darf ſich nicht vorſtellen, daß zwei Stoffe immer ſich <lb/>ſofort verbinden, wenn man ſie zu einander bringt; </s>
  <s xml:id="echoid-s239" xml:space="preserve">es ſind <lb/>vielmehr Umſtände dabei nötig, durch welche die Verbindung <lb/>bewerkſtelligt, begünſtigt und je nachdem beſchleunigt wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s240" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s241" xml:space="preserve">Wir haben geſehen, daß ſich Sauerſtoff und Kohle ver-<lb/>bunden und Kohlenſäure gebildet haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s242" xml:space="preserve">Dazu iſt aber durch-<lb/>aus nötig, daß man die Kohle anzündet oder richtiger, es findet <lb/>die Verbindung nur bei dem Grade von Erhitzung ſtatt, in <lb/>welchem die Kohle in Glut gerät. </s>
  <s xml:id="echoid-s243" xml:space="preserve">— Ebenſo iſt es mit andern <lb/>Stoffen der Fall geweſen, die wir bei den Verſuchen mit dem <lb/>Sauerſtoff erwähnt haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s244" xml:space="preserve">Schwefel kann man tagelang im <lb/>Sauerſtoff liegen laſſen, ohne daß er ſich mit dem Sauerſtoff <lb/>verbindet und ſchweflige Säure bildet. </s>
  <s xml:id="echoid-s245" xml:space="preserve">Erſt wenn man ein <lb/>kleines Stückchen davon in Brand ſetzt, erſt dann tritt die Ver-<lb/>bindung ein, und durch die Verbindung entſteht ein ſo hoher <lb/>Grad von Hitze, daß nun auch der noch nicht entzündete <lb/>Schwefel ſich entzündet und die Verbindung immer weiter vor <lb/>ſich ſchreitet.</s>
  <s xml:id="echoid-s246" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s247" xml:space="preserve">Es iſt von der äußerſten Wichtigkeit, ſich dies ſo klar wie <lb/>möglich zu machen, denn hierdurch erſt iſt man imſtande, ſich <lb/>eine große Maſſe von Erſcheinungen, die man alltäglich ſieht, <lb/>zu erklären.</s>
  <s xml:id="echoid-s248" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s249" xml:space="preserve">Woher mag es wohl kommen, daß ein paar glühende
<pb o="15" file="023" n="23"/>
Kohlen einen ganzen Ofen voll Holz in Brand ſetzen und in <lb/>Kohle verwandeln? </s>
  <s xml:id="echoid-s250" xml:space="preserve">Und was iſt dazu nötig, wenn dies geſchehen <lb/>und die Kohlen nicht ausgehen ſollen?</s>
  <s xml:id="echoid-s251" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s252" xml:space="preserve">Es kommt dies daher, daß die paar glühenden Kohlen <lb/>dem Holz, dem ſie nahe liegen, einen hohen Grad von Hitze <lb/>verleihen. </s>
  <s xml:id="echoid-s253" xml:space="preserve">Da aber Holz ſelbſt aus Kohlenſtoff beſteht, ſo be-<lb/>wirkt die Hitze, daß der Kohlenſtoff des Holzes ſich mit dem <lb/>Sauerſtoff der Luft, die im Ofen iſt, verbindet, und hierdurch <lb/>gerät das den Kohlen nahe liegende Teilchen Holz in Brand. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s254" xml:space="preserve">— Nötig iſt aber hierzu, daß friſche Luft in den Ofen einſtrömt, <lb/>denn nur ſo lange friſcher Sauerſtoff dem Holz zugeführt wird, <lb/>ſo lange kann die Verbindung fortdauern. </s>
  <s xml:id="echoid-s255" xml:space="preserve">Führt man keinen <lb/>Sauerſtoff zu, ſo geht das Feuer aus, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s256" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s257" xml:space="preserve">die chemiſche Ver-<lb/>bindung des Sauerſtoffs mit dem Kohlenſtoff des Holzes hört <lb/>auf.</s>
  <s xml:id="echoid-s258" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s259" xml:space="preserve">Daher weiß es auch ſchon jedes Kind, daß ein Ofen Zug <lb/>haben muß, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s260" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s261" xml:space="preserve">man muß in jedem Ofen die Klappe, die <lb/>zum Schornſtein führt, öffnen, damit die heiße Luft des Ofens, <lb/>in welcher der Sauerſtoff ſchon verbraucht iſt, nach oben ab-<lb/>ſtrömen kann; </s>
  <s xml:id="echoid-s262" xml:space="preserve">an der Ofenthüre aber muß man eine kleine <lb/>Klappe öffnen, damit friſche Luft zuſtrömt, in welcher Sauer-<lb/>ſtoff vorhanden iſt, damit dieſer Sauerſtoff ſich immer weiter <lb/>mit der erhitzten Kohle verbinden kann, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s263" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s264" xml:space="preserve">damit das Feuer <lb/>fortbrennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s265" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s266" xml:space="preserve">In der That, wenn man keine friſche Luft, alſo keinen <lb/>neuen Sauerſtoff zuläßt, geht das Feuer aus; </s>
  <s xml:id="echoid-s267" xml:space="preserve">denn das Feuer <lb/>entſteht eben nur dadurch, daß eine chemiſche Verbindung <lb/>zwiſchen dem Sauerſtoff und dem Kohlenſtoff des Holzes ſtatt-<lb/>findet. </s>
  <s xml:id="echoid-s268" xml:space="preserve">Und umgekehrt, macht man eine Vorrichtung am Ofen, <lb/>durch welche im Innern des Ofens ſich immer friſcher Sauer-<lb/>ſtoff neu bildet, ſo braucht man keine Zugklappe an der Ofen-<lb/>thür, denn ſo lange Sauerſtoff im Ofen iſt, ſo lange wird auch <lb/>das Holz brennen, oder chemiſch ausgedrückt: </s>
  <s xml:id="echoid-s269" xml:space="preserve">ſo lange wird
<pb o="16" file="024" n="24"/>
auch die chemiſche Verbindung von Sauerſtoff und Kohlenſtoff <lb/>hergeſtellt.</s>
  <s xml:id="echoid-s270" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s271" xml:space="preserve">Darum ſind auch die Öfen die beſten, die einen ſtarken <lb/>Zug haben, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s272" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s273" xml:space="preserve">wo recht viel friſche Luft mit recht ſtarkem <lb/>Strom durch die Klappe der Ofenthür hineinzieht, ſo daß recht <lb/>viel Sauerſtoff aus der Luft durch das heiß gewordene Holz <lb/>zieht und ſich mit dieſem chemiſch verbindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s274" xml:space="preserve">Darum puſtet <lb/>auch die Köchin in das Feuer auf dem Herd, damit es beſſer <lb/>brenne, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s275" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s276" xml:space="preserve">ſie treibt mit dem Puſten einen Strom von Luft <lb/>ins Feuer hinein, damit mehr Sauerſtoff an das erhitzte Holz <lb/>komme. </s>
  <s xml:id="echoid-s277" xml:space="preserve">Darum braucht der Feuerarbeiter den Blaſebalg, <lb/>damit die ſchwer brennende Steinkohle recht viel Sauerſtoff be-<lb/>komme zur chemiſchen Verbindung, die eben das Brennen zu <lb/>Wege bringt, und darum brannte auch bei unſerm Verſuch <lb/>das Stückchen Kohle ſo ſchön in der Flaſche von Sauerſtoff, <lb/>weil eben das Verbrennen nur eine Erſcheinung iſt, welche <lb/>ſtattfindet, wenn ſich Sauerſtoff recht ſchnell und energiſch mit <lb/>Kohle oder mit andern Stoffen verbindet.</s>
  <s xml:id="echoid-s278" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s279" xml:space="preserve">Man ſieht wohl, daß eigentlich alle Welt Chemie treibt, <lb/>ohne daß ſie es weiß.</s>
  <s xml:id="echoid-s280" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div11" type="section" level="1" n="11">
<head xml:id="echoid-head14" xml:space="preserve"><emph style="bf">VII. Die Lehre der Chemie über das Verbrennen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s281" xml:space="preserve">Nachdem wir nun geſehen haben, was denn eigentlich <lb/>beim Verbrennen des Holzes vor ſich geht, daß hierbei eben <lb/>eine chemiſche Verbindung des Sauerſtoffs mit dem Kohlenſtoff <lb/>des Holzes ſtattfindet, können wir einen großen Lehrſatz der <lb/>Chemie ausſprechen, den wohl ſchon jedermann oft genug <lb/>gehört, aber viele doch nicht verſtanden haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s282" xml:space="preserve">Der Lehrſatz <lb/>lautet:</s>
  <s xml:id="echoid-s283" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s284" xml:space="preserve">Verbrennung iſt gar nichts anderes als ein chemiſcher <lb/>Prozeß, und Feuer iſt nur eine Erſcheinung dieſes Prozeſſes.</s>
  <s xml:id="echoid-s285" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="17" file="025" n="25"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s286" xml:space="preserve">Bei allen Verbrennungen, die wir vornehmen, wenn wir <lb/>ein Licht, eine Lampe, ein Stück Holz anzünden, thun wir <lb/>gar nichts anderes, als daß wir Licht, Lampe oder Holz in <lb/>den Zuſtand verſetzen, in welchem ſich gewiſſe Stoffe mit dem <lb/>Sauerſtoff der Luft verbinden können.</s>
  <s xml:id="echoid-s287" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s288" xml:space="preserve">Ein brennendes Licht verliſcht ſofort, wenn wir ihm den <lb/>Sauerſtoff der Luft entzogen haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s289" xml:space="preserve">Stellt man ein Stückchen <lb/>Licht auf den Tiſch und deckt ein leeres Bierglas darüber, ſo <lb/>fängt das Licht bald an dunkler zu brennen und geht endlich <lb/>aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s290" xml:space="preserve">Denn das Fortbrennen iſt nur eine Erſcheinung, die <lb/>ſtattfindet während der Verbindung des Brennſtoffs mit dem <lb/>Sauerſtoff der Luft. </s>
  <s xml:id="echoid-s291" xml:space="preserve">Könnte man die Erfindung machen, daß <lb/>man einem großen Teil der Luft den Sauerſtoff entzieht, ſo <lb/>wäre man imſtande, brennende Häuſer augenblicklich zu löſchen <lb/>(man brauchte nur dem Brand den Sauerſtoff zu entziehen<anchor type="note" xlink:href="" symbol="*)"/>.</s>
  <s xml:id="echoid-s292" xml:space="preserve">
Die Wärme und das Licht des Feuers ſind nur Erſcheinungen <lb/>eines chemiſchen Prozeſſes. </s>
  <s xml:id="echoid-s293" xml:space="preserve">Die Flamme eines gewöhnlichen <lb/>Lichtes kann jedermann ſchon viel Belehrendes bieten. </s>
  <s xml:id="echoid-s294" xml:space="preserve">Dort <lb/>wo die Flamme mit dem Sauerſtoff der Luft in naher Be-<lb/>rührung iſt, in der äußeren Hülle der Flamme, dort iſt ſie <lb/>heiß und hell; </s>
  <s xml:id="echoid-s295" xml:space="preserve">im Innern der Flamme aber, wohin nur wenig <lb/>Sauerſtoff dringt, iſt ſie weder ſo hell noch ſo heiß. </s>
  <s xml:id="echoid-s296" xml:space="preserve">Hält <lb/>man einen dünnen Holzſpan gerade mitten durch die Flamme, <lb/>ſo wird man bemerken, daß dieſer nicht in der Mitte zu brennen <lb/>anfängt, ſondern an beiden Seiten. </s>
  <s xml:id="echoid-s297" xml:space="preserve">Bei einiger Geſchicklichkeit <lb/>kann man den Span zeitig genug wieder herausnehmen, bevor</s>
</p>
<note symbol="*)" position="foot" xml:space="preserve"> In England ſind ſolche Feuerlöſchapparate erfunden und in <lb/>einigen Fabriken eingeführt worden. Es wird nämlich zu dieſem Zwecke <lb/>die aus den Schornſteinen entweichende Luft, die keinen Sauerſtoff mehr <lb/>enthält, geſammelt und in großen Mengen in beſonderen Behältern ver-<lb/>wahrt. Bricht nun in der Fabrik Feuer aus, ſo wird dieſe ſauerſtoffloſe <lb/>Luft mit großer Kraft in den brennenden Raum hineingepreßt. Dadurch <lb/>wird die gewöhnliche Luft verdrängt und das Feuer augenblicklich erſtickt.</note>
<p>
  <s xml:id="echoid-s298" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s299" xml:space="preserve">Bernſtein, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s300" xml:space="preserve">Volksbücher VI.</s>
  <s xml:id="echoid-s301" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="18" file="026" n="26"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s302" xml:space="preserve">er zu brennen angefangen und man bemerkt, daß nur die <lb/>Ränder der Flamme das Holz verkohlt haben, während die <lb/>Mitte der Flamme den Span faſt unverſehrt ließ. </s>
  <s xml:id="echoid-s303" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s304" xml:space="preserve">Hieraus aber kann man die große Wahrheit lernen, daß, <lb/>je ſchneller und leichter ein brennbarer Stoff ſich mit Sauerſtoff <lb/>verbindet, deſto ſtärker die Wärme iſt, die daraus entſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s305" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s306" xml:space="preserve">Jetzt wird es auch jedem klar werden, warum die Stuben-<lb/>öfen ſchlecht heizen, in denen das Holz langſam verbrennt, <lb/>obgleich man in ihnen ſtundenlang Feuer hält, während die <lb/>Öfen gut heizen, in denen das Feuer ſchnell ausgebrannt iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s307" xml:space="preserve">Die Öfen, in denen das Holz langſam verbrennt, haben nicht <lb/>Zug genug, es ſtrömt dem Holze wenig Sauerſtoff zu, und <lb/>die Flamme iſt daher nicht ſo heiß. </s>
  <s xml:id="echoid-s308" xml:space="preserve">In ſolchen Öfen dagegen, <lb/>in denen ein tüchtiger Zug durchgeht, alſo ein Strom Sauer-<lb/>ſtoff ſich immerfort dem Holze darbietet, iſt die Flamme heißer, <lb/>ſie durchwärmt den Ofen weit ſtärker, und da das Feuer <lb/>ſchnell aus iſt und man die Klappe, die zum Schornſtein führt, <lb/>auch bald ſchließen kann, geht wenig Wärme verloren.</s>
  <s xml:id="echoid-s309" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s310" xml:space="preserve">Ja, das Zuführen des Sauerſtoffs zur Flamme iſt auch <lb/>darum wichtig, weil dadurch viele Teile verbrennen, die ſonſt <lb/>unverbrannt bleiben.</s>
  <s xml:id="echoid-s311" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s312" xml:space="preserve">Schon jede Köchin weiß es, daß das Feuer, wenn es auf <lb/>dem Herd nicht brennen will, außerordentlich ſtark raucht; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s313" xml:space="preserve">bläſt man es an, ſo ſchlägt die Flamme hoch auf und der <lb/>Rauch verſchwindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s314" xml:space="preserve">— Was aber iſt der Rauch und wo bleibt <lb/>er beim Anblaſen? </s>
  <s xml:id="echoid-s315" xml:space="preserve">Der Rauch iſt faſt nichts als feine Kohle, <lb/>die mit der heißen Luft nach oben ſteigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s316" xml:space="preserve">Bläſt man das <lb/>Feuer tüchtig an, ſo giebt man ihm viel Sauerſtoff und ver-<lb/>mehrt ſeine Hitze; </s>
  <s xml:id="echoid-s317" xml:space="preserve">in dieſer Hitze verbindet ſich auch die feine <lb/>Kohle des Rauches mit dem Sauerſtoff und giebt eine herrliche, <lb/>heiße Flamme; </s>
  <s xml:id="echoid-s318" xml:space="preserve">entzieht man ihm den Sauerſtoff, ſo geht der <lb/>Rauch, alſo ein koſtbarer Teil des Holzes, unverbraucht fort <lb/>und ſetzt ſich als Ruß in den Schornſtein.</s>
  <s xml:id="echoid-s319" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="19" file="027" n="27"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s320" xml:space="preserve">Bei einer gewöhnlichen Lampe mit einem Cylinder kann <lb/>man einen vortrefflichen Verſuch hierüber anſtellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s321" xml:space="preserve">Warum <lb/>brennt die Lampe flackrig, rußig und trübe, wenn man den <lb/>Cylinder abnimmt, und weshalb brennt ſie hell, weiß und <lb/>rein, wenn man den Cylinder wieder aufſetzt? </s>
  <s xml:id="echoid-s322" xml:space="preserve">— Aus keinem <lb/>anderen Grunde, als weil der Cylinder, wenn er auf die <lb/>brennende Lampe geſteckt wird, eine vortreffliche Art von <lb/>Blaſebalg iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s323" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s324" xml:space="preserve">Der Cylinder iſt oben und unten offen. </s>
  <s xml:id="echoid-s325" xml:space="preserve">Oben ſtrömt die <lb/>heiße Luft immerfort aus, und von unten ſtrömt in einemfort <lb/>friſche Luft zu, dadurch erhält die Flamme fortwährend friſchen <lb/>Sauerſtoff, und es entſteht ſo eine bedeutende Hitze; </s>
  <s xml:id="echoid-s326" xml:space="preserve">in dieſer <lb/>Hitze vermag aber auch der Ruß zu brennen, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s327" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s328" xml:space="preserve">er <lb/>kann ſich mit dem zuſtrömenden Sauerſtoff verbinden und des-<lb/>halb iſt die Flamme leuchtend und heiß. </s>
  <s xml:id="echoid-s329" xml:space="preserve">Nimmt man aber <lb/>den Cylinder ab, ſo hört die Strömung der Luft an der Flamme <lb/>auf, und ein großer Teil des brennenden Stoffes geht als <lb/>Ruß verloren.</s>
  <s xml:id="echoid-s330" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div12" type="section" level="1" n="12">
<head xml:id="echoid-head15" xml:space="preserve"><emph style="bf">VIII. Chemie allenthalben.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s331" xml:space="preserve">Wir haben nun geſehen, daß man gar nicht weit umher <lb/>zu ſuchen hat, um auf chemiſche Prozeſſe zu ſtoßen, daß das <lb/>Feuer jeder Köchin auf dem Herd, jedes Feuer, das man im <lb/>Ofen anzündet, nichts iſt als ein Stück Chemie, denn Ver-<lb/>brennen iſt Herſtellung einer chemiſchen Verbindung von Kohlen-<lb/>ſtoff und Sauerſtoff, und das Feuer iſt nur eine Erſcheinung, <lb/>die bei dieſer Verbindung zum Vorſchein kommt.</s>
  <s xml:id="echoid-s332" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s333" xml:space="preserve">Wo aber bleibt in ſolchen Fällen das Reſultat der Ver-<lb/>bindung?</s>
  <s xml:id="echoid-s334" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s335" xml:space="preserve">Bei unſerem Verſuch, wo wir Kohle in Sauerſtoff ver-<lb/>brennen ließen, entſtand Kohlenſäure als das Reſultat der
<pb o="20" file="028" n="28"/>
Verbrennung, und wir ſahen, daß dieſe Kohlenſäure nichts <lb/>iſt, als die Kohle und der Sauerſtoff, die ſich zu einer neuen <lb/>Luftart verbunden haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s336" xml:space="preserve">— Geſchieht nun beim Verbrennen <lb/>des Holzes auch dergleichen?</s>
  <s xml:id="echoid-s337" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s338" xml:space="preserve">Es geſchieht auf jedem Herd und in jedem Ofen ganz <lb/>dasſelbe. </s>
  <s xml:id="echoid-s339" xml:space="preserve">Jeder Herd und jeder Ofen iſt eine chemiſche <lb/>Fabrik, in welcher Kohlenſäure fabriziert wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s340" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s341" xml:space="preserve">Die reine Kohlenſäure iſt ein farbloſes, faſt geruchloſes <lb/>Gas, in welchem man ebenſowenig leben kann, wie in irgend <lb/>einer anderen Luftart. </s>
  <s xml:id="echoid-s342" xml:space="preserve">Tiere, die man in ein Gefäß voll Kohlen-<lb/>ſäure bringt, erſticken ſehr bald, denn zum Leben iſt das Ein-<lb/>atmen von Sauerſtoff nötig — wir werden ſpäter ſehen, warum <lb/>dies ſo iſt —; </s>
  <s xml:id="echoid-s343" xml:space="preserve">da aber in der Kohlenſäure der Sauerſtoff <lb/>ſchon verbunden iſt mit dem Kohlenſtoff, kann er in den <lb/>Lungen des Tieres nicht die Wirkung thun, die zum Leben <lb/>nötig iſt, und das Tier erſtickt ganz ſo, als ob es gar keine <lb/>Luft hätte einatmen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s344" xml:space="preserve">In manchen Kellern, wo viel <lb/>Getränke gähren, entwickelt ſich Kohlenſäure und man erſtaunt <lb/>oft, daß Menſchen, wenn ſie aufrecht gehen, ganz wohl bleiben, <lb/>während derjenige, der ſich bückt, um etwas aufzuheben, erſtickt <lb/>niederfällt. </s>
  <s xml:id="echoid-s345" xml:space="preserve">Zuweilen ſtrömt auch die Kohlenſäure aus Spalten <lb/>der Erde hervor und lagert ſich in der Tiefe von Thälern, <lb/>welche man Giftthäler nennt, da denjenigen, der ſie betritt, <lb/>der Tod ereilt. </s>
  <s xml:id="echoid-s346" xml:space="preserve">— In der Nähe von Neapel befindet ſich <lb/>eine berühmte Höhle, die man die Hundsgrotte nennt, die <lb/>gleichfalls in ihrem unteren Teile ſtets mit Kohlenſäure gefüllt <lb/>iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s347" xml:space="preserve">in dieſer Grotte können Menſchen ganz gefahrlos umher-<lb/>gehen, während Hunde, deren Kopf dem Boden näher iſt, darin <lb/>ſterben.</s>
  <s xml:id="echoid-s348" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s349" xml:space="preserve">Allein noch bei weitem ſchädlicher als reine Kohlenſäure <lb/>iſt die halbfertige Kohlenſäure, die den Namen Kohlen-Oxydgas <lb/>hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s350" xml:space="preserve">In der Kohlenſäure iſt immer zweimal ſo viel Sauerſtoff <lb/>als Kohle; </s>
  <s xml:id="echoid-s351" xml:space="preserve">in der halbfertigen Kohlenſäure iſt nur ebenſoviel
<pb o="21" file="029" n="29"/>
Sauerſtoff wie Kohlenſtoff enthalten, und dieſe wirkt auf den <lb/>Organismus außerordentlich giftig.</s>
  <s xml:id="echoid-s352" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s353" xml:space="preserve">Es rührt dies daher, daß das Kohlenoxyd, welches ja <lb/>gewiſſermaßen einen nur unvollkommen verbrannten Kohlenſtoff <lb/>darſtellt, ſehr leicht geneigt iſt ſich mit anderen chemiſchen <lb/>Stoffen in eine Verbindung einzulaſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s354" xml:space="preserve">Atmet man es nun <lb/>ein, ſo verbindet es ſich mit dem Farbſtoff der roten Blut-<lb/>körperchen; </s>
  <s xml:id="echoid-s355" xml:space="preserve">dieſe werden dadurch zerſetzt, und auf dieſe Weiſe <lb/>wird der Tod des Menſchen bezw. </s>
  <s xml:id="echoid-s356" xml:space="preserve">des Tieres herbeigeführt: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s357" xml:space="preserve">man ſagt mit Recht, daß eine “Vergiftung” eingetreten ſei. </s>
  <s xml:id="echoid-s358" xml:space="preserve"><lb/>Es ſei übrigens bemerkt, daß dieſe Todesart ſicherlich zu den <lb/>völlig ſchmerzloſen, ja man kann beinahe ſagen, zu den ange-<lb/>nehmen gehört.</s>
  <s xml:id="echoid-s359" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s360" xml:space="preserve">Kohlenoxyd entwickelt ſich überall, wo “unvollkommene <lb/>Verbrennung” von Kohle ſtattfindet, beſonders reichlich alſo <lb/>in “ſchwelenden Kohlen”. </s>
  <s xml:id="echoid-s361" xml:space="preserve">Wenn in einem Ofen, der keinen <lb/>reichlichen Zug und ſomit Sauerſtoffmangel hat, Feuer ange-<lb/>macht wird, ſo entwickelt ſich in demſelben das Kohlenoxyd; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s362" xml:space="preserve">ſchließt man nun zu früh die Klappe, die zum Schornſtein <lb/>führt, ſo füllt ſich zuerſt der Ofen mit dieſem Gas, ſodann <lb/>fängt es an in die Stube hineinzuſtrömen; </s>
  <s xml:id="echoid-s363" xml:space="preserve">da es ſchwerer iſt <lb/>als die gewöhnliche Luft, nimmt es zunächſt nur die unterſte <lb/>Schicht am Fußboden ein, ſteigt aber bei der Vermehrung <lb/>immer höher.</s>
  <s xml:id="echoid-s364" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s365" xml:space="preserve">Dieſes Gas iſt aber beim Atmen ſo gefährlich, daß wenig <lb/>Augenblicke ausreichen, den Tod durch Vergiftung herbeizu-<lb/>führen, und dieſes Unglück geſchieht in gar vielen Fällen und <lb/>oft in einer Weiſe, die vielen unerklärlich iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s366" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s367" xml:space="preserve">Es kam bei ſolchen Gelegenheiten ſchon öfter vor, daß die, <lb/>welche auf Stühlen ſaßen oder ſtanden, nicht die mindeſte Übel-<lb/>keit empfunden haben, während Kinder, die auf dem Fußboden <lb/>ſpielten, plötzlich vergiftet umfielen; </s>
  <s xml:id="echoid-s368" xml:space="preserve">was eben daher rührte, <lb/>daß das gefährliche Gas ſich immer erſt am Boden ſammelt.</s>
  <s xml:id="echoid-s369" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="22" file="030" n="30"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s370" xml:space="preserve">Es ſei übrigens bemerkt, daß die giftigen Eigenſchaften <lb/>des Leuchtgaſes ebenfalls darauf zurückzuführen ſind, daß das <lb/>Kohlenoxyd einen Teil desſelben ausmacht, während der <lb/>charakteriſtiſche Geruch des Leuchtgaſes durch einen kleinen <lb/>Bruchteil Acetylengehalt verurſacht wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s371" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s372" xml:space="preserve">Wir führen alle dieſe Fälle an, um erſtens zu zeigen, <lb/>daß eigentlich jeder Ofen eine chemiſche Fabrik iſt, worin <lb/>Kohlenſäure oder Kohlenoxyd erzeugt wird; </s>
  <s xml:id="echoid-s373" xml:space="preserve">wir haben aber <lb/>auch die kleinen Nebenbemerkungen über die Gefahr des Kohlen-<lb/>dampfes hinzugefügt, weil leider zu oft ſchon aus der Unwiſſen-<lb/>heit der Menſchen in dieſer Beziehung Unglück entſtanden und <lb/>es höchſt wichtig iſt, jedermann hierüber zu belehren. </s>
  <s xml:id="echoid-s374" xml:space="preserve">Zu <lb/>dieſem Zwecke fügen wir noch hinzu, daß man in zweifelhaften <lb/>Fällen, wo man vermutet, daß der Ofen zu früh geſchloſſen <lb/>worden iſt, nicht nach der Luft in den oberen Schichten <lb/>urteilen darf, ſondern die Luft unten am Fußboden unterſuchen <lb/>muß, um ſich vor Gefahren zu ſichern.</s>
  <s xml:id="echoid-s375" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div13" type="section" level="1" n="13">
<head xml:id="echoid-head16" xml:space="preserve"><emph style="bf">IX. Die Wanderung des Sauerſtoffes durch unſeren</emph> <lb/><emph style="bf">Körper.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s376" xml:space="preserve">Wir haben nunmehr gezeigt, wie in jedem Ofen, auf <lb/>jedem Herd eigentlich das Kunſtſtück vorgeht, das wir beim <lb/>Verbrennen der Kohle in der Flaſche mit Sauerſtoff geſehen <lb/>haben, und es wird nun jedem Leſer klar werden, daß man <lb/>ſich nur dann einen richtigen Begriff von Dingen machen kann, <lb/>die man alltäglich ſieht, wenn man imſtande iſt, ſich einen <lb/>Einblick in das Weſen der Chemie zu verſchaffen.</s>
  <s xml:id="echoid-s377" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s378" xml:space="preserve">Bevor wir nun in unſerem Thema weiter gehen, wollen <lb/>wir nur noch einen der wichtigſten Prozeſſe im Leben erklären, <lb/>um darzuthun, wie nicht allein um uns, ſondern auch in <lb/>uns alles ſofort der Vernichtung anheimfiele, wenn wir nicht
<pb o="23" file="031" n="31"/>
fortwährend einen chemiſchen Prozeß in unſerem Körper unter-<lb/>hielten, der mit dem Verbrennen des Holzes im Ofen die <lb/>größte Ähnlichkeit hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s379" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s380" xml:space="preserve">So fremdartig und wunderbar es auch dem Unkundigen <lb/>im erſten Augenblick erſcheint, ſo wahr und ſo vollkommen <lb/>richtig iſt es, wenn man behauptet, daß der Menſch mit jedem <lb/>Atemzug ſeinen Körper wie einen Ofen einheizt und mit jedem <lb/>Ausatmen die Klappe dieſes merkwürdigen Ofens öffnet und <lb/>das ſchädliche Gas ausfließen läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s381" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s382" xml:space="preserve">Alle Welt weiß, daß man fortwährend einatmen und <lb/>ausatmen muß, und daß das Leben aufhört, ſobald der Atem <lb/>ſtockt; </s>
  <s xml:id="echoid-s383" xml:space="preserve">aber nur wer einen Einblick in die Chemie hat, begreift, <lb/>warum dies ſo iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s384" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s385" xml:space="preserve">Zum Leben iſt eine ununterbrochene chemiſche Thätigkeit <lb/>unſers Körpers nötig, und das allererſte Erfordernis iſt, daß <lb/>nach jedem Teil unſeres Körpers Sauerſtoff hinſtrömt, um dort <lb/>eine chemiſche Verbindung eigner Art einzugehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s386" xml:space="preserve">Dieſen Sauer-<lb/>ſtoff nehmen wir durch Einatmen der Luft in uns auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s387" xml:space="preserve">Bei jedem <lb/>Male, wenn ſich der Bruſtkaſten ausdehnt, füllt ſich die Lunge <lb/>wie eine Art Blaſebalg mit Luft, und da in der Luft immer <lb/>ein fünftel Sauerſtoff vorhanden iſt, ſo bekommen wir Sauer-<lb/>ſtoff in den Körper. </s>
  <s xml:id="echoid-s388" xml:space="preserve">Aber dies würde uns nicht viel helfen, <lb/>denn der Sauerſtoff muß durch den ganzen Körper wandern, <lb/>er muß ebenſo in unſer Auge, wie in unſer Gehirn, in unſere <lb/>Muskeln wie in unſere Knochen, mit einem Worte, nach <lb/>jedem Pünktchen unſeres Körpers hin, und dahin würde er <lb/>nicht gelangen können, wenn nicht das Blut wäre, das von <lb/>einer beſtimmten Abteilung des Herzens nach der Lunge ge-<lb/>trieben wird und hier eine chemiſche Verbindung mit dem <lb/>Sauerſtoff eingeht.</s>
  <s xml:id="echoid-s389" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s390" xml:space="preserve">Sobald dies geſchehen iſt, ſtrömt es durch die Thätigkeit <lb/>des Herzens wieder zu einer anderen Abteilung des Herzens <lb/>zurück und vollendet ſo einen kleinen Kreislauf. </s>
  <s xml:id="echoid-s391" xml:space="preserve">Nun aber
<pb o="24" file="032" n="32"/>
preßt ſich das Herz wieder in einer beſonderen Abteilung <lb/>derart zuſammen, daß das mit Sauerſtoff verbundene Blut in <lb/>die Schlag-Adern ſtrömt und durch dieſe und ihre außerordent-<lb/>lichen Verzweigungen in alle Teile des Körpers getrieben <lb/>wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s392" xml:space="preserve">So gelangt das mit Sauerſtoff getränkte Blut nach allen <lb/>Punkten des Körpers hin, und ſomit iſt es geſchehen, daß der <lb/>Sauerſtoff der Luft durch den ganzen Körper verbreitet <lb/>worden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s393" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s394" xml:space="preserve">Nunmehr aber, ſollte man glauben, wäre genug geſchehen, <lb/>da doch jetzt allenthalben Sauerſtoff vorhanden iſt, und wenn <lb/>man ihn nur nicht davon läßt, ſo brauchte man nicht wieder <lb/>zu atmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s395" xml:space="preserve">Aber dem iſt nicht ſo. </s>
  <s xml:id="echoid-s396" xml:space="preserve">Ganz ſo wie zum Ofen <lb/>immer neuer Sauerſtoff zuſtrömen muß, um den chemiſchen <lb/>Prozeß zu erhalten, weil der alte Sauerſtoff im Verbrennen <lb/>ſich in Kohlenſäure verwandelt, ganz ſo iſt es im Körper der <lb/>Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s397" xml:space="preserve">Der hauptſächliche chemiſche Prozeß im Körper beſteht <lb/>eben auch darin, daß in jedem Punkte unſeres Körpers das <lb/>vorgeht, was im Ofen der Fall iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s398" xml:space="preserve">Allenthalben findet die <lb/>chemiſche Verbindung des Sauerſtoffs mit dem unbrauchbar <lb/>gewordenen Kohlenſtoff des Körpers ſtatt und es entſteht <lb/>ganz wie im Ofen allenthalben im Körper Kohlenſäure, die <lb/>hinaus geſchafft werden muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s399" xml:space="preserve">Und dieſes Geſchäft übernimmt <lb/>wiederum das Blut, es ſtrömt auf anderem Wege durch be-<lb/>ſondere Blutgefäße zurück bis zum Herzen, hier wird es wieder <lb/>zur Lunge getrieben, welche beim Ausatmen die Kohlenſäure <lb/>aus dem Körper entfernt.</s>
  <s xml:id="echoid-s400" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s401" xml:space="preserve">Dieſer in den Hauptzügen hier angegebene Vorgang des <lb/>Einatmens und Ausatmens iſt alſo dem chemiſchen Prozeß im <lb/>Ofen ſehr ähnlich. </s>
  <s xml:id="echoid-s402" xml:space="preserve">Wie ein Ofen nimmt jedes lebende Tier <lb/>Sauerſtoff ein, wie im Ofen verbindet ſich im Körper der <lb/>Sauerſtoff mit dem Kohlenſtoff zur Kohlenſäure, wie beim Ofen <lb/>ſtößt der Körper die Kohlenſäure wieder aus.</s>
  <s xml:id="echoid-s403" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s404" xml:space="preserve">Und in der That, der chemiſche Prozeß des Heizens und
<pb o="25" file="033" n="33"/>
des Atmens iſt genau ein und derſelbe. </s>
  <s xml:id="echoid-s405" xml:space="preserve">Nicht nur der Vor-<lb/>gang iſt ſich ähnlich, ſondern auch der Zweck. </s>
  <s xml:id="echoid-s406" xml:space="preserve">Ganz ſo wie <lb/>man durch den Ofen die Erwärmung desſelben erzielt, ſo <lb/>erzielt man durch das Atmen die Lebenswärme des Körpers. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s407" xml:space="preserve">Atmen iſt zur Erwärmung des Körpers ganz ſo notwendig, <lb/>wie Zugluft zur Erwärmung des Ofens.</s>
  <s xml:id="echoid-s408" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s409" xml:space="preserve">Wir wollen von dieſem merkwürdigen chemiſchen Vorgang <lb/>einiges mitteilen.</s>
  <s xml:id="echoid-s410" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div14" type="section" level="1" n="14">
<head xml:id="echoid-head17" xml:space="preserve"><emph style="bf">X. Atmen und Einheizen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s411" xml:space="preserve">Wir haben geſagt, daß das Atmen des Menſchen ganz <lb/>ſo die Erwärmung des Körpers, wie das Heizen die Erwärmung <lb/>des Ofens hervorbringt.</s>
  <s xml:id="echoid-s412" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s413" xml:space="preserve">Alle Menſchen haben einen ganz beſtimmten Grad von <lb/>Körperwärme, der ſich ganz gleich bleibt, es mag Sommer <lb/>oder Winter, Hitze oder Kälte herrſchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s414" xml:space="preserve">Man nennt dieſe <lb/>Wärme Körper-oder Blutwärme, und ſie beträgt im normalen <lb/>Zuſtand circa 37 Grad Celſius. </s>
  <s xml:id="echoid-s415" xml:space="preserve">Dieſe Wärme im Innern des <lb/>Körpers darf ſich weder ſteigern noch darf ſie abnehmen, wenn <lb/>nicht Krankheit oder gar Tod folgen ſoll, ſie muß ſich viel-<lb/>mehr ſtets gleich bleiben, und dies iſt auch beim geſunden <lb/>Menſchen immer der Fall, ſo lange er eſſen und atmen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s416" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s417" xml:space="preserve">Alles Fett, das der Menſch genießt, wie alle Stoffe, die <lb/>im Körper ſich in Fett umwandeln, dienen hauptſächlich dazu <lb/>dieſen Grad von Wärme zu erhalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s418" xml:space="preserve">Das Fett nämlich beſteht <lb/>aus Kohlenſtoff und den Beſtandteilen des Waſſers. </s>
  <s xml:id="echoid-s419" xml:space="preserve">Der Kohlen-<lb/>ſtoff iſt das Heizmaterial, und die Beſtandteile des Waſſers be-<lb/>wirken unter Umſtänden die Abkühlung durch Schweiß. </s>
  <s xml:id="echoid-s420" xml:space="preserve">Das <lb/>Atmen, wobei man Sauerſtoff in den Körper einführt, veranlaßt <lb/>die Verbindung des Sauerſtoffs und des Kohlenſtoffs zur <lb/>Kohlenſäure, und bei dieſer Verbindung wird Wärme entwickelt,
<pb o="26" file="034" n="34"/>
ganz ſo wie im Ofen bei der Bildung von Kohlenſäure Wärme <lb/>frei wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s421" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s422" xml:space="preserve">Dieſe Thatſachen erklären auch manche Erſcheinung, die <lb/>ſonſt unerklärlich geweſen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s423" xml:space="preserve">Woher kommt es, daß wir im <lb/>Winter mehr eſſen und fetteres Eſſen vertragen können als im <lb/>Sommer? </s>
  <s xml:id="echoid-s424" xml:space="preserve">— Es kommt daher, daß wir im Winter ſchneller <lb/>kalt werden, und daher ſtärker atmen müſſen, um uns zu er-<lb/>wärmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s425" xml:space="preserve">Aber zum ſtärkern Atmen gehört mehr Kohlenſtoff <lb/>im Körper, und darum müſſen wir mehr Fett eſſen, als im <lb/>Sommer. </s>
  <s xml:id="echoid-s426" xml:space="preserve">Deshalb darf man ſich nicht wundern, wenn in den <lb/>ewigen Eisfeldern des Nordens die Menſchen Thran trinken <lb/>und ſogar Talglichte mit gutem Appetit verzehren, während in <lb/>heißen Ländern jede Fleiſchſpeiſe mäßig und fettes Fleiſch nur <lb/>mit Widerſtreben genoſſen wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s427" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s428" xml:space="preserve">Warum ißt derjenige, der eine ſitzende Lebensart führt, <lb/>ſehr wenig? </s>
  <s xml:id="echoid-s429" xml:space="preserve">Weil er beim Sitzen weniger atmet und darum <lb/>auch nicht viel Kohlenſtoff verbraucht. </s>
  <s xml:id="echoid-s430" xml:space="preserve">Deshalb aber friert er <lb/>auch weit leichter als derjenige, der ſich viel bewegt, alſo auch <lb/>kräftiger atmet und folglich auch mehr eſſen muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s431" xml:space="preserve">— Atmen <lb/>und Eſſen gehört ſo genau zu einander, um den Körper zu <lb/>erwärmen, wie Zugluft und Brennmaterial zu einander ge-<lb/>hören, um die Erwärmung des Ofens zu unterhalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s432" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s433" xml:space="preserve">Freilich wird mancher Leſer fragen: </s>
  <s xml:id="echoid-s434" xml:space="preserve">wo iſt denn das <lb/>Feuer im Körper vorhanden, das im Ofen nötig iſt, um aus <lb/>Sauerſtoff und Kohlenſtoff die Kohlenſäure zu bilden.</s>
  <s xml:id="echoid-s435" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s436" xml:space="preserve">Zur Antwort auf dieſe Frage müſſen wir jedoch daran <lb/>erinnern, daß, wie wir bereits geſagt haben, das Feuer nicht <lb/>etwas Beſondres iſt, das außerhalb des chemiſchen Prozeſſes <lb/>exiſtiert, ſondern faſt alles Feuer, das wir erzeugen und fort-<lb/>pflanzen, iſt nur eine Erſcheinung in dem chemiſchen Prozeſſe, <lb/>die aber nicht unbedingt und unter allen Umſtänden dazu ge-<lb/>hört. </s>
  <s xml:id="echoid-s437" xml:space="preserve">— Und hier iſt es, wo wir wiederum fortfahren können <lb/>in der Erklärung deſſen, was man den chemiſchen Prozeß nennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s438" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="27" file="035" n="35"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s439" xml:space="preserve">Es iſt ein ausgemachter Lehrſatz, daß immer, wenn zwei <lb/>Körper ſich chemiſch verbinden, dieſer Akt unter Veränderungen <lb/>der Wärme vor ſich geht.</s>
  <s xml:id="echoid-s440" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s441" xml:space="preserve">Man kann ſich in einzelnen Fällen ſehr leicht überzeugen, <lb/>wie Wärme auch ohne Feuer als Erſcheinung eines Natur-<lb/>prozeſſes entſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s442" xml:space="preserve">Wenn man in ein Glas kaltes Waſſer etwas <lb/>kalte Schwefelſäure gießt, wird das Waſſer ſo heiß davon, daß <lb/>oft das Glas zerſpringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s443" xml:space="preserve">Wenn man den Verſuch in einem <lb/>irdenen Topf macht, ſo fühlt ſich der Topf ſo an, als ob heißes <lb/>Waſſer darin wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s444" xml:space="preserve">Und doch war das Waſſer für ſich kalt <lb/>und die Schwefelſäure für ſich ebenfalls kalt. </s>
  <s xml:id="echoid-s445" xml:space="preserve">Die Wärme <lb/>entſtand erſt in dem Augenblick, wo beide Stoffe ſich mit ein-<lb/>ander gemiſcht haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s446" xml:space="preserve">— Nicht minder iſt es bekannt, wie <lb/>kaltes Waſſer, auf ungelöſchten Kalk gegoſſen, einen ſehr heißen <lb/>Kalkbrei herſtellt. </s>
  <s xml:id="echoid-s447" xml:space="preserve">Dies mag als Beweis dienen, daß ſich <lb/>Wärme auch ohne Feuererſcheinung entwickeln kann, als Er-<lb/>ſcheinung bei einem Naturprozeſſe, und wir wollen nun ſehen, <lb/>daß dies bei faſt allen chemiſchen Prozeſſen der Fall iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s448" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div15" type="section" level="1" n="15">
<head xml:id="echoid-head18" xml:space="preserve"><emph style="bf">XI. Die chemiſche Wärme.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s449" xml:space="preserve">Es iſt höchſt wichtig, zur Kenntnis der chemiſchen Prozeſſe <lb/>zu wiſſen, daß ſie immer mit Wärme-Erſcheinungen verbunden <lb/>ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s450" xml:space="preserve">nur tritt dies in einzelnen Fällen wenig merklich auf, <lb/>während es in andern recht auffallend zur Erſcheinung kommt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s451" xml:space="preserve">Und zwar geſchieht dies in folgender Weiſe:</s>
  <s xml:id="echoid-s452" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s453" xml:space="preserve">Wir wiſſen, daß die chemiſchen Grundſtoffe eine Neigung <lb/>haben, ſich mit einander zu verbinden; </s>
  <s xml:id="echoid-s454" xml:space="preserve">allein dieſe Neigung <lb/>iſt ſehr verſchieden. </s>
  <s xml:id="echoid-s455" xml:space="preserve">Während ſich z. </s>
  <s xml:id="echoid-s456" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s457" xml:space="preserve">Sauerſtoff mit einem <lb/>Metall, das den Namen Kalium führt, ſo leicht und ſchnell <lb/>verbindet, daß man das reine Kalium nur aufbewahren kann in <lb/>Steinöl, worin kein Sauerſtoff vorhanden iſt, — verbindet ſich
<pb o="28" file="036" n="36"/>
Sauerſtoff mit Gold im allgemeinen überhaupt nicht, ſo daß <lb/>man Gold in feuchter Luft liegen laſſen kann, ohne daß es <lb/>roſtet, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s458" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s459" xml:space="preserve">ohne daß es eine Verbindung mit dem Sauerſtoff <lb/>der Luft eingeht. </s>
  <s xml:id="echoid-s460" xml:space="preserve">Eiſen oder Zink dagegen verbindet ſich ſchon <lb/>bei weitem leichter mit Sauerſtoff, und ſetzt man eines dieſer <lb/>Metalle der feuchten Luft aus, ſo überzieht es ſich mit einer <lb/>Borke, die auf Eiſen rot erſcheint und Roſt genannt wird, <lb/>während Zink einen weißgrauen Überzug bekommt, den man <lb/>Zinkoxyd nennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s461" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s462" xml:space="preserve">Man ſagt daher mit Recht: </s>
  <s xml:id="echoid-s463" xml:space="preserve">Sauerſtoff und Kalium haben <lb/>eine ſtarke Neigung, ſich mit einander zu verbinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s464" xml:space="preserve">Sauer-<lb/>ſtoff mit Eiſen verbindet ſich ſchon weniger energiſch, Sauer-<lb/>ſtoff mit Zink noch weniger und Sauerſtoff mit Gold gar-<lb/>nicht.</s>
  <s xml:id="echoid-s465" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s466" xml:space="preserve">Was nun die Wärme betrifft, die bei dieſen Verbindungen <lb/>zur Erſcheinung kommt, ſo kann man Folgendes als Regel <lb/>feſtſtellen: </s>
  <s xml:id="echoid-s467" xml:space="preserve">Sobald ſich zwei Körper ſehr energiſch verbinden, <lb/>findet ein hoher Grad von Wärmeveränderung ſtatt. </s>
  <s xml:id="echoid-s468" xml:space="preserve">Die <lb/>Wärme kann ſich bei dieſem Prozeß ſo ſteigern, daß ein brenn-<lb/>barer Gegenſtand dabei in Flammen ausbricht. </s>
  <s xml:id="echoid-s469" xml:space="preserve">Findet die <lb/>Verbindung weniger energiſch ſtatt, ſo iſt die Wärme ebenfalls <lb/>geringer, und ſie kann in gewiſſen Fällen ſogar unmerklich <lb/>werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s470" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s471" xml:space="preserve">Wir wollen dies durch einige Beiſpiele zu erläutern ſuchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s472" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s473" xml:space="preserve">Wenn man ein Stückchen Kalium-Metall in einen Teller <lb/>mit kaltem Waſſer wirft, ſo iſt die Neigung dieſes Metalles, <lb/>ſich mit Sauerſtoff zu verbinden, ſo groß, daß es das <lb/>Waſſer chemiſch zerſetzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s474" xml:space="preserve">Waſſer nämlich beſteht, wie wir <lb/>ſpäter noch näher zeigen werden, aus Sauerſtoff und Waſſer-<lb/>ſtoffgas. </s>
  <s xml:id="echoid-s475" xml:space="preserve">Das Kalium, wenn es ins Waſſer kommt, hat nun <lb/>eine ſolche gewaltige Neigung zum Sauerſtoffe, daß es dem <lb/>Waſſer ſeinen Sauerſtoff entzieht, ſo daß der Sauerſtoff, der <lb/>früher im Waſſer war, ſich mit dem Kalium verbindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s476" xml:space="preserve">Die
<pb o="29" file="037" n="37"/>
Verbindung iſt aber ſo heftig, daß das Kalium zu glühen an-<lb/>fängt. </s>
  <s xml:id="echoid-s477" xml:space="preserve">Man ſieht auch deshalb ein Kügelchen von Kalium-<lb/>Metall, das ſonſt kalt iſt, in Glut geraten und ziſchend <lb/>umher ſpringen, wenn man es in kaltes Waſſer hineinwirft. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s478" xml:space="preserve">Hierbei zeigt ſich aber noch eine intereſſante Erſcheinung. </s>
  <s xml:id="echoid-s479" xml:space="preserve">Da <lb/>das Waſſer ſeinen Sauerſtoff verliert, ſo ſteigt aus dem Waſſer <lb/>Waſſerſtoffgas in die Höhe. </s>
  <s xml:id="echoid-s480" xml:space="preserve">Dies aber iſt ein brennbares Gas, <lb/>wird von der Glut des Kaliumkügelchens angezündet und <lb/>fängt an zu brennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s481" xml:space="preserve">Man nimmt hierbei das merkwürdige <lb/>Schauſpiel wahr, daß erſtens ein Metallkügelchen dadurch zu <lb/>glühen anfängt, daß man es in kaltes Waſſer wirft, und zweitens, <lb/>daß ein Beſtandteil des Waſſers hierbei ſelber in volle Flamme <lb/>gerät.</s>
  <s xml:id="echoid-s482" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s483" xml:space="preserve">Jeder Leſer wird ſchon daraus erſehen, daß hier die <lb/>Wärme nur ein Erzeugnis des chemiſchen Vorganges iſt, daß <lb/>ferner die Wärme ſich oft ſo ſteigert, daß ſie eine Flamme her-<lb/>vorruft, und jedermann wird es glaublich finden, wenn wir <lb/>ſagen, daß auf chemiſchem Wege Wärme erzeugt wird ſelbſt <lb/>ohne. </s>
  <s xml:id="echoid-s484" xml:space="preserve">Flamme. </s>
  <s xml:id="echoid-s485" xml:space="preserve">Es wird daher nun erklärlicher erſcheinen, daß <lb/>auch in unſerm Körper die Leibwärme erzeugt und erhalten <lb/>wird durch den chemiſchen Prozeß, den wir beim Eſſen und <lb/>Atmen durch Kohlenſtoff und Sauerſtoff hervorrufen.</s>
  <s xml:id="echoid-s486" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div16" type="section" level="1" n="16">
<head xml:id="echoid-head19" xml:space="preserve"><emph style="bf">XII. Die Chemie in aller Welt Händen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s487" xml:space="preserve">Indem wir nun in unſerm Thema weiter gehen wollen, <lb/>bitten wir unſere Leſer, ſich des Verſuchs zu erinnern, den wir <lb/>mit Phosphor und Sauerſtoff angeſtellt haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s488" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s489" xml:space="preserve">Wir haben bei dieſem Verſuch geſehen, daß ein Stückchen <lb/>Phosphor in einer Flaſche Sauerſtoffgas nur ein wenig erhitzt <lb/>zu werden braucht, um ſofort mit heller Flamme zu ver-<lb/>brennen, und jetzt wiſſen wir, daß dieſe Verbrennung nur ein
<pb o="30" file="038" n="38"/>
chemiſcher Vorgang iſt, daß das Feuer nur eine Erſcheinung <lb/>dieſes Vorganges bildet, daß eigentlich der wahre Hergang bei <lb/>dieſem Verſuch nur die chemiſche Verbindung von Phosphor <lb/>und Sauerſtoff iſt, welche beiſammen eine Art weißen Nebel <lb/>bilden, den man Phosphorſäure nennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s490" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s491" xml:space="preserve">In Nachſtehendem wollen wir zeigen, daß viele Millionen <lb/>Menſchen tagtäglich denſelben Verſuch mit dem glücklichſten <lb/>Erfolge anſtellen, freilich ohne daran zu denken, daß auch dies <lb/>Chemie iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s492" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s493" xml:space="preserve">Man kauft ſo oft für einen Groſchen tauſend Zündhölzchen, <lb/>und jedes derſelben gerät in hellen Brand, wenn man es an <lb/>einer rauhen Fläche reibt. </s>
  <s xml:id="echoid-s494" xml:space="preserve">Ein ſolches Zündhölzchen aber, das <lb/>man unachtſam benutzt und verächtlich von ſich wirft, iſt <lb/>wahrlich ein Gegenſtand, der zum ernſtlichen Nachdenken <lb/>anregt.</s>
  <s xml:id="echoid-s495" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s496" xml:space="preserve">Wie viele Tauſende von Menſchengeſchlechtern haben gelebt, <lb/>die das Erzeugen von Feuer für eine Art Zauber gehalten <lb/>haben! Die weiſen Griechen haben ſo wenig Vorſtellung <lb/>davon gehabt, wie man Feuer erzeugen kann, daß ſie in ihren <lb/>religiöſen Dichtungen die Fabel erfunden haben, daß ein Gott <lb/>einen Funken vom Himmel geſtohlen und ihn den Menſchen <lb/>gegeben habe, damit ſie ein Feuer anzünden könnten. </s>
  <s xml:id="echoid-s497" xml:space="preserve">In der <lb/>That war man im Altertum genötigt, glühende Kohlen auf-<lb/>zubewahren, um jederzeit Feuer anzünden zu können. </s>
  <s xml:id="echoid-s498" xml:space="preserve">In den <lb/>Tempeln der alten Völker brannte man eine ewige Leuchte, zu <lb/>deren Dienſt beſtimmte Prieſter beſtellt waren, damit ſie nie <lb/>verlöſche. </s>
  <s xml:id="echoid-s499" xml:space="preserve">Später erfand man das Feuerzeug, aus Stahl und <lb/>Stein beſtehend, deſſen ſich gewiß auch noch manche unſerer <lb/>Leſer bedient haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s500" xml:space="preserve">Mit ſolchem Feuerzeug ſtellt man das <lb/>Feuer dadurch her, daß man gegen die ſcharfe Kante eines be-<lb/>ſonders harten Steines, des Feuerſteins, ein Stück Stahl <lb/>ſchlägt, wodurch Stückchen Stahl ſo plötzlich eine heftige <lb/>Reibung erleiden, daß ſie glühend abſpringen und als Funken
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imſtande ſind, Zunder oder Schwamm in Glut zu ver-<lb/>ſetzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s501" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s502" xml:space="preserve">Seitdem jedoch die Chemie einen großen Aufſchwung <lb/>nahm und man einſah, daß Feuer nur eine Erſcheinung iſt <lb/>während eines chemiſchen Vorganges, erfand man mancherlei <lb/>andre Feuerzeuge, von denen ſich die Reibzündhölzchen als die <lb/>bequemſten und beſten bewährt haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s503" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s504" xml:space="preserve">Hätte ein Menſch in alten Zeiten ſolch’ ein Bündchen <lb/>Reibzündhölzchen hervorgebracht, er würde vielleicht von den <lb/>frommen Prieſtern als Gottesleugner und Zauberer auf den <lb/>Scheiterhaufen gebracht und vom unwiſſenden Volk als ein <lb/>Gott verehrt worden ſein! — Wieviel Stoff bietet uns ſolch’ <lb/>ein Hölzchen, um über den geiſtigen Fortſchritt der Menſchheit <lb/>nachzudenken, und wie ſehr lehrt uns ein ſolches die vergeb-<lb/>lichen Beſtrebungen verachten, durch welche man die Menſchen <lb/>wieder in den Zuſtand der Unwiſſenheit und Thorheit alter <lb/>Zeiten hineinzwängen will! —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s505" xml:space="preserve">Darum aber wollen wir ſolch’ ein Zündhölzchen näher <lb/>kennen lernen.</s>
  <s xml:id="echoid-s506" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s507" xml:space="preserve">Das einfache Zündhölzchen beſteht aus einem Hölzchen <lb/>deſſen Spitze zuerſt in Schwefel und dann in Phosphor ge-<lb/>taucht iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s508" xml:space="preserve">Der Phosphor hat die Eigenſchaft, daß er große <lb/>Neigung hat, ſich mit Sauerſtoff zu verbinden; </s>
  <s xml:id="echoid-s509" xml:space="preserve">legt man daher <lb/>ein Stückchen Phosphor, das ungefähr ſo ausſieht, wie weiches, <lb/>weißes Wachs, an die Luft, ſo genügt ſchon die gewöhnliche <lb/>Wärme der Luft, um eine langſame chemiſche Verbindung des <lb/>Sauerſtoffs der Luft mit dem Phosphor herzuſtellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s510" xml:space="preserve">Das <lb/>Stückchen Phosphor fängt an zu rauchen und einen weißen <lb/>Nebel von ſich zu geben, der eben nichts iſt, als Phosphor-<lb/>ſäure, wobei der Phosphor endlich ganz verſchwindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s511" xml:space="preserve">Im <lb/>Dunkeln ſieht man, daß der Phosphor in dieſem Zuſtande <lb/>leuchtet, und jedermann weiß es auch, daß, wenn man mit der <lb/>warmen Hand im Dunkeln über die Spitze des Zündhölzchens
<pb o="32" file="040" n="40"/>
fährt, ein ſolch’ leuchtender Nebel von beſonderem Geruch ent-<lb/>ſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s512" xml:space="preserve">Dieſer Nebel iſt Phosphorſäure, eine Verbindung des <lb/>Phosphors mit dem Sauerſtoff der Luft, die durch das Reiben <lb/>mit der warmen Hand begünſtigt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s513" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s514" xml:space="preserve">Wir wollen nun noch näher zeigen, daß ein ſolches Hölz-<lb/>chen, wenn es gerieben worden iſt, drei wirklich intereſſante, <lb/>chemiſche Vorgänge zeigt, die wohlbeachtet ſo lehrreich ſind, wie <lb/>man es ſich ſchwerlich denken mag.</s>
  <s xml:id="echoid-s515" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div17" type="section" level="1" n="17">
<head xml:id="echoid-head20" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIII. Verſuche mit einem Zündhölzchen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s516" xml:space="preserve">In der That, unſere Reibzündhölzchen ſtellen beim Ge-<lb/>brauch eine ganze Reihe von chemiſchen Vorgängen dar, <lb/>und bei all’ dieſen ſpielt der Sauerſtoff der Luft die Haupt-<lb/>rolle.</s>
  <s xml:id="echoid-s517" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s518" xml:space="preserve">Der chemiſche Vorgang beſteht darin, daß drei ver-<lb/>ſchiedene Stoffe ſich nacheinander mit dem Sauerſtoff der Luft <lb/>verbinden, und daß bei dieſer Gelegenheit drei verſchiedene <lb/>Flammen nach einander entſtehen, die ſtufenweiſe eine immer <lb/>größere Hitze erzeugen.</s>
  <s xml:id="echoid-s519" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s520" xml:space="preserve">Der Phosphor wird durch Reibung erwärmt, bis zu dem <lb/>Grade, wo er ſich unter Flammen mit dem Sauerſtoff der <lb/>Luft verbindet, und das iſt die erſte Flamme. </s>
  <s xml:id="echoid-s521" xml:space="preserve">Aber dieſe <lb/>Flamme können wir nicht zum Anzünden gewöhnlicher Gegen-<lb/>ſtände brauchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s522" xml:space="preserve">Der Phosphor verbindet ſich bei einem ſo <lb/>niedrigen Grad von Hitze mit dem Sauerſtoff der Luft, daß <lb/>wir langſam und ohne helle Flamme brennenden Phosphor in <lb/>der Hand halten können, ohne uns zu verletzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s523" xml:space="preserve">Wenn wir im <lb/>Dunkeln einen Strich mit einem Phosphorhölzchen über die Hand <lb/>machen, ſehen wir einen Streifen Phosphor auf der Hand ab-<lb/>brennen, d.</s>
  <s xml:id="echoid-s524" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s525" xml:space="preserve">ſich mit dem Sauerſtoff der Luft verbinden, ohne daß <lb/>wir dabei Schmerz empfinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s526" xml:space="preserve">Oft ſcheint es in ſolchen Fällen,
<pb o="33" file="041" n="41"/>
als ob der Phosphor ſchon ausgebrannt wäre; </s>
  <s xml:id="echoid-s527" xml:space="preserve">aber es iſt <lb/>meiſt nur mit der oberſten Schicht der Fall, und wenn dieſe <lb/>ſich in Phosphorſäure verwandelt hat, ſo dringt der Sauerſtoff <lb/>der Luft nicht bis zur unteren Schicht, ſo daß die Verbrennung <lb/>aufhört. </s>
  <s xml:id="echoid-s528" xml:space="preserve">Daher aber rührt es auch, daß, wenn man mit dem <lb/>Finger die Stelle, wo der Phosphorſtreifen war, abwiſcht, <lb/>dieſer noch einmal an zu brennen fängt; </s>
  <s xml:id="echoid-s529" xml:space="preserve">denn durch das Ab-<lb/>wiſchen iſt die untere Schicht frei geworden und dieſe verbindet <lb/>ſich nun mit dem Sauerſtoff der Luft und erſcheint wieder als <lb/>lichter Streifen. </s>
  <s xml:id="echoid-s530" xml:space="preserve">Dies iſt die langſame Verbrennung des <lb/>Phosphors.</s>
  <s xml:id="echoid-s531" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s532" xml:space="preserve">Aber auch die ſchnelle Verbindung des Phosphors mit <lb/>Sauerſtoff, die durch Reiben erzeugt wird und eine helle <lb/>Flamme bildet, iſt nicht ſtark genug, dauert auch nicht lange <lb/>genug an, um das Holz zu entzünden. </s>
  <s xml:id="echoid-s533" xml:space="preserve">Da aber Schwefel, <lb/>wie wir in dem Verſuche bereits geſehen haben, auch ſtarke <lb/>Neigung hat, ſich mit Sauerſtoff zu verbinden, ſo iſt die <lb/>ſchwache Wärme der Phosphorflamme hinreichend, um dem <lb/>Schwefel des Zündhölzchens den Grad von Wärme mit-<lb/>zuteilen, der ſeine Verbindung mit Sauerſtoff begünſtigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s534" xml:space="preserve">Es <lb/>fängt alſo jetzt der Schwefel ſein chemiſches Kunſtſtück an, <lb/>welches wir auch entſtehen ſahen, als wir Schwefel in der <lb/>Flaſche mit reinem Sauerſtoff verbrennen ließen. </s>
  <s xml:id="echoid-s535" xml:space="preserve">Der Phos-<lb/>phor iſt alſo nur gebraucht worden, um den Schwefel anzu-<lb/>brennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s536" xml:space="preserve">Zwar kann man den Schwefel ebenfalls durch Reiben <lb/>entzünden; </s>
  <s xml:id="echoid-s537" xml:space="preserve">allein dies iſt ſchon ſehr ſchwierig, weil die Reibung <lb/>viel zu lange geſchehen müßte, und man benutzt den Phos-<lb/>phor mit Recht, weil ſein Entzünden ſo ſehr leicht iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s538" xml:space="preserve">— Der <lb/>Phosphor alſo thut eine Vorarbeit; </s>
  <s xml:id="echoid-s539" xml:space="preserve">aber auch der Schwefel <lb/>iſt nur ein Vermittler.</s>
  <s xml:id="echoid-s540" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s541" xml:space="preserve">Der brennende Phosphor würde dem Kohlenſtoff des <lb/>Hölzchens nicht jenen hohen Grad von Hitze erteilen, die ihn <lb/>fähig macht, ſich mit dem Sauerſtoff der Luft zu verbinden.</s>
  <s xml:id="echoid-s542" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s543" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s544" xml:space="preserve">Bernſtein, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s545" xml:space="preserve">Volfsbücher VI.</s>
  <s xml:id="echoid-s546" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="34" file="042" n="42"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s547" xml:space="preserve">Der bloße Phosphor würde abbrennen, und das Hölzchen <lb/>würde nicht entzündet werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s548" xml:space="preserve">Da aber die Flamme des <lb/>Schwefels ſchon bei weitem heißer iſt, ſo verrichtet dieſe die <lb/>Vermittlung; </s>
  <s xml:id="echoid-s549" xml:space="preserve">ſie erhitzt den Kohlenſtoff des Holzes in ſo hohem <lb/>Grade, daß, wenn der Schwefel abgebrannt iſt, auch der <lb/>Kohlenſtoff anfängt, ſich mit dem Sauerſtoff der Luft zu ver-<lb/>binden, und das Holz ſelber gerät in hellen Brand, das heißt <lb/>wiederum, es verwandelt ſich mit dem Sauerſtoff zuſammen zu <lb/>Kohlenſäure.</s>
  <s xml:id="echoid-s550" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s551" xml:space="preserve">Und nun bitten wir unſere Leſer, ſich all’ der Verſuche <lb/>zu erinnern, die wir gleich anfangs mit der Flaſche voll <lb/>Sauerſtoff gemacht haben, wo wir Kohle, Schwefel und Phos-<lb/>phor, jedes einzeln, in einer Flaſche Sauerſtoff verbrennen <lb/>ließen, und zeigten, wie daraus in dem einen Falle Kohlen-<lb/>ſäure, in dem andern ſchweflige Säure und im letztern Falle <lb/>Phosphorſäure entſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s552" xml:space="preserve">Dieſe Verſuche mögen wohl etwas <lb/>fremdartig und gelehrt geklungen haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s553" xml:space="preserve">— Jetzt aber ſehen <lb/>wir, daß jeder unſerer Leſer tagtäglich ganz dieſelben Verſuche <lb/>macht, daß er mit jedem Zündhölzchen, das er anſteckt, alle <lb/>drei Kunſtſtücke mit einem Male vornimmt, daß er, ohne <lb/>daran zu denken, drei Verbrennungsprozeſſe, die nichts als <lb/>chemiſche Prozeſſe ſind, vor ſich gehen läßt und daß er, ein <lb/>chemiſcher Fabrikant, ohne es zu wiſſen, erſt Phosphorſäure, <lb/>dann ſchweflige Säure und dann Kohlenſäure fabriziert, wenn <lb/>er auch nichts dabei im Sinne hat, als ſich eine Zigarre an-<lb/>zuzünden.</s>
  <s xml:id="echoid-s554" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div18" type="section" level="1" n="18">
<head xml:id="echoid-head21" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIV. Ein chemiſches Geſetz.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s555" xml:space="preserve">Wir haben bisher verſucht, unſern Leſern einen näheren <lb/>Einblick in das Weſen des Sauerſtoffs und einige ſeiner Ver-<lb/>bindungen zu geben. </s>
  <s xml:id="echoid-s556" xml:space="preserve">Indem wir nunmehr bald zum Waſſer-
<pb o="35" file="043" n="43"/>
ſtoff übergehen wollen, müſſen wir noch zwei Dinge hier an-<lb/>führen: </s>
  <s xml:id="echoid-s557" xml:space="preserve">das eine iſt ein allgemeines, großes chemiſches Geſetz, <lb/>das man ſich merken muß, und das andere iſt eine Mitteilung <lb/>über eine große Entdeckung.</s>
  <s xml:id="echoid-s558" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s559" xml:space="preserve">Das Geſetz, auf das wir hier aufmerkſam machen wollen, <lb/>iſt folgendes:</s>
  <s xml:id="echoid-s560" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s561" xml:space="preserve">Wir wiſſen, daß die chemiſchen Elemente eine Neigung <lb/>haben, ſich unter begünſtigenden Umſtänden mit einander <lb/>chemiſch zu verbinden, und wir haben es auch ſchon erwähnt, <lb/>daß die Neigung verſchieden iſt, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s562" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s563" xml:space="preserve">daß ſie bei gewiſſen <lb/>Stoffen ſtärker, bei anderen Stoffen ſchwächer iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s564" xml:space="preserve">So haben <lb/>wir z. </s>
  <s xml:id="echoid-s565" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s566" xml:space="preserve">geſehen, daß das Metall, welches man Kalium <lb/>nennt, eine ungeheure Neigung hat, ſich mit Sauerſtoff zu ver-<lb/>binden, während Eiſen zwar auch dieſe Neigung hat, aber in <lb/>weit geringerem Maße.</s>
  <s xml:id="echoid-s567" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s568" xml:space="preserve">In der Chemie iſt es nun ſehr wichtig, zu wiſſen, wie <lb/>groß dieſe Neigung zweier Stoffe zu einander iſt, und zu er-<lb/>kennen, ob und welch’ anderer Stoff eine noch größere Neigung <lb/>hat, ſich mit einem der verbundenen Stoffe zu verbinden; </s>
  <s xml:id="echoid-s569" xml:space="preserve">denn <lb/>es iſt Geſetz in der Chemie, — und dies Geſetz wollen wir <lb/>unſern Leſern deutlich machen, — daß ein Stoff, der eine <lb/>große Neigung hat, ſich mit einem andern zu verbinden, im-<lb/>ſtande iſt, den andern Stoff herauszureißen aus einer bereits <lb/>eingegangenen Verbindung, ſobald dieſe aus ſchwächerer Neigung <lb/>entſtanden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s570" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s571" xml:space="preserve">Ein Beiſpiel ſoll dies deutlicher machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s572" xml:space="preserve">Es hat wohl <lb/>ſchon jedermann ein roſtiges Eiſen geſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s573" xml:space="preserve">Der Roſt auf <lb/>dem Eiſen entſtand dadurch, daß der Sauerſtoff der Luft ſich <lb/>mit der Oberfläche des Eiſens verbunden hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s574" xml:space="preserve">Das Eiſen iſt <lb/>alſo nicht etwa verſchwunden, ſondern iſt nach wie vor da; </s>
  <s xml:id="echoid-s575" xml:space="preserve">es <lb/>iſt nur ein Teil davon eine Verbindung eingegangen, welche <lb/>einen andern Körper gebildet hat, den Roſt, oder mit dem <lb/>wiſſenſchaftlichen Namen, das Eiſenoxyd. </s>
  <s xml:id="echoid-s576" xml:space="preserve">Geſetzt, es hätte
<pb o="36" file="044" n="44"/>
nun jemand ſolches Eiſenoxyd geſammelt, und es läge ihm <lb/>daran, den Sauerſtoff aus dem Eiſen herauszubringen, damit <lb/>er reines Eiſen habe, ſo kann dies nur dadurch geſchehen, daß <lb/>man zu dem Eiſenoxyd einen Stoff zubringt, der größere <lb/>Neigung zum Sauerſtoff hat als das Eiſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s577" xml:space="preserve">Unter ſolchen <lb/>Umſtänden wird der Sauerſtoff aus dem Eiſenoxyd fortgehen <lb/>und ſich mit jenem andern Stoff verbinden; </s>
  <s xml:id="echoid-s578" xml:space="preserve">dadurch wird das <lb/>Eiſen ganz rein von Sauerſtoff werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s579" xml:space="preserve">Man wird reines <lb/>Eiſen erhalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s580" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s581" xml:space="preserve">In der That wird alles Eiſen, das man bekanntlich aus <lb/>der Erde gräbt, nicht als reines, metalliſches Eiſen gefunden, <lb/>ſondern in chemiſcher Verbindung mit Sauerſtoff. </s>
  <s xml:id="echoid-s582" xml:space="preserve">Wer Eiſen-<lb/>bergwerke geſehen hat, wird bemerkt haben, daß es meiſt rote <lb/>und gelbe, wie Stein ausſehende Stücke waren, die man ihm <lb/>als das eigentliche Eiſenerz zeigte. </s>
  <s xml:id="echoid-s583" xml:space="preserve">Da man aber daraus <lb/>Eiſen machen will, ſo muß man den Sauerſtoff austreiben, <lb/>und das kann man nur thun, indem man das Eiſen in den <lb/>Hoch-Ofen bringt, woſelbſt es mit Kohlen gemiſcht wird, die <lb/>man dann anzündet. </s>
  <s xml:id="echoid-s584" xml:space="preserve">Die glühende Kohle aber — das wiſſen <lb/>wir ja ſchon — hat eine ſtarke Neigung, ſich mit Sauerſtoff <lb/>zu verbinden und eine Luftart, die Kohlenſäure zu bilden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s585" xml:space="preserve">Gerät nun die Kohle in Glut, ſo iſt ihre Neigung zum <lb/>Sauerſtoff ſtärker, als die des Eiſens; </s>
  <s xml:id="echoid-s586" xml:space="preserve">ſie reißt alſo aus <lb/>dem Eiſenoxyd den Sauerſtoff an ſich und verfliegt als Kohlen-<lb/>ſäure in die Luft, während reines, metalliſches Eiſen zurück-<lb/>bleibt.</s>
  <s xml:id="echoid-s587" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s588" xml:space="preserve">Wir ſehen alſo, wenn ein Stoff nur eine recht ſtarke <lb/>Neigung hat zu einem andern Stoffe, ſo kann er ihn unter <lb/>günſtigen Umſtänden auch an ſich ziehen und ſich mit ihm ver-<lb/>binden, ſelbſt wenn er bereits mit einem dritten Stoffe ſich ein-<lb/>gelaſſen hätte. </s>
  <s xml:id="echoid-s589" xml:space="preserve">— In ſolchem Falle ſagt man: </s>
  <s xml:id="echoid-s590" xml:space="preserve">der eine Stoff <lb/>hat ſeine frühere Verbindung verlaſſen und hat ſich mit dem <lb/>ſtärkeren Stoff verbunden; </s>
  <s xml:id="echoid-s591" xml:space="preserve">im vorliegenden Falle alſo hat der
<pb o="37" file="045" n="45"/>
Sauerſtoff das Eiſen verlaſſen und hat ſich zur Kohle begeben, <lb/>um mit dieſer eine Verbindung einzugehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s592" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s593" xml:space="preserve">In vielen Fällen geſchieht aber noch mehr; </s>
  <s xml:id="echoid-s594" xml:space="preserve">es tauſchen <lb/>nämlich unter Umſtänden zwei verſchiedene chemiſche Verbin-<lb/>dungen ihre Stoffe aus, wenn ſie zu einander gebracht werden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s595" xml:space="preserve">Ein Beiſpiel wird das, was wir meinen, deutlicher machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s596" xml:space="preserve"><lb/>Wir haben ſchon erwähnt, daß Kochſalz aus zwei Stoffen be-<lb/>ſteht, von denen der eine Natrium und der zweite Chlor heißt; </s>
  <s xml:id="echoid-s597" xml:space="preserve"><lb/>nun kann man aber auch durch Auflöſung von Silber in <lb/>Salpeterſäure ſalpeterſaures Silber darſtellen, das ebenfalls <lb/>ungefähr wie Salz ausſieht und allgemein unter dem Namen <lb/>Höllenſtein bekannt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s598" xml:space="preserve">Löſt man dieſe beiden Salze in zwei <lb/>verſchiedenen Fläſchchen mit Waſſer auf und gießt nun die <lb/>Miſchungen zu einander, ſo entſteht ſolch’ ein Austauſch. </s>
  <s xml:id="echoid-s599" xml:space="preserve">Das <lb/>Chlor verläßt das Natrium und verbindet ſich mit dem Silber, <lb/>und die Salpeterſäure verläßt das Silber und verbindet ſich <lb/>mit dem Natrium, und mau erhält ſtatt des früheren Chlor-<lb/>Natrium und des ſalpeterſauren Silbers zwei neue chemiſche <lb/>Körper, nämlich Chlor-Silber und ſalpeterſaures Natron.</s>
  <s xml:id="echoid-s600" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s601" xml:space="preserve">Dieſes Geſetz der Veränderungen und des Austauſches der <lb/>chemiſchen Verbindungen iſt die Grundquelle der meiſten <lb/>chemiſchen Erſcheinungen, weshalb wir ſie nicht unerwähnt <lb/>laſſen durften.</s>
  <s xml:id="echoid-s602" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div19" type="section" level="1" n="19">
<head xml:id="echoid-head22" xml:space="preserve"><emph style="bf">XV. Einiges vom Waſſerſtoff.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s603" xml:space="preserve">Indem wir hoffen vom Sauerſtoff-Gas inſoweit genügend <lb/>geſprochen zu haben, als ein Einblick in die Chemie für An-<lb/>fänger erfordert, wollen wir zum zweiten Grundſtoff ſchreiten <lb/>und vom Waſſerſtoffgas einiges vorführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s604" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s605" xml:space="preserve">Vor allem wollen wir nur ſagen, woher dieſes Gas ſeinen <lb/>Namen hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s606" xml:space="preserve">Das Waſſerſtoffgas wird darum ſo genannt,
<pb o="38" file="046" n="46"/>
weil es ein Haupt-Beſtandteil des Waſſers iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s607" xml:space="preserve">Alles Waſſer <lb/>in unſeren Brunnen, in unſeren Flüſſen, in Seen und Meeren, <lb/>was wir trinken oder ſonſt gebrauchen, iſt nicht ein einfacher <lb/>Stoff, ſondern beſteht aus zwei Luftarten, die chemiſch mit <lb/>einander verbunden ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s608" xml:space="preserve">Die eine Luftart iſt Waſſerſtoff und <lb/>die andere Sauerſtoff.</s>
  <s xml:id="echoid-s609" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s610" xml:space="preserve">So unglaublich dies dem Unkundigen auch klingen mag, <lb/>ſo wahr iſt es dennoch. </s>
  <s xml:id="echoid-s611" xml:space="preserve">Wenn man ſonſt geglaubt hat, daß <lb/>Waſſer ein Urſtoff ſei und ſich ſogar noch vor der Schöpfung <lb/>aller Dinge den Geiſt Gottes auf den Waſſern ſchwebend <lb/>dachte, ſo weiß man jetzt und kann es jedem zeigen, daß <lb/>Waſſer gemacht werden kann aus den zwei Luftarten, und <lb/>ebenſo, daß man die zwei Luftarten herſtellen kann aus <lb/>Waſſer.</s>
  <s xml:id="echoid-s612" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s613" xml:space="preserve">Wir wiſſen ja ſchon, daß, wenn man einen Stoff hinzubringt, <lb/>der größere Neigung hat, ſich mit Sauerſtoff zu verbinden, <lb/>der Sauerſtoff ſeine bisherige Verbindung verläßt und ſich mit <lb/>dem neuen Stoff verbindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s614" xml:space="preserve">Dadurch kann man aber auch <lb/>den Waſſerſtoff aus dem Waſſer frei machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s615" xml:space="preserve">— Da wir bereits <lb/>wiſſen, daß das Kalium-Metall — und ebenſo das Natrium <lb/>— eine ſo außerordentlich ſtarke Neigung hat zum Sauerſtoff, <lb/>ſo braucht man nur ein Stückchen von dieſem Metall in einen <lb/>Teller mit Waſſer zu werfen, um das ſchöne Schauſpiel zu <lb/>genießen, das wir bereits unſeren Leſern vorgeführt haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s616" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s617" xml:space="preserve">Das Kalium nimmt aus dem Waſſer den Sauerſtoff an <lb/>ſich und zwar ſo heftig, daß das Kalium zu glühen anfängt <lb/>und wie ein leuchtender Funken ziſchend im Teller umherſpringt; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s618" xml:space="preserve">hierbei aber ſteigt die Menge Waſſerſtoffgas, die früher mit <lb/>dem Sauerſtoffgas verbunden war, aus dem Waſſer auf, und <lb/>über dem Teller ſchwebt eine Menge dieſes Gaſes und würde, <lb/>weil es ein ſehr leichtes Gas iſt, aufwärts nach der Stuben-<lb/>decke ſteigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s619" xml:space="preserve">Da aber dieſes Gas auch brennbar iſt, ſo reicht <lb/>die Glut des Kaliums hin, um das Gas anzuzünden, und man
<pb o="39" file="047" n="47"/>
ſieht bei ſolchem Verſuch gewiſſermaßen, wie man aus dem <lb/>Waſſer Feuer machen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s620" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s621" xml:space="preserve">Das Kalium iſt indeſſen immer noch ein teueres Metall, <lb/>man kann aber das Waſſerſtoffgas weit billiger darſtellen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s622" xml:space="preserve">Wenn man eine Handvoll kleiner Eiſenſtückchen, wie etwa kleine <lb/>Nägel, in ein Glas wirft, das halb mit Waſſer gefüllt iſt, ſo <lb/>braucht man nur ein wenig Schwefelſäure zum Waſſer zuzu-<lb/>ſchütten, und man wird bemerken, wie aus dem Waſſer Bläschen <lb/>aufſteigen, als ob es kochte. </s>
  <s xml:id="echoid-s623" xml:space="preserve">Dieſe Bläschen ſind aber nichts, <lb/>als Waſſerſtoffgas, das frei wird, weil Eiſen im Gemiſch mit <lb/>Schwefelſäure eine ſehr ſtarke Neigung hat, ſich mit Sauerſtoff <lb/>zu verbinden, und dieſe Neigung ſo ſtark iſt, daß es den Sauer-<lb/>ſtoff aus dem Waſſer entreißt, wodurch der Waſſerſtoff des <lb/>Waſſers frei wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s624" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s625" xml:space="preserve">Wir wollen nun unſerm Leſer zeigen, wie er ſich mit den <lb/>einfachſten Mitteln dieſen Verſuch ſelbſt vor Augen führen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s626" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div20" type="section" level="1" n="20">
<head xml:id="echoid-head23" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVI. Anleitung zu einem Verſuch.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s627" xml:space="preserve">Man kann das Waſſerſtoffgas ſchnell und leicht darſtellen, <lb/>wenn man ſtatt Eiſen kleine Stückchen Zink nimmt, und da <lb/>wir meinen, daß wohl mancher unſerer Leſer eine Ausgabe <lb/>von ein paar Groſchen nicht ſcheuen wird, um einen Verſuch <lb/>derart zu machen, ſo wollen wir möglichſt deutlich die Anleitung <lb/>hierzu geben.</s>
  <s xml:id="echoid-s628" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s629" xml:space="preserve">Man nehme eine gewöhnliche, weiße Bierflaſche und ſchütte <lb/>eine Handvoll kleingeſchnittenes Zinkblech hinein, das man bei <lb/>jedem Klempner billig bekommen kann, da das Zink nicht neu <lb/>zu ſein braucht. </s>
  <s xml:id="echoid-s630" xml:space="preserve">Sodann gieße man die Flaſche halbvoll mit <lb/>Waſſer und verſchaffe ſich einen guten, leichtſchließenden <lb/>Pfropfen zu derſelben. </s>
  <s xml:id="echoid-s631" xml:space="preserve">Durch den Pfropfen bohre man mit <lb/>einem Federmeſſer oder mit einem glühenden Eiſen zwei
<pb o="40" file="048" n="48"/>
Löcher, das eine groß genug, um ein längeres, breites Glas-<lb/>rohr durchzuſtecken, das andere, um ein Stückchen dünneres <lb/>Glasrohr einſchieben zu können. </s>
  <s xml:id="echoid-s632" xml:space="preserve">Mit dieſem Pfropfen, in <lb/>welchem die Glasröhren ſtecken, verſchließe man nun die <lb/>Flaſche, und ſchiebe das längere, breitere Rohr ſo tief hinein <lb/>in die Flaſche, daß das untere Ende nahe den Boden berührt, <lb/>wo die Zinkſtückchen liegen, während man das dünne Glas-<lb/>röhrchen nur etwa einen Finger breit in die Flaſche hinein-<lb/>ſchiebt und es oben beliebig hoch aus dem Pfropfen hinaus-<lb/>ragen läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s633" xml:space="preserve">Schafft man ſich hierzu in einer gewöhnlichen <lb/>Medizinflaſche für 10 Pfennig Schwefelſäure an, ſo hat man <lb/>Alles, was man zu dem Verſuche braucht, der für jeden Lern-<lb/>begierigen ſehr lehrreich ſein kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s634" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s635" xml:space="preserve">Mit einiger Vorſicht kann man aus der Medizinflaſche in <lb/>das längere, weite Glasrohr Schwefelſäure eingießen, die in das <lb/>Waſſer hinabfließt; </s>
  <s xml:id="echoid-s636" xml:space="preserve">und wenn man ungefähr den achten Teil <lb/>der Schwefelſäure hineingethan hat, ſo halte man damit inne, <lb/>und man wird ſofort einen eigenen chemiſchen Prozeß in der <lb/>Flaſche wahrnehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s637" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s638" xml:space="preserve">Vor allem wird das Waſſer in der Flaſche warm, ſodann <lb/>aber bemerkt man, wie ſich an den Zinkſtückchen Bläschen an-<lb/>ſetzen, wie dieſe Bläschen ſich vermehren und im Waſſer auf-<lb/>ſteigen, und wie endlich das Waſſer ſich anſieht, als ob es <lb/>langſam kochte, und man vernimmt ein Ziſchen, wie etwa, wenn <lb/>man friſches Selterswaſſer in ein Glas, oder ein wenig Brauſe-<lb/>pulver in Waſſer ſchüttet. </s>
  <s xml:id="echoid-s639" xml:space="preserve">Nach einigen Minuten wird man <lb/>bemerken, daß durch das kleine Glasröhrchen eine Luftart aus-<lb/>ſtrömt, die eigentümlich riecht. </s>
  <s xml:id="echoid-s640" xml:space="preserve">Die Luftart iſt Waſſerſtoffgas, <lb/>das in ganz reinem Zuſtand geruchlos iſt, doch in vorliegen-<lb/>dem Fall von einigen beigemiſchten Gaſen ſeinen Geruch <lb/>erhält.</s>
  <s xml:id="echoid-s641" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s642" xml:space="preserve">Was nun in der Flaſche vorgeht, iſt Folgendes:</s>
  <s xml:id="echoid-s643" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s644" xml:space="preserve">Zink hat eine große Neigung, ſich mit Sauerſtoff zu ver-
<pb o="41" file="049" n="49"/>
binden; </s>
  <s xml:id="echoid-s645" xml:space="preserve">allein dieſe Neigung iſt nicht ſtark genug, um den <lb/>Sauerſtoff dem Waſſer zu entreißen. </s>
  <s xml:id="echoid-s646" xml:space="preserve">Erſt wenn man Schwefel-<lb/>ſäure dazu bringt, tritt eine ſolche Umwandlung des Zinks <lb/>ein, daß ſeine Begierde nach Sauerſtoff ſehr ſtark wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s647" xml:space="preserve">Da <lb/>nun im Waſſer Sauerſtoff vorhanden iſt, ſo zieht das Zink <lb/>dieſen Sauerſtoff an ſich und verbindet ſich mit demſelben, <lb/>während der Waſſerſtoff als Gas in einzelnen Bläschen im <lb/>Waſſer aufſteigt und den Luftraum der Flaſche mit Waſſer-<lb/>ſtoffgas ausfüllt. </s>
  <s xml:id="echoid-s648" xml:space="preserve">Dieſes Gas iſt es nun, das aus dem <lb/>kleinen Röhrchen ausſtrömt und immer ſtärker ausſtrömt, <lb/>je ſtärker die Entwicklung des Gaſes in der Flaſche vor <lb/>ſich geht.</s>
  <s xml:id="echoid-s649" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s650" xml:space="preserve">Das ausſtrömende Gas iſt brennbar, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s651" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s652" xml:space="preserve">dieſe Luftart <lb/>brennt, wenn man ſie anſteckt. </s>
  <s xml:id="echoid-s653" xml:space="preserve">Allein man hüte ſich ja, <lb/>dies ſogleich zu thun, ſondern man warte lieber an zehn <lb/>Minuten und gieße, wenn das Brauſen in der Flaſche nach-<lb/>läßt, wieder eine kleine Portion Schwefelſäure zu, denn durch <lb/>allzufrühes Anzünden des Gaſes kann man leicht ein Unglück <lb/>anrichten. </s>
  <s xml:id="echoid-s654" xml:space="preserve">In der Flaſche nämlich war gewöhnliche Luft. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s655" xml:space="preserve">Dieſe Luft enthält, wie wir bereits wiſſen, Sauerſtoff; </s>
  <s xml:id="echoid-s656" xml:space="preserve">das <lb/>alſo, was zuerſt aus der Flaſche ausſtrömt, iſt nicht bloßes <lb/>Waſſerſtoffgas, ſondern ein Gemiſch von Waſſerſtoffgas und <lb/>Sauerſtoffgas; </s>
  <s xml:id="echoid-s657" xml:space="preserve">es iſt dies aber eine gefährliche Miſchung, <lb/>denn wenn man ſie entzündet, flammt ſie mit einem furchtbaren <lb/>Knall auf und zerſprengt die Flaſche derart, daß man ſich <lb/>dabei gefährlich verwunden kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s658" xml:space="preserve">Erſt nach einigen Minuten <lb/>heftiger Ausſtrömung iſt dies gefährliche Gas, das man <lb/>“Knallgas” nennt, fort, und wenn die Strömung unterhalten <lb/>wird, kommt kein Sauerſtoff in die Flaſche hinein; </s>
  <s xml:id="echoid-s659" xml:space="preserve">man kann <lb/>daher nach Verlauf von zehn Minuten ganz gefahrlos einen <lb/>brennenden Fidibus an die Spitze des kleinen Röhrchens halten, <lb/>und man wird ſehen, daß hier eine kleine Flamme erſcheint, <lb/>die ſchwach bläulich leuchtet und fortbrennt, ſo lange die Ent-
<pb o="42" file="050" n="50"/>
wicklung des Gaſes in der Flaſche ſtark genug iſt, was auch <lb/>der Fall iſt, wenn man immer etwas friſche Schwefelſäure <lb/>zugießt.</s>
  <s xml:id="echoid-s660" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s661" xml:space="preserve">Wenn man nun das Waſſerſtoffgas anzündet, ſo bemerkt <lb/>man, daß es in der Flaſche nicht brennt, ſondern erſt, wenn <lb/>es ausgeſtrömt iſt und mit der Luft in Berührung tritt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s662" xml:space="preserve">Hieraus kann man entnehmen, daß das Waſſerſtoffgas nur <lb/>brennt, wenn Sauerſtoff zugegen iſt, wie das in der Luft der <lb/>Fall iſt, oder richtiger: </s>
  <s xml:id="echoid-s663" xml:space="preserve">Waſſerſtoffgas verbrennt, indem es ſich <lb/>mit Sauerſtoffgas verbindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s664" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s665" xml:space="preserve">Was aber wird aus dieſer Verbindung?</s>
  <s xml:id="echoid-s666" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s667" xml:space="preserve">Nun, das wollen wir ſogleich ſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s668" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s669" xml:space="preserve">Man halte über die kleine Gasflamme ein großes, langes <lb/>Weißbierglas, das man inwendig und auswendig recht trocken <lb/>ausgewiſcht hat, und zwar halte man das Glas umgekehrt, ſo <lb/>daß die Gasflamme inwendig iſt, wie etwa eine Lampen-<lb/>flamme im Cylinder. </s>
  <s xml:id="echoid-s670" xml:space="preserve">Nach einer Weile wird man bemerken, <lb/>daß das Glas inwendig zu beſchlagen anfängt, als hätte man <lb/>hineingehaucht. </s>
  <s xml:id="echoid-s671" xml:space="preserve">Das Glas wird inwendig feucht, ja bei ge-<lb/>eigneter Vorrichtung kann man es ſogar ſo weit bringen, daß <lb/>ſich Tropfen zu ſammeln anfangen und endlich reines Waſſer <lb/>an den Wänden des Glaſes herabfließt.</s>
  <s xml:id="echoid-s672" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s673" xml:space="preserve">Wo kommt dieſes Waſſer her?</s>
  <s xml:id="echoid-s674" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s675" xml:space="preserve">Es rührt von der Verbindung des ausſtrömenden Waſſer-<lb/>ſtoffs mit dem Sauerſtoff der Luft her. </s>
  <s xml:id="echoid-s676" xml:space="preserve">Wir ſehen alſo, daß <lb/>der ſoeben erſt vom Sauerſtoff getrennte Waſſerſtoff ſofort <lb/>wieder zu Waſſer wird, wenn man ihm Gelegenheit giebt, ſich <lb/>mit Sauerſtoff zu verbinden, das heißt zu verbrennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s677" xml:space="preserve">Wir <lb/>kommen alſo zu dem höchſt komiſch klingenden, aber nichts-<lb/>deſtoweniger durchaus richtigen Schluß: </s>
  <s xml:id="echoid-s678" xml:space="preserve">Waſſer iſt nichts <lb/>anderes als verbrannter Waſſerſtoff.</s>
  <s xml:id="echoid-s679" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="43" file="051" n="51"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div21" type="section" level="1" n="21">
<head xml:id="echoid-head24" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVII. Von der Zerlegung des Waſſers auf</emph> <lb/><emph style="bf">elektriſchem Wege.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s680" xml:space="preserve">Um nun noch weiter von der Zerſetzung des Waſſers in <lb/>ſeine Grundbeſtandteile zu ſprechen, ſo wollen wir jetzt in <lb/>möglichſt faßlicher Weiſe zeigen, wie man dieſelbe Zerſetzung <lb/>des Waſſers, die wir eben auf rein chemiſche Weiſe erzielt <lb/>haben, auch durch den elektriſchen Strom bewerkſtelligen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s681" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s682" xml:space="preserve">Man nehme ein Stück Lampen-Cylinder und verſchließe <lb/>das eine offene Ende mit einem Stückchen Schweinsblaſe, ſo <lb/>daß der Cylinder eine Art Becher bildet, in den man Waſſer <lb/>hineingießen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s683" xml:space="preserve">In dieſen Becher ſtelle man ein Stück <lb/>Zinkblech, woran man ein Stück Kupferdraht angelötet, oder <lb/>ſonſt gehörig befeſtigt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s684" xml:space="preserve">Dieſen künſtlichen Becher mit dem <lb/>Stück Zink darin ſtelle man in ein gewöhnliches Bierglas, <lb/>ſetze aber auch in das Bierglas ein Stück Kupferblech, an <lb/>welchem ebenfalls ein langer Kupferdraht befeſtigt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s685" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s686" xml:space="preserve">Nun gieße man in den künſtlichen Becher und in das <lb/>Bierglas eine Partie Waſſer, ſo daß ſie beide faſt voll ſind. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s687" xml:space="preserve">Wenn das geſchehen iſt, gieße man in den künſtlichen Becher, <lb/>worin das Zinkblech ſteht, ein wenig Schwefelſäure, und in <lb/>das Bierglas, worin das Kupferblech ſteht, werfe man etwas <lb/>Kupfervitriol.</s>
  <s xml:id="echoid-s688" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s689" xml:space="preserve">In dieſem ſehr billig herzuſtellenden Apparat beſitzt man <lb/>eine elektriſch-galvaniſche Maſchine. </s>
  <s xml:id="echoid-s690" xml:space="preserve">Mit ſolchen Apparaten <lb/>kann man galvaniſche Verſilberungen, galvaniſche Vergoldungen <lb/>bewerkſtelligen; </s>
  <s xml:id="echoid-s691" xml:space="preserve">ſolche Apparate werden zur elektriſchen Tele-<lb/>graphie benutzt, und zugleich kann man mit dieſen bedeutende <lb/>chemiſche Wirkungen hervorbringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s692" xml:space="preserve">Wir haben bereits über <lb/>dieſen Apparat unſeren Leſern weiteren Bericht abgeſtattet; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s693" xml:space="preserve">für jetzt mag es genügen, darzuthun, daß man mittelſt mehrerer <lb/>ſolcher Maſchinen imſtande iſt, Waſſer in ſeine zwei Beſtand-<lb/>teile zu zerlegen.</s>
  <s xml:id="echoid-s694" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="44" file="052" n="52"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s695" xml:space="preserve">Wenn man nämlich die Enden der beiden Drähte in eine <lb/>Taſſe mit Waſſer hineinlegt, ohne daß die Drähte ſich berühren, <lb/>ſo bewegt ſich ein elektriſcher Strom durch die Drähte und <lb/>das Waſſer; </s>
  <s xml:id="echoid-s696" xml:space="preserve">und dieſer Strom hat die Eigenſchaft, das Waſſer <lb/>in der Taſſe chemiſch zu zerlegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s697" xml:space="preserve">Wenn man den einen Draht, <lb/>der an der Zinkplatte befeſtigt iſt, den negativen Pol und den <lb/>Draht, der an der Kupferplatte befeſtigt iſt, den poſitiven Pol <lb/>nennt, ſo bemerkt man, daß an beiden Drähten, ſobald ſie im <lb/>Waſſer liegen, ſich kleine Luftbläschen anſetzen, und fängt man <lb/>dieſe Luftbläschen in kleinen, geeigneten Apparaten beſonders <lb/>auf, ſo findet es ſich, daß die am poſitiven Pol, alſo am <lb/>Kupferende, reines Sauerſtoffgas, während die am negativen <lb/>Pol, am Zinkende, reines Waſſerſtoffgas ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s698" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s699" xml:space="preserve">Es läßt ſich nun denken, daß ein ganzes Syſtem von <lb/>ſolchen Apparaten hinreichen würde, große Maſſen Waſſer zu <lb/>zerſetzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s700" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s701" xml:space="preserve">Allein auch hier ſind die Koſten viel zu hoch, um dieſen <lb/>Weg praktiſch zu machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s702" xml:space="preserve">Denn das Zinkblech, das in der <lb/>verdünnten Schwefelſäure ſteht, geht dabei verloren, indem es, <lb/>ganz wie in der Flaſche, die wir bereits kennen, ſich in das <lb/>wertloſe ſchwefelſaure Zinkoxyd verwandelt.</s>
  <s xml:id="echoid-s703" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div22" type="section" level="1" n="22">
<head xml:id="echoid-head25" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVIII. Etwas vom Stickſtoff.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s704" xml:space="preserve">Wir wollen nunmehr einen neuen chemiſchen Stoff kennen <lb/>lernen, der in der Natur, und namentlich in unſeren Nahrungs-<lb/>ſtoffen eine große Rolle ſpielt.</s>
  <s xml:id="echoid-s705" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s706" xml:space="preserve">Dieſer neue Stoff heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s707" xml:space="preserve">Stickſtoff.</s>
  <s xml:id="echoid-s708" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s709" xml:space="preserve">Wie ſieht wohl eine Flaſche voll Stickſtoff aus? </s>
  <s xml:id="echoid-s710" xml:space="preserve">Was hat <lb/>der Stickſtoff für Geruch? </s>
  <s xml:id="echoid-s711" xml:space="preserve">was für Farbe?</s>
  <s xml:id="echoid-s712" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s713" xml:space="preserve">Der Stickſtoff iſt von Anſehen weder vom Sauerſtoff, noch <lb/>vom Waſſerſtoff zu unterſcheiden. </s>
  <s xml:id="echoid-s714" xml:space="preserve">Der Stickſtoff iſt eine Luftart,
<pb o="45" file="053" n="53"/>
die ganz wie die gewöhnliche Luft ausſieht, denn die gewöhn-<lb/>liche Luft beſteht eben zum größten Teil aus Stickſtoff. </s>
  <s xml:id="echoid-s715" xml:space="preserve">Eben-<lb/>ſowenig hat der Stickſtoff einen Geruch oder irgend welche <lb/>Farbe, und doch werden wir bald ſehen, daß ſeine chemiſchen <lb/>Verbindungen ſowohl mit dem Sauerſtoff wie mit dem Waſſer-<lb/>ſtoff ganz merkwürdige Flüſſigkeiten herſtellen, die zu den ein-<lb/>dringlichſten und ſchärfſten gehören, die die Chemie hervor-<lb/>bringen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s716" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s717" xml:space="preserve">Man kann ſich außerordentlich leicht ein Glas voll Stick-<lb/>ſtoff herſtellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s718" xml:space="preserve">Unſere Luft beſteht nämlich aus einem Gemiſch <lb/>von einem Teil Sauerſtoff und vier Teilen Stickſtoff, oder <lb/>genauer: </s>
  <s xml:id="echoid-s719" xml:space="preserve">in hundert Kubikmeter Luft ſind immer 21 Kubik-<lb/>meter Sauerſtoff und 79 Kubikmeter Stickſtoff enthalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s720" xml:space="preserve">Man <lb/>braucht daher nur aus einem mit Luft gefüllten Gefäß den <lb/>Sauerſtoff fortzunehmen, ſo bleibt in demſelben nur der Stick-<lb/>ſtoff übrig, wenn auch durch andere Beſtandteile der Luft wie <lb/>Kohlenſäure, Ammoniak, Argon u. </s>
  <s xml:id="echoid-s721" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s722" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s723" xml:space="preserve">ein wenig “ver-<lb/>unreinigt.</s>
  <s xml:id="echoid-s724" xml:space="preserve">”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s725" xml:space="preserve">Wenn man daher auf einem flachen Teller mit Waſſer <lb/>einen breiten Pfropfen ſchwimmen läßt und auf dieſen ein <lb/>Stück Schwamm hinlegt, das mit Spiritus getränkt iſt, ſo <lb/>braucht man nur den Schwamm anzuzünden und ein Bierglas <lb/>umgekehrt über den Pfropfen in den Teller hineinzuſtellen, <lb/>um ſofort ein Schauſpiel eigner Art zu haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s726" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s727" xml:space="preserve">Die Luft, die im Glaſe war, beſtand aus einem Teil <lb/>Sauerſtoff und vier Teilen Stickſtoff. </s>
  <s xml:id="echoid-s728" xml:space="preserve">Der Spiritus aber, der <lb/>im innern Raum des Glaſes eine kurze Zeit brennt, verbindet <lb/>ſich dabei mit dem einen Teil Sauerſtoff, der im Glaſe iſt, <lb/>ſo daß nur die vier Teile Stickſtoff in demſelben übrig bleiben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s729" xml:space="preserve">Da aber nun ein Fünftel der Luft im Glaſe verzehrt iſt, ſo <lb/>wird man bald bemerken, daß das Waſſer im Glaſe zu ſteigen <lb/>anfängt und gerade ein Fünftel vom Raum des Glaſes ſich <lb/>mit Waſſer füllt. </s>
  <s xml:id="echoid-s730" xml:space="preserve">Sobald dies geſchehen iſt, erliſcht die Flamme
<pb o="46" file="054" n="54"/>
des Schwammes, ſelbſt wenn noch unverbrannter Spiritus <lb/>daran iſt, und zeigt uns, daß in der übrig geblieben Luft des <lb/>Glaſes eine Verbrennung nicht mehr möglich iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s731" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s732" xml:space="preserve">Bringt man durch irgend welche Vorrichtung ein Tier in <lb/>den Raum dieſes Glaſes, ſo erſtickt es in demſelben ebenſo <lb/>ſchnell, als wenn im Glaſe gar keine Luft wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s733" xml:space="preserve">Die Luft, <lb/>die jetzt im Glaſe iſt, iſt alſo nicht zur Atmung brauchbar, <lb/>und weil die Tiere in ſolcher des Sauerſtoffs beraubten Luft <lb/>natürlich erſticken, nannte man dieſe Luftart Stickſtoff.</s>
  <s xml:id="echoid-s734" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s735" xml:space="preserve">Vergleichen wir nun einmal die drei Luftarten oder die <lb/>chemiſchen Stoffe, die wir jetzt kennen gelernt haben, mit ein-<lb/>ander, ſo finden wir folgendes:</s>
  <s xml:id="echoid-s736" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s737" xml:space="preserve">Der Sauerſtoff an ſich iſt keine brennbare Luft; </s>
  <s xml:id="echoid-s738" xml:space="preserve">aber er <lb/>bedingt die Verbrennung, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s739" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s740" xml:space="preserve">es verbrennen die Körper <lb/>nur, wenn ſie ſich mit Sauerſtoff verbinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s741" xml:space="preserve">Das Waſſer-<lb/>ſtoffgas befördert die Verbrennung nicht, und ein brennender <lb/>Körper, der in ein Gefäß mit Waſſerſtoffgas gebracht wird, <lb/>erliſcht; </s>
  <s xml:id="echoid-s742" xml:space="preserve">aber das Waſſerſtoffgas ſelber iſt brennbar und brennt, <lb/>wenn es in der Luft angezündet wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s743" xml:space="preserve">Der Stickſtoff dagegen <lb/>iſt weder brennbar, noch brennen die Körper fort in einem <lb/>Gefäße mit Stickſtoff.</s>
  <s xml:id="echoid-s744" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s745" xml:space="preserve">Man kann ſich den Stickſtoff auch auf anderem Wege <lb/>bereiten. </s>
  <s xml:id="echoid-s746" xml:space="preserve">Wenn man in eine Flaſche ein wenig Waſſer gießt, <lb/>ſodann eine Stange Phosphor an einem Pfropfen befeſtigt <lb/>und mit dieſem Pfropfen die Flaſche ſo zuſtöpſelt, daß die <lb/>Stange Phosphor in die Flaſche hinabhängt, ſo braucht man <lb/>dieſe Flaſche nur an vierunzwanzig Stunden ſtehen zu laſſen, <lb/>um in derſelben reines Stickſtoffgas zu haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s747" xml:space="preserve">Die Erklärung <lb/>dieſer Erſcheinung iſt folgende: </s>
  <s xml:id="echoid-s748" xml:space="preserve">In der Flaſche befand ſich <lb/>gewöhnliche Luft, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s749" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s750" xml:space="preserve">eine Miſchung von vier Teilen Stick-<lb/>ſtoff und einem Teil Sauerſtoffgas. </s>
  <s xml:id="echoid-s751" xml:space="preserve">Der Phosphor aber hat <lb/>eine große Neigung, ſich chemiſch mit Sauerſtoff zu verbinden; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s752" xml:space="preserve">dies geſchieht, wenn der Phosphor nicht erhitzt wird, ſehr
<pb o="47" file="055" n="55"/>
langſam, ſo daß etwa erſt in vierundzwanzig Stunden aller <lb/>vorrätige Sauerſtoff ſich mit Phosphor verbunden hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s753" xml:space="preserve">Hieraus <lb/>entſteht in der Flaſche zwar ein neuer Stoff, die Phosphor-<lb/>ſäure; </s>
  <s xml:id="echoid-s754" xml:space="preserve">aber dieſe Phosphorſäure, die wie ein weißer, matt <lb/>leuchtender Nebel ausſieht, verbindet ſich mit dem Waſſer, das <lb/>auf dem Boden der Flaſche iſt, und in der Flaſche ſelber bleibt <lb/>nur reiner Stickſtoff übrig.</s>
  <s xml:id="echoid-s755" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s756" xml:space="preserve">Der Stickſtoff iſt in der Natur außerordentlich ſtark ver-<lb/>breitet, da ja ſchon vier Fünftel der Luft aus Stickſtoff <lb/>beſtehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s757" xml:space="preserve">aber auch in den Pflanzen und Tieren bildet dieſer <lb/>Stoff das Hauptnahrungsmittel, denn nur ſtickſtoffhaltige <lb/>Speiſen vermögen Fleiſch hervorzubringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s758" xml:space="preserve">Es iſt dieſer Stoff <lb/>aber ganz eigentümlich in ſeinen Verbindungen, und deshalb <lb/>wollen wir ihn jetzt etwas näher betrachten.</s>
  <s xml:id="echoid-s759" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div23" type="section" level="1" n="23">
<head xml:id="echoid-head26" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIX. Die chemiſche Trägheit des Stickſtoffes</emph> <lb/><emph style="bf">und deren wohlthätige Folgen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s760" xml:space="preserve">Das eigentümliche chemiſche Verhalten des Stickſtoffs be-<lb/>ſteht darin, daß er ſo gut wie gar keine Luſt hat, ſich mit <lb/>irgend einem Körper zu verbinden.</s>
  <s xml:id="echoid-s761" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s762" xml:space="preserve">Wir wiſſen, daß feucht gewordenes Eiſen eine große <lb/>Neigung hat, ſich mit dem Sauerſtoff der Luft zu verbinden, <lb/>und aus dieſer Verbindung entſteht der Roſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s763" xml:space="preserve">Desgleichen <lb/>haben viele Metalle die Neigung, Verbindungen mit Sauerſtoff <lb/>einzugehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s764" xml:space="preserve">Einzelne von ihnen ſind ſogar ſo kräftig in dieſer <lb/>Neigung, daß ſie ſich den Sauerſtoff herausholen aus anderen <lb/>Körpern, mit denen er bereits verbunden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s765" xml:space="preserve">— Ebenſo giebt <lb/>es Luftarten, die Luſt haben, ſich mit Waſſerſtoff zu verbinden, <lb/>obgleich dies ſchon ſchwieriger vor ſich geht. </s>
  <s xml:id="echoid-s766" xml:space="preserve">Der Stickſtoff <lb/>dagegen iſt ein höchſt gleichgültiger Stoff, der nur unter ganz
<pb o="48" file="056" n="56"/>
beſonderen Umſtänden dazu gebracht wird, eine chemiſche Ver-<lb/>bindung mit anderen Stoffen einzugehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s767" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s768" xml:space="preserve">Für das Leben der Menſchen und Tiere iſt dieſer Umſtand <lb/>von der höchſten Wichtigkeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s769" xml:space="preserve">Wir atmen in einemfort Luft ein <lb/>und benutzen eigentlich nur das eine Fünftel Sauerſtoff, das <lb/>darin iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s770" xml:space="preserve">die vier Teile Stickſtoff aber, die wir bei dieſer Ge-<lb/>legenheit mit in unſere Lungen aufnehmen, würden, wenn im <lb/>Stickſtoff eine Neigung vorhanden wäre, ſich chemiſch zu verbinden, <lb/>eine weſentliche Störung in unſerem Körper verurſachen; </s>
  <s xml:id="echoid-s771" xml:space="preserve">ſo <lb/>aber, da der Stickſtoff ſo träge iſt, wird er wieder aus unſerm <lb/>Körper entfernt, ohne irgendwie eine Rolle darin zu ſpielen.</s>
  <s xml:id="echoid-s772" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s773" xml:space="preserve">Seine Anweſenheit in der Luft hat aber den Vorteil, daß <lb/>wir mit jedem Atemzuge nur eine kleine Portion Sauerſtoff <lb/>aufnehmen, wodurch die Lebensthätigkeit in uns gemäßigt und <lb/>geregelt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s774" xml:space="preserve">Denn der Sauerſtoff, den wir einatmen, geht <lb/>eine Verbindung mit dem Kohlenſtoff unſeres Körpers ein; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s775" xml:space="preserve">dadurch wird eine Art langſamer Verbrennung im Körper <lb/>ſtattfinden, welche die Leibeswärme erzeugt, und ſo läßt es ſich <lb/>leicht denken, daß das Atmen von viel Sauerſtoff einen höheren <lb/>Hitzegrad und eine größere Thätigkeit des Lebens hervorrufen <lb/>müßte, als für die Erhaltung unſeres Körpers gut iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s776" xml:space="preserve">— Der <lb/>Stickſtoff bewirkt alſo in der Luft eine ſtarke Verdünnung des <lb/>Sauerſtoffs, die für den geſunden Atem notwendig iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s777" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s778" xml:space="preserve">Wir haben es bereits geſagt, daß der Stickſtoff in der <lb/>Luft mit Sauerſtoff gemiſcht iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s779" xml:space="preserve">wir müſſen dies jetzt beſonders <lb/>hervorheben, um den Irrtum zu meiden, dieſe Miſchung als <lb/>eine chemiſche Verbindung anzunehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s780" xml:space="preserve">Wir nehmen hierbei <lb/>die Gelegenheit wahr, auf den wichtigen Unterſchied einer <lb/>chemiſchen Verbindung und einer bloßen Miſchung aufmerkſam <lb/>zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s781" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s782" xml:space="preserve">Wenn man Milch in den Kaffee ſchüttet, ſo iſt das nur <lb/>eine Miſchung, die man vorgenommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s783" xml:space="preserve">Es verändert ſich <lb/>hierdurch weder die Natur der Milch noch die des Kaffees.</s>
  <s xml:id="echoid-s784" xml:space="preserve">
<pb o="49" file="057" n="57"/>
Die Farbe, der Geſchmack und alle ſonſtigen Eigenſchaften der <lb/>Miſchung Milch-Kaffee ſind ein Mittelding zwiſchen Farbe, <lb/>Geſchmack und Eigenſchaften der reinen Milch und des reinen <lb/>Kaffees. </s>
  <s xml:id="echoid-s785" xml:space="preserve">Nimmt man zur Miſchung mehr Milch als Kaffee, <lb/>ſo nähern ſich die Eigenſchaften des Gemiſches mehr denen der <lb/>reinen Milch, gießt man mehr Kaffee zu, ſo wird das Gemiſch <lb/>dem reinen Kaffee ähnlicher. </s>
  <s xml:id="echoid-s786" xml:space="preserve">Gleichwohl exiſtiert eine An-<lb/>ziehung zwiſchen dem kleinſten Milch- und Kaffeeteilchen, welche <lb/>ein gleichmäßiges Durchdringen dieſer beiden Flüſſigkeiten <lb/>möglich macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s787" xml:space="preserve">In der Miſchung finden wir überall gleichviel <lb/>Kaffee- und gleichviel Milchteilchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s788" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s789" xml:space="preserve">Wenn man aber Waſſer in Schwefelſäure ſchüttet, ſo iſt <lb/>dies ſchon eine chemiſche Verbindung, die man hervorbringt, <lb/>denn die Natur des Waſſers und die der Schwefelſäure werden <lb/>hierdurch weſentlich verändert. </s>
  <s xml:id="echoid-s790" xml:space="preserve">Die Veränderung giebt ſich <lb/>ſchon in vielen Dingen kund. </s>
  <s xml:id="echoid-s791" xml:space="preserve">Vor allem entſteht nach dem <lb/>Hineinſchütten des Waſſers in die Schwefelſäure ein hoher <lb/>Grad von Hitze. </s>
  <s xml:id="echoid-s792" xml:space="preserve">Die zuſammengegoſſenen Flüſſigkeiten, von <lb/>denen jede früher kalt war, werden ſo heiß, daß oft das Glas-<lb/>gefäß, worin ſie ſich befinden, entzwei ſpringt, wie wenn man <lb/>heißes Waſſer plötzlich in ein kaltes Glas gießt. </s>
  <s xml:id="echoid-s793" xml:space="preserve">Das allein <lb/>iſt ſchon ein Zeichen, daß hier etwas anderes vorgeht als eine <lb/>bloße Miſchung; </s>
  <s xml:id="echoid-s794" xml:space="preserve">es kommen aber noch andere Umſtände dazu, <lb/>die dies beſtätigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s795" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s796" xml:space="preserve">Wenn man genau ein Quart Waſſer und ein Quart <lb/>Schwefelſäure zuſammengießt, ſo ſollte man glauben, daß ſie <lb/>beiſammen zwei Quart Flüſſigkeit ausmachen müßten, das iſt <lb/>aber nicht der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s797" xml:space="preserve">Sie geben zuſammengegoſſen weniger <lb/>als zwei Quart. </s>
  <s xml:id="echoid-s798" xml:space="preserve">Es geht daraus hervor, daß ſie ſich gegen-<lb/>ſeitig durchdringen, verdichten und etwas Neues bilden, was <lb/>ſie früher nicht geweſen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s799" xml:space="preserve">Und in der That iſt dies der <lb/>Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s800" xml:space="preserve">Die Natur der verdünnten Schwefelſäure iſt anders als <lb/>die Natur des Waſſers und der unvermiſchten Schwefelſäure.</s>
  <s xml:id="echoid-s801" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s802" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s803" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s804" xml:space="preserve">Volksbücher VI.</s>
  <s xml:id="echoid-s805" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="50" file="058" n="58"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s806" xml:space="preserve">Wir haben geſehen, daß die verdünnte Schwefelſäure Zink <lb/>auflöſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s807" xml:space="preserve">das kann aber weder die reine Schwefelſäure noch <lb/>das reine Waſſer; </s>
  <s xml:id="echoid-s808" xml:space="preserve">nur ihre Miſchung kann das, und dies iſt <lb/>Beweis genug, daß die beiden Stoffe nach ihrem Zuſammen-<lb/>gießen etwas ganz anderes geworden ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s809" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s810" xml:space="preserve">Und das iſt das Weſentliche der chemiſchen Verbindung, <lb/>das ſie von der bloßen Miſchung unterſcheidet.</s>
  <s xml:id="echoid-s811" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s812" xml:space="preserve">Wenn wir nun ſagen, daß die gewöhnliche Luft aus Stick-<lb/>ſtoff und Sauerſtoff beſteht, ſo verſtehen wir nicht darunter, <lb/>daß ſie eine chemiſche Verbindung ausmacht, ſondern daß ſie <lb/>nur eine bloße Miſchung dieſer beider Luftarten iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s813" xml:space="preserve">Wie ganz <lb/>anders aber eine chemiſche Verbindung von Sauerſtoff und <lb/>Stickſtoff iſt, wie ſich in einer ſolchen chemiſchen Verbindung <lb/>etwas ganz Neues bildet, das nicht die mindeſte Ähnlichkeit <lb/>mehr mit beiden Stoffen hat, das werden uns die Leſer ſchon <lb/>glauben, wenn wir ihnen ſagen, daß eine dieſer Verbindungen <lb/>in Waſſer geleitet nichts anderes, als die ſcharfe, brennende <lb/>Salpeterſäure, eine andere das ſogenannte “Lachgas” iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s814" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s815" xml:space="preserve">Wir wollen jetzt über einige merkwürdige Stickſtoffver-<lb/>bindungen ein Näheres mitteilen.</s>
  <s xml:id="echoid-s816" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div24" type="section" level="1" n="24">
<head xml:id="echoid-head27" xml:space="preserve"><emph style="bf">XX. Merkwürdige Verbindungen des Stickſtoffs.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s817" xml:space="preserve">Wie aber bringt man den Stickſtoff, der ſo träge und <lb/>gleichgültig iſt, dazu, eine chemiſche Verbindung einzugehen?</s>
  <s xml:id="echoid-s818" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s819" xml:space="preserve">Es geſchieht auf eigentümliche Weiſe, die einen tiefen Blick <lb/>in die Natur der Chemie thun läßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s820" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s821" xml:space="preserve">Wir wiſſen, daß zwei Stoffe, die einmal chemiſch ver-<lb/>bunden ſind, ſich mit einer gewiſſen Kraft feſthalten, wenn <lb/>aber zu ihnen ein neuer Stoff gebracht wird, der eine kräftigere <lb/>Neigung hat, ſich mit einem der verbundenen Stoffe zu ver-<lb/>binden, ſo verläßt der bereits verbundene Stoff ſeine alte Ver-
<pb o="51" file="059" n="59"/>
bindung und geht eine neue ein, wobei der zweite Stoff frei <lb/>wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s822" xml:space="preserve">Um dies deutlich zu machen, erinnern wir nochmals <lb/>an das Kalium-Metall, das man in einen Teller mit Waſſer <lb/>wirft. </s>
  <s xml:id="echoid-s823" xml:space="preserve">Das Kalium-Metall hat größere Neigung zum Sauer-<lb/>ſtoff des Waſſers, es reißt aus dem Waſſer den Sauerſtoff <lb/>an ſich, und dadurch wird der Waſſerſtoff des Waſſers frei.</s>
  <s xml:id="echoid-s824" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s825" xml:space="preserve">Man kann ſich hierbei die Vorſtellung machen, als ob im <lb/>Waſſer eine Art Ehe zwiſchen dem Sauerſtoff und dem Waſſer-<lb/>ſtoff ſtattgefunden hätte; </s>
  <s xml:id="echoid-s826" xml:space="preserve">das Kalium aber iſt der Friedens-<lb/>ſtörer, der dazu kommt und nicht nur dieſe Ehe trennt, ſondern <lb/>auch mit dem einen Gatten, dem Sauerſtoff, eine neue Ehe ein-<lb/>geht, während der andere Gatte, der Waſſerſtoff, auf und davon <lb/>ziehen muß.</s>
  <s xml:id="echoid-s827" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s828" xml:space="preserve">Man ſollte nun glauben, daß dem Waſſerſtoff, dem die <lb/>Ehe eben ſo ſchlecht bekommen iſt, lange Zeit braucht, ehe er <lb/>wieder Luſt hat, eine zweite Verbindung, eine zweite Ehe ein-<lb/>zugehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s829" xml:space="preserve">Das iſt aber nicht der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s830" xml:space="preserve">Es findet gerade das <lb/>Gegenteil ſtatt. </s>
  <s xml:id="echoid-s831" xml:space="preserve">Läßt man zwar dem Waſſerſtoff Zeit, ſo geht <lb/>er durchaus nicht leicht in eine neue Verbindung ein. </s>
  <s xml:id="echoid-s832" xml:space="preserve">Bietet <lb/>man ihm aber im Augenblick, wo er frei wird (“nascierender” <lb/>Waſſerſtoff), ſogleich einen Stoff dar, mit dem er ſich verbinden <lb/>kann, ſo geht er dieſe neue Verbindung ſehr begierig ein. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s833" xml:space="preserve">Woher dieſe Erſcheinung rührt, können wir jetzt noch nicht <lb/>auseinanderſetzen, jedenfalls aber lernen wir hier ein wichtiges <lb/>chemiſches Geſetz kennen, das folgendermaßen lautet: </s>
  <s xml:id="echoid-s834" xml:space="preserve">Ein <lb/>chemiſcher Stoff hat im Augenblick, wo er eben erſt aus einer <lb/>alten Verbindung verdrängt wird, die größte Luſt, ſich mit <lb/>einem andern Stoff zu verbinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s835" xml:space="preserve">Dieſe Luſt iſt gerade in <lb/>dieſem Augenblick ſo ſtark, daß er zugreift und die Verbindung <lb/>eingeht, ſelbſt wenn er ſonſt wenig Neigung zu ſolcher Ver-<lb/>bindung hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s836" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s837" xml:space="preserve">Dieſe beſondere Luſt benutzt man auch, um den trägen <lb/>Stickſtoff zu neuen Verbindungen zu bringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s838" xml:space="preserve">Das heißt, man
<pb o="52" file="060" n="60"/>
lauert ihm auf und bietet ihm gerade in demjenigen Augen-<lb/>blick eine neue Ehe an, wo er eben crſt aus der alten Ehe ver-<lb/>trieben worden iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s839" xml:space="preserve">und der träge, verbindungsunluſtige Stickſtoff <lb/>geht in die Falle und verbindet ſich mit einem neuen Stoff.</s>
  <s xml:id="echoid-s840" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s841" xml:space="preserve">Dieſer Umſtand iſt ſo wichtig, daß man ihm einzig und <lb/>allein es zu verdanken hat, daß ſowohl das ſo wichtige <lb/>Ammoniak, eine Verbindung des Stickſtoffs mit dem Waſſer-<lb/>ſtoff, wie die in der Fabrikation ſo wertvolle Salpeterſäure ſo <lb/>billig zu haben ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s842" xml:space="preserve">Sowohl bei der Herſtellung des Ammoniaks, <lb/>wie bei der Herſtellung der Salpeterſäure benutzt man den <lb/>Moment, wo der Stickſtoff eben frei wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s843" xml:space="preserve">Man bringt ihm <lb/>eben erſt frei gewordenen Waſſerſtoff zu, um ihn ſofort zu <lb/>einer Verbindung zu zwingen, die Ammoniak bildet, und ebenſo <lb/>führt man dem eben erſt frei gewordenen Stickſtoff Sauerſtoff <lb/>zu, um im günſtigen Augenblick Salpeterſäure bilden zu laſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s844" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s845" xml:space="preserve">In derſelben Weiſe bildet ſich auch in der Natur das <lb/>Ammoniak, welches der Luft ſtets in kleinen Mengen beige-<lb/>miſcht iſt und bei der Ernährung der Pflanzen eine Rolle <lb/>ſpielt. </s>
  <s xml:id="echoid-s846" xml:space="preserve">Es werden nämlich beim Verbrennen und Verweſen <lb/>tieriſcher Körper, die außer andern Stoffen auch viel Stickſtoff <lb/>und Waſſerſtoff enthalten, dieſe beiden Luftarten gleichzeitig <lb/>frei und verbinden ſich in dieſem Moment des Freiwerdens zu <lb/>Ammoniak, das ſich der Luft beimiſcht.</s>
  <s xml:id="echoid-s847" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s848" xml:space="preserve">Man wird es nun erklärlich finden, wenn die gewöhnliche <lb/>Luft, welche die Beſtandteile der ſo gefährlichen Salpeterſäure <lb/>enthält, nicht dieſen Stoff bildet. </s>
  <s xml:id="echoid-s849" xml:space="preserve">In unſerer Luft ſind Stick-<lb/>ſtoff und Sauerſtoff nur gemiſcht neben einander, und der träge <lb/>Stickſtoff verhütet, daß eine chemiſche Verbindung der Stoffe <lb/>ſtattfindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s850" xml:space="preserve">Wäre dies nicht der Fall, ſo würde das Leben in <lb/>der Luft unmöglich ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s851" xml:space="preserve">Die Erde wäre auch dann nicht von <lb/>einer Hülle der Luft, ſondern von einem Meer Salpeterſäure <lb/>umgeben.</s>
  <s xml:id="echoid-s852" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s853" xml:space="preserve">Gleichwohl hat man die Entdeckung gemacht, daß man
<pb o="53" file="061" n="61"/>
unter Umſtänden die gewöhnliche Luft in Salpeterſäure um-<lb/>wandeln kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s854" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s855" xml:space="preserve">Wenn man nämlich eine krummgebogene Glasröhre wie <lb/>ein umgekehrtes lateiniſches U aufſtellt, und die beiden geraden <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-061-01a" xlink:href="fig-061-01"/>
Stücke dieſer Röhre derart mit Queckſilber füllt, <lb/>daß ſie oben in dem Bogen durch eine Schicht Luft <lb/>getrennt ſind, ſo braucht man nur einen elektriſchen <lb/>Funken aus einer Elektriſiermaſchine von der einen <lb/>Queckſilberſäule in die andere überſchlagen zu laſſen, <lb/>um einen Teil der zwiſchen ihnen befindlichen Luft <lb/>in wirkliche Salpeterſäure zu verwandeln.</s>
  <s xml:id="echoid-s856" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div24" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-061-01" xlink:href="fig-061-01a">
<caption xml:id="echoid-caption1" xml:space="preserve">Fig. 1.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s857" xml:space="preserve">Die Erklärung dieſer ſchon längſt bekannten <lb/>Erſcheinung war erſt möglich, nachdem das ſogenannte Ozon <lb/>entdeckt war. </s>
  <s xml:id="echoid-s858" xml:space="preserve">Das Ozon iſt auch nichts anderes als reiner, un-<lb/>vermiſchter Sauerſtoff, doch beſitzt es — infolge einer eigen-<lb/>artigen Anordnung ſeiner Atome — eine Reihe abweichender <lb/>Eigenſchaften. </s>
  <s xml:id="echoid-s859" xml:space="preserve">So hat es zu allen Stoffen eine viel größere An-<lb/>ziehungskraft als der gewöhnliche Sauerſtoff und verbindet ſich <lb/>mit Stoffen, gegen die dieſer ganz gleichgültig iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s860" xml:space="preserve">So ver-<lb/>bindet ſich das Ozon auch leicht mit dem Stickſtoff, mit welchem <lb/>der Sauerſtoff nur im Momente des Freiwerdens ſich vereint. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s861" xml:space="preserve">Beim Überſchlagen eines elektriſchen Funkens wird aber ſtets <lb/>ein Teil des Sauerſtoffs der Luft in Ozon verwandelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s862" xml:space="preserve">Dieſes <lb/>Ozon findet nun in der Luft Stickſtoff und bildet mit dieſem <lb/>Salpeterſäure-Anhydrid, das man durch Zuſatz von Waſſer in <lb/>die gewöhnliche Salpeterſäure zu verwandeln vermag.</s>
  <s xml:id="echoid-s863" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s864" xml:space="preserve">Das Überſchlagen eines elektriſchen Funkens durch unſere <lb/>Luft iſt nun keine ſeltene Erſcheinung. </s>
  <s xml:id="echoid-s865" xml:space="preserve">Bei jedem Gewitter <lb/>entladet ſich bekanntlich ein Teil der Elektrizität als Blitz, <lb/>der ja nichts anderes iſt, als ein ſolcher elektriſcher Funke. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s866" xml:space="preserve">Hierbei verwandelt ſich etwas Sauerſtoff in Ozon, das teil-<lb/>weiſe mit dem vorhandenen Sauerſtoff und Waſſergehalt <lb/>Salpeterſäure bildet. </s>
  <s xml:id="echoid-s867" xml:space="preserve">Die Salpeterſäure findet weiter in der
<pb o="54" file="062" n="62"/>
Luft Ammoniak vor, und es entſteht ſomit bei jedem Gewitter <lb/>etwas ſalpeterſaures Ammoniak, das vom Gewitterregen mit-<lb/>geriſſen und der Erde zugeführt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s868" xml:space="preserve">Das ſalpeterſaure <lb/>Ammoniak iſt aber für die Pflanzen ein ſehr wichtiges Nahrungs-<lb/>mittel. </s>
  <s xml:id="echoid-s869" xml:space="preserve">Da dieſes nun durch das Gewitter gebildet und den <lb/>Pflanzen zugeführt wird, ſo erklärt ſich auch hieraus, zum <lb/>Teil wenigſtens, der günſtige Einfluß, den ein tüchtiger Gewitter-<lb/>regen im Sommer auf das Wachstum der Pflanzen ſo augen-<lb/>fällig ausübt.</s>
  <s xml:id="echoid-s870" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div26" type="section" level="1" n="25">
<head xml:id="echoid-head28" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXI. Was iſt Kohlenſtoff?</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s871" xml:space="preserve">Wir haben bis jetzt drei der wichtigſten chemiſchen Stoffe <lb/>kennen gelernt, den Sauerſtoff, den Waſſerſtoff und den Stick-<lb/>ſtoff. </s>
  <s xml:id="echoid-s872" xml:space="preserve">Wir wollen jetzt noch einen vierten näher betrachten, <lb/>denn dieſe vier ſind die Hauptſtoffe der lebendigen Welt, <lb/>während alle übrigen nur verhältnismäßig eine geringere Rolle <lb/>dagegen ſpielen.</s>
  <s xml:id="echoid-s873" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s874" xml:space="preserve">Der vierte chemiſche Grundſtoff heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s875" xml:space="preserve">Kohlenſtoff.</s>
  <s xml:id="echoid-s876" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s877" xml:space="preserve">Während die drei erſten Stoffe zwar allenthalben ver-<lb/>breitet, aber nur in ganz wenigen Ausnahmefällen in der <lb/>Natur rein, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s878" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s879" xml:space="preserve">unvermiſcht und unverbunden mit audereu <lb/>Stoffen gefunden werden, findet ſich der Kohlenſtoff ſehr häufig <lb/>in der Natur rein vor.</s>
  <s xml:id="echoid-s880" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s881" xml:space="preserve">Die erſten drei Stoffe ſind im unverbundenen Zuſtande <lb/>bloße Luftarten, und nur durch außerordentliche Vorrichtungen <lb/>iſt man imſtande, dieſe Luftarten ſo zuſammenzupreſſen, daß <lb/>ſie zur Flüſſigkeit und ſogar zu einem feſten Körper werden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s882" xml:space="preserve">Bei dem vierten Stoff iſt das gerade Gegenteil der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s883" xml:space="preserve">Der <lb/>Kohlenſtoff iſt ein feſter Körper, zumeiſt als Graphit vor-<lb/>kommend, den man für unſere “Blei”-Stifte verwendet, zuweilen <lb/>aber auch in einer ganz anderen Form, nämlich als —
<pb o="55" file="063" n="63"/>
Diamant. </s>
  <s xml:id="echoid-s884" xml:space="preserve">Den Kohlenſtoff kann man zwar mit ganz be-<lb/>ſonderen Hülfsmitteln in eine Flüſſigkeit, aber nicht in eine <lb/>Luftart verwandeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s885" xml:space="preserve">Er iſt der feſteſte Stoff, und für den <lb/>jetzigen Stand der Wiſſenſchaft gewiſſermaßen der feſte Bau <lb/>der Dinge, oder um es bildlich auszudrücken, das Gerüſt der <lb/>lebendigen Welt.</s>
  <s xml:id="echoid-s886" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s887" xml:space="preserve">Wir wollen uns deutlicher darüber erklären.</s>
  <s xml:id="echoid-s888" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s889" xml:space="preserve">Es giebt viele Gasarten, die ſich, wenn man ſie zuſammen-<lb/>preßt oder durch Kälte zuſammenpreſſen läßt, in Flüſſigkeiten <lb/>verwandeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s890" xml:space="preserve">Beiſpielsweiſe iſt dies mit Chlor der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s891" xml:space="preserve">Chlor <lb/>iſt ein gasförmiger Grundſtoff von grünlich-gelber Farbe. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s892" xml:space="preserve">Es iſt, wie wir bereits erwähnt haben, der eine Grundſtoff <lb/>unſeres gewöhnlichen Kochſalzes. </s>
  <s xml:id="echoid-s893" xml:space="preserve">Wenn man Chlorgas ſo <lb/>zuſammenpreßt, daß es nur den fünften Teil des Raumes ein-<lb/>nimmt, ſo verwandelt ſich das Gas in eine Flüſſigkeit, die <lb/>wie grüngelbes Waſſer ausſieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s894" xml:space="preserve">— Merkwürdig iſt es bei <lb/>dieſer Flüſſigkeit, daß man ſie nicht wie viele andere Flüſſig-<lb/>keiten gefrieren laſſen und ſo in einen feſten Körper, in Chlor-<lb/>Eis verwandeln kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s895" xml:space="preserve">Sie bleibt in der höchſten Kälte immer <lb/>eine Flüſſigkeit, ja, ſo wie man mit der Preſſung nachläßt, <lb/>verwandelt ſich dieſe Chlorflüſſigkeit wieder in Gas.</s>
  <s xml:id="echoid-s896" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s897" xml:space="preserve">Man ſieht, es iſt ein gewiſſer Eigenſinn in der Natur <lb/>der Stoffe, und dieſer Eigenſinn iſt beim Sauer-, Waſſer- und <lb/>Stickſtoff inſofern noch größer, als dieſe Luftarten erſt in <lb/>neueſter Zeit durch künſtlich erzeugte, ungeheure Kältegrade in <lb/>Flüſſigkeiten umgewandelt werden konnten.</s>
  <s xml:id="echoid-s898" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s899" xml:space="preserve">Bei anderen Stoffen iſt das gerade Gegenteil der Fall. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s900" xml:space="preserve">Es giebt viele feſte Stoffe, wie Schwefel, Blei, Zinn, Eiſen, <lb/>Kupfer, Silber, Gold u. </s>
  <s xml:id="echoid-s901" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s902" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s903" xml:space="preserve">, die in der gewöhnlichen Wärme <lb/>feſt ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s904" xml:space="preserve">Durch ſtarke Hitze kann man ſie in Flüſſigkeiten <lb/>verwandeln, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s905" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s906" xml:space="preserve">man kann ſie ſchmelzeu. </s>
  <s xml:id="echoid-s907" xml:space="preserve">Erhitzt man ſie <lb/>noch weiter, ſo verwandeln ſie ſich in eine Luftform oder ſie <lb/>werden zu Dampf.</s>
  <s xml:id="echoid-s908" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="56" file="064" n="64"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s909" xml:space="preserve">Noch viel eigenſinniger aber iſt der Kohlenſtoff. </s>
  <s xml:id="echoid-s910" xml:space="preserve">Erſt bei <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-064-01a" xlink:href="fig-064-01"/>
den ſtärkſten, künſtlich erzeugten Hitzegraden von ca. </s>
  <s xml:id="echoid-s911" xml:space="preserve">3500°, <lb/>wie ſie der große franzöſiſche Chemiker Henri Moiſſan
<pb o="57" file="065" n="65"/>
herſtellte, gelang es den Graphit zu verflüſſigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s912" xml:space="preserve">In Dampf <lb/>aber vermochte man ihn noch nicht zu verwandeln.</s>
  <s xml:id="echoid-s913" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div26" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-064-01" xlink:href="fig-064-01a">
<caption xml:id="echoid-caption2" xml:space="preserve">Fig. 2. <lb/>Stückchen aus einem Braunkohlenlager der Niederlauſitz, mit einem Baum-<lb/>ſtumpf inmitten der Kohle.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s914" xml:space="preserve">Wir werden ſpäter ſehen, daß die ganze lebende Welt, <lb/>die Welt der Pflanzen und der Tiere, in ihren Hauptbeſtand-<lb/>teilen aus vier Stoffen, dem Sauerſtoff, Waſſerſtoff, Stickſtoff <lb/>und Kohlenſtoff, zuſammengeſetzt iſt, aus dieſen eigenſinnigen <lb/>Stoffen, die all unſerer Kunſt, ſie aus ihrer urſprünglichen <lb/>Geſtalt zu verwandeln, ſo viel Widerſtand leiſten.</s>
  <s xml:id="echoid-s915" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s916" xml:space="preserve">Doch wir müſſen zu unſerem Thema zurück, und wollen <lb/>vor allem einmal den Kohlenſtoff ſelber näher kennen lernen.</s>
  <s xml:id="echoid-s917" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s918" xml:space="preserve">Kohlenſtoff iſt die bekannte Kohle, die Holzkohle, die <lb/>Knochenkohle, die Braunkohle, die Steinkohle, der Lampenruß, <lb/>der Ruß im Schornſtein; </s>
  <s xml:id="echoid-s919" xml:space="preserve">all dies iſt in ſeinen Hauptteilen <lb/>Kohlenſtoff, der aber immer mehr oder weniger mit einigen <lb/>fremden Stoffen, zumal mit Sauerſtoff gemiſcht iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s920" xml:space="preserve">Schon <lb/>hieraus kann man ſehen, daß der Kohlenſtoff eigentlich aus <lb/>der Pflanzen- und Tierwelt entnommen iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s921" xml:space="preserve">die Braunkohle <lb/>und Steinkohle ſind in der That nichts, als die Überreſte vor-<lb/>weltlicher Pflanzen (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s922" xml:space="preserve">2).</s>
  <s xml:id="echoid-s923" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s924" xml:space="preserve">Indeſſen giebt es in der Natur zwei Sorten reinen Kohlen-<lb/>ſtoffs, der gar nicht ſo ausſieht, als ob er jemals aus der <lb/>lebenden Welt entnommen wäre, und dies iſt, wie wir ſchon <lb/>ſagten, der Graphit und der Diamant.</s>
  <s xml:id="echoid-s925" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s926" xml:space="preserve">Beide Stoffe kennt wohl jedermann, wenn ſie auch nicht <lb/>jedermann beſitzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s927" xml:space="preserve">Der Graphit iſt das Schwarze in den Blei-<lb/>federn, das wie Metall ausſteht und von vielen fälſchlich als <lb/>eine Art Blei angeſehen wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s928" xml:space="preserve">Der Diamant iſt der Schmuck <lb/>des glanzſüchtigen Reichtums, deſſen Beſitzer oft nicht ahnen, <lb/>daß ſie mit Stolz ein Ding als Zierde tragen, deſſen Natur <lb/>durchaus nicht verſchieden iſt von dem Ruß, den der Schorn-<lb/>ſteinfeger an ſich trägt.</s>
  <s xml:id="echoid-s929" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s930" xml:space="preserve">Wir wollen im nächſten Abſchnitt den Kohlenſtoff noch <lb/>etwas näher kennen lernen.</s>
  <s xml:id="echoid-s931" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="58" file="066" n="66"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div28" type="section" level="1" n="26">
<head xml:id="echoid-head29" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXII. Kohle und Diamant.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s932" xml:space="preserve">Man kann ſo recht am Kohlenſtoff ſehen, wie zwei Dinge, <lb/>die ihrem Stoffe nach ganz gleich ſind, dennoch in Geſtalt, in <lb/>Farbe, Eigenſchaft und Gewicht ganz und gar von einander <lb/>abweichen.</s>
  <s xml:id="echoid-s933" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s934" xml:space="preserve">In Wahrheit iſt der glänzende Diamant nichts als Kohlen-<lb/>ſtoff. </s>
  <s xml:id="echoid-s935" xml:space="preserve">Er iſt ſeinem wirklichen Stoffe nach gar nichts anderes, <lb/>als die Holzkohle, die Braunkohle, die Steinkohle und der <lb/>Graphit iſt, und gleichwohl ſieht der Diamant nicht nur anders <lb/>aus als dieſe Kohlenſtoff-Arten, ſondern er iſt auch mit anderen <lb/>Eigenſchaften begabt, die ihm ſeinen Wert verleihen. </s>
  <s xml:id="echoid-s936" xml:space="preserve">Er ge-<lb/>hört zu den härteſten Körpern, die man beſitzt, mit einer Kante <lb/>des Diamants kann man bekanntlich Glas ritzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s937" xml:space="preserve">Er hat <lb/>ferner die Eigenſchaft, die Lichtſtrahlen ſtärker als die meiſten <lb/>durchſichtigen Körper zu brechen, eine Eigenſchaft, die ihm be-<lb/>deutenden Wert verleiht.</s>
  <s xml:id="echoid-s938" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s939" xml:space="preserve">Und doch iſt der Diamant nur Kohlenſtoff, und ſeinem <lb/>Stoffe nach nicht um das geringſte anders, als ein Stück Kohle!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s940" xml:space="preserve">Durch welches Ereignis vermag ſich aber die Kohle ſo <lb/>merkwürdig zu verwandeln? </s>
  <s xml:id="echoid-s941" xml:space="preserve">— Hierauf giebt die Wiſſenſchaft <lb/>folgende Antwort.</s>
  <s xml:id="echoid-s942" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s943" xml:space="preserve">Man iſt imſtande, die meiſten Körper in künſtlich bereiteten <lb/>Flüſſigkeiten aufzulöſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s944" xml:space="preserve">So z. </s>
  <s xml:id="echoid-s945" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s946" xml:space="preserve">löſen ſich Platin oder Gold <lb/>in Königswaſſer auf, Silber und Kupfer löſen ſich in Salpeter-<lb/>ſäure auf, andere Metalle in verdünnter Schwefelſäure; </s>
  <s xml:id="echoid-s947" xml:space="preserve">d. </s>
  <s xml:id="echoid-s948" xml:space="preserve">h. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s949" xml:space="preserve">ein Stück Gold, Platin, Silber oder Kupfer zergeht ganz und <lb/>gar, wenn man es in eine geeignete Flüſſigkeit hineinwirft, <lb/>ähnlich wie Salz oder Zucker, das man in Waſſer Wirft. </s>
  <s xml:id="echoid-s950" xml:space="preserve">— <lb/>Nur die Kohle will in gar keiner Flüſſigkeit zerfließen. </s>
  <s xml:id="echoid-s951" xml:space="preserve">Sie <lb/>löſt ſich durchaus nicht auf, mag man ſie in noch ſo ſcharfe <lb/>Flüſſigkeiten hineinbringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s952" xml:space="preserve">— Wäre man imſtande, Kohle zu <lb/>ſchmelzen oder auch nur in einer Flüſſigkeit aufzulöſen, ſo
<pb o="59" file="067" n="67"/>
wären wir vielleicht imſtande, aus jeder Holzkohle Diamanten <lb/>in Hülle und Fülle zu machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s953" xml:space="preserve">Man brauchte eben nur die <lb/>durch Hitze flüſſig gewordene Kohle langſam abkühlen zu laſſen, <lb/>ſo müßte ſie zu einem regelmäßigen Kohlenkryſtall werden, <lb/>und das eben iſt ein Diamant; </s>
  <s xml:id="echoid-s954" xml:space="preserve">desgleichen könnte man die in <lb/>einer Flüſſigkeit aufgelöſte Kohle durch geeignetes Verfahren <lb/>herauskryſtalliſieren laſſen und daraus Diamanten in beliebiger <lb/>Zahl und Größe gewinnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s955" xml:space="preserve">Der Unterſchied zwiſchen einer <lb/>gewöhnlichen Kohle und einem Diamanten beſteht nur darin, <lb/>daß die Kohle unkryſtalliſierter, der Diamant kryſtalliſierter <lb/>Kohlenſtoff iſt (Erſter Teil, Seite 27, Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s956" xml:space="preserve">5), ebenſo wie der <lb/>Schnee nichts anderes iſt als kryſtalliſiertes Waſſer. </s>
  <s xml:id="echoid-s957" xml:space="preserve">Der <lb/>Diamant verhält ſich zum Graphit genau ebenſo, wie Schnee-<lb/>kryſtalle (Erſter Teil, Seite 66—67, Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s958" xml:space="preserve">15—17) zu gewöhn-<lb/>lichem Waſſer.</s>
  <s xml:id="echoid-s959" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s960" xml:space="preserve">Die Möglichkeit iſt vorhanden, daß die Wiſſenſchaft es <lb/>dahin bringt, Kohlen zu ſchmelzen oder aufzulöſen, und dann <lb/>werden alle Diamanten ihren Wert verlieren; </s>
  <s xml:id="echoid-s961" xml:space="preserve">für jetzt jedoch iſt <lb/>es noch nicht der Fall, und die Diamanten, die man in der <lb/>Erde findet, könnten dadurch entſtanden ſein, daß die große <lb/>Hitze, die tief im Innern der Erde herrſcht, Kohlenſtoff zum <lb/>Schmelzen bringt, ſo daß daraus bei ſpäterer, langſamer Ab-<lb/>kühlung Kryſtalle entſtehen, von denen einzelne durch Erdbeben <lb/>oder durch Ströme, die aus dem Innern der Erde hervor-<lb/>ſtürzen, der Oberfläche der Erde nahe gebracht werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s962" xml:space="preserve">Henri <lb/>Moiſſan iſt es in der Neuzeit wirklich gelungen, in beſonderen <lb/>elektriſchen Schmelztiegeln Kohle in Diamanten zu verwandeln. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s963" xml:space="preserve">Leider ſind die Diamanten jedoch einſtweilen nur von mikro-<lb/>ſkopiſcher Größe.</s>
  <s xml:id="echoid-s964" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s965" xml:space="preserve">Genug, wenn wir wiſſen, daß der Diamant wiſſenſchaftlich <lb/>nur durch einige ſeiner Eigenſchaften einen Wert erhält, der <lb/>ſtofflichen Weſenheit nach aber für den Chemiker nur ein Stück <lb/>kryſtalliſierte Kohle iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s966" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="60" file="068" n="68"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s967" xml:space="preserve">Nachdem wir ſo den Kohlenſtoff in ſeiner urſprünglichen <lb/>Geſtalt kennen gelernt haben, wollen wir einmal ſein wunder-<lb/>liches Weſen betrachten, das er durch chemiſche Verbindungen <lb/>annimmt, und die wichtige Rolle kennen lernen, die er in der <lb/>Welt ſpielt.</s>
  <s xml:id="echoid-s968" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div29" type="section" level="1" n="27">
<head xml:id="echoid-head30" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXIII. Sonderbare Eigenſchaften des Kohlenſtoffs.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s969" xml:space="preserve">So eigenſinnig der Kohlenſtoff iſt, wenn man ihn allein <lb/>behandeln will, ſo gefügig iſt er, wenn man ihm andere Stoffe <lb/>darbietet, wit welchen er ſich verbinden kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s970" xml:space="preserve">Ja, die eigent-<lb/>liche Holzkohle, die wir täglich auf dem Herd und im Ofen <lb/>ſehen, hat noch eine beſondere Eigenſchaft, die ihr großen Wert <lb/>verleiht und der Grund intereſſanter chemiſcher Erſcheinungen <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s971" xml:space="preserve">— Dieſe Eigenſchaft iſt die Kraft, die die Holzkohle beſitzt, <lb/>Luftarten in ſich einzuſaugen und in ſich zu verdichten.</s>
  <s xml:id="echoid-s972" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s973" xml:space="preserve">Schon jede gewöhnliche Kohle, die in gewöhnlicher Luft <lb/>liegt, ſaugt ſich voll von dieſer, und zwar in ſo hohem Grade, <lb/>daß ſie an fünfundzwanzigmal ſo viel Luft einſaugt, als ſie <lb/>groß iſt, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s974" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s975" xml:space="preserve">ein Kubikzoll Kohle kann an fünfundzwanzig <lb/>Kubikzoll Luft in ſich aufnehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s976" xml:space="preserve">Die Luft, die in den kleinen <lb/>Zwiſchenräumen der Kohle ſteckt, iſt demnach fünfundzwanzig-<lb/>mal dichter zuſammengedrängt, als die gewöhnliche Luft. </s>
  <s xml:id="echoid-s977" xml:space="preserve">Es <lb/>giebt aber Luftarten, die ſie noch begieriger aufſaugt. </s>
  <s xml:id="echoid-s978" xml:space="preserve">Vom <lb/>Ammoniakgas kann ein Stückchen Kohle neunzigmal ſoviel in <lb/>ſich einſaugen, als das Stückchen Kohle groß iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s979" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s980" xml:space="preserve">Man kann ſich alſo denken, daß die Kohle ein ſehr geeig-<lb/>netes Mittel iſt, gewiſſe Gaſe aus andern Stoffen zu entfernen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s981" xml:space="preserve">Daher iſt es ſehr wichtig, fauliges oder mit fremden Gaſen <lb/>gemiſchtes Waſſer durch Kohlen zu filtrieren, und deshalb <lb/>werden auch die Fäſſer, in welchen man das Waſſer für See-<lb/>reiſende aufbewahrt, inwendig ſchwach verkohlt. </s>
  <s xml:id="echoid-s982" xml:space="preserve">Und dies iſt
<pb o="61" file="069" n="69"/>
fürs Leben von großer Wichtigkeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s983" xml:space="preserve">Denn für die Erhaltung der <lb/>Geſundheit iſt gutes Trinkwaſſer ebenſo notwendig wie reine <lb/>Luft. </s>
  <s xml:id="echoid-s984" xml:space="preserve">Es iſt aber ferner in der neueren Zeit feſtgeſtellt, daß <lb/>eine Reihe gefährlicher Krankheiten, wie die Cholera und der <lb/>Typhus, durch faulende Stoffe führendes Trinkwaſſer verbreitet <lb/>werden, welche die winzigen, zu den Organismen gehörigen <lb/>Krankheitserreger ernähren. </s>
  <s xml:id="echoid-s985" xml:space="preserve">Es iſt daher ſehr anzuempfehlen, <lb/>daß jeder, beſonders zur Zeit, wenn jene Krankheiten herrſchen, <lb/>ſein Trinkwaſſer durch ein Kohlenfilter, die man jetzt in den <lb/>verſchiedenſten Größen verfertigt, reinige. </s>
  <s xml:id="echoid-s986" xml:space="preserve">Die Kohle entzieht <lb/>dann dem Waſſer ſeine ſchlechten Beſtandteile und macht es <lb/>unſchädlich.</s>
  <s xml:id="echoid-s987" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s988" xml:space="preserve">Dieſelbe Eigenſchaft der Kohle iſt es, die ſie zum Ent-<lb/>färben und Reinigen vieler Stoffe ſo wichtig macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s989" xml:space="preserve">Durch <lb/>Filtrieren durch friſche Kohle wird Rotwein farblos, durch <lb/>dasſelbe Mittel bleicht man in Zuckerſiedereien den braunen <lb/>Syrup, kann man dem ordinären Branntwein den fuſeligen <lb/>Geſchmack benehmen, und bairiſch Bier verliert ſeinen bittern <lb/>Hopfengeſchmack, wenn es durch ein Tuch gegoſſen wird, worin <lb/>ſich Kohlen befinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s990" xml:space="preserve">Daher iſt auch gepulverte Kohle in <lb/>Krankenzimmern vortheilhaft, da ſie die ſchlechten Dünſte in <lb/>ſich aufſaugt.</s>
  <s xml:id="echoid-s991" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s992" xml:space="preserve">Zuweilen bringt die Aufſaugungskraft der Kohle chemiſche <lb/>Wirkungen hervor, die außerordentlich ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s993" xml:space="preserve">In Pulverfabriken <lb/>iſt ſchon oft großes Unglück entſtanden durch das Aufhäufen <lb/>von Kohlenſtoff, der in irgend einer Weiſe Waſſerſtoff und den <lb/>Sauerſtoff der Luft in ſich aufgeſaugt hatte und durch die <lb/>Verdichtung der Luftarten die chemiſche Verbindung Knallgas <lb/>und auch die Entzündung desſelben erzeugte. </s>
  <s xml:id="echoid-s994" xml:space="preserve">Einen intereſſanten <lb/>Verſuch kann man anſtellen, wenn man eine Kohle, die lange <lb/>Zeit in einem Raum gelegen hat, wo Schwefel-Waſſerſtoffgas <lb/>enthalten war, nunmehr unter eine Glasglocke legt, die mit <lb/>Sauerſtoff gefüllt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s995" xml:space="preserve">Die Kohle nämlich, die ſchon viel von
<pb o="62" file="070" n="70"/>
erſterem Gas in ſich hat, ſaugt nun noch Sauerſtoff in ſich <lb/>ein und bringt dadurch die beiden Gaſe ſo dicht aneinander, <lb/>daß ſie ſich chemiſch verbinden und merkwürdige chemiſche <lb/>Erſcheinungen hervorbringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s996" xml:space="preserve">Die Kohle fängt an ſich zu <lb/>erhitzen, indem ſich der Schwefelwaſſerſtoff entzündet und im <lb/>Sauerſtoff verbrennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s997" xml:space="preserve">Dabei entſteht als Produkt dieſer Ver-<lb/>brennung Waſſer und Schwefelſäure. </s>
  <s xml:id="echoid-s998" xml:space="preserve">Aber auch dieſer Verſuch <lb/>iſt mit Gefahr verknüpft, denn es geſchieht zuweilen, daß <lb/>ſich im Schwefel-Waſſerſtoff reines Waſſerſtoffgas befindet, <lb/>daß dieſes und der Sauerſtoff ſich zuerſt miſchen und dann <lb/>ſich erſt als Knallgas entzünden, wodurch eine heftige Exploſion <lb/>entſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s999" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1000" xml:space="preserve">Aus all’ dem nehmen wir wahr, wie die Kohle ſchon in <lb/>ihrer Beſchaffenheit Eigenſchaften beſitzt, durch welche ſie mit <lb/>einer großen Begierde fremde Gaſe in ſich anſammelt und <lb/>chemiſche Prozeſſe vermittelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1001" xml:space="preserve">Bringt man aber gar die Kohle <lb/>ſelber mit in den chemiſchen Prozeß, ſo wird dieſer Stoff, der <lb/>ſonſt ſo ungefügig iſt, im höchſten Grade geſchmeidig und <lb/>willig und läßt ſich in Verbindung mit andern Stoffen ſowohl <lb/>in eine Luftart wie in eine Flüſſigkeit und in einen feſten <lb/>Körper verwandeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s1002" xml:space="preserve">Freilich hört er dann auch auf, Kohle <lb/>zu ſein, und iſt nur eine kohlenſtoffhaltige Verbindung; </s>
  <s xml:id="echoid-s1003" xml:space="preserve">aber <lb/>immerhin ſteckt doch die Kohle, die ſich zu gar keiner Ver-<lb/>wandlung bequemen wollte, darin.</s>
  <s xml:id="echoid-s1004" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1005" xml:space="preserve">Wir wollen nun in der Folge zeigen, wie jedermann <lb/>ſchon viele tauſendmal im Leben die Kohle in eine Luftart <lb/>verwandelt hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s1006" xml:space="preserve">wie man Kohle, wirkliche Kohle, teils trinkt, <lb/>teils ißt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1007" xml:space="preserve">ja, wie der Menſch ſelber, von dem man bildlich <lb/>ſagt, er ſei aus Erde geſchaffen, eigentlich nur aus den drei <lb/>bisher aufgeführten Luftarten beſteht, die ſich mit einer Portion <lb/>Kohlenſtoff chemiſch verbunden haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s1008" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="63" file="071" n="71"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div30" type="section" level="1" n="28">
<head xml:id="echoid-head31" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXIV. Einige Verſuche mit Kohlenſäure.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1009" xml:space="preserve">Wir haben gleich bei dem erſten Verſuch mit dem Sauer-<lb/>ſtoff geſehen, daß Kohle in einem Gefäß mit Sauerſtoff hell <lb/>leuchtend brennt, und daß daraus eine Luftart entſteht, die <lb/>eine Verbindung von Kohle und Sauerſtoff iſt und darum <lb/>Kohlenſäure genannt wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s1010" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1011" xml:space="preserve">Wir ſehen alſo auch ſchon hier, daß aus Kohle in Ver-<lb/>bindung mit Sauerſtoff eine Luftart wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s1012" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1013" xml:space="preserve">Man darf ſich das ja nicht ſo denken, als ob etwa die <lb/>Kohle durch dieſen Vorgang nur fein zerteilt wird in eine <lb/>Art feinen Pulvers, und daß ſie als ſolches im Sauerſtoff <lb/>herumſchwimmt, ſondern es iſt wirklich in der Kohlenſäure <lb/>nicht eine Spur mehr von Sauerſtoff noch von Kohle, ſie ſind <lb/>beide vielmehr zu einem neuen Körper geworden, der <lb/>gar keine Ähnlichkeit mehr mit den beiden urſprünglichen <lb/>Stoffen hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s1014" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1015" xml:space="preserve">Die Kohlenſäure iſt eine farbloſe Luftart, die man mit <lb/>dem Auge nicht von gewöhnlicher Luft unterſcheiden kann. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1016" xml:space="preserve">Wenn man eine Flaſche voll Kohlenſäure beſitzt, ſo kann man <lb/>durch den Anblick nicht merken, daß man hier etwas Beſonderes <lb/>vor ſich hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s1017" xml:space="preserve">Die Flaſche ſieht aus, als ob ſie mit gewöhn-<lb/>licher Luft gefüllt wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s1018" xml:space="preserve">Allein durch Verſuche wird man <lb/>ſogleich bemerken, daß dies Kohlenſäure iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1019" xml:space="preserve">— Hält man <lb/>z. </s>
  <s xml:id="echoid-s1020" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s1021" xml:space="preserve">einen brennenden Holzſpahn hinein, ſo erliſcht er ſofort, <lb/>zum Beweiſe, daß dies keine gewöhnliche Luft, und am aller-<lb/>wenigſten Sauerſtoff iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1022" xml:space="preserve">Nun könnte es immer noch Waſſer-<lb/>ſtoff ſein; </s>
  <s xml:id="echoid-s1023" xml:space="preserve">aber man laſſe die Kohlenſäure ausſtrömen und <lb/>verſuche ſie anzuzünden, ſo wird man merken, daß dies auch <lb/>nicht Waſſerſtoff iſt, denn dieſer brennt ja, wie wir wiſſen, <lb/>wenn er an der Luft angezündet wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s1024" xml:space="preserve">Freilich könnte es <lb/>noch Stickſtoffgas ſein, das gleichfalls weder ſelbſt brennt <lb/>noch andere Körper brennen läßt, die in dasſelbe hineingebracht
<pb o="64" file="072" n="72"/>
werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s1025" xml:space="preserve">Allein ein zweiter Verſuch wird bald das Eigentüm-<lb/>liche der Kohlenſäure zeigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1026" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1027" xml:space="preserve">Man braucht nur ein wenig klares Kalkwaſſer, das man <lb/>in Apotheken billig bekommen kann, in die Flaſche zu ſchütten, <lb/>und ſofort wird man bemerken, daß das Waſſer trübe wird. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1028" xml:space="preserve">Dies wird nicht der Fall ſein, wenn in der Flaſche Stick-<lb/>ſtoff iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1029" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1030" xml:space="preserve">Was aber geht mit der Kohlenſäure und dem Kalk-<lb/>waſſer vor?</s>
  <s xml:id="echoid-s1031" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1032" xml:space="preserve">Um ſich das klar zu machen, muß man wiſſen, was denn <lb/>eigentlich Kalk iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1033" xml:space="preserve">Kalk iſt ein eigentümliches Metall, Calcium, <lb/>welches ſich mit Sauerſtoff verbunden hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s1034" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1035" xml:space="preserve">Das Metall Calcium iſt ſilberweiß und weich. </s>
  <s xml:id="echoid-s1036" xml:space="preserve">Läßt man <lb/>es an der Luft liegen, ſo zieht es den Sauerſtoff der Luft an <lb/>ſich und wird hart, kreideartig, mit einem Wort, es wird Kalk <lb/>daraus. </s>
  <s xml:id="echoid-s1037" xml:space="preserve">Es läßt ſich denken, daß man das Calcium-Metall <lb/>nirgends rein in der Natur vorfindet, denn da allenthalben <lb/>Luft iſt, die Sauerſtoff enthält, ſo verwandelt ſich das Calcium <lb/>immer in Kalk; </s>
  <s xml:id="echoid-s1038" xml:space="preserve">man hat daher das Calcium erſt künſtlich aus <lb/>Kalk herſtellen müſſen, und dies iſt erſt in dieſem Jahrhundert <lb/>gelungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1039" xml:space="preserve">— Genug, wir wiſſen, daß Kalk ein Metall iſt, <lb/>verbunden mit Sauerſtoff. </s>
  <s xml:id="echoid-s1040" xml:space="preserve">Wiſſenſchaftlich nennt man den <lb/>Kalk auch Calcium-Oxyd.</s>
  <s xml:id="echoid-s1041" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1042" xml:space="preserve">Der Kalk hat nun die Neigung, ſich mit Kohlenſäure zu <lb/>verbinden, und wenn dies der Fall iſt, wird aus dem Kalk <lb/>ein neuer Stoff, der kohlenſaure Kalkerde heißt, die in der <lb/>Natur als Kalkſtein und Kreide vorkommt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1043" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1044" xml:space="preserve">Ein Stückchen Kreide alſo iſt ein Ding, das wunderbar <lb/>genug zuſammengeſetzt iſt, obgleich man es ihm gar nicht an-<lb/>ſehen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s1045" xml:space="preserve">Es beſteht erſtens aus einem Metall, Calcium, <lb/>das ſich mit Sauerſtoff verbunden hat, ſodann beſteht es aus <lb/>Kohle, die ſich gleichfalls mit Sauerſtoff verbunden hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s1046" xml:space="preserve">In <lb/>der Kreide alſo ſteckt ein Stück Metall, ein Stück Kohle und
<pb o="65" file="073" n="73"/>
eine ganze Maſſe Luft! — Wer in aller Welt würde darauf <lb/>kommen, daß aus einem ſilberblanken Metall, aus einer <lb/>ſchwarzen Kohle und einer Flaſche voll Luft ein Ding, wie <lb/>die weiße Kreide, entſtehen würde? </s>
  <s xml:id="echoid-s1047" xml:space="preserve">Und doch iſt es ſo, und <lb/>man kann vor den Augen eines jeden Zweiflers die Kreide <lb/>aus dieſen Grundſtoffen fabrizieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s1048" xml:space="preserve">Ja, ohne einen dieſer <lb/>Stoffe würde nun und nimmermehr ein Stückchen Kreide in <lb/>der Welt exiſtieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s1049" xml:space="preserve">Ohne ſchwarze Kohle würde niemals <lb/>weiße Kreide vorhanden ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s1050" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1051" xml:space="preserve">Jetzt wird es jedem klar werden, was denn eigentlich aus <lb/>dem Kalkwaſſer, das man in die Flaſche mit Kohlenſäure ge-<lb/>@oſſen, geworden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1052" xml:space="preserve">Es iſt aus dem klaren Kalkwaſſer <lb/>weißlich-trübes Kreidewaſſer geworden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1053" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1054" xml:space="preserve">Und nun wollen wir jedem Leſer, der ſich dafür intereſſiert, <lb/>zu einem Verſuch raten, der ebenſo einfach wie intereſſant iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1055" xml:space="preserve">Man ſchütte ein Bierglas halb voll mit völlig klarem Kalk-<lb/>waſſer; </s>
  <s xml:id="echoid-s1056" xml:space="preserve">nun ſtecke man in das Waſſer ein Glasröhrchen hinein <lb/>und blaſe langſam in dasſelbe, ſo daß das Waſſer recht herum-<lb/>ſprudelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1057" xml:space="preserve">Man wird bald bemerken, daß das Waſſer weißlich-<lb/>trübe wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s1058" xml:space="preserve">— Woher kommt das? </s>
  <s xml:id="echoid-s1059" xml:space="preserve">Daher, daß die Luft, die <lb/>wir hineinblaſen, aus unſern Lungen kommt, daß wir Kohlen-<lb/>ſäure ausatmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1060" xml:space="preserve">Die Kohlenſäure unſeres Atems iſt ins <lb/>Waſſer gekommen und hat aus dem Kalkwaſſer Kreidewaſſer <lb/>gemacht.</s>
  <s xml:id="echoid-s1061" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div31" type="section" level="1" n="29">
<head xml:id="echoid-head32" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXV. Kleine Verſuche und große Folgerungen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1062" xml:space="preserve">Wir haben geſehen, daß wir mit dem Atmen unſeres <lb/>Mundes aus Kalk Kreide machen können.</s>
  <s xml:id="echoid-s1063" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1064" xml:space="preserve">Wie intereſſant dies auch für den Unkundigen ſein mag, <lb/>ſo ahnt er doch ſchwerlich, von welcher Bedeutung dieſe That-<lb/>ſache für die Bildung großer Schichten unſerer Erde iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1065" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1066" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s1067" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s1068" xml:space="preserve">Volksbücher VI.</s>
  <s xml:id="echoid-s1069" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="66" file="074" n="74"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1070" xml:space="preserve">Es befinden ſich auf der Erde ganze Gebirge von Kreide <lb/>(Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s1071" xml:space="preserve">3) und große Strecken von Kalklagern. </s>
  <s xml:id="echoid-s1072" xml:space="preserve">Die mikroſkopiſche <lb/>Unterſuchung lehrt, daß ſowohl die Kreide wie der meiſte Kalk <lb/>nichts anderes iſt, als die Schalen unendlich kleiner Tiere, die <lb/>dereinſt gelebt, ähnlich wie unſere Schnecken, die in einem <lb/>Kalkgehäuſe leben (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s1073" xml:space="preserve">4). </s>
  <s xml:id="echoid-s1074" xml:space="preserve">Vor vielen Jahrmillionen, ehe <lb/>noch ein Menſchengeſchlecht oder das Tiergeſchlecht, das jetzt <lb/>auf ihr wandelt, die Erde bevölkert hatte, war ſie von ſolchen <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-074-01a" xlink:href="fig-074-01"/>
Schal-Tierchen bewohnt, von denen nunmehr nichts übrig ge-<lb/>blieben iſt, als ihre Kalkſchale. </s>
  <s xml:id="echoid-s1075" xml:space="preserve">— Zugleich aber lehrt uns die <lb/>neuere Naturforſchung, daß in jenen Zeiten, die man die älteſten, <lb/>“vorweltlichen” nennt, Gewächſe ganz eigner Art exiſtiert haben, <lb/>die an Form und Weſen unſern Schachtelhalmen, Bärlappen <lb/>und Farn ähnlich, aber an Größe unſern Waldbäumen gleich-<lb/>kamen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1076" xml:space="preserve">Ja, die Pflanzenwelt war ſo üppig, daß man an-<lb/>nehmen muß, ſie habe außerordentlich reichhaltige Nahrung <lb/>bereit gefunden, und daraus geſchloſſen hat, daß die Luft ſo <lb/>viel Kohlenſäure — der Haupt-Nahrungsſtoff der Pflanzen —
<pb o="67" file="075" n="75"/>
enthalten habe, daß Menſchen und Tiere jetziger Art damals <lb/>nicht hätten auf der Erde atmen und leben können.</s>
  <s xml:id="echoid-s1077" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div31" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-074-01" xlink:href="fig-074-01a">
<caption xml:id="echoid-caption3" xml:space="preserve">Fig. 3. <lb/>Kreidefelſen von Stubbenkammer auf Rügen.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1078" xml:space="preserve">In noch früheren Epochen der Erde gab es wahrſcheinlich <lb/>noch gar keinen freien Kohlenſtoff; </s>
  <s xml:id="echoid-s1079" xml:space="preserve">vielmehr war alle Kohle, <lb/>die wir jetzt als Beſtandteile der Tiere und Pflanzen wie als <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-075-01a" xlink:href="fig-075-01"/>
mächtige Kohlenlager in der Erde antreffen, nur als Kohlen-<lb/>ſäure vorhanden. </s>
  <s xml:id="echoid-s1080" xml:space="preserve">Die Wärme, die damals herrſchte, war ſo <lb/>groß, daß die Kohle als ſolche gar nicht exiſtieren konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s1081" xml:space="preserve">Erſt <lb/>als die Erde ſich weiter abgekühlt hatte, entſtanden die Pflanzen, <lb/>welche die Kohlenſäure aufnahmen und ſie in Kohle und Sauer-<lb/>ſtoff zerlegten. </s>
  <s xml:id="echoid-s1082" xml:space="preserve">Aber ſelbſt, nachdem die mächtigen Pflanzen
<pb o="68" file="076" n="76"/>
jener vorweltlichen Zeit lange den Kohlenſtoff zu ihrem Aufbau <lb/>verbraucht und den Sauerſtoff der Luft beigemiſcht hatten, <lb/>enthielt dieſe vielleicht noch zu viel Kohlenſäure, als daß die <lb/>jetzigen Tiere und Menſchen in ihr hätten leben können.</s>
  <s xml:id="echoid-s1083" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div32" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-075-01" xlink:href="fig-075-01a">
<caption xml:id="echoid-caption4" xml:space="preserve">Fig. 4. <lb/>Ein Pröbchen Kreide, ſta@k vergrößert.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1084" xml:space="preserve">Wo blieb nun dieſe Kohlenſäure der Luft? </s>
  <s xml:id="echoid-s1085" xml:space="preserve">Ohne Zweifel <lb/>haben ſie zum großen Teil die Kalkſchalen der toten Tierchen <lb/>aufgenommen, die ſich mit Kohlenſäure verbunden haben und <lb/>nun als große Kreidegebirge vor uns liegen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1086" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1087" xml:space="preserve">Wer denkt wohl daran, daß auch die Kreide im Daſein <lb/>der Menſchen auf der Erde eine Rolle ſpielt! — —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1088" xml:space="preserve">Doch wir wollen uns nicht von unſerm eigentlichen Thema <lb/>entfernen und uns noch nicht in die Dunkel vergangener Jahr-<lb/>tauſende verlieren — wir ſparen uns dies für ein andres Kapitel <lb/>auf — ſondern wollen zurück zur Kohlenſäure oder zum Kohlen-<lb/>ſtoff, der ſich durch Verbrennung mit dem Sauerſtoff verbindet. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1089" xml:space="preserve">Denn die Wunder der Gegenwart ſind nicht minder zahlreich, <lb/>als die der Vergangenheit.</s>
  <s xml:id="echoid-s1090" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1091" xml:space="preserve">Wir haben es bereits erwähnt, daß die Menſchheit eine <lb/>unendliche Maſſe Kohlenſäure fabriziert.</s>
  <s xml:id="echoid-s1092" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1093" xml:space="preserve">Mit jedem Atemzug nehmen wir Sauerſtoff in unſere <lb/>Lungen ein, mit jedem Ausatmen ſenden wir Kohlenſäure in <lb/>die Luft hinaus. </s>
  <s xml:id="echoid-s1094" xml:space="preserve">Nicht minder ſendet jeder Ofen, jeder Herd, <lb/>auf dem Holz, Torf, Kohlen, Steinkohlen oder ſonſt ein Brenn-<lb/>material verbrannt wird, einen Strom von Kohlenſäure in die <lb/>Luft, einen Strom dieſes Gaſes, zu dem eben eine unendlich <lb/>große Maſſe von Sauerſtoff verbraucht worden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1095" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1096" xml:space="preserve">Woher aber kommt es, daß die Luft durch all’ dies nicht <lb/>verdorben wird? </s>
  <s xml:id="echoid-s1097" xml:space="preserve">Woher entſteht immer der neue Sauerſtoff, <lb/>der den vernutzten erſetzt, und wo kommt die Kohlenſäure hin, <lb/>die die Luft unatembar macht?</s>
  <s xml:id="echoid-s1098" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1099" xml:space="preserve">Die Antwort hierauf giebt gleichfalls erſt die neuere Natur-<lb/>forſchung, die den Zuſammenhang der Natur-Einrichtungen <lb/>immer mehr und mehr aufhellt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1100" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="69" file="077" n="77"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1101" xml:space="preserve">Die Kohlenſäure, obgleich ſie ſchwerer iſt als gewöhnliche <lb/>Luft und eigentlich zu Boden ſinken ſollte, wird durch die ſtete <lb/>Bewegung der Luft, wie von einer eignen Kraft, mit der Luft ge-<lb/>miſcht, und die Luft, wenn ſie an Stellen vorüberſtreicht, die Stoffe <lb/>enthalten, welche Neigung haben, ſich chemiſch mit Kohlenſäure <lb/>zu verbinden, giebt dieſen die Kohlenſäure ab und reinigt ſich <lb/>in ſolcher Weiſe von dem uns gefährlichen Stoffe. </s>
  <s xml:id="echoid-s1102" xml:space="preserve">Namentlich <lb/>aber ſind es die Pflanzen, die mit großer Begierde die Kohlen-<lb/>ſäure aus der Luft einſaugen, denn die Pflanzen, die Bäume, <lb/>die ſo viel Kohlen liefern, erhalten allen ihren Kohlenſtoff nicht <lb/>aus der Erde, ſondern aus der Luft, in welcher die Kohlen-<lb/>ſäure ſchwebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1103" xml:space="preserve">Die Pflanzen aber, die die Kohle aus der <lb/>Kohlenſäure verbrauchen, hauchen wiederum den Sauerſtoff <lb/>aus, ſo daß nicht ein einziges Atom verloren geht und die <lb/>Luft wieder jenen Stoff bekommt, der dem Leben der Tiere <lb/>und der Menſchen ſo notwendig iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1104" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1105" xml:space="preserve">Was der Menſch ausatmet, die Kohlenſäure, gelangt ſo <lb/>zur Pflanze und wird von dieſer aufgenommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1106" xml:space="preserve">Dafür giebt <lb/>die Pflanze den Sauerſtoff wieder aus und fabriziert ſo in <lb/>ununterbrochener Thätigkeit wieder die Luftart, die der Menſch <lb/>zum Einatmen braucht.</s>
  <s xml:id="echoid-s1107" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1108" xml:space="preserve">Wir haben hier eins der ſchönſten Beiſpiele für den Kreis-<lb/>lauf in der Natur vor uns: </s>
  <s xml:id="echoid-s1109" xml:space="preserve">wir ſehen, wie einzig und allein <lb/>die Wechſelwirkung zwiſchen Tier- und Pflanzenreich alles <lb/>organiſche Leben möglich macht, wie die Tiere und die Menſchen <lb/>und alle unſre heutige Kultur, unſre Klugheit und Weisheit <lb/>zu Grunde gehen würde, wenn nicht die Pflanzenwelt wäre, <lb/>die die Atmoſphäre von der ſchädlichen Kohlenſäure reinigte <lb/>und immer neuen Sauerſtoff produzierte, und wie andrerſeits <lb/>auch die Pflanzen verkümmern müßten, wenn nicht Menſchen <lb/>und Tiere ihuen die für ihr Daſein nötigen Stoffe, ohne es <lb/>zu wiſſen und zu wollen, immer neu liefern würden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1110" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1111" xml:space="preserve">Wir lernen hier den weltbeherrſchenden und welterhaltenden
<pb o="70" file="078" n="78"/>
Faktor der Anpaſſung in ſeiner großartigſten und umfaſſendſten <lb/>Wirkung kennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1112" xml:space="preserve">Wie genau dieſe gegenſeitige Abhängigkeit <lb/>von Tier- und Pflanzenwelt ſich ſelbſtthätig immer neu reguliert, <lb/>trotzdem Milliarden und aber Milliarden Lebeweſen tagtäglich <lb/>durch ihre Atmungsthätigkeit den Stoffgehalt der Luft zu ver-<lb/>ändern ſtreben, wie genau die einzelnen Teile der großen Welt-<lb/>maſchine ſich in einander fügen und in einander arbeiten, das <lb/>erkennt man am beſten aus der überraſchenden Thatſache, daß <lb/>nachweislich die Zuſammenſetzung der Luft ſich in den letzten <lb/>50 Jahren — und wahrſcheinlich auch ſchon ſeit viel, viel <lb/>längerer Zeit — auch nicht um den kleinſten Bruchteil eines <lb/>Prozents geändert hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s1113" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div34" type="section" level="1" n="30">
<head xml:id="echoid-head33" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXVI. Ein wenig organiſche Chemie.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1114" xml:space="preserve">Die organiſche Chemie, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s1115" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s1116" xml:space="preserve">die Chemie, die ſich mit den <lb/>chemiſchen Verbindungen beſchäftigt, die von den Lebeweſen in <lb/>ihrem Körper erzeugt werden, hat drei wichtige Aufgaben, <lb/>welche in der neueren Zeit die bedeutendſten Forſcher als das <lb/>ſegensreiche Feld ihrer Thätigkeit betrachten.</s>
  <s xml:id="echoid-s1117" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1118" xml:space="preserve">Vor allem iſt die organiſche Chemie von der größten <lb/>Wichtigkeit für den Landbau. </s>
  <s xml:id="echoid-s1119" xml:space="preserve">Bisher lebte man im voll-<lb/>kommenen Dunkel über die Erfahrungen, die der Landmann <lb/>beim Bau des Feldes machte, und die Fruchtbarkeit und Un-<lb/>fruchtbarkeit eines Feldes war rein eine Kenntnis, die man <lb/>durch jahrelange Beobachtungen erſt ermitteln mußte. </s>
  <s xml:id="echoid-s1120" xml:space="preserve">Zeit-<lb/>raubende Proben und ſchwere Verſuche belehrten erſt, wie und <lb/>wozu ein Feld angewendet werden kann, welche Saat man <lb/>darauf ausſäen und welche Frucht darauf gedeihen möchte, <lb/>mit welcher Art von Dünger man den Boden verſehen müſſe, <lb/>und welche Gattungen von Stoffen der Pflanze förderlich ſein <lb/>könnten. </s>
  <s xml:id="echoid-s1121" xml:space="preserve">Jetzt, wo die Chemiker die Sache in die Hand ge-
<pb o="71" file="079" n="79"/>
nommen haben, iſt man ſchon einen gewaltigen Schritt weiter <lb/>gekommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1122" xml:space="preserve">Der Landbau iſt jetzt eine wiſſenſchaftliche Thätig-<lb/>keit geworden, und dieſe Wiſſenſchaft iſt die Wiſſenſchaft der <lb/>organiſchen Chemie.</s>
  <s xml:id="echoid-s1123" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1124" xml:space="preserve">Der Chemiker nimmt eine Pflanze, zerlegt ſie auf chemiſchem <lb/>Wege und ſieht, welche Stoffe darin enthalten ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s1125" xml:space="preserve">Er weiß, <lb/>daß dieſe Stoffe nicht durch Zauber in die Pflanze hinein-<lb/>kommen, ſondern daß es ein chemiſcher Vorgang iſt, durch <lb/>welchen die Pflanze dieſe Stoffe aus dem Boden und der Luft <lb/>genommen und umgebildet hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s1126" xml:space="preserve">Kennt er die Stoffe, aus <lb/>denen die fertige Pflanze beſteht, ſo weiß er auch, daß die <lb/>Pflanzen dieſe Stoffe als Speiſe in ſich aufgenommen haben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1127" xml:space="preserve">Er weiß alſo genau, was der Boden liefern muß, um ſolche <lb/>Pflanzen hervorbringen zu können. </s>
  <s xml:id="echoid-s1128" xml:space="preserve">Nimmt er nun einen <lb/>Stich Erde aus dem Boden und unterſucht ihn auf chemiſchem <lb/>Wege und findet, daß dieſe Stoffe, die die Pflanze braucht, <lb/>im Boden vorhanden ſind, ſo kann er, ohne jahrelange Kultur-<lb/>Verſuche anſtellen zu müſſen, ſagen: </s>
  <s xml:id="echoid-s1129" xml:space="preserve">“Dieſe Pflanze wird in <lb/>dieſem Boden gedeihen!”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1130" xml:space="preserve">Findet er, daß der Boden nicht alle Stoffe in ſich hat, <lb/>die die Pflanze braucht, ſo weiß er anzugeben, womit der <lb/>Boden verſorgt werden muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s1131" xml:space="preserve">Denn der Chemiker ſcheut ſich <lb/>nicht, auch jede Art von Dünger chemiſch zu zerlegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1132" xml:space="preserve">Er <lb/>unterſucht, welche Stoffe der Dünger dem Felde zubringen <lb/>muß und belehrt den ſtaunenden Landmann: </s>
  <s xml:id="echoid-s1133" xml:space="preserve">hier mußt du Gips <lb/>in den Dünger miſchen! dort mußt du Knochenmehl hinzuthun! <lb/>da darſſt du nicht zu viel tieriſchen Dünger ablagern! dieſes <lb/>Feld mußt du ein Jahr lang ruhen laſſen und ſtatt Getreide <lb/>Klee anbauen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1134" xml:space="preserve">Jenes Feld braucht gar keinen Stoff, denn es <lb/>beſitzt ſie alle im Überfluß, aber es kann darauf deshalb nichts <lb/>wachſen, weil die nötigen Stoffe in einer Form vorhanden <lb/>ſind, durch welche ſie ſich nicht im Regenwaſſer auflöſen können, <lb/>du mußt alſo ſtatt des Düngers verdünnte Schwefelſäure auf
<pb o="72" file="080" n="80"/>
dein Feld ſchütten, die dieſe Stoffe auflösbar machen wird, ſo <lb/>daß die Pflanze ſie wird genießen können.</s>
  <s xml:id="echoid-s1135" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1136" xml:space="preserve">Die zweite Aufgabe der organiſchen Shemie iſt, aus der <lb/>Pflanzen- und Tierwelt neue chemiſche Stoffe herzuſtellen, von <lb/>denen man ſonſt keine Ahnung hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s1137" xml:space="preserve">Die Mannigfaltigkeit <lb/>in der organiſchen Welt iſt ſo unendlich groß, daß mit jedem <lb/>Tage aus der Pflanzen- und Tierwelt neue Stoffe erzeugt <lb/>werden, von denen man früher nie etwas wußte. </s>
  <s xml:id="echoid-s1138" xml:space="preserve">Der Reich-<lb/>tum an neuen Stoffen iſt durch die Forſchungen der letzten <lb/>Jahrzehnte ſo gewachſen, daß es jetzt nur an Menſchen fehlt, <lb/>welche ſich mit der Aufgabe beſchäftigen, wie und wo man <lb/>ſolche Stoffe nützlich verwenden kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s1139" xml:space="preserve">Und doch ſteht es feſt, <lb/>daß jeder dieſer neuen Stoffe irgendwie verwendet werden <lb/>kann, und einzelne von dieſen, die jetzt ganz unbeachtet bleiben, <lb/>bei einer glücklichen Entdeckung zu einer Quelle großer Reich-<lb/>tümer werden können.</s>
  <s xml:id="echoid-s1140" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1141" xml:space="preserve">Um ein kleines Beiſpiel hiervon zu geben, wollen wir <lb/>Folgendes anführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1142" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1143" xml:space="preserve">Das Anilin war ſchon lange von den Chemikern aus dem <lb/>Steinkohlenteer dargeſtellt und mit dem Namen Kyanol belegt <lb/>worden. </s>
  <s xml:id="echoid-s1144" xml:space="preserve">Aber erſt vor wenigen Jahrzehnten machte man <lb/>weiter die Entdeckung, daß dieſer Stoff, eine farbloſe, ölartige <lb/>Flüſſigkeit, unter der Einwirkung anderer chemiſcher Stoffe, <lb/>ſich in die prachtvollſten Farben verwandele. </s>
  <s xml:id="echoid-s1145" xml:space="preserve">Jetzt hat bereits <lb/>die Anwendung dieſer ſchönen Anilinfarben eine ſo ausgedehnte <lb/>Verbreitung, daß faſt alle roten, blauen und violetten Seiden-<lb/>und Wollſtoffe, die in den Handel kommen, mit dieſem Anilin, <lb/>dem Abkömmlinge des gewöhnlichen Steinkohlenteers, ge-<lb/>färbt ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s1146" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1147" xml:space="preserve">Zahlloſe andere chemiſche Verbindungen haben eine ähn-<lb/>liche Geſchichte aufzuweiſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1148" xml:space="preserve">Der Chemiker kannte ſie ſehr <lb/>wohl, ohne ſie weiter zu beachten, ohne zu ahnen, welch wert-<lb/>vollen Stoff er vor ſich hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s1149" xml:space="preserve">Beſouders charakteriſtiſch iſt
<pb o="73" file="081" n="81"/>
in dieſer Beziehung eine erſt wenige Jahre alte Erfindung, <lb/>die in weniger als ſieben Jahren zu einer ungeheuren Be-<lb/>deutung gelangte. </s>
  <s xml:id="echoid-s1150" xml:space="preserve">Ein ſeltenes Element, das für den Chemiker <lb/>lange Zeit durchaus kein beſonderes Intereſſe bot und bei dem <lb/>er ſich wie bei ſo vielen anderen Elementen mit der Kenntnis <lb/>ſeiner Exiſtenz und ſeines Namens begnügte, dies Element, <lb/>das Thorium, wurde durch eine glückliche Entdeckung Auer <lb/>von Welsbachs plötzlich die Erundlage der großen Gas-<lb/>Glühlicht-Induſtrie.</s>
  <s xml:id="echoid-s1151" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1152" xml:space="preserve">Wir ſind damit freilich wieder in ein Gebiet der unorga-<lb/>niſchen Chemie gelangt, doch wollen wir nach dieſer Abſchwei-<lb/>fung nun wieder zur organiſchen zurückkehren.</s>
  <s xml:id="echoid-s1153" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div35" type="section" level="1" n="31">
<head xml:id="echoid-head34" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXVII. Die wichtigen Aufgaben der organiſchen</emph> <lb/><emph style="bf">Chemie.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1154" xml:space="preserve">Eine höhere Aufgabe der organiſchen Chemie iſt, die <lb/>Produkte der Pflanzenwelt in ihrer Verbindung zu beobachten, <lb/>die ſie annehmen, wenn ſie ſich ſelbſt überlaſſen oder durch <lb/>andere Stoffe und Mittel zu Veränderungen angeregt werden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1155" xml:space="preserve">Der Segen, den dieſer Teil der Chemie bereitet hat, iſt unge-<lb/>heuer; </s>
  <s xml:id="echoid-s1156" xml:space="preserve">die Ausſicht, die hier noch Segensreiches in der Zukunft <lb/>verſpricht, geht ins Unendliche.</s>
  <s xml:id="echoid-s1157" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1158" xml:space="preserve">Es iſt gar nicht lange her, daß man die Früchte der <lb/>Pflanzen nur in der Weiſe verbrauchte, wie ſie die Natur <lb/>fertig lieferte; </s>
  <s xml:id="echoid-s1159" xml:space="preserve">erſt als die Chemie anfing, dieſe Früchte zu <lb/>unterſuchen, erſt da kam man darauf, daß man aus den <lb/>Früchten noch ganz andere Dinge machen kann, als die Natur.</s>
  <s xml:id="echoid-s1160" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1161" xml:space="preserve">Es iſt bekannt, daß man vor ſiebzig Jahren nichts anderes <lb/>wußte, als daß man Zucker aus der Ferne herholen müſſe, <lb/>wo das Zuckerrohr gedeiht; </s>
  <s xml:id="echoid-s1162" xml:space="preserve">jetzt weiß es jeder, daß wir meiſt-<lb/>hin den Runkelrübenzucker genießen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1163" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="74" file="082" n="82"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1164" xml:space="preserve">Als ein Beiſpiel der intereſſanteſten Art, wie die Kunſt <lb/>der Chemie die Naturſtoffe in ganz veränderte Form und Be-<lb/>ſchaffenheit verſetzen kann, iſt die jetzige Fabrikation des Holz-<lb/>eſſigs zu erwähnen, bei welcher, wie wir ſpäter zeigen werden, <lb/>wirklich aus Holz Eſſig gemacht wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s1165" xml:space="preserve">Noch intereſſanter in <lb/>dieſer Beziehung iſt die Kartoffel-Stärke, aus dieſer kann man <lb/>auf chemiſchem Wege Gummi machen, den Gummi kann man <lb/>in Zucker verwandeln, den Zucker kann man in Alkohol, den <lb/>Alkohol in Äther und Eſſig umſchaffen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1166" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1167" xml:space="preserve">In gleicher Weiſe verſteht es die organiſche Chemie, alle <lb/>Naturſtoffe aus ihrer früheren Beſchaffenheit zu einer Ver-<lb/>änderung anzuregen und ganz neue, gar nicht in dieſen Stoffen <lb/>vermutete Dinge daraus zu machen, ſo daß eigentlich ſämt-<lb/>liche Fabrikationszweige jetzt in das Bereich der Chemie <lb/>fallen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1168" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1169" xml:space="preserve">Wir wollen im nächſten Bändchen dieſe drei Aufgaben <lb/>der organiſchen Chemie in kurzen Umriſſen näher beleuchten <lb/>und durch Beiſpiele und Verſuche deren Wichtigkeit deutlich zu <lb/>machen ſuchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1170" xml:space="preserve">Wir werden demnach in den nächſten Ab-<lb/>ſchnitten einiges von den Hauptſachen der landwirtſchaftlichen <lb/>Chemie, einiges von der Auffindung neuer Stoffe und endlich <lb/>einige Beiſpiele von den Verwandlungen vorführen, die die <lb/>Chemie mit vielen Stoffen vornimmt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1171" xml:space="preserve">für jetzt dürfen wir <lb/>jedoch über die Nützlichkeit und praktiſche Wichtigkeit dieſer <lb/>Wiſſenſchaft nicht vergeſſen, daß ſie einen noch höheren Wert <lb/>beanſpruchen darf, indem ſie es iſt, die das Dunkel im Lebens-<lb/>vorgang des Tieres und des Menſchen beleuchtet, die undurch-<lb/>dringlichſten Geheimniſſe unſeres eigenen Leibes erforſcht, und <lb/>ſo eine bedeutende Stütze der Lehre vom Leben, vom Erkranken <lb/>und der Heilung des Menſchen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1172" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1173" xml:space="preserve">Die organiſche Chemie iſt zur Erkenntnis des Lebens-<lb/>vorganges im Menſchen von der höchſten Wichtigkeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s1174" xml:space="preserve">Erſt <lb/>durch die Chemie lernen wir verſtehen, weshalb wir atmen
<pb o="75" file="083" n="83"/>
und was mit dem Atem vorgeht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1175" xml:space="preserve">Erſt die Chemie belehrt uns, <lb/>weshalb wir uns nur von gewiſſen Stoffen ernähren können. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1176" xml:space="preserve">Der Chemie der neuern Zeit erſt iſt es gelungen, zu zeigen, <lb/>in welche Stoffe des Leibes ſich die Stoffe der Speiſen ver-<lb/>wandeln, welche Speiſen zum Wachstum der Haare, der <lb/>Nägel, der Zähne, der Muskeln und des Fettes nötig ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s1177" xml:space="preserve"><lb/>— Erſt durch die Chemie beginnt man jetzt zu ahnen, wie <lb/>und in welcher Weiſe ſich Geſundheit im Körper erhalten und <lb/>Krankheit entſtehen kann, und woher einzelne Medizinen in <lb/>dieſen Zuſtand eingreifen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1178" xml:space="preserve">Der Chemie erſt wird es gelingen, <lb/>die Heilkunſt völlig in eine Heilwiſſenſchaft zu verwandeln <lb/>und das Dunkel zu zerſtreuen, das jetzt noch über einem <lb/>großen Teil der ärztlichen Praxis ſchwebt, ein Dunkel, das <lb/>ſelbſt der glücklichſte Arzt nicht durchſchauen kann, ohne die <lb/>Chemie zu Hilfe zu rufen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1179" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1180" xml:space="preserve">Druck von G. </s>
  <s xml:id="echoid-s1181" xml:space="preserve">Bernſtein in Berlin.</s>
  <s xml:id="echoid-s1182" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb file="084" n="84"/>
<pb file="085" n="85"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div36" type="section" level="1" n="32">
<head xml:id="echoid-head35" xml:space="preserve"><emph style="bf">Naturwiſſenſchaftliche Volkshiicher</emph> <lb/>von <lb/><emph style="bf">A. Bernſtein.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head36" xml:space="preserve">Fünſte, reich illuſtrierte Aufſage.</head>
<head xml:id="echoid-head37" xml:space="preserve">Durchgeſehen und verbeſſert <lb/>von <lb/><emph style="bf">H. Potonié</emph> und <emph style="bf">R. Hennig.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head38" xml:space="preserve">Siebenter Teil.</head>
  <figure>
    <image file="085-01" xlink:href="http://echo.mpiwg-berlin.mpg.de/zogilib?fn=/permanent/library/xxxxxxxx/figures/085-01"/>
  </figure>
</div>
<div xml:id="echoid-div37" type="section" level="1" n="33">
<head xml:id="echoid-head39" xml:space="preserve"><emph style="bf">Berlin.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head40" xml:space="preserve">Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.</head>
<pb file="086" n="86"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1183" xml:space="preserve">Das Recht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s1184" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb file="087" n="87"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div38" type="section" level="1" n="34">
<head xml:id="echoid-head41" xml:space="preserve"><emph style="bf">Inhaltsverzeichnis.</emph></head>
<note position="right" xml:space="preserve"> <lb/># # Seite <lb/>## <emph style="bf">Ein wenig Chemie. II.</emph> <lb/>I. # Naturwiſſenſchaft, Weltgeſchichte und ſoziale Frage . . # 1 <lb/>II. # Die landwirtſchaftliche Chemie, der Keim, die Frucht und <lb/># einige Verſuche . . . . . . . . . . . . . # 6 <lb/>III. # Die chemiſche Werkſtatt der Pflanze . . . . . . . # 10 <lb/>IV. # Die Nahrung der Pflanze . . . . . . . . . . # 13 <lb/>V. # Die Speiſung der Pflanze durch die Wurzel . . . . # 17 <lb/>VI. # Womit und wie man die Pflanzen füttern muß . . . # 19 <lb/>VII. # Die Düngung des Feldes . . . . . . . . . . # 21 <lb/>VIII. # Die wiſſenſchaſtliche Unterſuchung des Düngers . . . # 24 <lb/>IX. # Die Entdeckung neuer Stoffe . . . . . . . . . # 26 <lb/>X. # Die freiwilligen Veränderungen der Pflanzenſtoffe . . # 30 <lb/>XI. # Die Bereitung von Mehl und Stärke aus einer Kartoffel # 32 <lb/>XII. # Die Verwandlung der Kartoffel in Zucker . . . . . # 35 <lb/>XIII. # Die Dienſte der Schwefelſäure oder des Malzes . . . # 37 <lb/>XIV. # Kann man nicht aus Holz Zucker machen? . . . . . # 39 <lb/>XV. # Die Verwandlung des Zuckers durch Gährung . . . . # 43 <lb/>XVI. # Was die Gährung für Veränderung hervorbringt . . . # 46 <lb/>XVII. # Die Bildung von Met, Num, Wein und Bier . . . # 49 <lb/>XVIII. # Die Fabrikation des Biers in feinen verſchiedenen Sorten. <lb/># — Die Bildung des Äthers aus Alkohol . . . . # 52 <lb/>XIX. # Die Verwandlung des Alkohols in Eſſig . . . . . # 54 <lb/>XX. # Die ſchnellere Verwandlung des Alkohols in Eſſig . . # 57 <lb/>XXI. # Die Bedeutung der Chemie als Wiſſenſchaft . . . . # 60 <lb/>XXII. # Die höchſte Aufgabe der Tierchemie . . . . . . . # 62 <lb/>## <emph style="bf">Über Bäder und deren Wirkung.</emph> <lb/>I. # Was das Waſſer alles kann . . . . . . . . . # 66 <lb/>II. # Wir leben in einem Luftbade . . . . . . . . . # 68 <lb/>III. # Wie Waſſer ein ander Ding iſt . . . . . . . . # 71
<pb o="IV" file="088" n="88"/>
IV. # In was für Haut wir ſtecken . . . . . . . . . # 73 <lb/>V. # Die Verdunſtung durch die Haut . . . . . . . . # 76 <lb/>VI. # Einteilung der Bäder . . . . . . . . . . . # 79 <lb/>VII. # Das Reinigungsbad . . . . . . . . . . . . # 82 <lb/>VIII. # Die Empfindlichkeit und die Geſundheit . . . . . # 85 <lb/>IX. # Die Einwirkung des Waſſer-Druckes . . . . . . . # 88 <lb/>X. # Die Haut als durchdringliche Waud . . . . . . . # 90 <lb/>XI. # Die Anregung der Haut-Thätigkeit . . . . . . . # 93 <lb/>XII. # Die lebendige Gegenwirkung . . . . . . . . . # 96 <lb/>XIII. # Die warmen Bäder . . . . . . . . . . . . # 99 <lb/>XIV. # Die Gegenwirkung im kalten Bade . . . . . . . # 102 <lb/>XV. # Schlußbetrachtungen . . . . . . . . . . . . # 105 <lb/>XVI. # Anhang: Die Kneipp-Kur . . . . . . . . . . # 108 <lb/></note>
<pb o="1" file="089" n="89"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div39" type="section" level="1" n="35">
<head xml:id="echoid-head42" xml:space="preserve"><emph style="bf">I. Naturwiſſenſchaft, Weltgeſchichte und ſoziale</emph> <lb/><emph style="bf">Frage.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1185" xml:space="preserve">In die zahlloſen Stimmen, welche die Segnungen der <lb/>Naturwiſſenſchaften und zumal die Erfolge des letzten Jahr-<lb/>hunderts auf dieſem Gebiete mit begeiſterten Worten preiſen, <lb/>miſchen ſich vereinzelt zweifelnde Fragen von Laien, die ſich <lb/>mit Mißtrauen dem allgemeinen Jubel gegenüber verhalten. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1186" xml:space="preserve">“Stehen denn die ſchließlichen Erfolge”, ſo ſagen ſolche Leute, <lb/>“wirklich in rechtem Verhältniſſe zu den unendlichen Mühen <lb/>und Opfern jeder Art, welche zu ihrer Erreichung aufgewandt <lb/>werden mußten? </s>
  <s xml:id="echoid-s1187" xml:space="preserve">Wir wollen ja zwar nicht verkennen, daß <lb/>die mediziniſche Wiſſenſchaft uns viele, ſehr viele Segnungen <lb/>gebracht hat, daß die Elektrizität und die Dampfkraft Handel, <lb/>Verkehr und Produktion in großartigſtem Maße geſteigert haben, <lb/>daß das Eigentum gegen den Blitz, das Leben gegen den See-<lb/>ſturm viel mehr als früher geſchützt iſt, aber iſt denn der <lb/>Wohlſtand der Menſchheit, welcher doch immer den höchſten <lb/>Geſichtspunkt darſtellt, wirklich durch die Naturwiſſenſchaft <lb/>einigermaßen beträchtlich gefördert worden? </s>
  <s xml:id="echoid-s1188" xml:space="preserve">Iſt es für den <lb/>Menſchenfreund nicht vielleicht beſſer, ſeine Thätigkeit und <lb/>Arbeitskraft ausſchließlich den ſozialen Verhältniſſen und <lb/>ihrer Verbeſſerung zu widmen? </s>
  <s xml:id="echoid-s1189" xml:space="preserve">Würde er dadurch nicht der <lb/>Menſchheit beſſer dienen, als wenn er irgend eine intereſſante <lb/>naturwiſſenſchaftliche Entdeckung macht, eine beſonders leiſtungs-<lb/>fähige Maſchine konſtruiert u. </s>
  <s xml:id="echoid-s1190" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s1191" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s1192" xml:space="preserve">?”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1193" xml:space="preserve">Zahlreiche übereifrige Nationalökonomen und Politiker, <lb/>welche ſo ſprechen, und welche ihre eigene — zweifellos ſehr</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1194" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s1195" xml:space="preserve">Bernſtein, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s1196" xml:space="preserve">Volksbücher VII.</s>
  <s xml:id="echoid-s1197" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="2" file="090" n="90"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1198" xml:space="preserve">wichtige und unentbehrliche — Thätigkeit hoch über das Streben <lb/>des ſtillen naturwiſſenſchaftlichen Forſchers und Erfinders ſtellen <lb/>möchten, ſie ahnen nicht, daß gerade der Naturwiſſenſchaft <lb/>der bedeutendſte und ſegensreichſte Fortſchritt zu danken iſt, <lb/>welchen die praktiſche Seite ſozialer Arbeit überhaupt bisher <lb/>zu verzeichnen hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s1199" xml:space="preserve">Und zwar iſt es unter den mannigfachen <lb/>Zweigen der Naturwiſſenſchaft die Chemie, welcher das eben <lb/>angedeutete Verdienſt zukommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1200" xml:space="preserve">Um die ganze Größe dieſer <lb/>herrlichen Entdeckung, welcher wir jetzt unſere Aufmerkſamkeit <lb/>ſchenken wollen, ermeſſen zu können, wollen wir zuvor in ein <lb/>ganz anderes Gebiet abſchweifen, das an und für ſich abſolut <lb/>nichts mit der Chemie, ja mit der Naturwiſſenſchaft überhaupt <lb/>zu thun zu haben ſcheint.</s>
  <s xml:id="echoid-s1201" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1202" xml:space="preserve">Wir bitten dich, freundlicher Leſer, mit uns zunächſt einen <lb/>Rückblick zu werfen auf die große Weltgeſchichte. </s>
  <s xml:id="echoid-s1203" xml:space="preserve">Aber wir <lb/>wollen dies nicht in dem Sinne thun, in welchem dir die Ge-<lb/>ſchichte in der Schule gelehrt wurde, ſondern wollen einmal <lb/>verſuchen, naturwiſſenſchaftliche Erkenntniſſe darauf anzuwenden, <lb/>und ſo einen großen, allgemeineren Geſichtspunkt zu gewinnen, <lb/>zu dem ſich die meiſten Beurteiler der Geſchichte, “von Gunſt <lb/>und Haß verwirrt”, nicht aufzuſchwingen vermögen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1204" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1205" xml:space="preserve">Gewiß hat jeder, der die hiſtoriſchen Begebniſſe mit wirk-<lb/>lichem Intereſſe verfolgte, ſich oft ſchon ſtaunend gefragt, wie <lb/>es möglich ſei, daß die größten, mächtigſten und blühendſten <lb/>Reiche ſtets nach wenigen Jahrhunderten höchſten Glanzes zer-<lb/>fielen und anderen Staatenbildungen weichen mußten, denen <lb/>niemand in ihren unſcheinbaren Anfängen ihre künftige Größe <lb/>prophezeit haben würde. </s>
  <s xml:id="echoid-s1206" xml:space="preserve">Dort, wo die Geſchichte heraus-<lb/>tritt aus dem nächtigen Dunkel, das über der ſagenhaften Vor-<lb/>zeit ſchwebt, ſehen wir zunächſt Egypten ſich mächtig abheben <lb/>vor allen anderen Ländern als einen Staat auf einer erſtaun-<lb/>lichen Höhe der Kultur, wie ſie dort ſpäter nie wieder erreicht <lb/>worden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1207" xml:space="preserve">Aber nach der Zeit des großen Ramſes (geſtorben
<pb o="3" file="091" n="91"/>
1322 v. </s>
  <s xml:id="echoid-s1208" xml:space="preserve">Chr.) </s>
  <s xml:id="echoid-s1209" xml:space="preserve">ſinkt ſeine Größe herab, und Egypten tritt den <lb/>Vorrang als erſter Kulturſtaat an Aſſyrien ab, das dann ſeiner-<lb/>ſeits nach einigen Jahrhunderten wieder Babylonien weichen <lb/>mußte. </s>
  <s xml:id="echoid-s1210" xml:space="preserve">Die neu aufgehende Sonne des großen Perſerreiches <lb/>überſtrahlte dann den Glanz der älteren Kulturländer, und <lb/>gleichzeitig begann jene herrliche Blüteepoche in dem kleinen <lb/>Griechenland, wo ſich eine bis dahin nie geahnte Höhe geiſtiger <lb/>Entwickelung ausbildete, welcher es beſchieden war, der er-<lb/>drückenden Macht des rieſenhaften Perſerreiches ſiegreich zu <lb/>widerſtehen und den koloſſalen Staat ſchließlich zu zertrümmern. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1211" xml:space="preserve">Aber auch hier folgt einer kurzen, herrlichen Blütezeit eine <lb/>Jahrtauſende währende Epoche des Verfalls, und während der <lb/>milde Stern Griechenlands zu verbleichen beginnt, ſteigt mächtig <lb/>lodernd das blendende Geſtirn der ewigen Roma zu ſeiner <lb/>weltheherrſchenden Stellung empor. </s>
  <s xml:id="echoid-s1212" xml:space="preserve">Nie zuvor und nie nach-<lb/>her gab es ein feſtgefügtes Reich von einer gleich rieſigen <lb/>Ausdehnung: </s>
  <s xml:id="echoid-s1213" xml:space="preserve">der Bau der römiſchen Weltherrlichkeit ſchien für <lb/>die Ewigkeit errichtet — und wenige hundert Jahre ſpäter zer-<lb/>ſchlugen die germaniſchen Heere den rieſigen Koloß, und in <lb/>buntem Wechſelſpiel übernahmen nun verſchiedene Völker die <lb/>Führung, und erſt in neuerer Zeit war es möglich, daß mehrere <lb/>Kulturreiche von gleicher Größe und Bedeutung neben ein-<lb/>ander beſtanden und, ſtatt ſich bis zur Vernichtung zu befehden, <lb/>ſich gegenſeitig fördern und von einander lernen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1214" xml:space="preserve">Das Ergebnis <lb/>der Weltgeſchichte iſt, daß die höchſte Kultur, von ſüdlichen <lb/>Ländern ausgehend, immer weiter und weiter nach Norden <lb/>bezw. </s>
  <s xml:id="echoid-s1215" xml:space="preserve">Nordweſten rückte.</s>
  <s xml:id="echoid-s1216" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1217" xml:space="preserve">Was iſt daran ſchuld? </s>
  <s xml:id="echoid-s1218" xml:space="preserve">Was hat jene ſüdlichen Kulturen <lb/>verſchwinden laſſen? </s>
  <s xml:id="echoid-s1219" xml:space="preserve">Was hat zumal das ſtolze Römerreich <lb/>von ſeiner Höhe herabgeſtürzt? </s>
  <s xml:id="echoid-s1220" xml:space="preserve">Auf die letzte Frage hört man <lb/>bei uns in Deutſchland ſo oft gedankenlos antworten: </s>
  <s xml:id="echoid-s1221" xml:space="preserve">“Ja, <lb/>die verweichlichten Römer konnten eben den kraftſtrotzenden, <lb/>abgehärteten Söhnen Germaniens nicht ſtand halten; </s>
  <s xml:id="echoid-s1222" xml:space="preserve">was
<pb o="4" file="092" n="92"/>
ihnen zuerſt im Teutoburger Walde begegnet war, das ließ <lb/>ſich bei öfterer Wiederholung unmöglich ertragen, und deshalb <lb/>allein ging das Römerreich zu Grunde.</s>
  <s xml:id="echoid-s1223" xml:space="preserve">” Die, welche ſo <lb/>ſprechen, beweiſen nur, daß ſie ſehr wenig geſchichtliches Ver-<lb/>ſtändnis und deſto mehr Vorurteile beſitzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1224" xml:space="preserve">Ja, im Teuto-<lb/>burger Walde konnten wohl die Germanen das Varusheer <lb/>vernichten, wo ſie die ahnungsloſen Römer mitten im Frieden <lb/>in ungünſtigſter Gegend und zur regneriſchen Herbſtzeit nächt-<lb/>lich überfielen, aber in offener Feldſchlacht verſagte die un-<lb/>gezügelte Tapferkeit und die urwüchſige Kraft der Germanen, <lb/>wie es auch ganz natürlich iſt, ſtets gegen die überlegene <lb/>Kriegskunſt der “verweichlichten” Römer, und wer die Ge-<lb/>ſchichte kennt, wird mit dem Hinweis auf die Namen Aquä <lb/>Sextiä, Vercellä, Idiſiaviſo, Steinhuder Meer jene thörichte <lb/>und patriotiſch ſein ſollende Geſchichtsauffaſſung gründlichſt <lb/>abfertigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1225" xml:space="preserve">Nein, ſo leicht ließ ſich die Weltbeherrſcherin Rom <lb/>denn doch nicht über den Haufen rennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1226" xml:space="preserve">Um ſie zu ſtürzen, <lb/>mußten tiefer liegende Urſachen vorhanden ſein, und die Natur-<lb/>wiſſenſchaft hat uns dieſe auch enthüllt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1227" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1228" xml:space="preserve">Zum Teil waren es klimatologiſche Faktoren, welche den <lb/>Verfall der alten Kulturen herbeiführten. </s>
  <s xml:id="echoid-s1229" xml:space="preserve">Die Witterung <lb/>Griechenlands z. </s>
  <s xml:id="echoid-s1230" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s1231" xml:space="preserve">hat ſich in den letzten 2000 Jahren außer-<lb/>ordentlich zu ihrem Nachteil verändert: </s>
  <s xml:id="echoid-s1232" xml:space="preserve">Die Temperatur iſt <lb/>eine viel höhere, die Hitze viel erſchlaffender, die Niederſchläge <lb/>viel geringer als ehedem; </s>
  <s xml:id="echoid-s1233" xml:space="preserve">infolgedeſſen ſind große Teile des <lb/>Landes, die einſt fruchtbar und waldreich waren, ausgetrocknet, <lb/>verdorrt, zur Wüſte geworden, und das rege Geiſtesleben der <lb/>Bewohner iſt matt und träge geworden, eingeſchlafen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1234" xml:space="preserve">Das <lb/>Volk, dem im Verlauf von zwei Jahrhunderten ein Themiſtokles <lb/>und Ariſtides, ein Perikles und Epaminondas, ein Sophokles, <lb/>Äſchylus, Phidias, ein Sokrates, Ariſtoteles, Epikur und un-<lb/>zählige andere Männer entſprangen, welche ſich kühn den <lb/>größten Geiſtern aller Zeiten zur Seite ſtellen können, es hat
<pb o="5" file="093" n="93"/>
ſeit zwei Jahrtauſenden auch nicht einen Mann mehr hervor-<lb/>gebracht, der ſich jenen herrlichen Geſtalten zugeſellen könnte. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1235" xml:space="preserve">Ähnliches finden wir auch bei anderen alten Kulturſtaaten.</s>
  <s xml:id="echoid-s1236" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1237" xml:space="preserve">Speziell für Rom iſt aber dieſer klimatologiſche Faktor <lb/>nicht von ſo großer Bedeutung geweſen wie ein anderer. </s>
  <s xml:id="echoid-s1238" xml:space="preserve"><emph style="sp">Der <lb/>Rückgang der Landwirtſchaft</emph> war es, der das römiſche <lb/>Reich zertrümmerte: </s>
  <s xml:id="echoid-s1239" xml:space="preserve">der Boden Italiens und vor allem der-<lb/>jenige des einſt über alle Maßen fruchtbaren Siciliens wurden <lb/>im Laufe der Zeit derartig ausgeſogen, daß der Ernteertrag <lb/>bis zum dritten Teil des urſprünglichen Reichtums herabſank. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1240" xml:space="preserve">Dieſer Faktor, der langſam, aber ſtets fühlbarer den Wohl-<lb/>ſtand des mächtigſten Volkes bedrohte, verurſachte Verarmung <lb/>und Verfall des großen Reiches, wie er ſchon ſo manches <lb/>andere Reich dem Verderben entgegengeführt hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s1241" xml:space="preserve">Und zu <lb/>Anfang unſeres 19. </s>
  <s xml:id="echoid-s1242" xml:space="preserve">Jahrhunderts ſchien es, als wolle ganz <lb/>Europa dem gleichen, ſchrecklichen Schickſal unterliegen, das <lb/>einſt die alten Kulturſtaaten betroffen hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s1243" xml:space="preserve">Unabwendbar <lb/>ſchien das grauſige Verhängnis zu nahen, das nach Verlauf <lb/>weniger Jahrhunderte Europa die führende Stellung unter den <lb/>Völkern entriſſen und ſie alsdann nach Nordamerika verpflanzt <lb/>hätte. </s>
  <s xml:id="echoid-s1244" xml:space="preserve">Man wußte wohl, daß durch fortwährende Ernten dem <lb/>Boden die wichtigſten Beſtandteile entzogen werden, man wußte <lb/>auch, daß dieſer ſcheinbar nicht allzu bedeutende Faktor es <lb/>war, der zum größeren Teile die Weltgeſchichte lenkte und die <lb/>Geſchicke der Völker beſtimmte, aber wie man dem drohenden <lb/>Unheil mit Erfolg begegnen ſollte — das wußte man nicht.</s>
  <s xml:id="echoid-s1245" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1246" xml:space="preserve">Der Naturwiſſenſchaft einzig und allein gebührt nun der <lb/>Ruhm, die finſteren Schatten, welche über dem Glück und <lb/>dem Wohlſtand der Kulturvölker ſchwebten, für alle Zeiten zu <lb/>verſcheuchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1247" xml:space="preserve">In erſter Linie war es das unſterbliche Ver-<lb/>dienſt des Chemikers <emph style="sp">Juſtus von Liebig</emph> (1803—1873), das <lb/>dieſen ſtets zu einem der größten Wohlthäter der Menſchheit <lb/>ſtempeln wird, daß er ſtreng wiſſenſchaftlich den Nachweis
<pb o="6" file="094" n="94"/>
führte, wie man den Ackerboden rationell behandeln müſſe, um <lb/>alle durch voraufgegangene Ernten verlorenen Stoffe ihm wieder <lb/>zu erſetzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1248" xml:space="preserve">Wie dies ungefähr zu geſchehen habe, wollen wir <lb/>noch in den folgenden Kapiteln genauer kennen lernen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1249" xml:space="preserve">für jetzt genüge die Behauptung, daß mit dieſer That die <lb/>Chemie, ja vielleicht die ganze Naturwiſſenſchaft den herrlichſten <lb/>unter ihren zahlloſen Triumphen gefeiert hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s1250" xml:space="preserve">Die Produktion <lb/>der Landwirtſchaft iſt infolgedeſſen ſeit dem Beginn unſres Jahr-<lb/>hunderts ſchon um mehr als das Doppelte geſtiegen und ver-<lb/>ſpricht noch viel, viel größere Fortſchritte für die Zukunft. </s>
  <s xml:id="echoid-s1251" xml:space="preserve">Die <lb/>Naturwiſſenſchaft hat damit eine Leiſtung vollbracht, welche <lb/>an Bedeutung alle politiſchen und nationalökonomiſchen Thaten, <lb/>alle techniſchen Erfindungen weit, weit überragt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1252" xml:space="preserve">Ja, man <lb/>kann ſagen, daß der wichtigſte Teil der ſogenannten “ſozialen <lb/>Frage” damit bereits ſeine befriedigende Löſung gefunden hat, <lb/>und einem Naturwiſſenſchaftler kommt der ſtolze Ruhm zu, ſie <lb/>“gelöſt” zu haben: </s>
  <s xml:id="echoid-s1253" xml:space="preserve">ſein Name iſt <emph style="sp">Juſtus von Liebig</emph>.</s>
  <s xml:id="echoid-s1254" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div40" type="section" level="1" n="36">
<head xml:id="echoid-head43" xml:space="preserve"><emph style="bf">II. Die landwirtſchaftliche Chemie, der Keim,</emph> <lb/><emph style="bf">die Frucht und einige Verſuche.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1255" xml:space="preserve">Sehen wir nun, in welcher Weiſe die Naturwiſſenſchaft <lb/>jene herrlichen Reſultate erreicht hat, deren Bedeutung wir im <lb/>vorigen Kapitel darzulegen vermochten.</s>
  <s xml:id="echoid-s1256" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1257" xml:space="preserve">Die landwirtſchaftliche Chemie hat ſich ihre Aufgabe dahin <lb/>geſtellt: </s>
  <s xml:id="echoid-s1258" xml:space="preserve">die Geſetze des Lebens, des Wachstums und des Ge-<lb/>deihens der Pflanzen zu ermitteln, um ihre Pflege genau <lb/>wiſſenſchaftlich zu ergründen und mit Sicherheit angeben zu <lb/>können, auf welchem Wege die Menſchen der Natur zu Hülfe <lb/>kommen und das Wachstum der nützlichen Pflanzen in reichem <lb/>Maße befördern können.</s>
  <s xml:id="echoid-s1259" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="7" file="095" n="95"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1260" xml:space="preserve">In der Pflanze iſt eine eigene und noch jetzt unbekannte <lb/>Kraft thätig. </s>
  <s xml:id="echoid-s1261" xml:space="preserve">Die Neigung der chemiſchen Urſtoffe, Ver-<lb/>bindungen einzugehen, iſt in den Pflanzen durchaus nicht ſo, <lb/>wie in der toten Natur. </s>
  <s xml:id="echoid-s1262" xml:space="preserve">Im Gegenteil, die Pflanze ſchafft <lb/>andere Verbindungen der Stoffe, macht aus den Stoffen andere <lb/>Dinge als die tote Chemie. </s>
  <s xml:id="echoid-s1263" xml:space="preserve">Jedoch muß man annehmen, daß <lb/>die “Lebenskraft” das Reſultat von Zuſammenwirkungen bereits <lb/>bekannter Kräfte iſt, das Zuſammenwirken von chemiſchen <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-095-01a" xlink:href="fig-095-01"/>
Geſetzen im Verein <lb/>mit phyſikaliſchen <lb/>Kräften, mit Licht, <lb/>Wärme, Elektrizi-<lb/>tät und Erdmag-<lb/>netismus. </s>
  <s xml:id="echoid-s1264" xml:space="preserve">— Die <lb/>berühmteſten Na-<lb/>turforſcher ſind <lb/>hierüberim Streite. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1265" xml:space="preserve">Uns jedoch muß <lb/>es vorläufig ge-<lb/>nügen, zu wiſſen, <lb/>daß hier eine eigen-<lb/>tümliche Thätigkeit <lb/>vor ſich geht, und <lb/>zu erkennen, in <lb/>welcher Weiſe dieſe Thätigkeit vor ſich geht.</s>
  <s xml:id="echoid-s1266" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div40" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-095-01" xlink:href="fig-095-01a">
<caption xml:id="echoid-caption5" xml:space="preserve">Fig. 1. <lb/>Drei ſehr ſtark vergrößerte Zellen der Kartoffelknolle <lb/>mit Stärkekörnern.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1267" xml:space="preserve">Eine jede Frucht enthält mindeſtens einen Keim zu einer <lb/>neuen Pflanze, die im allgemeinen dazu beſtimmt iſt, dieſelben <lb/>Früchte hervorzubringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1268" xml:space="preserve">Die Frucht enthält Nahrungsſtoffe. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1269" xml:space="preserve">Nun bilden wir uns im gewöhnlichen Leben ein, daß dieſe <lb/>Nahrungsſtoffe von der Natur für den Menſchen geſchaffen <lb/>ſeien. </s>
  <s xml:id="echoid-s1270" xml:space="preserve">Das aber iſt ein Irrtum. </s>
  <s xml:id="echoid-s1271" xml:space="preserve">Der Nahrungsſtoff einer <lb/>Erbſe, einer Bohne iſt von der Natur nur geſchaffen, um zur <lb/>erſten Nahrung der künftigen Pflanze zu dienen, deren Keime
<pb o="8" file="096" n="96"/>
die genannten Samen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s1272" xml:space="preserve">Ebenſo wie der Nährſtoff in den <lb/>unterirdiſchen Knollen der Kartoffel (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s1273" xml:space="preserve">1) und anderer <lb/>Pflanzen, wie Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s1274" xml:space="preserve">2, dazu dient, den neu aus den Knoſpen <lb/>der Knollen hervorwachſenden Pflanzen die erſte Nahrung zu <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-096-01a" xlink:href="fig-096-01"/>
bieten, ganz ſo, wie kein Kind geboren wird, ohne daß die <lb/>Natur in den Brüſten der Mutter Milch als Nahrungsſtoff <lb/>für die erſte Zeit vorbereitet, ganz ſo kommt keine Pflanze <lb/>zur Welt, ohne daß die Natur ihr als Lebensunterhalt für die
<pb o="9" file="097" n="97"/>
erſte Zeit ſeines künftigen, jungen Lebens Nahrung mitgiebt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1275" xml:space="preserve">Ebenſo, wie die Natur die Milch der Kuh nicht für den <lb/>Menſchen, ſondern für das Kälbchen geſchaffen hat, ebenſo <lb/>wie wir uns eigentlich unberechtigt der Milch bemächtigen, <lb/>wenn das Kälbchen nur ſo weit iſt, daß es ſich ſelber <lb/>Nahrung ſuchen kann, ganz ebenſo kann man ſagen, daß wir <lb/>in Früchten wie in jeder Kartoffel, die wir eſſen, in Samen <lb/>wie Erbſen und Bohnen nicht etwas von der Natur für uns <lb/>Geſchaffenes genießen, ſondern wir eignen uns etwas zu, <lb/>was dem Keim gehört. </s>
  <s xml:id="echoid-s1276" xml:space="preserve">In dieſem Sinne darf man ſagen: </s>
  <s xml:id="echoid-s1277" xml:space="preserve"><lb/>Eine Frucht u. </s>
  <s xml:id="echoid-s1278" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s1279" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s1280" xml:space="preserve">iſt unter Umſtänden die Muttermilch für <lb/>den Pflanzenkeim!</s>
</p>
<div xml:id="echoid-div41" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-096-01" xlink:href="fig-096-01a">
<caption xml:id="echoid-caption6" xml:space="preserve">Fig. 2. <lb/>Stachys tubifera.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1281" xml:space="preserve">Man kann ſich durch Verſuche hiervon überzeugen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1282" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1283" xml:space="preserve">Wenn man z. </s>
  <s xml:id="echoid-s1284" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s1285" xml:space="preserve">Gerſtenkörner in ein Glas ſchüttet und <lb/>mit etwas Waſſer übergießt und an einen warmen Ort ſtellt, <lb/>ſo wird man nach einiger Zeit bemerken, daß aus jedem Gerſten-<lb/>korn ein Pflänzchen herauswächſt aus dem einen Ende und <lb/>ein paar Fäden als Wurzeln aus dem andern Ende. </s>
  <s xml:id="echoid-s1286" xml:space="preserve">Es iſt <lb/>dies, beiläufig geſagt, die Art, wie der Brauer aus Gerſte <lb/>Malz macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1287" xml:space="preserve">— Man ſieht alſo, es wächſt das Pflänzchen <lb/>anfangs ohne Nahrung von außen her, und nur durch das <lb/>Erweichen ſeiner Nahrung, des Gerſtenkornes, im Waſſer. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1288" xml:space="preserve">Nicht das Gerſtenkorn wird zu einem Halm, ſondern nur ein <lb/>kleiner Keim, der darin ſteckt, wird ein ſolcher, und zwar ge-<lb/>ſchieht dies durch eine Kraft, die in ihm ſteckt und in ihm <lb/>jahrelang bleibt, wenn er trocken aufbewahrt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s1289" xml:space="preserve">Die Wärme <lb/>weckt gewiſſermaßen dieſe ſchlummernde Kraft zur Thätigkeit <lb/>auf, und wenn das Gerſtenkorn, dieſe Muttermilch des <lb/>Pflänzchens, zugleich durch Waſſer erweicht wird, ſo iſt auch <lb/>der Nahrungsſtoff für den Keim vorbereitet, und er beginnt <lb/>zur Pflanze zu werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1290" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1291" xml:space="preserve">Erſt wenn dieſe Muttermilch aufgezehrt iſt, dann hat das <lb/>Pflänzchen die Kraft, ſich durch Wurzeln die Nahrung aus
<pb o="10" file="098" n="98"/>
dem Erdboden zu holen: </s>
  <s xml:id="echoid-s1292" xml:space="preserve">findet es ſolche nicht, ſo ſtirbt es <lb/>auch ab.</s>
  <s xml:id="echoid-s1293" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1294" xml:space="preserve">Wenn wir alſo auf das Leben der Pflanze eingehen, ſo <lb/>ſehen wir, daß ſie vor allem Wärme und Waſſer braucht; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1295" xml:space="preserve">allein Wärme iſt kein Nahrungsſtoff, und Waſſer allein genügt <lb/>auch nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1296" xml:space="preserve">Die Wärme iſt nur die Erregung zum Leben <lb/>und das Waſſer iſt vorerſt nur nötig, damit die Nahrung <lb/>erweicht wird und eindringen kann in die junge Pflanze. </s>
  <s xml:id="echoid-s1297" xml:space="preserve"><lb/>Freilich könnte man ſagen: </s>
  <s xml:id="echoid-s1298" xml:space="preserve">dies iſt ja gar keine Chemie. </s>
  <s xml:id="echoid-s1299" xml:space="preserve">Aber <lb/>wenn man bedenkt, daß die Chemie eben die Wiſſenſchaft iſt, <lb/>die da lehrt, aus einzelnen Stoffen ein neues, ganz anderes <lb/>Ding zu machen, und wenn man hierbei erwägt, daß die Kraft <lb/>in dieſem Pflänzchen aus einem Keim ein Hälmchen und <lb/>Wurzeln macht, ſo wird man doch geſtehen müſſen, daß dies <lb/>Chemie iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1300" xml:space="preserve">wiewohl jeder Chemiker gern zugiebt, daß er ohne <lb/>Keim nicht ein gleiches Kunſtſtück machen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s1301" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1302" xml:space="preserve">Wir wollen nunmehr die chemiſche Werkſtatt der Pflanze <lb/>etwas näher betrachten.</s>
  <s xml:id="echoid-s1303" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div43" type="section" level="1" n="37">
<head xml:id="echoid-head44" xml:space="preserve"><emph style="bf">III. Die chemiſche Werkſtatt der Pflanze.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1304" xml:space="preserve">In der Pflanze iſt ſo recht eine kleine, wunderbare <lb/>chemiſche Fabrik; </s>
  <s xml:id="echoid-s1305" xml:space="preserve">aber das Wunderbarſte darin iſt, daß die <lb/>Fabrik ſelber ein chemiſches Produkt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1306" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1307" xml:space="preserve">Die Pflanze erſchafft ſich ſelber immerfort auf chemiſchem <lb/>Wege. </s>
  <s xml:id="echoid-s1308" xml:space="preserve">Wenn wir die unbekannte Kraft in der Pflanze uns <lb/>als den eigentlichen, unſichtbaren Chemiker denken, ſo iſt die <lb/>Pflanze freilich nur eine Art Wohnhaus dieſes wunderbaren <lb/>Chemikers; </s>
  <s xml:id="echoid-s1309" xml:space="preserve">aber immerhin ſteht ſo viel feſt, daß alles, was <lb/>der Chemiker zu Wege bringt, nichts iſt, als daß er aus <lb/>Stoffen, die er von außerhalb der Pflanze hernimmt, die <lb/>Pflanze macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1310" xml:space="preserve">Ganz ſo wie ein menſchlicher Chemiker aus
<pb o="11" file="099" n="99"/>
Schwefel und Queckſilber Zinnober, ſchafft der geheime Chemiker <lb/>aus gewiſſen Stoffen, die wir ſogleich nennen werden, eine <lb/>Pflanze. </s>
  <s xml:id="echoid-s1311" xml:space="preserve">Das Dunkle und Wunderbare darin iſt nur, daß <lb/>dieſer geheime Chemiker nicht wie der Menſch mit ſeinen <lb/>Händen die Stoffe, die er braucht, herbeiholt und ſie durch <lb/>ſeine Kunſt in den Zuſtand verſetzt, durch welchen ſie ſich ver-<lb/>binden, ſondern dieſer geheime Chemiker bedient ſich eben der <lb/>Pflanze, ſo weit ſie fertig iſt, um durch ſie die Stoffe von <lb/>draußen her zu erhalten und damit die Pflanze noch weiter <lb/>auszubilden. </s>
  <s xml:id="echoid-s1312" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1313" xml:space="preserve">Sehen wir indeſſen von dem Dunkeln und Unerklärten, <lb/>das ſich hierin vor unſern Augen zeigt, ab, ſo ergiebt ſich <lb/>jedenfalls folgendes:</s>
  <s xml:id="echoid-s1314" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1315" xml:space="preserve">Eine Pflanze iſt nichts anderes, als die organiſch oder <lb/>lebend gewordenen toten Stoffe, die ſie zu ihrer Nahrung ver-<lb/>braucht hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s1316" xml:space="preserve">— Wenn z. </s>
  <s xml:id="echoid-s1317" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s1318" xml:space="preserve">ein Chemiker findet, daß eine <lb/>Pflanze aus Sauerſtoff, Waſſerſtoff und Kohlenſtoff beſteht, <lb/>ſo hat er das Recht zu ſagen: </s>
  <s xml:id="echoid-s1319" xml:space="preserve">dieſe Pflanze iſt nichts als <lb/>Sauerſtoff, Waſſerſtoff und Kohlenſtoff in einer belebten <lb/>chemiſchen Verbindung. </s>
  <s xml:id="echoid-s1320" xml:space="preserve">Es iſt vollkommen richtig, wenn man <lb/>behauptet, dieſe toten Stoffe bilden in einer gewiſſen Ver-<lb/>bindung ein lebendiges Ding, das jetzt als Pflanze vor uns <lb/>ſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1321" xml:space="preserve">Da aber dieſe urſprünglich toten Stoffe die Nahrung <lb/>der Pflanze waren, ſo iſt die Pflanze nichts, als ihre eigne <lb/>lebendig gewordene Nahrung.</s>
  <s xml:id="echoid-s1322" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1323" xml:space="preserve">Eigentümlich aber iſt, daß die Stoffe, die zur Nahrung <lb/>der Pflanze dienen und Pflanze werden ſollen, gewiſſermaßen <lb/>hierzu chemiſch vorbereitet ſein müſſen, und es nicht genügt, <lb/>dieſe Stoffe geſondert einer Pflanze darzubieten. </s>
  <s xml:id="echoid-s1324" xml:space="preserve">Geſetzt, man <lb/>wollte eine Pflanze, die Sauerſtoff, Waſſerſtoff, Kohlenſtoff und <lb/>Stickſtoff zur Nahrung braucht, in eine Flaſche hineinlegen, wo <lb/>dieſe Stoffe einzeln hineingebracht worden ſind, ſo würde ſie darin <lb/>nicht leben. </s>
  <s xml:id="echoid-s1325" xml:space="preserve">Die Stoffe, wenn ſie einzeln da ſind, können nicht
<pb o="12" file="100" n="100"/>
zur Speiſe der Pflanze dienen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1326" xml:space="preserve">ſie müſſen ſich vielmehr unter <lb/>einander chemiſch verbinden, und erſt, wenn die Stoffe chemiſch <lb/>verbunden ſind, erſt dann ſind ſie zurecht gemacht, um der <lb/>Pflanze als Nahrung zu dienen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1327" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1328" xml:space="preserve">Schon außerhalb der Pflanze müſſen ſich Sauerſtoff und <lb/>Waſſerſtoff chemiſch verbunden und Waſſer gebildet haben; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1329" xml:space="preserve">dann erſt dienen ſie, oder richtiger das Waſſer, zur Erhaltung <lb/>der Pflanze. </s>
  <s xml:id="echoid-s1330" xml:space="preserve">Schon außerhalb der Pflanze müſſen ſich Kohlen-<lb/>ſtoff und Sauerſtoff chemiſch verbunden und Kohlenſäure ge-<lb/>bildet haben, damit dieſe eine Nahrung der Pflanze werde. </s>
  <s xml:id="echoid-s1331" xml:space="preserve"><lb/>Schon außerhalb der Pflanze müſſen ſich Waſſerſtoff und Stick-<lb/>ſtoff chemiſch verbunden und etwa Ammoniak gebildet haben, <lb/>um ein Speiſeſtoff der Pflanze zu werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s1332" xml:space="preserve">Und in gleicher <lb/>Weiſe verhält es ſich mit den anderen Stoffen, die in der <lb/>Pflanze vorkommen, wie Kalium, Natrium, Calcium, Phosphor <lb/>u. </s>
  <s xml:id="echoid-s1333" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s1334" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s1335" xml:space="preserve">; auch dieſe müſſen bereits beſtimmte Verbindungen <lb/>eingegangen ſein, wenn ſie den Pflanzen zur Nahrung dienen <lb/>ſollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1336" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1337" xml:space="preserve">Wir entnehmen hieraus, daß die Beſtandteile der Pflanzen <lb/>freilich nur Sauerſtoff, Waſſerſtoff, Kohlenſtoff, Stickſtoff und <lb/>einige andere Stoffe ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s1338" xml:space="preserve">aber wir ſehen zugleich, daß die <lb/>eigentliche Nahrung der Pflanzen chemiſche Verbindungen dieſer <lb/>Stoffe ſind und daß dieſe Nahrung u. </s>
  <s xml:id="echoid-s1339" xml:space="preserve">a. </s>
  <s xml:id="echoid-s1340" xml:space="preserve">in folgenden Dingen be-<lb/>ſteht: </s>
  <s xml:id="echoid-s1341" xml:space="preserve">in Waſſer, in Kohlenſäure, in Ammoniak und in Salzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1342" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1343" xml:space="preserve">Für die Landwirtſchaft alſo iſt es vor allem von der <lb/>größten Wichtigkeit, zu wiſſen, daß dieſe Nahrungsmittel reich-<lb/>lich vorhanden ſein müſſen in einem Boden, worin Pflanzen <lb/>gedeihen ſollen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1344" xml:space="preserve">Fehlt eines dieſer Nahrungsmittel, ſo ſtirbt <lb/>die kräftigſte Pflanze ab, die Erhaltung derſelben iſt eben nur <lb/>dann möglich, wenn man künſtlich dem Boden dieſe Stoffe <lb/>zuführt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1345" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1346" xml:space="preserve">Wir wollen nunmehr die Art und Weiſe deutlicher machen, <lb/>wie die Pflanze ihre Speiſe zu ſich nimmt und welche Haupt-
<pb o="13" file="101" n="101"/>
mittel die landwirtſchaftliche Chemie an die Hand giebt, die <lb/>Speiſung der Pflanzen zu erleichtern und ſo ihr Wachstum <lb/>und Gedeihen zu fördern.</s>
  <s xml:id="echoid-s1347" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div44" type="section" level="1" n="38">
<head xml:id="echoid-head45" xml:space="preserve"><emph style="bf">IV. Die Nahrung der Pflanze.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1348" xml:space="preserve">Eine jede Pflanze muß Nahrung zu ſich nehmen, ſie muß <lb/>alſo Speiſe-Werkzeuge beſitzen, durch welche ſie, wie Tier und <lb/>Menſch durch den Mund, die Nahrung aufnehmen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s1349" xml:space="preserve">Allein <lb/>die Pflanzen haben keinen Mund, ſondern ſie haben Wurzeln, <lb/>die die im Waſſer gelöſten Nährbeſtandteile des Erdbodens <lb/>durch Endosmoſe (vergl. </s>
  <s xml:id="echoid-s1350" xml:space="preserve">6. </s>
  <s xml:id="echoid-s1351" xml:space="preserve">Teil S. </s>
  <s xml:id="echoid-s1352" xml:space="preserve">69) aufnehmen, und Luft <lb/>einnehmende Blätter.</s>
  <s xml:id="echoid-s1353" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1354" xml:space="preserve">Schon der Umſtand, daß die Pflanze Stoffe, die ſie braucht, <lb/>durch die Wurzeln aufnehmen muß, iſt hinreichend, um be-<lb/>greiflich zu machen, daß ſie keine harten Speiſen, wie Menſch <lb/>und Tier, zu ſich nehmen kann, ſondern der flüſſigen Speiſen <lb/>bedarf, um ſie zu genießen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1355" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1356" xml:space="preserve">Nun wiſſen wir, daß der reine Kohlenſtoff nicht flüſſig <lb/>iſt und nicht flüſſig gemacht werden kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s1357" xml:space="preserve">Jede Pflanze aber <lb/>hat viel Kohlenſtoff in ſich, wie wir ja alle unſere Kohlen <lb/>nur aus den Pflanzen gewinnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1358" xml:space="preserve">Es kann alſo ſchon darum <lb/>die Pflanze den bloßen Kohlenſtoff nicht in ſich aufnehmen, <lb/>ſondern es muß ſich erſt außer ihr Kohlenſäure bilden, eine <lb/>Luftart, die aus Kohlenſtoff und Sauerſtoff beſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1359" xml:space="preserve">Dieſe <lb/>Luftart nimmt die Pflanze durch die Blätter auf.</s>
  <s xml:id="echoid-s1360" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1361" xml:space="preserve">Mit den bloßen Augen können wir zwar nicht ſehen, wie <lb/>es möglich iſt, daß die Blätter imſtande ſind, Kohlenſäure <lb/>einzuſaugen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1362" xml:space="preserve">aber durch ſtarke Vergrößerungsgläſer, durch <lb/>Mikroſkope, ſieht man ganz deutlich, daß ein Blatt nicht eine <lb/>feſte Maſſe iſt, ſondern ein Gewebe einzelner Zellen (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s1363" xml:space="preserve">3) in <lb/>welchen ſich Säfte befinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s1364" xml:space="preserve">Dieſer Zellenſaft iſt nicht grün,
<pb o="14" file="102" n="102"/>
ſondern meiſt hell und farblos wie Waſſer, nur in einzelnen Zellen <lb/>befinden ſich Körperchen von grüner Farbe, die man Blatt-<lb/>grün nennt, und die ihre Farbe der Einwirkung des Lichts <lb/>verdanken. </s>
  <s xml:id="echoid-s1365" xml:space="preserve">Dieſe Blattgrünkörper ſind ſo klein, und ſtehen ſo <lb/>dicht bei einander, daß wir, wenn wir ein Blatt mit bloßen <lb/>Augen anſehen, meinen, es ſei im Ganzen grün. </s>
  <s xml:id="echoid-s1366" xml:space="preserve">Durch das <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-102-01a" xlink:href="fig-102-01"/>
Mikroſkop aber geſehen, nimmt man die einzelnen Chlorophyll-<lb/>körper deutlich wahr, ebenſo wie Spaltöffnungen, die ſo aus-<lb/>ſehen, wie ein zum Atmen etwas geöffneter Menſchenmund <lb/>und die ſich in Maſſen zum Durchlaſſen der Luft, insbeſondere <lb/>der Kohlenſäure derſelben, auf den Unterſeiten der Blätter <lb/>befinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s1367" xml:space="preserve">(Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s1368" xml:space="preserve">4).</s>
  <s xml:id="echoid-s1369" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div44" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-102-01" xlink:href="fig-102-01a">
<caption xml:id="echoid-caption7" xml:space="preserve">Fig. 3. <lb/>Sehr ſtark vergrößerter Querſchnitt durch ein kleines Stückchen eines Buchen-<lb/>blattes. E = Ober- und Unterhaut mit Spaltöffnung St. L = Nahrung <lb/>leitender Strang (Leitbündel). P u. Schw = Gewebe mit grünen Körnern.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables1" xml:space="preserve">E. P. Schw. E St. L.</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1370" xml:space="preserve">Wie wir bereits mehrfach erwähnt haben, enthält die Luft,
<pb o="15" file="103" n="103"/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-103-01a" xlink:href="fig-103-01"/>
<pb o="16" file="104" n="104"/>
in welcher Menſchen und Tiere leben, oder wo Tier- und <lb/>Pflanzenſtoffe in Verweſung übergehen oder verbrannt werden, <lb/>viel Kohlenſäure. </s>
  <s xml:id="echoid-s1371" xml:space="preserve">Dieſe Kohlenſäure ſchwimmt in der Luft <lb/>umher, ohne ſich mit ihr chemiſch zu verbinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s1372" xml:space="preserve">Man kann <lb/>dieſe Kohlenſäure auch einfangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1373" xml:space="preserve">Man braucht nur ein <lb/>wenig klares Kalkwaſſer in ein Glas zu gießen und es an <lb/>der Luft ſtehen zu laſſen, ſo wird man ſchon finden, daß ſich <lb/>oben auf der Flüſſigkeit eine weißliche Decke bildet, die ſpäter <lb/>zu Boden fällt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1374" xml:space="preserve">Dieſe Decke entſteht, indem der Kalk, der im <lb/>Waſſer aufgelöſt iſt, die Kohlenſäure aus der Luft anzieht <lb/>und eine Schicht von kohlenſaurer Kalkerde, alſo von Kreide <lb/>bildet, die dann als ſchwer löslich im Waſſer zu Boden ſinkt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1375" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div45" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-103-01" xlink:href="fig-103-01a">
<caption xml:id="echoid-caption8" xml:space="preserve">Fig. 4. 1 = ein pflanzliches Hautgewebe mit 3 Spaltöffunngen. — 2 = Eine <lb/>einzelne Spaltöffnung noch ſtärker vergrößert. — 3 = Dieſelbe Spaltöffnung im <lb/>Querſchnitt.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables2" xml:space="preserve">1) 2) 3)</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1376" xml:space="preserve">Man könnte ſich nun das Aufnehmen der Kohlenſäure <lb/>durch die Spaltöffnungen der Blätter ebenſo denken, und zwar <lb/>müßte man vorausſetzen, daß die Blätter an dieſe Öffnung <lb/>immer einen friſchen Saft hinſenden, der Neigung hat, ſich mit <lb/>Kohlenſäure zu verbinden; </s>
  <s xml:id="echoid-s1377" xml:space="preserve">allein ganz ſo iſt es nicht, weil es <lb/>eine Thatſache iſt, daß die Aufnahme von Kohlenſäure und <lb/>das Aushauchen von Sauerſtoff nur beim Tageslicht, im <lb/>Dunkeln dagegen, alſo des Nachts, das umgekehrte Verhältnis <lb/>ſtattfindet.</s>
  <s xml:id="echoid-s1378" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1379" xml:space="preserve">Wie dem aber auch ſein mag, ſo ſteht ſo viel feſt, daß <lb/>die Pflanzen Kohlenſäure einnehmen und Sauerſtoff ausgeben, <lb/>und hieraus folgt, daß in der Pflanze eine Portion Kohlenſtoff <lb/>zurückbleibt, die zum Leben der Pflanze beſtimmt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1380" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1381" xml:space="preserve">Dies iſt die Ernährung der Pflanze durch die Blätter, <lb/>und dieſe iſt ſo wichtig, daß ein Baum, der viele ſeiner Blätter <lb/>verliert, einen bedeutenden Verluſt an Lebenskraft erleidet.</s>
  <s xml:id="echoid-s1382" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1383" xml:space="preserve">Obgleich nun die Luft aus einem Gemenge von Stickſtoff <lb/>und Sauerſtoff beſteht und die Pflanze auch dieſe Stoffe zu <lb/>ihrem Unterhalte braucht, nimmt ſie doch dieſelben nicht durch <lb/>die Blätter ein. </s>
  <s xml:id="echoid-s1384" xml:space="preserve">Vielleicht hauptſächlich darum nicht, weil <lb/>in der Luft der Sauerſtoff und der Stickſtoff nicht chemiſch
<pb o="17" file="105" n="105"/>
verbunden, ſondern nur durcheinander gemengt ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s1385" xml:space="preserve">— Um zu <lb/>dieſen Stoffen und zu dem Waſſer zu gelangen, ohne welches <lb/>Leben unmöglich iſt, benutzt die Pflanze die Wurzeln.</s>
  <s xml:id="echoid-s1386" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div47" type="section" level="1" n="39">
<head xml:id="echoid-head46" xml:space="preserve"><emph style="bf">V. Die Speiſung der Pflanze durch die Wurzel.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1387" xml:space="preserve">Das Eindringen der mineraliſchen und ſtickſtoffhaltigen <lb/>Pflanzennahrung in die Pflanze geſchieht, wie bereits erwähnt, <lb/>hauptſächlich durch die Wurzel, und zwar findet ſowohl Waſſer, <lb/>wie die Stickſtoffnahrung und die Salze, durch die in der Erde <lb/>liegende Wurzel den Weg zum Innern der Pflanze.</s>
  <s xml:id="echoid-s1388" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1389" xml:space="preserve">Man macht ſich im gewöhnlichen Leben die Vorſtellung, <lb/>daß eine Wurzel das Waſſer ſo auſſauge, wie etwa ein Stück <lb/>Löſchpapier, das man mit einem Ende in Waſſer taucht, wo <lb/>man ſofort bemerkt, daß das Waſſer ſich weiter in das Papier <lb/>hineinzieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1390" xml:space="preserve">Man denkt ſich gemeinhin, daß das Waſſer von <lb/>der Wurzel aus in die Pflanze hineinſteigt, ebenſo, wie wenn <lb/>man ein Stück weißen Zucker mit einer Ecke in den Kaffee <lb/>taucht und ſofort wahrnimmt, daß die Flüſſigkeit in den Zucker <lb/>hinaufläuft.</s>
  <s xml:id="echoid-s1391" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1392" xml:space="preserve">Dieſe Vorſtellung iſt ganz falſch. </s>
  <s xml:id="echoid-s1393" xml:space="preserve">Es iſt zwar nicht lange <lb/>her, daß ſelbſt die Gelehrten ſolche Vorſtellung von der Ver-<lb/>breitung der Flüſſigkeiten in den Pflanzen hatten; </s>
  <s xml:id="echoid-s1394" xml:space="preserve">die neuere <lb/>Wiſſenſchaft indeſſen iſt durch genauere Unterſuchungen zu der <lb/>Überzeugung gekommen, daß die Verbreitung der Flüſſigkeiten <lb/>im Pflanzenkörper auf ganz anderem Wege vor ſich geht.</s>
  <s xml:id="echoid-s1395" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1396" xml:space="preserve">Die Pflanzenkörper beſtehen ja (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s1397" xml:space="preserve">3) aus dicht aneinander <lb/>gedrängten, ganz kleinen Zellen, die im lebenden Zuſtande mit <lb/>Flüſſigkeit erfüllt ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s1398" xml:space="preserve">Die Wände der Zellen beſitzen die <lb/>Eigenſchaft, die Flüſſigkeit durch eine Art Ausſchwitzung von <lb/>ſich zu geben und dafür durch Einſchwitzung eine Flüſſigkeit <lb/>aufzunehmen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1399" xml:space="preserve">und dieſes Aus- und Einſchwitzen geſchieht</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1400" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s1401" xml:space="preserve">Bernſtein, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s1402" xml:space="preserve">Volksbücher VII.</s>
  <s xml:id="echoid-s1403" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="18" file="106" n="106"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1404" xml:space="preserve">hauptſächlich zwiſchen zwei Zellen, ſobald die Flüſſigkeiten in <lb/>beiden verſchiedenartig ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s1405" xml:space="preserve">Denkt man ſich, daß in einer <lb/>Zelle eine Flüſſigkeit eingeſchloſſen iſt, die anders beſchaffen <lb/>als die Flüſſigkeit ihrer Nachbarzelle, ſo findet der Austauſch <lb/>ſo lange ſtatt, bis beide Flüſſigkeiten vollkommen zu gleicher <lb/>Miſchung geworden ſind, wie wir das genauer im 5. </s>
  <s xml:id="echoid-s1406" xml:space="preserve">Teil <lb/>S. </s>
  <s xml:id="echoid-s1407" xml:space="preserve">66 u. </s>
  <s xml:id="echoid-s1408" xml:space="preserve">folgende kennen gelernt haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s1409" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1410" xml:space="preserve">Man kann intereſſante, leicht auszuführende Verſuche an-<lb/>ſtellen über dieſe Erſcheinung, die wir bereits als Diffuſion <lb/>kennen gelernt haben, und wir werden bei einer anderen Ge-<lb/>legenheit hiervon noch weiter Mitteilung machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1411" xml:space="preserve">Für jetzt <lb/>müſſen wir uns begnügen darzuthun, daß das Waſſer, das in <lb/>die Wurzel einer Pflanze dringt, ſich nicht wie etwa in einem <lb/>Docht hinaufzieht in die Pflanze, ſondern daß dieſes Waſſer <lb/>zunächſt eine Veränderung der Flüſſigkeiten in den Zellen der <lb/>Wurzel hervorbringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1412" xml:space="preserve">Dieſe Veränderung veranlaßt die nächſte <lb/>Zelle, ihre Flüſſigkeit mit der veränderten auszutauſchen, und <lb/>ſo geht die Austauſchung von Zelle zu Zelle fort durch die <lb/>ganze Pflanze, bis die Wirkung des Waſſers, das in die <lb/>Wurzel eingetreten iſt, hinaufgelangt bis zum feinſten Blättchen <lb/>an der Spitze der Pflanze.</s>
  <s xml:id="echoid-s1413" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1414" xml:space="preserve">In dieſer Weiſe findet in einer Pflanze ein fortwährender <lb/>Säfteaustauſch ſtatt, und jeder Pflanzenteil erhält ſtatt ſeiner <lb/>bereits verbrauchten Flüſſigkeit ſtets neue, ſobald nur die <lb/>Wurzel neues Waſſer aufnimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1415" xml:space="preserve">Da nun Waſſer aus Sauer-<lb/>ſtoff und Waſſerſtoff beſteht, ſo gelangen in dieſer Weiſe dieſe <lb/>Stoffe in die Pflanze, aus welchen die Pflanze ſelber ſich zum <lb/>Teil aufbaut.</s>
  <s xml:id="echoid-s1416" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1417" xml:space="preserve">Viele und zwar die meiſten unſerer genießbaren Pflanzen <lb/>enthalten aber auch noch eine Portion Stickſtoff, und obwohl <lb/>wir wiſſen, daß die Blätter der Pflanzen Öffnungen haben, <lb/>durch welche ſie Kohlenſäure aus der Luft zu ſich nehmen, <lb/>und obwohl die Luft zum allergrößten Teil aus Stickſtoffgas
<pb o="19" file="107" n="107"/>
beſteht, ſo nimmt doch die Pflanze ihren Stickſtoff nicht aus <lb/>der Luft auf, ſondern ſie bezieht ihn ebenfalls durch die <lb/>Wurzel und zwar aus chemiſchen Verbindungen, die Stickſtoff <lb/>enthalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s1418" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1419" xml:space="preserve">Der Dünger, der zum großen Teil aus verweſenden <lb/>Stoffen beſteht, entwickelt nun im Boden, mit dem er vermiſcht <lb/>worden iſt, Stickſtoffverbindungen, welche die Pflanze aufzu-<lb/>nehmen fähig iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1420" xml:space="preserve">das Regenwaſſer nimmt dieſe Verbindungen in <lb/>ſich auf, und die Wurzeln, die das Waſſer aufnehmen, bringen <lb/>auf dieſem Wege den nötigen Stickſtoff in die Pflanze.</s>
  <s xml:id="echoid-s1421" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div48" type="section" level="1" n="40">
<head xml:id="echoid-head47" xml:space="preserve"><emph style="bf">VI. Womit und wie man die Pflanzen füttern muß.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1422" xml:space="preserve">Nachdem wir nun geſehen haben, wie die Nährſtoffe in die <lb/>Pflanzen hineingelangen, haben wir noch einige andere Stoffe zu <lb/>betrachten, die gleichfalls Beſtandteile der Pflanzen ſind, und <lb/>dann werden wir ſofort auf die eigentlichen Grundſätze der <lb/>landwirtſchaftlichen Chemie in aller Kürze kommen können.</s>
  <s xml:id="echoid-s1423" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1424" xml:space="preserve">Jedermann weiß, daß, wenn man Holz, Stroh oder andere <lb/>Pflanzenſtoffe verbrennt, eine Portion Aſche unverbrennlich <lb/>zurückbleibt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1425" xml:space="preserve">Wo kommt dieſe Aſche her? </s>
  <s xml:id="echoid-s1426" xml:space="preserve">und woraus beſteht <lb/>dieſe Aſche?</s>
  <s xml:id="echoid-s1427" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1428" xml:space="preserve">Sauerſtoff, Waſſerſtoff, Kohlenſtoff und Stickſtoff geben <lb/>keine Aſche. </s>
  <s xml:id="echoid-s1429" xml:space="preserve">Dieſe Hauptſtoffe der Pflanze gehen bei der <lb/>Verbrennung im weſentlichen davon, ſie werden alle luftförmig <lb/>und laſſen keinen Rückſtand übrig. </s>
  <s xml:id="echoid-s1430" xml:space="preserve">Die Aſche rührt von <lb/>anderen Stoffen her, die jede Pflanze in ſich haben muß, es <lb/>ſind dies mineraliſche Beſtandteile des Erdbodens.</s>
  <s xml:id="echoid-s1431" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1432" xml:space="preserve">Die hauptſächlichſten Stoffe, die die unverbrennliche Aſche <lb/>bilden, ſind: </s>
  <s xml:id="echoid-s1433" xml:space="preserve">die metalliſchen Stoffe Kalium, Natrium, Kalk, <lb/>Magneſia und Eiſenoxyd, und hierzu kommen noch Phosphor-<lb/>ſäure, Schwefelſäure, Salzſäure, Kohlenſäure und Kieſelſäure,
<pb o="20" file="108" n="108"/>
die mit den erſtgenannten Metallſtoffen chemiſche Verbindungen <lb/>eingegangen ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s1434" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1435" xml:space="preserve">Will man nun wiſſen, welch ein Boden für eine beſtimmte <lb/>Pflanze tauglich iſt, ſo muß man nicht nur die Hauptſtoffe <lb/>dieſer Pflanze, ſondern auch deren Aſche unterſuchen und ſehen, <lb/>welcher Art dieſe Aſche iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1436" xml:space="preserve">Die Aſche von Weizen iſt durch-<lb/>aus verſchieden von Kartoffelaſche, die Aſche des Buchenholzes <lb/>iſt anders als die vom Kienholze. </s>
  <s xml:id="echoid-s1437" xml:space="preserve">Jede Art Pflanze hat eine <lb/>andere Art Aſche, die von anderen Stoffen herrührt, und des-<lb/>halb hat die landwirtſchaftliche Chemie große Sorgfalt auf die <lb/>Unterſuchung der Aſchen landwirtſchaftlich wichtiger Pflanzen <lb/>verwendet, und ausführliche Angaben ſowohl über die Stoffe, <lb/>wie über die Menge und Miſchung derſelben gemacht.</s>
  <s xml:id="echoid-s1438" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1439" xml:space="preserve">Dieſe Beſtandteile, deren Stoffe wir eben angegeben haben, <lb/>ſind wirkliche Beſtandteile der Pflanzen und nicht dieſen zu-<lb/>fällig beigemiſcht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1440" xml:space="preserve">Die genaueſten Verſuche haben gezeigt, daß <lb/>man nicht imſtande iſt, eine Pflanze auf einem Boden zu <lb/>ziehen, der wohl Stoffe hat, aus welchen ſpäter Aſche wird, <lb/>dem aber grade die Stoffe fehlen, welche in der Aſche dieſer <lb/>beſonderen Pflanze enthalten ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s1441" xml:space="preserve">Und deshalb wird der <lb/>Boden des Ackerlandes von dem wiſſenſchaftlich gebildeten <lb/>Landwirte ſtets chemiſch unterſucht, damit er erfahre, welche <lb/>Saat er dieſem beſtimmten Boden anvertrauen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s1442" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1443" xml:space="preserve">Wir können hier nicht die Art, wie man den Boden <lb/>chemiſch unterſucht, angeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s1444" xml:space="preserve">Wir wollen nur ſoviel ſagen, <lb/>daß es jetzt ausreicht, ein Glas voll Erde aus einem Acker-<lb/>land zu einem tüchtigen Chemiker zu bringen, um von ihm zu <lb/>erfahren, welche Pflanze hier gedeihen wird, oder welchen <lb/>Stoff man künſtlich hineinbringen muß in den Boden, um eine <lb/>gewiſſe Pflanze mit Erfolg darauf ziehen zu können. </s>
  <s xml:id="echoid-s1445" xml:space="preserve">— Als <lb/>Hauptgrundgeſetz aber ſteht das Eine feſt, daß Aſchebeſtandteile <lb/>nur durch die Wurzel in die Pflanze gelangen, und da die <lb/>Wurzel nur Waſſer aufnimmt, ſo müſſen alle die Stoffe, die
<pb o="21" file="109" n="109"/>
wir eben als die Aſche gebenden angeführt haben, in ſolcher <lb/>Verbindung in der Erde vorhanden ſein, daß ſie ſich in der <lb/>von der Wurzel ausgeſchiedenen Säure auflöſen können.</s>
  <s xml:id="echoid-s1446" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1447" xml:space="preserve">Nach dieſen allgemeinen Grundzügen der landwirtſchaft-<lb/>lichen Chemie können wir unſern aufmerkſamen Leſern manche <lb/>Erſcheinung in der Landwirtſchaft erklären, die ſonſt ſelbſt <lb/>den Landwirten, die ſie täglich vor ſich ſehen, ein Rätſel war, <lb/>und manche von den Arbeiten des Landmannes verſtändlich <lb/>machen, die der Bauer verrichtet, ohne den Nutzen noch den <lb/>Zweck derſelben ſich deutlich zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1448" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1449" xml:space="preserve">Vor allem pflügt der Landmann den Boden, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s1450" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s1451" xml:space="preserve">er lockert <lb/>ihn auf und für die Lockerung des Bodens hat auch der Dung <lb/>beſondere Bedeutung; </s>
  <s xml:id="echoid-s1452" xml:space="preserve">ferner wirft er die Schollen um, damit <lb/>das, was früher auf dem Boden war, jetzt unter denſelben <lb/>kommt, und was unten, jetzt obenauf liege. </s>
  <s xml:id="echoid-s1453" xml:space="preserve">Zu welchem <lb/>Zweck geſchieht dies? </s>
  <s xml:id="echoid-s1454" xml:space="preserve">Es geſchieht, damit der Regen und die <lb/>Luft tiefer in den Boden eindringe, als es im feſten Boden <lb/>möglich iſt, damit die Pflanzennährſtoffe des Bodens Gelegen-<lb/>heit haben ſich zu zerſetzen und aufnahmefähig zu werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1455" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div49" type="section" level="1" n="41">
<head xml:id="echoid-head48" xml:space="preserve"><emph style="bf">VII. Die Düngung des Feldes.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1456" xml:space="preserve">Die wichtigſte Aufgabe der landwirtſchaftlichen Chemie <lb/>beſteht in der genauen Unterſuchung des Düngers, in der <lb/>Erforſchung ſeiner Beſtandteile und in der fortſchreitenden <lb/>Kenntnis von der Wirkſamkeit jedes Teiles des Düngers.</s>
  <s xml:id="echoid-s1457" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1458" xml:space="preserve">Der Unkundige wird es kaum glauben, wenn wir ver-<lb/>ſichern, daß die weltberühmteſten Chemiker unſerer Zeit gerade <lb/>hierauf ihr Augenmerk gerichtet und in der Unterſuchung ſolcher <lb/>Stoffe, die gewöhnlich Ekel erregend ſind, unermüdliche Tätig-<lb/>keit entwickelt haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s1459" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="22" file="110" n="110"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1460" xml:space="preserve">Der natürliche Dünger beſteht aus faulenden Pflanzen <lb/>und in Fäulnis übergegangenen Tierſtoffen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1461" xml:space="preserve">Die abgefallenen <lb/>Blätter der Bäume, das Kraut vieler Pflanzen und die in der <lb/>Erde liegenden Wurzeln beſtehen aus denſelben Stoffen, aus <lb/>denen die Natur neue Pflanzen ſchaffen kann; </s>
  <s xml:id="echoid-s1462" xml:space="preserve">aber ſie müſſen, <lb/>wie wir bereits wiſſen, zu dieſem Zwecke in Waſſer auflöslich ſein, <lb/>und damit ſie das werden, müſſen ſie in Fäulnis übergegangen <lb/>ſein und ſich zu einer ſchwarzen Maſſe verwandelt haben, die <lb/>man Humus nennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1463" xml:space="preserve">Es wird ſchon jedermann beobachtet <lb/>haben, wie ein Blatt im Herbſt, wenn es abgefallen iſt, an-<lb/>fängt braun zu werden, endlich ſchwarz wird und dann zerfällt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1464" xml:space="preserve">Ganz in derſelben Weiſe geſchieht es mit Pflanzenreſten, und <lb/>dieſe Fäulnis, dieſes Rückkehren zu den Urſtoffen iſt die Quelle <lb/>eines neuen Pflanzenlebens, denn die neue Saat wird von <lb/>jenen Stoffen der alten Pflanzen geſpeiſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1465" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1466" xml:space="preserve">Aber eine Pflanzenſpeiſe iſt es, die dem Humus haupt-<lb/>ſächlich fehlt, und dieſe iſt darum für uns von großer Wichtig-<lb/>keit, weil dieſer Stoff dem tieriſchen Leib ganz unumgänglich <lb/>nötig iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1467" xml:space="preserve">Und dieſer Stoff iſt der Stickſtoff.</s>
  <s xml:id="echoid-s1468" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1469" xml:space="preserve">Wir haben es bereits erwähnt, daß der größte Teil der <lb/>Pflanze nur aus den drei Stoffen, Sauerſtoff, Waſſerſtoff <lb/>und Kohlenſtoff beſteht; </s>
  <s xml:id="echoid-s1470" xml:space="preserve">dahingegen iſt in Tieren und Menſchen <lb/>auch der Stickſtoff ein Hauptbeſtandteil, und deshalb haben <lb/>diejenigen Pflanzen, die viel Stickſtoff enthalten, die größte <lb/>Wichtigkeit für Tiere und Menſchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1471" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1472" xml:space="preserve">Weshalb ſättigen Obſt- und Gemüſearten den Menſchen <lb/>ſo wenig, und warum muß er zu ſeiner Hauptnahrung gerade <lb/>Getreide und Hülſenfrüchte haben? </s>
  <s xml:id="echoid-s1473" xml:space="preserve">— Es rührt dies daher, <lb/>daß in Obſt- und Gemüſearten der Stickſtoff faſt ganz fehlt, <lb/>im Getreide und in Hülſenfrüchten aber der Stickſtoff in <lb/>reicherem Maße vorhanden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1474" xml:space="preserve">Da aber das Fleiſch unſeres <lb/>Leibes ſtickſtoffhaltig iſt, ſo müſſen wir, um dasſelbe ſtets neu <lb/>zu bilden, auch ſtickſtoffhaltige Stoffe genießen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1475" xml:space="preserve">Und daher
<pb o="23" file="111" n="111"/>
rührt die Wichtigkeit der ſtickſtoffreichen Pflanzen, deren Er-<lb/>ziehung eigentlich die Hauptaufgabe der Landwirtſchaft iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1476" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1477" xml:space="preserve">Soll aber eine ſtickſtoffreiche Pflanze, ſoll Getreide oder <lb/>Hülſenfrucht gedeihen, ſo muß ſie im Boden Stickſtoff vorfinden, <lb/>und dieſer iſt im Humus, in den verfaulten Pflanzenreſten <lb/>nicht oder nur in geringem Maße vorhanden; </s>
  <s xml:id="echoid-s1478" xml:space="preserve">er muß vielmehr <lb/>dem Boden zugebracht werden, und zwar durch in Fäulnis <lb/>übergegangene Tierſtoffe. </s>
  <s xml:id="echoid-s1479" xml:space="preserve">Und das iſt es, was den ſonſt Ekel <lb/>erregenden Abgängen von Tieren und Menſchen den hohen <lb/>Wert für die Landwirtſchaft verleiht, ſo daß das, was wir <lb/>nicht ſchnell genug aus den Häuſern und Städten entfernen <lb/>können, von den Landwirten als koſtbarer Stoff auf die Felder <lb/>gebracht wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s1480" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1481" xml:space="preserve">Der Stickſtoff iſt in dem Dünger aus Tierabgängen in <lb/>jener Form vorhanden, die für die Pflanzen aufnahmefähig iſt, <lb/>nämlich u. </s>
  <s xml:id="echoid-s1482" xml:space="preserve">a. </s>
  <s xml:id="echoid-s1483" xml:space="preserve">in der Verbindung mit Waſſerſtoff, als Ammo-<lb/>niak. </s>
  <s xml:id="echoid-s1484" xml:space="preserve">Die Stickſtoff-Verbindungen gelangen durch die Wurzel <lb/>in die Pflanze, und hierdurch bietet der Tier- und Menſchen-<lb/>dünger in leichter Weiſe der Pflanze eine Speiſe dar, die ſonſt <lb/>in der Natur zwar ſehr reichlich vorhanden iſt, aber nicht in <lb/>der Form, in welcher ſie im Waſſer ſich auflöſen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s1485" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1486" xml:space="preserve">Und hier gerade iſt es, wo die wiſſenſchaftliche Landwirt-<lb/>ſchaft ganz außerordentliche Erfolge erzielt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s1487" xml:space="preserve">Seit unend-<lb/>lichen Zeiten hat man das Feld gedüngt, aber ſo lange man <lb/>nicht wußte, was denn im Dünger ſo wohlthätig wirkt, hat <lb/>man den Dünger nicht durch ein anderes Mittel erſetzen können. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1488" xml:space="preserve">Die Landwirte waren genötigt, ſtets einen großen Viehſtand zu <lb/>halten, damit ſie Dünger für ihre Felder haben, und die Frucht <lb/>ihrer Felder mußte wiederum großenteils dazu dienen, den <lb/>Viehſtand zu erhalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s1489" xml:space="preserve">— Seitdem man aber weiß, daß es <lb/>nur hauptſächlich die Stickſtoff-Verbindungen ſind, die auf die <lb/>Felder ſo wohlthätig einwirken, hat man angefangen, andere <lb/>Düngmittel zu ſuchen, die reich z. </s>
  <s xml:id="echoid-s1490" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s1491" xml:space="preserve">an Ammoniak ſind, ohne
<pb o="24" file="112" n="112"/>
daß ſie mit ſo viel Unbequemlichkeiten verbunden ſind, wie die <lb/>Pflege und Verarbeitung des Düngers.</s>
  <s xml:id="echoid-s1492" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1493" xml:space="preserve">Die gemahlenen Knochen, das Rapsmehl und der Guano <lb/>ſind jetzt die Düngmittel in wiſſenſchaftlich betriebenen Land-<lb/>wirtſchaften. </s>
  <s xml:id="echoid-s1494" xml:space="preserve">Dadurch wird nach dem Zeugnis der gebildetſten <lb/>Sachkenner ſtets ein ſteigender Ertrag in der Ernte erzielt, der <lb/>bei dem gewöhnlichen Dünger nicht möglich geweſen wäre.</s>
  <s xml:id="echoid-s1495" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div50" type="section" level="1" n="42">
<head xml:id="echoid-head49" xml:space="preserve"><emph style="bf">VIII. Die wiſſenſchaftliche Unterſuchung des</emph> <lb/><emph style="bf">Düngers.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1496" xml:space="preserve">Aber nicht nur einen Erſatz des gewöhnlichen Düngers <lb/>wußte die landwirtſchaftliche Chemie ausfindig zu machen, <lb/>ſondern ſie hat auch eine wiſſenſchaftliche Behandlung des bis-<lb/>herigen Düngers gelehrt, wodurch die Einnahme des Land-<lb/>mannes ſich erhöht, der Speiſeſtoff billiger und die Geſundheit <lb/>der Menſchen weſentlich verbeſſert wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s1497" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1498" xml:space="preserve">Es iſt nämlich eine Eigenſchaft des natürlichen Düngers, <lb/>daß er erſt dann wirkſam auf die Pflanze iſt, wenn er in <lb/>Fäulnis übergegangen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1499" xml:space="preserve">Dadurch entſteht dann der wider-<lb/>wärtige Geruch, der die Luft verpeſtet; </s>
  <s xml:id="echoid-s1500" xml:space="preserve">denn die ſich entwickeln-<lb/>den Gaſe verfliegen in der Luft. </s>
  <s xml:id="echoid-s1501" xml:space="preserve">Hierdurch aber entſteht nicht <lb/>nur oft Erkranken von Tieren und Menſchen, beſonders in <lb/>warmer, trockener Jahreszeit, ſondern der Dünger verliert <lb/>dabei ſeine eigentliche Nährkraft für die Pflanzen, da gerade <lb/>die die Gaſe zuſammenſetzenden Grundſtoffe als Nährſtoffe für <lb/>die Pflanzen ſehr wichtig ſind, und er liefert daher, auf das <lb/>Feld gebracht, eine nur ſpärliche Ernte.</s>
  <s xml:id="echoid-s1502" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1503" xml:space="preserve">Die Bauern haben das unſchickliche Sprichwort: </s>
  <s xml:id="echoid-s1504" xml:space="preserve">“was <lb/>ſtinkt, das düngt!” und freuen ſich, wenn der Dünger einen <lb/>recht ſtechenden Geruch hat, aber ſie wiſſen nicht, daß dieſes
<pb o="25" file="113" n="113"/>
üble Sprichwort ihnen auch viel Übel verurſacht und großen <lb/>Schaden zufügt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1505" xml:space="preserve">Es iſt ganz richtig, daß gerade dieſelben Stoffe, <lb/>die ſo eindringlich widerlich im Geruch ſind, das wirkliche <lb/>Düngmittel ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s1506" xml:space="preserve">aber gerade das, was ſchon gerochen wird, <lb/>das iſt in die Luft verflogen und düngt nicht mehr. </s>
  <s xml:id="echoid-s1507" xml:space="preserve">Der <lb/>übelriechende Dünger verliert mit jedem Augenblick ſeinen <lb/>Wert, ſein Ammoniak, Schwefelwaſſerſtoff u. </s>
  <s xml:id="echoid-s1508" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s1509" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s1510" xml:space="preserve">verfliegt, <lb/>und es bleiben nur die Reſte übrig, die wohl Aſche, aber nicht <lb/>mehr die wichtigſten Nahrungsſtoffe den Pflanzen darbieten.</s>
  <s xml:id="echoid-s1511" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1512" xml:space="preserve">Die landwirtſchaftliche Chemie hat nun ein einfaches <lb/>Mittel, dieſen Übeln abzuhelfen, und es wird dasſelbe auch <lb/>von gebildeten Landwirten angewandt, ſodaß der Dünger dort <lb/>nicht riecht, aber dafür vortrefflich düngt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1513" xml:space="preserve">Der gebildete Land-<lb/>wirt begießt den Dünger mit Schwefelſäure; </s>
  <s xml:id="echoid-s1514" xml:space="preserve">dadurch bildet <lb/>ſich z. </s>
  <s xml:id="echoid-s1515" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s1516" xml:space="preserve">mit dem Ammoniak das geruchloſe ſchwefelſaure <lb/>Ammoniak, das als ein chemiſches Salz auch in unſeren Apo-<lb/>theken zu haben iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1517" xml:space="preserve">Dieſes Salz löſt ſich mit Leichtigkeit im <lb/>Waſſer auf und liefert den Pflanzen nicht nur eine reichliche <lb/>Ammoniakſpeiſe, ſondern auch Schwefel, der ebenfalls ein <lb/>Beſtandteil der nährenden Fruchtarten iſt, und hierbei beſteht <lb/>außerdem noch der Vorteil, daß durch die Löſung noch andere <lb/>Stoffe des Düngers oder des Bodens, die ſonſt unlöslich <lb/>bleiben, jetzt ſich leichter im Regenwaſſer auflöſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1518" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1519" xml:space="preserve">Es iſt eine wiſſenſchaftlich ganz ausgemachte Thatſache <lb/>und ſie wird von der Landwirtſchaft beſtätigt, daß durch Auf-<lb/>wand von einem einzigen Groſchen für Schwefelſäure der <lb/>Dünger um fünf Groſchen mehr wert wird, als wenn man <lb/>ihn ohne Schwefelſäure läßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1520" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1521" xml:space="preserve">Man ſollte kaum glauben, daß ſolch eine leichte Lehre, <lb/>geſtützt auf gute und gründliche Erfahrungen, ſo ſchwer Ein-<lb/>gang bei den Bauern finden könne, und doch iſt es der Fall. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1522" xml:space="preserve">Althergebrachte Gewohnheit iſt beim Bauern, freilich ebenſo <lb/>bei jedem anderen Menſchen, ſehr ſchwer zu bekämpfen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1523" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="26" file="114" n="114"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1524" xml:space="preserve">Aber nicht das allein haben wir zu beklagen, ſondern <lb/>auch, daß in den Städten der Sinn für wiſſenſchaftliche Chemie <lb/>noch ſehr unausgebildet iſt, und gerade in Bezug auf den <lb/>Dünger ſehen wir ſelbſt gebildete Hauswirte ein Mittel der <lb/>Chemie verſchmähen, das ihr Haus vor verpeſtendem Geruch <lb/>bewahren und den Werth ihrer Miſtgruben erhöhen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s1525" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1526" xml:space="preserve">Das Eiſenvitriol, eine Verbindung von Eiſenoxydul und <lb/>Schwefelſäure iſt ein vortreffliches Mittel, den Geruch der <lb/>Abtritte vollkommen zu vernichten. </s>
  <s xml:id="echoid-s1527" xml:space="preserve">Während die Schwefel-<lb/>ſäure nur das Ammoniak geruchlos macht, wird durch das <lb/>Eiſenvitriol auch der weit ekelhaftere Geruch des Schwefel-<lb/>waſſerſtoffs, der nach faulen Eiern riecht, vernichtet. </s>
  <s xml:id="echoid-s1528" xml:space="preserve">Hierdurch <lb/>aber entſteht eine weſentliche Verbeſſerung des häuslichen Düngers, <lb/>und die Hauswirte würden, wenn ſie nur die Probe machen <lb/>wollten, ſchon die Bauern zur Überzeugung bringen, daß der <lb/>nichtriechende Dünger der beſſere iſt, weil er ſeine eigentliche <lb/>Nährkraft nicht in die Luft ſendet, ſondern der Pflanze ab-<lb/>giebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1529" xml:space="preserve">— Die Erfahrungen haben gelehrt, daß durch ſolche <lb/>vernünftige Behandlung des Düngers ein Getreideland nahe <lb/>um ein Drittel mehr Frucht bringt und Grasland ſogar eine <lb/>fünfmal beſſere Ernte liefert, als bei gewöhnlichem Dünger.</s>
  <s xml:id="echoid-s1530" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1531" xml:space="preserve">Die allgemeine Belehrung des Landvolkes iſt daher von <lb/>der größten Wichtigkeit und dieſe Belehrung, die wir hier <lb/>freilich nur in aller Kürze ausführen konnten, iſt eben nur <lb/>durch die Verbreitung chemiſcher Kenntniſſe möglich.</s>
  <s xml:id="echoid-s1532" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div51" type="section" level="1" n="43">
<head xml:id="echoid-head50" xml:space="preserve"><emph style="bf">IX. Die Entdeckung neuer Stoffe.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1533" xml:space="preserve">Nachdem wir unſern Leſern in das Weſen der neuern <lb/>landwirtſchaftlichen Chemie einen Einblick verſchafft haben, <lb/>werden ſie ſicherlich den Nutzen der Pflege der organiſchen <lb/>Chemie nicht mehr bezweifeln, und wir wollen jetzt die zwei
<pb o="27" file="115" n="115"/>
anderen Hauptaufgaben der Chemie kennen lernen, um auch <lb/>deren Bedeutung einmal zur allgemeinen Kenntnis zu bringen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1534" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1535" xml:space="preserve">Wir haben bereits erwähnt, daß es die zweite Hauptauf-<lb/>gabe der organiſchen Chemie iſt, aus den Pflanzen- und Tier-<lb/>ſtoffen, die außerordentlich mannigfaltig ſind, neue chemiſche <lb/>Stoffe zu entdecken; </s>
  <s xml:id="echoid-s1536" xml:space="preserve">neue Stoffe, die durch die Kunſt und die <lb/>Wiſſenſchaft für die Menſchheit nutzbar gemacht werden können.</s>
  <s xml:id="echoid-s1537" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1538" xml:space="preserve">Es iſt rein unmöglich, die Zahl der neuen Stoffe, die <lb/>bereits entdeckt ſind, auch nur entfernt anzugeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s1539" xml:space="preserve">Wollte man <lb/>auch nur die Namen all der Stoffe und ihrer Verbindungen <lb/>anführen, die ſeit den letzten Jahren entdeckt worden ſind, ſo <lb/>würden ſie ſchon in die Tauſende hineingehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1540" xml:space="preserve">Ein Chemiker, <lb/>der ein Jahrzehnt nicht auf den Fortſchritt dieſer Wiſſenſchaft, <lb/>geblickt hat, würde erſchrecken vor all dem großen Material, <lb/>das er plötzlich vorfände und nun zu ſtudieren hätte.</s>
  <s xml:id="echoid-s1541" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1542" xml:space="preserve">Als eines von vielen, unzähligen Beiſpielen wollen wir <lb/>Folgendes anführen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1543" xml:space="preserve">Jeder unſerer Leſer kennt den Stein-<lb/>kohlenteer, der bei der Darſtellung des Leuchtgaſes aus Stein-<lb/>kohlen gewonnen wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s1544" xml:space="preserve">Aus dieſem Teer kann man ein Öl <lb/>ziehen, wonach ein Stoff übrig bleibt, den man künſtlichen <lb/>Asphalt nennt, und der zum Straßenpflaſter dient. </s>
  <s xml:id="echoid-s1545" xml:space="preserve">Aus dieſem <lb/>Teer ſind aber noch ganz andere Stoffe gewonnen worden, <lb/>die teilweiſe ſelbſt dem Namen nach den Leſern unbekannt <lb/>ſein werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s1546" xml:space="preserve">Man gewinnt aus ihm Kyanol, Pyrrol, Leukol, <lb/>Karbolſäure, Brunolſäure, Naphtalin und noch mehrere andere <lb/>Stoffe. </s>
  <s xml:id="echoid-s1547" xml:space="preserve">Von dieſen Stoffen iſt das Naphtalin ein kampfer-<lb/>ähnlicher Körper, der wieder der Stammvater einer großen <lb/>Maſſe neuer Stoffe iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1548" xml:space="preserve">Durch Einwirkung von Salpeterſäure <lb/>gewinnt man aus dem Naphtalin eine große Reihe neuer <lb/>Stoffe, die in ihrer Wirkung und Natur ſehr verſchieden ſind. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1549" xml:space="preserve">— In Verbindung mit Chlor macht das Naphtalin nochmals <lb/>die Reihe der Verwandlungen zu einem Dutzend neuer Stoffe <lb/>durch, und jedem dieſer Stoffe ſteht noch das Schickſal bevor,
<pb o="28" file="116" n="116"/>
ein Stammſtoff für viele Dutzend anderer neuer Verbindungen <lb/>zu werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1550" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1551" xml:space="preserve">Ähnlich verhalten ſich die andern aus dem Teer dar-<lb/>geſtellten Stoffe. </s>
  <s xml:id="echoid-s1552" xml:space="preserve">Durch Behandlung mit anderen Subſtanzen <lb/>erhält man aus jedem der obengenannten Körper eine ganze <lb/>Reihe neuer Verbindungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1553" xml:space="preserve">So gewinnt man aus dem Kyanol, <lb/>das gegenwärtig unter dem Namen Anilin der Stammhalter <lb/>einer großen Gruppe wichtiger Stoffe geworden, eine große <lb/>Reihe der herrlichſten Farbſtoffe, ſo z. </s>
  <s xml:id="echoid-s1554" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s1555" xml:space="preserve">das Roſanilin, <lb/>Chryſanilin, Violanilin, Fuchſin u. </s>
  <s xml:id="echoid-s1556" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s1557" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s1558" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1559" xml:space="preserve">Gerade die Stoffe, welche aus dem unſcheinbaren Stein-<lb/>kohlenteer dargeſtellt werden, haben eine Bedeutung gewonnen, <lb/>daß ſie nicht nur in großen Fabriken dargeſtellt werden, ſon-<lb/>dern überhaupt einen großen Teil unſerer Geſamtinduſtrie <lb/>ausmachen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1560" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1561" xml:space="preserve">Nachdem nämlich die Chemiker Hofmann und Perkin <lb/>in den Jahren 1857 und 1858 durch chemiſche Behandlung <lb/>des Anilin aus demſelben einen ſchönen, roten Farbſtoff, den <lb/>Anilinpurpur, dargeſtellt hatten, bemächtigte ſich die Induſtrie <lb/>bald dieſer neuen Entdeckung und fand die Mittel, dieſen Farb-<lb/>ſtoff zum Färben von Seide, Wolle und Baumwolle zu ver-<lb/>werten. </s>
  <s xml:id="echoid-s1562" xml:space="preserve">Weitere Forſchungen führten aber bald dahin, nicht <lb/>nur eine Purpurfarbe aus dem Anilin zu gewinnen, ſondern <lb/>auch blaue, violette, rote, grüne, gelbe, ja faſt alle Farben <lb/>wurden aus dem Anilin und den anderen Abkömmlingen des <lb/>Steinkohlenteers dargeſtellt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1563" xml:space="preserve">All’ dieſe Farben zeichnen ſich <lb/>durch prachtvollen Glanz aus, ſo daß ſie die bis dahin ge-<lb/>brauchten Farbſtoffe faſt ganz verdrängt haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s1564" xml:space="preserve">Es iſt jetzt <lb/>allgemein bekannt, daß unſere Zeuge ausſchließlich mit den <lb/>glänzenden Anilinverbindungen gefärbt werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1565" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1566" xml:space="preserve">Die wiſſenſchaftliche Unterſuchung nach neuen Stoffen hat <lb/>ſomit in dieſem Gebiete den großartigſten praktiſchen Erfolg <lb/>gehabt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1567" xml:space="preserve">Stoffe, welche in den chemiſchen Werkſtätten der Ge-
<pb o="29" file="117" n="117"/>
lehrten des wiſſenſchaftlichen Intereſſes wegen hergeſtellt wurden, <lb/>ſind Fabrikationszweige geworden, die viele tauſend Menſchen-<lb/>hände beſchäftigen und viele Familien ernähren.</s>
  <s xml:id="echoid-s1568" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1569" xml:space="preserve">Um noch ein Beiſpiel hierfür anzuführen, wollen wir ein <lb/>zweites chemiſches Erzeugnis erwähnen, das jetzt ein not-<lb/>wendiger Artikel für den Photographen geworden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1570" xml:space="preserve">Als <lb/>vor mehreren Jahrzehnten die Lichtbilder erfunden wurden, <lb/>war man nicht imſtande, ſolche Bilder vor der Einwirkung <lb/>des Tageslichtes zu ſchützen, ſo daß man ſie nur abends bei <lb/>Lampenlicht anſehen und anſtaunen konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s1571" xml:space="preserve">Da wurde denn <lb/>die weitere Entdeckung gemacht, daß ein Salz, und zwar eine <lb/>Art halbfertiges Glauberſalz, das unterſchwefligſaure Natron, <lb/>die Bilder vor weiterer Licht-Einwirkung ſchütze. </s>
  <s xml:id="echoid-s1572" xml:space="preserve">Dieſes Salz, <lb/>das man ſonſt nur in chemiſchen Laboratorien als Gelehrten-<lb/>Rarität darſtellte, koſtete damals an zwei Thaler das Lot; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1573" xml:space="preserve">jetzt, wo man es allgemein anwendet, iſt es ein großer Handels-<lb/>Artikel geworden, und man fabriziert es in ſolcher Maſſe, daß <lb/>das Kilo nur etwa 1 Mk. </s>
  <s xml:id="echoid-s1574" xml:space="preserve">koſtet.</s>
  <s xml:id="echoid-s1575" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1576" xml:space="preserve">Wir haben bei der landwirtſchaftlichen Chemie geſehen, <lb/>daß die Praxis ſich noch nicht völlig der Vorteile der neuen Ent-<lb/>deckungen zu bemächtigen verſteht; </s>
  <s xml:id="echoid-s1577" xml:space="preserve">wir können dies von der <lb/>Entdeckung neuer Stoffe nicht ſagen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1578" xml:space="preserve">Die Aufgabe der Che-<lb/>miker iſt es, dieſe zu finden, und ſie arbeiten rüſtig daran; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1579" xml:space="preserve">ſie nutzbar zu machen, iſt Aufgabe der Welt der Arbeiter, der <lb/>Künſtler, der Technologen, der Polytechniker, und dieſe — <lb/>das müſſen wir ſagen — halten in ihren Fortſchritten, die <lb/>wahrlich bedeutend ſind, mit der chemiſchen Wiſſenſchaft gleichen <lb/>Schritt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1580" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1581" xml:space="preserve">Darum aber gebührt der chemiſchen Wiſſenſchaft die Ehre <lb/>und beſondere Vorliebe des Volkes.</s>
  <s xml:id="echoid-s1582" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="30" file="118" n="118"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div52" type="section" level="1" n="44">
<head xml:id="echoid-head51" xml:space="preserve"><emph style="bf">X. Die freiwilligen Veränderungen der Pflanzen-</emph> <lb/><emph style="bf">ſtoffe.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1583" xml:space="preserve">Die intereſſante Aufgabe der organiſchen Chemie, die wir <lb/>unſern Leſern noch vorführen wollten, iſt die Beobachtung, die <lb/>Erforſchung und die Anordnung der freiwilligen Verände-<lb/>rungen, welche hauptſächlich die Pflanzenſtoffe annehmen, wenn <lb/>ſie verſchiedenen Einflüſſen ausgeſetzt ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s1584" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1585" xml:space="preserve">Um dies deutlicher zu machen, wollen wir die bekannte <lb/>Thatſache anführen, daß es viele Früchte giebt, die ihre Be-<lb/>ſchaffenheit bedeutend verändern, wenn man ſie ruhig liegen <lb/>läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1586" xml:space="preserve">Viele Äpfelſorten, die in friſchem Zuſtande ſauer und <lb/>hart ſ@nd, werden erſt genießbar, wenn ſie einige Monate ge-<lb/>lagert haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s1587" xml:space="preserve">Man ſollte kaum glauben, daß dies auch <lb/>Chemie iſt, aber es iſt in Wirklichkeit ein chemiſcher Vorgang, <lb/>der in dem Apfel ſtattfindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s1588" xml:space="preserve">Mohrrüben werden, wenn ſie <lb/>lange liegen, holzig, das iſt auch ein chemiſcher Vorgang, <lb/>denn es iſt ja die Umwandlung eines Stoffes in einen andern. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1589" xml:space="preserve">Mit den Kartoffeln geht gleichfalls eine wichtige Umwandlung <lb/>vor, wenn man ſie liegen läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1590" xml:space="preserve">Wir wollen dieſe freiwilligen <lb/>Verwandlungen einmal näher kennen lernen, denn wir werden <lb/>ſpäter ſehen, welch’ wichtige Reſultate man daraus zieht.</s>
  <s xml:id="echoid-s1591" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1592" xml:space="preserve">Die Kartoffeln haben einen Hauptbeſtandteil von Stärke-<lb/>mehl, welches eigentlich der Kartoffel ihren Wert giebt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1593" xml:space="preserve">aber <lb/>ſie hat nicht zu allen Zeiten einen gleichen Reichtum davon. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1594" xml:space="preserve">100 Pfund Kartoffeln haben im Auguſt 10 Pfund Stärkemehl <lb/>in ſich, im September ſteigt der Mehlgehalt, und 100 Pfund <lb/>von derſelben Kartoffelſorte haben in dieſem Monat ſchon <lb/>14 Pfund Stärkemehl in ſich. </s>
  <s xml:id="echoid-s1595" xml:space="preserve">Im Oktober wird die Kar-<lb/>toffel noch beſſer; </s>
  <s xml:id="echoid-s1596" xml:space="preserve">100 Pfund Kartoffeln enthalten dann <lb/>15 Pfund Stärke; </s>
  <s xml:id="echoid-s1597" xml:space="preserve">im November hat ſie 16 Pfund; </s>
  <s xml:id="echoid-s1598" xml:space="preserve">im De-<lb/>zember 17 Pfund; </s>
  <s xml:id="echoid-s1599" xml:space="preserve">im Januar 17 Pfund; </s>
  <s xml:id="echoid-s1600" xml:space="preserve">im Februar 16 Pfund; </s>
  <s xml:id="echoid-s1601" xml:space="preserve"><lb/>im März 15 Pfund; </s>
  <s xml:id="echoid-s1602" xml:space="preserve">im April 13 Pfund; </s>
  <s xml:id="echoid-s1603" xml:space="preserve">im Mai 10 Pfund.</s>
  <s xml:id="echoid-s1604" xml:space="preserve">
<pb o="31" file="119" n="119"/>
Im Iuni und Iuli werden ſie weich, ſchleimig und ſüß <lb/>von Geſchmack. </s>
  <s xml:id="echoid-s1605" xml:space="preserve">Ja, ſchon im Frühjahr fangen ſie an, <lb/>Wurzeln auszuſtecken und werden bartig oder richtig aus-<lb/>wüchſig.</s>
  <s xml:id="echoid-s1606" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1607" xml:space="preserve">Das alles ſind chemiſche Veränderungen des Inhalts der <lb/>Kartoffeln, und dies wird nun jedermann zur Überzeugung <lb/>bringen, daß in den Pflanzenſtoffen etwas ganz Eigenes vor-<lb/>geht, ſelbſt wenn man mit ihnen nichts vornimmt und ſie <lb/>ſcheinbar ganz ruhig liegen bleiben.</s>
  <s xml:id="echoid-s1608" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1609" xml:space="preserve">Dies alles zu beobachten iſt die intereſſante Aufgabe der <lb/>Chemiker; </s>
  <s xml:id="echoid-s1610" xml:space="preserve">aber das Intereſſante ihrer Aufgabe wird von dem <lb/>Nutzen weit überwogen, den uns ihre Erforſchungen dieſer That-<lb/>ſachen bringen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1611" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1612" xml:space="preserve">Der Chemiker zerlegt nicht nur jede Pflanze und jede <lb/>Frucht und lernt dadurch, woraus die Natur dieſe Dinge auf-<lb/>gebaut hat, ſondern er erforſcht auch die Veränderungen, <lb/>welche mit der Pflanze oder deren einzelnen Teilen und Früchten <lb/>vorgehen, wenn man ſie ſich ſelber überläßt, wenn man ſie im <lb/>Waſſer weicht, wenn man ſie der Wärme ausſetzt, wenn man <lb/>ſie dem Licht ausſtellt oder ſie im Finſtern läßt, wenn man ſie <lb/>mit anderen Stoffen in Berührung oder Miſchung bringt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1613" xml:space="preserve">Mit einem Worte: </s>
  <s xml:id="echoid-s1614" xml:space="preserve">der Chemiker ſtudiert aufs fleißigſte die <lb/>große Reihe von freiwilligen und künſtlichen Umwandlungen, <lb/>die ein Pflanzenſtoff durchmacht vom Augenblicke an, wo man <lb/>ihn von der Wurzel abſchneidet, bis zu dem Moment, wo er <lb/>ganz zerfallen und wieder in die Urſtoffe verwandelt iſt, aus <lb/>denen er einſt aus der Natur aufgebaut worden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1615" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1616" xml:space="preserve">All’ das, was man im gewöhnlichen Leben: </s>
  <s xml:id="echoid-s1617" xml:space="preserve">Brennen, <lb/>Sengen, Verkohlen, Modern, Faulen, Verweſen, Gähren, Ge-<lb/>rinnen, Dumpfigwerden, Schalwerden, Sauerwerden, Ver-<lb/>bleichen, Verſchießen und Zerfallen nennt, das alles ſind <lb/>chemiſche Veränderungen der organiſchen Stoffe, deren Kennt-<lb/>nis von der größten Wichtigkeit iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1618" xml:space="preserve">denn nur durch dieſe Vor-
<pb o="32" file="120" n="120"/>
gänge, die teils freiwillig, teils künſtlich eintreten, erhält man <lb/>Veränderungen der Pflanzenſtoffe, aus denen die nützlichſten <lb/>Dinge der Welt gemacht werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1619" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1620" xml:space="preserve">Um die Wichtigkeit dieſer Vorgänge, deren Studium und <lb/>Anwendung für praktiſche Zwecke zu zeigen, wollen wir wieder <lb/>die Kartoffel als Beiſpiel nehmen und einmal in aller Kürze <lb/>darthun, wie und auf welchem Wege man durch ſolche Ver-<lb/>änderungen aus der Kartoffel Mehl machen kann; </s>
  <s xml:id="echoid-s1621" xml:space="preserve">aus dem <lb/>Mehl Gummi; </s>
  <s xml:id="echoid-s1622" xml:space="preserve">aus dem Gummi Dextrin; </s>
  <s xml:id="echoid-s1623" xml:space="preserve">aus dem Dextrin <lb/>Zucker; </s>
  <s xml:id="echoid-s1624" xml:space="preserve">aus dem Zucker Spiritus; </s>
  <s xml:id="echoid-s1625" xml:space="preserve">aus dem Spiritus Eſſig. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1626" xml:space="preserve">Unſere Leſer werden hieraus erſehen, wie viel Brauer, Brenner <lb/>und Fabrikanten der verſchiedenſten Zweige, wieviel überhaupt <lb/>alle Welt, die Fabrikate jener Art benutzt, der Chemie zu ver-<lb/>danken hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s1627" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1628" xml:space="preserve">Wenn wir aber verſichern, daß all’ die Veränderungen und <lb/>deren Studium noch geringfügig genannt werden dürfen gegen-<lb/>über den praktiſchen Folgen der chemiſchen Studien im Ganzen, <lb/>ſo wird es jedermann einleuchten, daß jeder, der auf einen, <lb/>wenn auch nur geringen Grad der Bildung Anſpruch machen <lb/>will, in den Grundlagen und Grundbegriffen der Chemie ein <lb/>wenig Beſcheid wiſſen muß.</s>
  <s xml:id="echoid-s1629" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div53" type="section" level="1" n="45">
<head xml:id="echoid-head52" xml:space="preserve"><emph style="bf">XI. Die Bereitung von Mehl und Stärke aus</emph> <lb/><emph style="bf">einer Kartoffel.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1630" xml:space="preserve">Um die Verwandlungen kennen zu lernen, welche die <lb/>chemiſche Kunſt durch geeignete Behandlung der Pflanzen hervor-<lb/>zubringen vermag, wollen wir nunmehr die Verwandlungen der <lb/>bei uns ſo wichtig gewordenen Kartoffel, aus der man faſt <lb/>alles machen kann, vorführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1631" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1632" xml:space="preserve">Einige kleine Verſuche, die man ſehr leicht ſelbſt anſtellen <lb/>kann, werden unſeren Leſern hoffentlich willkommen ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s1633" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<pb o="33" file="121" n="121"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1634" xml:space="preserve">Man ſchneide einige abgeſchälte, rohe Kartoffeln in dünne <lb/>Scheiben und übergieße ſie mit Waſſer, in welches man etwas <lb/>Schwefelſäure gemiſcht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1635" xml:space="preserve">Das Waſſer braucht nur ſchwach an-<lb/>geſäuert zu ſein, ſo daß auf ein Lot Waſſer vier Tropfen <lb/>Schwefelſäure vollkommen ausreichen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1636" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1637" xml:space="preserve">Läßt man die Kartoffelſcheiben durch 24 Stunden in dieſem <lb/>angeſäuerten Waſſer ſtehen, ſo iſt mit ihnen eine chemiſche Ver-<lb/>wandlung vorgegangen, die wir ſogleich kennen lernen werden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1638" xml:space="preserve">Man gieße jetzt das geſäuerte Waſſer ab und ſpüle die Kartoffel-<lb/>ſcheiben mit reinem Waſſer ſo lange, bis jede Spur von Säure <lb/>verſchwunden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1639" xml:space="preserve">Läßt man nun die Kartoffelſcheiben in einer <lb/>mäßig warmen Ofenröhre vollkommen abtrocknen, ſo ſind die <lb/>Kartoffelſcheiben zerreiblich geworden und bilden dann das <lb/>bekannte Kartoffelmehl.</s>
  <s xml:id="echoid-s1640" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1641" xml:space="preserve">Die Kartoffel wird in dieſer Weiſe in Mehl verwandelt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1642" xml:space="preserve">Eine ſolche Umwandlung als Gewerbe iſt zwar im Großen <lb/>nicht lohnend, jedoch in kleinen Wirtſchaften, wo man der-<lb/>gleichen als Nebenbeſchäftigung treiben kann, wird dieſe <lb/>Operation vielfach vorgenommen, und man verdankt derſelben <lb/>das für Backwerke und in Haushaltungen ſehr beliebte Kartoffel-<lb/>mehl, das man in den Mehlhandlungen käuflich haben kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s1643" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1644" xml:space="preserve">Die Verwandlung, die hier mit der Kartoffel vor ſich <lb/>gegangen iſt, beſteht darin, daß ſowohl das Pflanzen-Eiweiß <lb/>der Kartoffel wie die Pflanzenfaſer im angeſäuerten Waſſer <lb/>aufgelöſt worden ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s1645" xml:space="preserve">Da man nun dies Waſſer fortgeſpült <lb/>hat, ſo blieb von der Kartoffel nur ihr wertvoller Haupt-<lb/>beſtandteil, das Stärkemehl, übrig.</s>
  <s xml:id="echoid-s1646" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1647" xml:space="preserve">Was dieſes Mehl von Weizenmehl unterſcheidet, iſt, daß <lb/>im Weizenmehl ein großer Reichtum von Kleber vorhanden iſt, <lb/>einem nahrhaften, klebrigen Stoff, der mit dem Eiweiß in ſeiner <lb/>Zuſammenſetzung in gewiſſen Punkten übereinſtimmt, weshalb <lb/>ſich auch Weizenmehl klümperig, während ſich das Kartoffel-<lb/>mehl trockenſtaubig anfühlt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1648" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1649" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s1650" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s1651" xml:space="preserve">Volksbücher VII.</s>
  <s xml:id="echoid-s1652" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="34" file="122" n="122"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1653" xml:space="preserve">Durch geeignete Behandlung verwandelt man das Kar-<lb/>toffelmehl in die gewöhnliche Stärke, die man zur Wäſche be-<lb/>nutzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1654" xml:space="preserve">Angefeuchtet und unter ſtetem Umrühren gelind erhitzt, <lb/>erhält man aus der Stärke harte, hornartige Krümelchen, die <lb/>man Sago nennt, weil ſie die größte Ähnlichkeit mit der echten <lb/>Sago haben, welche aus Stärkemehl bereitet wird, das ſich im <lb/>Marke mancher Palmbäume Indiens befindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s1655" xml:space="preserve">Die unechte <lb/>Sago ſchwillt wie die echte mit kochendem Waſſer übergoſſen <lb/>auf und bildet glasartige, weiße Kügelchen, die ein beliebter <lb/>Zuſatz zur Fleiſchbrühe ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s1656" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1657" xml:space="preserve">Daß man aus der Stärke Kleiſter bereitet, weiß jede <lb/>Hausfrau. </s>
  <s xml:id="echoid-s1658" xml:space="preserve">Hierbei ſaugen die Stärkekörnchen das heiße Waſſer <lb/>ein und ſchwellen auf; </s>
  <s xml:id="echoid-s1659" xml:space="preserve">weniger bekannt dürfte es den Haus-<lb/>frauen ſein, daß unſer Reis und Gries ihr Aufſchwellen und <lb/>Kleiſtrigwerden während des Kochens gleichfalls nur der <lb/>Stärke verdanken, welche in dieſen Speiſeſtoffen vorhanden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1660" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1661" xml:space="preserve">Eine bedeutende chemiſche Veränderung geht in dem <lb/>Kleiſter vor ſich, wenn man ihn längere Zeit an einem <lb/>warmen Orte ſtehen läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1662" xml:space="preserve">Er wird nach und nach dünn und <lb/>ſauer und bildet endlich eine Säure in ſich aus, die man Milch-<lb/>ſäure nennt, denn es iſt dieſelbe Säure, welche ſich beim Sauer-<lb/>werden der Milch erzeugt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1663" xml:space="preserve">— Auf chemiſchem Wege kann man <lb/>die Milchſäure herausziehen und in Verbindung mit anderen <lb/>Stoffen eine große Reihe chemiſcher Körper aus ihr bilden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1664" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1665" xml:space="preserve">Nicht minder läßt ſich die Stärke auf verſchiedene Weiſe <lb/>in einen andern Körper verwandeln, und zwar zunächſt in <lb/>Gummi.</s>
  <s xml:id="echoid-s1666" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1667" xml:space="preserve">Erhitzt man etwas Stärke in einem Blechlöffel, während <lb/>man ſtets umrührt, damit die Stärke nicht anbackt oder an-<lb/>brennt, ſo verwandelt ſie ſich in Gummi, deſſen Verwendung <lb/>zu vielen Zwecken, namentlich als Verbindungs- und Klebe-<lb/>mittel bekannt genug iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1668" xml:space="preserve">Sie nimmt hierbei eine Eigenſchaft <lb/>an, die ſie früher nicht hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s1669" xml:space="preserve">Während die Stärke in kaltem
<pb o="35" file="123" n="123"/>
Waſſer ſich nicht auflöſte, löſt ſich der Gummi vollkommen <lb/>darin auf und man ſieht hieraus, wie die Wärme allein die <lb/>Eigenſchaft eines Körpers vollſtändig umkehren und aus einem <lb/>Stoffe einen ganz andern zu machen vermag.</s>
  <s xml:id="echoid-s1670" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1671" xml:space="preserve">Wir haben all’ die bisherigen Verwandlungen nur an-<lb/>geführt, um vorerſt die reichhaltigen Veränderungen zu zeigen, <lb/>die der Hauptſtoff der Kartoffel, das Stärkemehl, erleiden kann, <lb/>wir wollen aber jetzt zu dem intereſſanteren Teil der Verände-<lb/>rungen übergehen, und zwar zur Verwandlung der Stärke in <lb/>Zucker.</s>
  <s xml:id="echoid-s1672" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div54" type="section" level="1" n="46">
<head xml:id="echoid-head53" xml:space="preserve"><emph style="bf">XII. Die Verwandlung der Kartoffel in Zucker.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1673" xml:space="preserve">Die Verwandlung der Kartoffelſtärke in Zucker iſt ebenſo <lb/>intereſſant wie lehrreich.</s>
  <s xml:id="echoid-s1674" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1675" xml:space="preserve">Man kann dieſe Verwandlung ſehr leicht vollbringen, und <lb/>zwar in folgender Weiſe:</s>
  <s xml:id="echoid-s1676" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1677" xml:space="preserve">Man laſſe circa 100 Gramm Waſſer, in welches man <lb/>zwanzig Tropfen Schwefelſäure gegoſſen hat, lebhaft kochen und <lb/>ſchütte theelöffelweiſe während des Kochens etwa 40 Gramm <lb/>Stärke hinein, die man mit ein wenig kaltem Waſſer zu einem <lb/>Brei angerührt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s1678" xml:space="preserve">Das Einſchütten des Stärkebreies muß ſo <lb/>geſchehen, daß hierbei das Sauerwaſſer nicht aus dem Kochen <lb/>kommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1679" xml:space="preserve">Wenn alle Stärke eingeſchüttet iſt, ſo laſſe man die <lb/>Miſchung noch einige Minuten aufkochen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1680" xml:space="preserve">Nunmehr nehme <lb/>man ſie vom Feuer und ſchütte in kleinen Portionen Schlemm-<lb/>kreide hinein, bis jede Spur von Säure in der Flüſſigkeit <lb/>geſchwunden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1681" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1682" xml:space="preserve">Iſt dies der Fall, dann filtriere man die Miſchung und <lb/>koche die klare Flüſſigkeit ſo lange, bis ſie ſtark eindampft. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1683" xml:space="preserve">Man wird nun finden, daß aus der Flüſſigkeit Syrup ge-<lb/>worden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1684" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="36" file="124" n="124"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1685" xml:space="preserve">Durch ein geeignetes Verfahren, das man im Kleinen <lb/>nicht gut nachmachen kann, iſt man imſtande, den braunen <lb/>Syrup in einen beſonderen Zucker, den ſogenannten Trauben-<lb/>zucker, zu verwandeln, welcher mit dem Kandiszucker die größte <lb/>Ähnlichkeit hat, ſich aber durch einen minder ſüßen Geſchmack <lb/>und eine andere chemiſche Zuſammenſetzung unterſcheidet. </s>
  <s xml:id="echoid-s1686" xml:space="preserve">Die <lb/>Darſtellung dieſes Zuckers aus Stärke geſchieht in großen <lb/>Fabriken und bildet jetzt einen großen Nahrungszweig für viele <lb/>Menſchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1687" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1688" xml:space="preserve">Das Intereſſante dieſes Verſuches iſt außerordentlich lehr-<lb/>reich. </s>
  <s xml:id="echoid-s1689" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1690" xml:space="preserve">Unterſucht man den Zucker oder den Syrup, ſo findet man <lb/>in ihm weder Schwefelſäure noch Kreide. </s>
  <s xml:id="echoid-s1691" xml:space="preserve">Beide Stoffe, <lb/>Schwefelſäure und Kreide, ſind nämlich beim Filtrieren in <lb/>dem Bodenſatz zurückgeblieben. </s>
  <s xml:id="echoid-s1692" xml:space="preserve">Beide Stoffe haben ihre Dienſte <lb/>geleiſtet und haben mit dem Syrup und Zucker nichts mehr <lb/>zu thun. </s>
  <s xml:id="echoid-s1693" xml:space="preserve">Worin aber dieſe Dienſte beſtanden haben, das iſt <lb/>eben die Frage, die ſich die Wiſſenſchaft zu ſtellen hat und <lb/>welche wir nunmehr beantworten müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1694" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1695" xml:space="preserve">Man erklärt ſich die Einwirkung der Schwefelſäure auf <lb/>die Stärke dahin, daß die Schwefelſäure die Eigenſchaft beſitzt, <lb/>die Beſtandteile der Stärke und des Waſſers anders zu lagern, <lb/>anders zu ordnen, und zwar in einer ſolchen Weiſe zu ordnen, <lb/>daß dieſelben Stoffe ſich zu Zucker umbilden; </s>
  <s xml:id="echoid-s1696" xml:space="preserve">denn dieſer ſetzt <lb/>ſich aus genau denſelben Grundſtoffen zuſammen, wie die <lb/>Stärke, nämlich aus Kohlenſtoff, Waſſerſtoff und Sauerſtoff.</s>
  <s xml:id="echoid-s1697" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1698" xml:space="preserve">Was für eine Rolle aber ſpielte die Kreide?</s>
  <s xml:id="echoid-s1699" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1700" xml:space="preserve">Die Kreide ſollte, wie wir ſogleich zeigen werden, nur <lb/>die Schwefelſäure, die ihren Dienſt geleiſtet hatte, einfangen, <lb/>um mit der Kreide verbunden aus der Miſchung hinausgeworfen <lb/>werden zu können.</s>
  <s xml:id="echoid-s1701" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="37" file="125" n="125"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div55" type="section" level="1" n="47">
<head xml:id="echoid-head54" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIII. Die Dienſte der Schwefelſäure oder des</emph> <lb/><emph style="bf">Malzes.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1702" xml:space="preserve">Die Rolle, die die Kreide in dem im vorhergehenden Ab-<lb/>ſchnitt erwähnten Verſuch ſpielt, läßt ſich leicht einſehen, wenn <lb/>man der eigentlichen Beſtandteile der Kreide ſich erinnert, die <lb/>wir bereits erwähnt haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s1703" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1704" xml:space="preserve">Wie wir bereits gezeigt, verwandelt ſich Kalkwaſſer ſchon <lb/>in Kreidewaſſer, ſobald man durch ein Glasrohr Luft hinein-<lb/>bläſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1705" xml:space="preserve">Die Kohlenſäure, die wir ausatmen, hat eine Neigung, <lb/>ſich mit Kalk zu verbinden und kohlenſauren Kalk zu bilden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1706" xml:space="preserve">Kreide aber iſt nichts anderes als kohlenſaurer Kalk. </s>
  <s xml:id="echoid-s1707" xml:space="preserve">Es hat aber <lb/>der Kalk eine noch weit größere Neigung, ſich mit Schwefel-<lb/>ſäure zu verbinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s1708" xml:space="preserve">Wenn man alſo auf kohlenſauren Kalk, <lb/>auf Kreide, etwas Schwefelſäure gießt, ſo verdrängt die <lb/>Schwefelſäure die Kohlenſäure aus der Kreide und ſetzt ſich <lb/>an deren Stelle. </s>
  <s xml:id="echoid-s1709" xml:space="preserve">Man braucht nur ein Stückchen Kreide in <lb/>ein Glas Waſſer zu werfen, worin ein wenig Schwefelſäure iſt, <lb/>ſo wird man ſofort wahrnehmen, daß von der Kreide aus ein <lb/>Aufbrauſen ſtattfindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s1710" xml:space="preserve">Es iſt dies das Aufſteigen der Kohlen-<lb/>ſäure aus der Kreide, an deren Stelle der Kalk ſich mit Schwefel-<lb/>ſäure verbindet und nun einen neuen Körper bildet, der wiſſen-<lb/>ſchaftlich ſchwefelſaurer Kalk heißt und im gewöhnlichen Leben <lb/>Gips genannt wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s1711" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1712" xml:space="preserve">Indem wir nun die im vorigen Abſchnitte erwähnte Löſung <lb/>Kreide hineingebracht haben, haben wir weiter nichts damit be-<lb/>zweckt, als daß wir die in der Flüſſigkeit enthaltene Schwefelſäure, <lb/>die ihre Dienſte geleiſtet hatte, zu feſſeln ſuchten und ſie <lb/>zwangen, Gips zu bilden, der zu Boden ſinkt, und indem wir <lb/>die Flüſſigkeiten filtriert und vom Gips gereinigt haben, ſind <lb/>wir imſtande geweſen, die Schwefelſäure aus der Flüſſigkeit <lb/>hinauszuwerfen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1713" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="38" file="126" n="126"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1714" xml:space="preserve">In der That zeigte die genaueſte Unterſuchung, daß weder <lb/>eine Spur von Kreide, noch von Schwefelſäure in der Syrup-<lb/>löſung, die wir gewonnen haben, zurückgeblieben iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1715" xml:space="preserve">es hat ſich <lb/>alſo, wie wir bereits geſagt, Stärke in Zucker umgewandelt, <lb/>ohne daß etwas anderes als die Beſtandteile des Waſſers <lb/>hinzugetreten ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s1716" xml:space="preserve">Zucker iſt alſo verwandelte Stärke.</s>
  <s xml:id="echoid-s1717" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1718" xml:space="preserve">Wir werden ſofort zeigen, daß man Zucker noch weiter ver-<lb/>wandeln und ein ganz anderes Ding daraus ziehen kann, <lb/>nämlich Spiritus, der auch Weingeiſt oder Alkohol genannt <lb/>wird, und der bekanntlich nicht die mindeſte Ähnlichkeit mit <lb/>Zucker hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s1719" xml:space="preserve">Ein Glas Zuckerwaſſer iſt ein unſchuldiges Ge-<lb/>tränk, und ein Glas Branntwein hat ſchon Manchen ins Un-<lb/>glück gebracht, und doch iſt jeder Branntwein einmal Zucker <lb/>geweſen und iſt nur aus dem Zucker entſtanden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1720" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1721" xml:space="preserve">Bevor wir aber zeigen, wie das geſchieht und was hier-<lb/>bei vorgeht, wollen wir nur noch eine wichtige Nebenbetrach-<lb/>tung anſtellen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1722" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1723" xml:space="preserve">Wir haben bereits angeführt, wie die Schwefelſäure das <lb/>Kunſtſtück verſteht, durch ihre bloße Gegenwart die Stärke in <lb/>Zucker umzuwandeln; </s>
  <s xml:id="echoid-s1724" xml:space="preserve">wir müſſen jetzt ſagen, daß es noch einen <lb/>Stoff giebt, der dies Kunſtſtück kann, ja noch beſſer als die <lb/>Schwefelſäure verſteht, und das iſt jene im Auswachſen be-<lb/>griffene Getreideart, die man Malz nennt, und namentlich das <lb/>Gerſtenmalz.</s>
  <s xml:id="echoid-s1725" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1726" xml:space="preserve">Wie wir bereits gezeigt haben, kann man Gerſte, die man <lb/>mit Waſſer übergießt und an einen warmen Ort ſtellt, zum <lb/>Keimen und Wachſen bringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1727" xml:space="preserve">Es bekommt jedes Gerſtenkorn <lb/>einen Halm und eine kleine Wurzel, ganz ſo, als ob man es <lb/>in Erde eingepflanzt hätte. </s>
  <s xml:id="echoid-s1728" xml:space="preserve">Trocknet man die Gerſte in dieſem <lb/>Zuſtande, ſo erhält man das Malz der Bierbrauer. </s>
  <s xml:id="echoid-s1729" xml:space="preserve">Übergießt <lb/>man nun dieſes Malz, das man ein wenig zerſtampft, mit <lb/>warmem Waſſer, ſo zieht das Waſſer einen Stoff aus dem <lb/>Malz, den man Diaſtaſe nennt, und dieſe Diaſtaſe verſteht
<pb o="39" file="127" n="127"/>
dasſelbe Kunſtſtück wie die Schwefelſäure; </s>
  <s xml:id="echoid-s1730" xml:space="preserve">es verwandelt ſich <lb/>in ihrer Berührung die Stärke in Zucker. </s>
  <s xml:id="echoid-s1731" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1732" xml:space="preserve">Hierdurch wird uns nicht nur mancher chemiſche Vorgang <lb/>der Brauerei erklärt, in welcher das Bier ſüß wird, ohne daß <lb/>der Brauer Zucker zuthut, ſondern man erhält auch einen Ein-<lb/>blick in die Veränderungen, die ſich beim Wachstum der Pflanzen <lb/>zeigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1733" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1734" xml:space="preserve">Ein Gerſtenkorn iſt gewiſſermaßen die Muttermilch des <lb/>künftigen Gerſtenhälmchens; </s>
  <s xml:id="echoid-s1735" xml:space="preserve">aber ganz wie die Muttermilch <lb/>einen großen Reichtum an Zucker hat, weil das junge Kind <lb/>viel Zucker genießen muß, ganz ſo wie die Natur das <lb/>Blut der Mutter in der Mutterbruſt in die zuckerreiche <lb/>Milch umwandelt, um ſie für den Säugling gedeihlich zu <lb/>machen, ganz ebenſo ſorgt ſie für das junge Pflänzchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1736" xml:space="preserve">Ein <lb/>Getreidekorn, ein Gerſtenkorn verwandelt ſich in der Erde in <lb/>Malz. </s>
  <s xml:id="echoid-s1737" xml:space="preserve">Die Feuchtigkeit, die hinzutritt, bildet in dem Korn <lb/>die Diaſtaſe aus, und dieſe Diaſtaſe macht aus dem Stärke-<lb/>mehl des Gerſtenkornes einen Zucker, der ſich im Waſſer auf-<lb/>löſt, und die junge Pflanze wird wie ein junges Kind mit <lb/>Zuckerſaft geſpeiſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1738" xml:space="preserve">— Daher rührt der ſüße Geſchmack der <lb/>jungen Getreidehalme und namentlich der jungen Gerſte.</s>
  <s xml:id="echoid-s1739" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1740" xml:space="preserve">Was wir im Großen in Zuckerfabriken treiben, treibt die <lb/>Natur in der Mutterbruſt und im kleinen Samenkorn. </s>
  <s xml:id="echoid-s1741" xml:space="preserve">Sie <lb/>treibt es freilich im kleinen, und doch — wer möchte dies nicht <lb/>einſehen — ſo großartig und erhaben, wie keine Menſchenkunſt <lb/>es vermag.</s>
  <s xml:id="echoid-s1742" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div56" type="section" level="1" n="48">
<head xml:id="echoid-head55" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIV. Kann man nicht aus Holz Zucker machen?</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1743" xml:space="preserve">Bevor wir nun zeigen, wie man Zucker in Spiritus um-<lb/>wandeln kann, haben wir eine kleine Betrachtung unſern Leſern <lb/>vorzuführen, die zwar augenblicklich für die Praxis von keiner
<pb o="40" file="128" n="128"/>
Bedeutung iſt, die aber zeigen wird, welche Zukunft uns noch <lb/>bevorſteht, wenn die Chemie noch weitere Fortſchritte macht, <lb/>als bisher.</s>
  <s xml:id="echoid-s1744" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1745" xml:space="preserve">Wir haben geſehen, daß man aus Stärke Zucker macht. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1746" xml:space="preserve">Wir wiſſen, daß dies Kunſtſtück von der Schwefelſäure und <lb/>von dem Malzauszug, den wir Diaſtaſe nennen, vollbracht <lb/>werden kann; </s>
  <s xml:id="echoid-s1747" xml:space="preserve">wir erinnern daran, daß gefrorene Äpfel und <lb/>namentlich gefrorene Kartoffeln ebenfalls ſüß zu ſchmecken <lb/>anfangen und zuckerreich werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s1748" xml:space="preserve">und bei all’ dem wiſſen wir, <lb/>wie dies daher rührt, daß die Beſtandteile der Stärke, daß <lb/>der Sauerſtoff, Waſſerſtoff und Kohlenſtoff ſich nur mit den <lb/>Beſtandteilen des Waſſers, mit noch etwas Waſſerſtoff und <lb/>Sauerſtoff zu verbinden brauchen, um vollſtändigen Zucker <lb/>zu bilden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1749" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1750" xml:space="preserve">Wie aber, möchte man fragen, giebt es nicht noch dergleichen <lb/>Stoffe, die ganz dieſelben Beſtandteile wie der Zucker haben? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1751" xml:space="preserve">Hat nur die Stärke dieſen Vorteil, dem Zucker ähnlich zu ſein, <lb/>oder kennt man noch andere Dinge, die dieſes Vorzuges ge-<lb/>nießen? </s>
  <s xml:id="echoid-s1752" xml:space="preserve">Und iſt dem etwa ſo, kann man auch aus ſolchen <lb/>Dingen Zucker machen?</s>
  <s xml:id="echoid-s1753" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1754" xml:space="preserve">Man braucht nicht weit herumzuſuchen, um einen ſolchen <lb/>Stoff zu finden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1755" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1756" xml:space="preserve">Die genaueſte Unterſuchung über die Menge von Sauer-<lb/>ſtoff, Waſſerſtoff und Kohlenſtoff, die in der Stärke enthalten <lb/>iſt, hat ergeben, daß auch Holz, jede Art von Holz, die gleiche <lb/>Menge dieſer Grundſtoffe in gleichem Verhältnis beſitzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1757" xml:space="preserve">Ein <lb/>Pfund Holz hat eben ſo viel Sauerſtoff und ſo viel Waſſer-<lb/>ſtoff und ſo viel Kohlenſtoff, als ein Pfund Stärke.</s>
  <s xml:id="echoid-s1758" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1759" xml:space="preserve">Kann man aber auch aus Holz ebenſo wie aus Stärke <lb/>Zucker machen?</s>
  <s xml:id="echoid-s1760" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1761" xml:space="preserve">Die Frage klingt gewiß vielen komiſch, faſt lächerlich; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1762" xml:space="preserve">aber ſie iſt für die Wiſſenſchaft vollkommen Ernſt, und ganz <lb/>bedeutungsvoller Ernſt, wie wir ſogleich ſehen werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1763" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="41" file="129" n="129"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1764" xml:space="preserve">Um hier darzulegen, welche Antwort die Wiſſenſchaft <lb/>hierauf giebt, müſſen wir ſagen, was denn eigentlich im wiſſen-<lb/>ſchaftlichen Sinne Holz genannt wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s1765" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1766" xml:space="preserve">Das Holz, das wir jeder Art von Bäumen abhauen, be-<lb/>ſteht aus mehr oder minder ſaftreichen Pflanzenzellen, von <lb/>denen wir bereits geſprochen haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s1767" xml:space="preserve">Im chemiſchen Sinne <lb/>verſteht man unter Holz jene Maſſe, die übrig bleibt, wenn <lb/>man allen Saft der Zellen daraus entfernt und alſo nichts <lb/>übrig läßt, als die Wand der Zellen, in welchen ehemals der <lb/>Saft war. </s>
  <s xml:id="echoid-s1768" xml:space="preserve">Ein vollkommen in dieſem Sinne ausgetrocknetes <lb/>Stück Holz beſteht aus nichts weiter, als aus Zellenwänden <lb/>der ehemaligen Pflanze, und ſo wenig man im gewöhnlichen <lb/>Leben daran denkt, ſo wahr iſt es doch, daß viele Dinge, die <lb/>man gar nicht als Holz anſieht, dennoch Holz ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s1769" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1770" xml:space="preserve">Wir tragen Hemden aus Leinewand. </s>
  <s xml:id="echoid-s1771" xml:space="preserve">Woher kommt aber <lb/>die Leinewand? </s>
  <s xml:id="echoid-s1772" xml:space="preserve">Sie wird aus Holz gemacht, aus dem Holze <lb/>einer Pflanze, deren Zellen baſtartig langgeſtreckt ſind, und <lb/>nach dem Trocknen, Brechen und Hecheln zu Flachs werden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1773" xml:space="preserve">Wir kleiden uns in Baumwolle; </s>
  <s xml:id="echoid-s1774" xml:space="preserve">aber auch ſie iſt nichts anderes, <lb/>als die hohlen Haare einer Pflanze, die ihren reifen Samen <lb/>umgeben, und dieſe Haare ſind gleichfalls nur Pflanzenzellen, <lb/>die in die Länge geſtreckt ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s1775" xml:space="preserve">Wir tragen Strohhüte und <lb/>wiſſen, daß das Stroh ebenfalls nur aus langgeſtreckten Pflanzen-<lb/>zellen beſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1776" xml:space="preserve">Wir ſchreiben und drucken auf Papier, das <lb/>wiederum nur aus zerfaſerten Pflanzenzellen hergeſtellt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s1777" xml:space="preserve"><lb/>Mit einem Worte, das Holz oder die Pflanzenzelle, und <lb/>namentlich die faſerförmige Pflanzenzelle, ſpielt eine größere <lb/>Rolle in der Welt, als wir im erſten Augenblick glauben <lb/>mögen (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s1778" xml:space="preserve">5).</s>
  <s xml:id="echoid-s1779" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1780" xml:space="preserve">Und alle dieſe Dinge, die nichts anderes als Holz <lb/>ſind, deſſen chemiſche Hauptbeſtandteile der Chemiker Celluloſe <lb/>nennt, ſind zuſammengeſetzt aus ganz denſelben Mengen von <lb/>Sauerſtoff, Waſſerſtoff und Kohlenſtoff, wie Stärke.</s>
  <s xml:id="echoid-s1781" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="42" file="130" n="130"/>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption9" xml:space="preserve"><emph style="bf">Fig. 5.</emph> <lb/>Faſerſorten aus dem Pflanzenreich.</caption>
</figure>
<pb o="43" file="131" n="131"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1782" xml:space="preserve">Hat man es nun ſchon ſo weit gebracht, auch aus dieſen <lb/>Stoffen Zucker zu machen?</s>
  <s xml:id="echoid-s1783" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1784" xml:space="preserve">Die Wiſſenſchaft hat es nicht unterlaſſen, den Verſuch zu <lb/>machen und hat es wirklich erreicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1785" xml:space="preserve">Man kann genau ſo wie <lb/>aus Stärke, auch aus Holz Zucker machen und erhält wie aus <lb/>der Stärke auch aus dem Holz Traubenzucker.</s>
  <s xml:id="echoid-s1786" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1787" xml:space="preserve">Auch hier iſt es wieder die Schwefelſäure, welche dieſes <lb/>Kunſtſtück verſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1788" xml:space="preserve">Wie ſie die Atome der Stärke und des <lb/>Waſſers umlagert und aus denſelben Traubenzucker macht, ſo <lb/>verſteht ſie es, auch aus alter Leinwand und Papier durch <lb/>einen ähnlichen Prozeß dieſelbe Zuckerart zu fabrizieren.</s>
  <s xml:id="echoid-s1789" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1790" xml:space="preserve">Leider hat es bisher den Bemühungen der Chemiker nicht <lb/>gelingen wollen, aus dem Holze oder der Stärke ſtatt des <lb/>Traubenzuckers den gewöhnlichen Stücken- oder Rohrzucker her-<lb/>zuſtellen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1791" xml:space="preserve">dies wäre ein Erfolg, der, wenn er gelänge, auf die <lb/>ganze Zucker-Induſtrie von dem allerbedeutſamſten Einfluſſe ſein <lb/>würde und den Menſchen ein unentbehrliches und bisher noch <lb/>verhältnismäßig koſtbares Nahrungsmittel viel zugänglicher <lb/>machen würde. </s>
  <s xml:id="echoid-s1792" xml:space="preserve">Doch werden es unſere Leſer zugeben, daß <lb/>die Löſung dieſer Aufgabe nach dem, was bis jetzt erreicht iſt, <lb/>keineswegs unmöglich iſt, und daß man es nicht belachen darf, <lb/>wenn man hört, daß die Chemie noch möglicherweiſe aus einem <lb/>Haufen Holz ſo und ſo viele Zentner nahrhafter Speiſe machen <lb/>wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s1793" xml:space="preserve">— Unſere Kinder werden vielleicht Holz-Zucker ebenſo <lb/>natürlich finden, wie wir jetzt Holz-Eſſig natürlich finden, ohne <lb/>zu bedenken, daß unſere Vorfahren dies für Zauber oder <lb/>Tollheit erklärt hätten.</s>
  <s xml:id="echoid-s1794" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div57" type="section" level="1" n="49">
<head xml:id="echoid-head56" xml:space="preserve"><emph style="bf">XV. Die Verwandlnng des Zuckers durch Gährung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1795" xml:space="preserve">Zur Verwandlung des Zuckers in Spiritus, oder richtiger <lb/>ausgedrückt, in Weingeiſt oder Alkohol, iſt es nötig, daß man
<pb o="44" file="132" n="132"/>
dem Zucker einen Stoff zuthut, der eine Gährung desſelben <lb/>veranlaßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1796" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1797" xml:space="preserve">Man kann die Gährung durch verſchiedene Stoffe hervor-<lb/>rufen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1798" xml:space="preserve">Eiweiß und alle eiweißhaltigen Stoffe, wie Fleiſch, <lb/>Leim, Käſe, Blut und ebenſo alle Pflanzenſtoffe, welche Pflanzen-<lb/>Eiweiß, Kleber in ſich haben, können Gährung hervorbringen, <lb/>wenn ſie längere Zeit in der Luft gelegen und angefangen <lb/>haben, in Fäulnis überzugehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1799" xml:space="preserve">vorzüglich aber verſteht dies <lb/>die Bierhefe, die man bekanntlich benutzt, um Teig aufgehen <lb/>oder gähren zu laſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1800" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1801" xml:space="preserve">Durch Bierhefe kann auch Zuckerwaſſer, und noch beſſer, <lb/>Honigwaſſer oder ſonſt der zuckerreiche Saft verſchiedener <lb/>Pflanzen, wie der Saft der Mohrrüben oder der Runkelrüben, <lb/>in Gährung verſetzt und dadurch in Alkohol verwandelt werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1802" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1803" xml:space="preserve">Was aber iſt Hefe, und was iſt Gährung, und wie iſt <lb/>die ſonderbare Wirkung dieſes Stoffes?</s>
  <s xml:id="echoid-s1804" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1805" xml:space="preserve">Was man von dem merkwürdigen Stoffe weiß, iſt <lb/>Folgendes:</s>
  <s xml:id="echoid-s1806" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1807" xml:space="preserve">Wenn man in Zuckerwaſſer einen jener Stoffe bringt, die <lb/>wir als eiweißhaltige bezeichnet haben, alſo etwa in Fäulnis <lb/>übergehenden Leim oder Käſe, und damit einige Zeit ſtehen <lb/>läßt, ſo fängt die Miſchung an, ſich zu trüben und es bilden <lb/>ſich in ihr kleine, mit bloßem Auge nicht ſichtbare, hohle <lb/>Kügelchen, die die Geſtalt von Eiern haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s1808" xml:space="preserve">Bringt man die <lb/>Miſchung in ein kaltes Zimmer, wo es zwar nicht friert, aber <lb/>nicht über 6—8 Grad warm iſt, ſo geht dieſe Trübung und <lb/>Bildung von Kügelchen ſehr langſam vor ſich, und nach und <lb/>nach ſinken die Kügelchen auf den Boden des Gefäßes, woſelbſt <lb/>ſie Hefe und zwar Unterhefe bilden. </s>
  <s xml:id="echoid-s1809" xml:space="preserve">Hält man aber die <lb/>Miſchung in einem warmen Zimmer, wo die Luft gegen <lb/>20 Grad Wärme hat, dann ſteigen die Kügelchen nach oben <lb/>und bilden die ſogenannte Oberhefe.</s>
  <s xml:id="echoid-s1810" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1811" xml:space="preserve">Wenn man mit einer Nadelſpitze ein wenig von dieſer
<pb o="45" file="133" n="133"/>
Hefe nimmt und ſie in einen Tropfen Waſſer bringt, in welchem <lb/>man hat Gerſte keimen laſſen, ſo kann man dieſen Tropfen <lb/>unter einem Mikroſkop beobachten und die Entwicklung der <lb/>Hefe, das Wachſen derſelben deutlich wahrnehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1812" xml:space="preserve">Nehmen <lb/>wir an, daß man nur ein einziges Hefenkügelchen vor ſich hat, <lb/>ſo kann man das eine Mutterzelle nennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1813" xml:space="preserve">Denn in der That <lb/>iſt das Kügelchen hohl und bildet eine geſchloſſene Zelle, in <lb/>welcher eine Flüſſigkeit, der Zellſaft, vorhanden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1814" xml:space="preserve">— Bald aber <lb/>gebiert dieſe Mutterzelle junge Zellen und zwar durch Knoſpung, <lb/>d. </s>
  <s xml:id="echoid-s1815" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s1816" xml:space="preserve">es zeigt ſich außen an der Wand der Zelle an irgend einer <lb/>Stelle eine kleine Hervorſtülpung, die immer größer wird und ſich <lb/>ſodann zu einer neuen Zelle geſtaltet. </s>
  <s xml:id="echoid-s1817" xml:space="preserve">Dieſe Tochterzelle ge-<lb/>biert nun in gleicher Weiſe eine Enkelzelle; </s>
  <s xml:id="echoid-s1818" xml:space="preserve">und meiſt um die <lb/>Zeit, wo der Enkel geboren wird, gebiert die Mutterzelle noch <lb/>eine zweite Tochterzelle, aus welcher wieder Enkel hervorgehen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1819" xml:space="preserve">Bald fangen auch die Enkel an, neue Junge zu gebären und <lb/>es entſteht vor den Augen des fleißigen Beobachters eine <lb/>große Reihe von Geſchlechtern, die alle noch mit der Mutter-<lb/>zelle zuſammenhängen und eine Art Gewächs bilden, das ſich <lb/>immer weiter und weiter vermehrt und vergrößert.</s>
  <s xml:id="echoid-s1820" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1821" xml:space="preserve">In der That giebt dies Veranlaſſung, die Hefe als eine <lb/>Pflanze, ſpecieller einen Pilz zu betrachten, die entſteht, wenn <lb/>eiweißhaltige Körper in Fäulnis übergehen, und die fortwächſt, <lb/>wenn man ein einziges Hefenkügelchen in eine Flüſſigkeit bringt, <lb/>die eiweißartigen Stoff enthält.</s>
  <s xml:id="echoid-s1822" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1823" xml:space="preserve">Der Bierbrauer, der ein wenig Hefe in ſeinen Gerſten-<lb/>malzaufguß bringt, thäte in dieſem Sinne nichts anderes als <lb/>ein Gärtner, der Pflanzenſamen in einen nahrungsreichen <lb/>Boden einlegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1824" xml:space="preserve">Die Hefe findet im Malzaufguß Pflanzen-<lb/>eiweiß, die Nahrung der Hefe, vor, und jedes Mutterkügelchen <lb/>Hefe gebiert darin neue Hefenkügelchen, die weitere Geſchlechter <lb/>gebären, und dieſes Wachſen oder richtiger Fortpflanzen und
<pb o="46" file="134" n="134"/>
Gebären geht ſo lange fort, bis aller eiweißhaltige Stoff aus <lb/>dem Malzaufguß in neue Hefe verwandelt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1825" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1826" xml:space="preserve">Hiernach iſt es erklärlich, daß der Bierbrauer am Ende <lb/>der Arbeit ſehr viel mehr Hefe vom Bier abnimmt, als er <lb/>dazu gethan hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s1827" xml:space="preserve">Dieſes Abnehmen der Hefe iſt gewiſſermaßen <lb/>die Ernte der Hefe; </s>
  <s xml:id="echoid-s1828" xml:space="preserve">denn dieſe Hefe wird ſorgfältig geſammelt <lb/>und dient dazu, in andern Körpern neue Hefe einzupflanzen <lb/>und wachſen zu laſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1829" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1830" xml:space="preserve">Aber man pflanzt nicht Hefe um der Hefe willen, ſondern <lb/>wegen der Veränderung, die das Wachſen der Hefe hervor-<lb/>bringt in der Flüſſigkeit, in welcher dieſes Wachſen vor <lb/>ſich geht.</s>
  <s xml:id="echoid-s1831" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1832" xml:space="preserve">Die wachſende Hefe, welche den Eiweißſtoff der Flüſſig-<lb/>keit an ſich zieht, bringt eine Veränderung der Flüſſigkeit <lb/>hervor, und dieſe Veränderung, die mit der Flüſſigkeit vor ſich <lb/>geht, nennt man Gährung.</s>
  <s xml:id="echoid-s1833" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1834" xml:space="preserve">Und worin beſteht dieſe Veränderung?</s>
  <s xml:id="echoid-s1835" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1836" xml:space="preserve">Sie beſteht, wie wir bald ſehen werden, darin, daß ſie <lb/>den Zuckerſtoff der Flüſſigkeit in Alkohol verwandelt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1837" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div58" type="section" level="1" n="50">
<head xml:id="echoid-head57" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVI. Was die Gährung für Veränderung</emph> <lb/><emph style="bf">hervorbringt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1838" xml:space="preserve">Die Veränderung, welche der Zucker erfährt, wenn man <lb/>in eine Zuckerauflöſung, alſo in Zuckerwaſſer, ein wenig Hefe <lb/>bringt, beſteht darin, daß ſich der Zucker in Spiritus um-<lb/>wandelt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1839" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1840" xml:space="preserve">Das Zuckerwaſſer wird nunmehr einen branntweinartigen <lb/>Geſchmack haben, und da man die wäſſerigen Teile der Löſung <lb/>durch das geeignete Verfahren, durch Deſtillation von dem <lb/>Spiritus trennen kann, ſo iſt man imſtande, aus Zucker reinen
<pb o="47" file="135" n="135"/>
Spiritus zu machen, den wir nunmehr immer Weingeiſt oder <lb/>Alkohol nennen wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1841" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1842" xml:space="preserve">Wie aber erklärt man ſich dieſe Verwandlung?</s>
  <s xml:id="echoid-s1843" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1844" xml:space="preserve">Die Erklärung iſt nur zum Teil vollſtändig zu geben und <lb/>dieſe iſt folgende:</s>
  <s xml:id="echoid-s1845" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1846" xml:space="preserve">Wir haben geſagt, daß der Zucker in Alkohol verwandelt <lb/>worden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1847" xml:space="preserve">Dies iſt eigentlich ſtreng genommen unrichtig. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1848" xml:space="preserve">Unterſucht man nämlich die Beſtandteile des Alkohols, ſo findet <lb/>man, daß ſie wohl übereinſtimmen in den Urſtoffen, die ſie <lb/>enthalten, aber nicht übereinſtimmen in den Portionen von <lb/>jedem einzelnen Urſtoff.</s>
  <s xml:id="echoid-s1849" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1850" xml:space="preserve">Wir wollen uns deutlicher ausdrücken.</s>
  <s xml:id="echoid-s1851" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1852" xml:space="preserve">Zucker und Alkohol ſtimmen in den Stoffen überein. </s>
  <s xml:id="echoid-s1853" xml:space="preserve">Die <lb/>Beſtandteile des Zuckers ſind Sauerſtoff, Kohlenſtoff und <lb/>Waſſerſtoff, und die Beſtandteile des Alkohols ſind gleichfalls <lb/>Sauerſtoff, Kohlenſtoff und Waſſerſtoff. </s>
  <s xml:id="echoid-s1854" xml:space="preserve">Allein der Alkohol <lb/>hat weniger Portionen von zweien dieſer Stoffe in ſich. </s>
  <s xml:id="echoid-s1855" xml:space="preserve">In <lb/>einem Pfund Alkohol iſt etwas mehr Waſſerſtoff als in einem <lb/>Pfund Zucker; </s>
  <s xml:id="echoid-s1856" xml:space="preserve">allein nur ſoviel mehr, als vom Kohlenſtoff <lb/>und Sauerſtoff weniger darin iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1857" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1858" xml:space="preserve">Die Chemiker haben, auf gute Gründe geſtützt, nachgewieſen, <lb/>daß, wenn Zucker in Gährung verſetzt wird, ſich aus demſelben <lb/>zwei neue Dinge bilden, das eine iſt Alkohol und das andere <lb/>iſt Kohlenſäure. </s>
  <s xml:id="echoid-s1859" xml:space="preserve">Da aber die Kohlenſäure aus Kohlenſtoff <lb/>und Sauerſtoff beſteht, ſo hat der Alkohol von dieſen zwei <lb/>Urſtoffen weniger in ſich als der Zucker. </s>
  <s xml:id="echoid-s1860" xml:space="preserve">Man gewinnt daher <lb/>aus einem Pfund Zucker nicht ein volles Pfund Alkohol, <lb/>ſondern es ſteigt aus der in Gährung begriffenen Zuckerlöſung <lb/>ein Gas auf, das nichts anderes als Kohlenſäure iſt, und zwar <lb/>bekommt man gerade um ſo viel weniger Alkohol heraus, als <lb/>die aufgeſtiegene Kohlenſäure wiegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1861" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1862" xml:space="preserve">Es iſt bekannt, daß in Kellern, wo viel Bier oder Wein <lb/>oder Zucker gährt, eine gefährliche Luftart ſich entwickelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1863" xml:space="preserve">Dieſe
<pb o="48" file="136" n="136"/>
Luftart iſt die Kohlenſäure, die wir ſchon näher kennen gelernt <lb/>haben, und ſie entſteht aus der Summe von Sauerſtoff und <lb/>Kohlenſtoff, die ſich von dem Zucker dieſer Flüſſigkeit trennt <lb/>und einen Reſt übrig läßt, der nunmehr Alkohol iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1864" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1865" xml:space="preserve">Es iſt alſo in dieſem Sinne ungenau, wenn wir geſagt <lb/>haben, daß ſich Zucker in Alkohol umwandelt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1866" xml:space="preserve">es iſt vielmehr <lb/>ſtrenge genommen eine Trennung, die hier vor ſich geht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1867" xml:space="preserve">Es <lb/>iſt ein Zerteilen des Zuckers in zwei verſchiedene Dinge, in <lb/>Alkohol und Kohlenſäure; </s>
  <s xml:id="echoid-s1868" xml:space="preserve">es iſt eine Zerſetzung, bei welcher <lb/>die Kohlenſäure aus der Flüſſigkeit in Blaſen aufſteigt und <lb/>ſich in die Luft verliert, während ſtatt des Zuckers ein Teil <lb/>ſeiner Beſtandteile als Alkohol in der Flüſſigkeit verbleibt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1869" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1870" xml:space="preserve">Allein dieſe Erklärung giebt nur das ſichtbare Reſultat des <lb/>merkwürdigen Vorganges; </s>
  <s xml:id="echoid-s1871" xml:space="preserve">keineswegs aber iſt hiermit der <lb/>hauptſächliche Grund desſelben erklärt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1872" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1873" xml:space="preserve">Und in der That gehört dieſe Erſcheinung zu den bisher <lb/>von der Wiſſenſchaft noch nicht gelöſten Rätſeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s1874" xml:space="preserve">Denn die <lb/>Frage iſt immer noch nicht gelöſt, woher es kommt, daß die <lb/>Hefe ſo merkwürdig ei@wirkt, und daß ſie im Gerſtenaufguß <lb/>z. </s>
  <s xml:id="echoid-s1875" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s1876" xml:space="preserve">das Pflanzeneiweiß in Hefe umwandelt und weshalb <lb/>dieſe Umwandlung den Zuckergehalt zerlegt und Kohlenſäure <lb/>und Alkohol daraus bildet?</s>
  <s xml:id="echoid-s1877" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1878" xml:space="preserve">Vielleicht könnte es einigen Leſern ſcheinen, als ob nicht <lb/>viel darauf ankäme, dieſes Rätſel zu löſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1879" xml:space="preserve">allein eine kurze <lb/>Betrachtung wird ſie ſofort von der außerordentlichen Wichtig-<lb/>keit der richtigen Löſung dieſes Rätſels überzeugen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1880" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1881" xml:space="preserve">Da die Hefe eine wirkliche Pflanze iſt, ſo iſt von höchſtem <lb/>Intereſſe, hier wahrzunehmen, daß man dieſelbe, wie es den <lb/>Anſchein hat, künſtlich machen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s1882" xml:space="preserve">Dies gelingt aber bei <lb/>keiner Pflanze der Welt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1883" xml:space="preserve">Eine Pflanze wächſt immer nur <lb/>aus dem Samen oder einer Zelle einer bereits vorhergegangenen <lb/>Pflanze. </s>
  <s xml:id="echoid-s1884" xml:space="preserve">Oberflächliche Beobachtung könnte zu der Annahme <lb/>verleiten, daß die Hefe neu geſchaffen wird, ſobald man eiweiß-
<pb o="49" file="137" n="137"/>
haltige Stoffe in Fäulnis übergehen läßt, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s1885" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s1886" xml:space="preserve">daß man aus <lb/>einem Ding, das keine Pflanze iſt, eine Pflanze herſtellen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s1887" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1888" xml:space="preserve">Dies aber iſt nun ſo ganz eine der Natur der Pflanzen-<lb/>welt widerſprechende Thatſache, daß man vollen Grund hatte, <lb/>dieſer Annahme zu mißtrauen, und deshalb haben Naturforſcher <lb/>lange der Hefe einen ganz anderen Urſprung angewieſen und <lb/>ihre Wirkung und Vermehrung ganz anders erklärt, als die <lb/>einer pflanzlichen Fortentwicklung.</s>
  <s xml:id="echoid-s1889" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1890" xml:space="preserve">Die neuen Unterſuchungen indes haben es jetzt unzweifel-<lb/>haft feſtgeſtellt, daß die Hefe wirklich eine Pflanze iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1891" xml:space="preserve">Die <lb/>Keime für die Hefenpflanze aber ſind, wie zahlloſe andere Keime, <lb/>u. </s>
  <s xml:id="echoid-s1892" xml:space="preserve">a. </s>
  <s xml:id="echoid-s1893" xml:space="preserve">auch viele Krankheitskeime, fortwährend in der Luft vor-<lb/>handen und dringen mit derſelben zu den gährenden Flüſſig-<lb/>keiten, in denen ſie ſich weiter entwickeln und wachſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1894" xml:space="preserve">Wenn <lb/>man dieſen Keimen, wie namentlich Paſteur (1821—1895) <lb/>nachgewieſen hat, auf paſſende Weiſe den Zutritt verſchließt, <lb/>ſo tritt in der Flüſſigkeit keine Gährung auf, und es entwickelt <lb/>ſich in ihr keine Hefe.</s>
  <s xml:id="echoid-s1895" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1896" xml:space="preserve">Dieſe wenigen Worte, die freilich nicht ausreichen, die <lb/>geiſtvollen Forſchungen über die Natur der Hefe auch nur ent-<lb/>fernt anzudeuten, werden jedenfalls genügen, dem Leſer zu <lb/>zeigen, wie wichtig die Frage über die Hefe iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1897" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div59" type="section" level="1" n="51">
<head xml:id="echoid-head58" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVII. Die Bildung von Met, Rum, Wein</emph> <lb/><emph style="bf">und Bier.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1898" xml:space="preserve">Indem nun die Hefe jede Art von zuckerhaltiger Flüſſig-<lb/>keit in eine weingeiſthaltige umwandelt, nennt man dieſe Art <lb/>von Gährung die geiſtige Gährung, und ſie iſt es, die bei der <lb/>Bereitung des Mets, des Rums, des Weins und des Biers <lb/>u. </s>
  <s xml:id="echoid-s1899" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s1900" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s1901" xml:space="preserve">eine Hauptrolle ſpielt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1902" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1903" xml:space="preserve">Nimmt man ſtatt Zuckerwaſſer ein wenig Honigwaſſer und</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1904" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s1905" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s1906" xml:space="preserve">Volksbücher VII.</s>
  <s xml:id="echoid-s1907" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="50" file="138" n="138"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1908" xml:space="preserve">verſetzt es durch Hefe in Gährung, ſo entſteht daraus bei <lb/>einem gewiſſen Punkt der Gährung ein halb ſcharfes, halb <lb/>ſüßes Getränk, das den Namen Met hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s1909" xml:space="preserve">— Preßt man den <lb/>ſüßen Saft von Äpfeln, Johannisbeeren, Stachelbeeren, Kirſchen <lb/>u. </s>
  <s xml:id="echoid-s1910" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s1911" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s1912" xml:space="preserve">aus und läßt ihn in der Wärme ſtehen, ſo entwickeln <lb/>ſich hieraus geiſtige Getränke, die unter dem Namen Apfelwein, <lb/>Iohannisbeerwein oder Kirſchwaſſer bekannt genug ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s1913" xml:space="preserve">Hier <lb/>braucht man nicht Hefe hinzuzuthun, weil Hefekeime ja überall <lb/>in der Luft ſchon zu Tauſenden und Abertauſenden vorhanden <lb/>ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s1914" xml:space="preserve">es bildet ſich alſo hier ſchon von ſelbſt Hefe aus, die <lb/>das Geſchäft der Gährung und Umwandlung der Flüſſigkeit <lb/>vollzieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1915" xml:space="preserve">Bei aller dieſer Gährung zerfällt aber immer der <lb/>Zucker in zwei Beſtandteile, in Alkohol, der in der Flüſſigkeit <lb/>bleibt, und in Kohlenſäure, welche in Form von Blaſen aus <lb/>der Flüſſigkeit aufſteigt und ſich mit der Luft miſcht.</s>
  <s xml:id="echoid-s1916" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1917" xml:space="preserve">Ganz in gleicher Weiſe verfährt man bei der Fabrikation <lb/>von Rum, indem man hierzu — wenigſtens zu den vorzüg-<lb/>lichſten Sorten — den Saft der Zuckerpflanze, des Zuckerrohrs <lb/>in Gährung verſetzt und eine möglichſt reine geiſtige Ver-<lb/>wandlung derſelben hervorzubringen ſucht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1918" xml:space="preserve">Für die Herſtellung <lb/>von Arrak wird Reis verwendet.</s>
  <s xml:id="echoid-s1919" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1920" xml:space="preserve">Obwohl nun das eigentliche Weſen aller geiſtigen Getränke <lb/>eines und dasſelbe iſt und alle ihren geiſtigen Gehalt eben <lb/>nur der Zerſetzung von Zucker in Weingeiſt und Kohlenſäure <lb/>zu verdanken haben, ſo beſitzen doch die verſchiedenen Früchte <lb/>jede für ſich eine beſondere Art und Eigenſchaft des Geſchmackes <lb/>und der Wirkung, die ſich dem geiſtigen Getränk, das aus <lb/>ihnen bereitet wird, mitteilt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1921" xml:space="preserve">— Es iſt dies von der Wiſſen-<lb/>ſchaft noch nicht vollkommen aufgeklärt, da das, was den Ge-<lb/>ſchmack und die Wirkung von Getränken betrifft, nicht direkt dem <lb/>Bereiche der Chemie angehört; </s>
  <s xml:id="echoid-s1922" xml:space="preserve">nur die Erfahrung hat gelehrt, <lb/>daß jeder Sorte dieſer Getränke eine Eigentümlichkeit zukommt, <lb/>die ſie vor anderen auszeichnet.</s>
  <s xml:id="echoid-s1923" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="51" file="139" n="139"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1924" xml:space="preserve">Die hauptſächlichſten und wichtigſten geiſtigen Gährungen <lb/>ſind und bleiben die des Weins und des Biers.</s>
  <s xml:id="echoid-s1925" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1926" xml:space="preserve">Beim Wein iſt es der Zucker der Weintraube, der in <lb/>geiſtige Gährung verſetzt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s1927" xml:space="preserve">Die Hauptſache bei dieſer <lb/>Gährung iſt, daß ſie langſam vor ſich geht, weshalb man den <lb/>Saft der Weintraube, den Moſt, in Fäſſern nach dem Keller <lb/>bringt, wo es ſo kühl iſt, daß die Gährung erſt nach einigen <lb/>Monaten vollendet iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1928" xml:space="preserve">Der Wein hat in dieſem Falle keine <lb/>Oberhefe, ſondern die Hefe ſetzt ſich am Boden feſt und wird, <lb/>wie wir bereits erwähnt, die Unterhefe genannt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1929" xml:space="preserve">Wird der <lb/>junge Wein in Flaſchen gebracht, ſo verbeſſert er ſich durch <lb/>eine Nachgährung. </s>
  <s xml:id="echoid-s1930" xml:space="preserve">Geſchieht dieſe Nachgährung in verkorkten <lb/>Flaſchen, ſo bleibt die Kohlenſäure im Wein und bildet die <lb/>brauſenden Weinſorten, den Champagner, und da die Kohlen-<lb/>ſäure ſich nicht entfernen konnte, ſo bleibt auch noch immer <lb/>ein Theil des Zuckers unzerſetzt, woher der Champagner ſeinen <lb/>ſüßen Geſchmack, ſeinen geringeren Gehalt an Weingeiſt und <lb/>ſeinen Reichtum an Kohlenſäure hat, die das Knallen beim <lb/>Öffnen, das Ziſchen und Schäumen beim Eingießen und den <lb/>prickelnden, angenehmen Geſchmack beim Trinken verurſachen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1931" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1932" xml:space="preserve">Wird aber auch die Nachgährung in offenen Flaſchen ab-<lb/>gewartet, ſo geſchieht ſie doch ſo langſam, daß der Wein erſt <lb/>nach und nach ſeinen Weingeiſt entwickelt, und wenn dann die <lb/>Flaſche verkorkt und zur Ablagerung in den Keller gebracht <lb/>wird, ſo ſetzt ſich die noch nicht ganz vollendete Gährung <lb/>äußerſt langſam fort, und dies giebt dem Weine ſeinen feurigen <lb/>Geſchmack, wenn er recht alt geworden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1933" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1934" xml:space="preserve">Obgleich es wiſſenſchaftlich noch nicht vollkommen erklärt <lb/>iſt, ſo ſteht doch ſoviel feſt, daß es in den meiſten Fällen ein <lb/>weſentlicher Unterſchied iſt, ob man eine chemiſche Veränderung <lb/>langſam oder ſchnell vor ſich gehen läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1935" xml:space="preserve">Dieſer Unterſchied <lb/>zeigt ſich ſo recht beim Weine. </s>
  <s xml:id="echoid-s1936" xml:space="preserve">Läßt man ihn ſchnell voll-<lb/>kommen ausgähren und ſucht den Zucker in kurzer Zeit voll-
<pb o="52" file="140" n="140"/>
ſtändig in Weingeiſt und Kohlenſäure zu verwandeln, ſo giebt <lb/>dies nur einen ſchlechten, ſchnell in Eſſigſäure übergehenden <lb/>Wein. </s>
  <s xml:id="echoid-s1937" xml:space="preserve">Läßt man aber all’ das langſam vor ſich gehen und <lb/>namentlich ſo langſam, wie dies bei Weinen gebräuchlich iſt, <lb/>ſo verbeſſert ſich der Wein fortwährend und erlangt jenen <lb/>hohen Wert, der am alten Wein ſprichwörtlich geworden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1938" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div60" type="section" level="1" n="52">
<head xml:id="echoid-head59" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVIII. Die Fabrikation des Bieres in ſeinen</emph> <lb/><emph style="bf">verſchiedenen Sorten. — Die Bildung des Äthers</emph> <lb/><emph style="bf">aus Alkohol.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1939" xml:space="preserve">Bei der Fabrikation des Bieres ſpielt ebenfalls die Zer-<lb/>legung des Zuckers in Kohlenſäure und Weingeiſt die Haupt-<lb/>rolle, und wie man dieſe vor ſich gehen läßt, ob langſam oder <lb/>ſchnell, davon hängt es ebenfalls ab, welche Sorten von Bier <lb/>man erhält.</s>
  <s xml:id="echoid-s1940" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1941" xml:space="preserve">Der Brauer ſtellt ſich zuerſt die Aufgabe, das Stärkemehl <lb/>der Gerſte in Zucker zu verwandeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s1942" xml:space="preserve">Er erreicht dies auf dem <lb/>bereits erwähnten Wege, indem er das Gerſtenmalz mit heißem <lb/>Waſſer überſchüttet und einige Zeit an einem warmen Orte <lb/>ſtehen läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1943" xml:space="preserve">Der Malzaufguß wird bei dieſem Vorgang ſüß, <lb/>indem ſich, wie bereits angegeben, Dextrin und Zucker aus <lb/>dem Stärkemehl bilden. </s>
  <s xml:id="echoid-s1944" xml:space="preserve">Jetzt erſt, nachdem dieſe erſte Ver-<lb/>wandlung vor ſich gegangen, jetzt erſt kann die zweite chemiſche <lb/>Aufgabe vorgenommen werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s1945" xml:space="preserve">Zu dieſem Zwecke wird die <lb/>ſüße Flüſſigkeit, die Würze genannt wird, durchgegoſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1946" xml:space="preserve">Das <lb/>Malz, das ſeinen Dienſt geleiſtet hat, wird wieder daraus ent-<lb/>fernt und die Flüſſigkeit nun eingekocht, bis ſie kräftig und klar <lb/>genug geworden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1947" xml:space="preserve">Läßt man ſie dann abkühlen bis auf <lb/>etwa 25 Grad und bringt etwas Hefe hinein, ſo beginnt die <lb/>zweite chemiſche Umwandlung, die geiſtige Gährung, bei welcher <lb/>ſich aus dem Zucker Alkohol und Kohlenſäure bildet.</s>
  <s xml:id="echoid-s1948" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="53" file="141" n="141"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1949" xml:space="preserve">Auf ſolche Weiſe geſchieht die Fabrikation der ſüßen Bier-<lb/>ſorten, die in wenig Tagen vollendet iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1950" xml:space="preserve">das ſüße Bier iſt <lb/>noch ſo zuckerhaltig, daß die Gährung noch in den Flaſchen, <lb/>die man verkorkt, ſich fortſetzt und daher ein Getränk liefert, <lb/>dem der Zucker, etwas Weingeiſt und eine Portion Kohlen-<lb/>ſäure ihren Geſchmack geben. </s>
  <s xml:id="echoid-s1951" xml:space="preserve">— Die gewöhnlichen Bitterbiere <lb/>erhalten ihren bittern, den Magen ſtärkenden Nebengeſchmack <lb/>durch einen Zuſatz von Hopfen oder andern Kräutern, die <lb/>ähnliche Wirkung hervorbringen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1952" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1953" xml:space="preserve">Die ſtärkeren Bierſorten, wie die ganzen bairiſchen Biere, <lb/>entſtehen durch die langſame Gährung und zwar an kühlen <lb/>Orten, wie in Kellereien, die beſonders hierzu gebaut werden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1954" xml:space="preserve">Die Würze wird zu dieſem Zwecke bis auf etwa acht Grad <lb/>abgekühlt, und ſodann in Fäſſern in die Keller gebracht, wo-<lb/>ſelbſt es möglich kühl iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1955" xml:space="preserve">Hier geſchieht nun die Gährung <lb/>außerordentlich langſam und wird, wenn man ein recht gutes <lb/>Bier haben will, bis auf mehrere Monate hin verzögert, wo-<lb/>durch das Bier arm an Zucker, aber reicher an Alkohol und <lb/>Kohlenſäure wird, und deshalb auch eine berauſchende Wirkung <lb/>ausüben kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s1956" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1957" xml:space="preserve">Dieſes Bier verliert ſeine Kohlenſäure nicht ſo leicht, hat <lb/>nicht mehr Spuren von Hefe in ſich, da ſich dieſe als Unter-<lb/>hefe am Boden anſetzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1958" xml:space="preserve">Es braucht nicht auf Flaſchen ge-<lb/>zogen zu werden, indem eine Nachgährung nicht nötig iſt, <lb/>und iſt am beliebteſten, wenn es friſch vom Faß kredenzt wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s1959" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1960" xml:space="preserve">Daß das bairiſche Bier und alle ſeine Abarten teurer <lb/>ſind als das gewöhnliche Bier, rührt nicht daher, daß es <lb/>teurere Stoffe in ſich hat, ſondern liegt hauptſächlich darin, <lb/>daß der Brauer das Kapital lange darin ſtehen laſſen muß, <lb/>ehe ſein Bier trinkbar wird, und daß die Kellereien und Loka-<lb/>litäten es verteuern.</s>
  <s xml:id="echoid-s1961" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1962" xml:space="preserve">Es iſt ein Leichtes, das Bier ſo lange gähren zu laſſen, <lb/>daß es ſehr reich an Alkohol wird und außerordentlich be-
<pb o="54" file="142" n="142"/>
rauſchend wirkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1963" xml:space="preserve">Der Wert des Bieres wird aber dadurch <lb/>nicht erhöht; </s>
  <s xml:id="echoid-s1964" xml:space="preserve">im Gegenteil iſt der Genuß von Bier, das zuviel <lb/>Alkohol enthält, nicht ratſam. </s>
  <s xml:id="echoid-s1965" xml:space="preserve">Die bairiſchen Biere enthalten <lb/>meiſthin 5—8 Prozent Alkohol, was ſchon als das höchſte <lb/>Maß angeſehen werden kann, bis zu welchem die Getränke <lb/>förderlich ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s1966" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1967" xml:space="preserve">Wir haben nun die Verwandlungsreihen verfolgt, die das <lb/>Stärkemehl der Pflanzen durchlaufen kann, und die alle ein <lb/>Ergebnis der chemiſchen Zerſetzung ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s1968" xml:space="preserve">Es ſchließt aber die <lb/>Reihe mit dem Alkohol nicht ab, ſondern ſie verzweigt ſich <lb/>nach zwei Richtungen hin, indem man Alkohol beliebig in <lb/>Äther oder Eſſig verwandeln kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s1969" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1970" xml:space="preserve">Die Verwandlung des Alkohols in Äther iſt wiſſenſchaft-<lb/>lich von beſonders hohem Intereſſe, hat aber in der praktiſchen <lb/>Welt weniger Bedeutung, ſo daß wir uns mit wenigen An-<lb/>deutungen hierbei begnügen wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1971" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1972" xml:space="preserve">Der Äther wird durch Vermiſchung von Alkohol und <lb/>Schwefelſäure hergeſtellt, bei welcher Miſchung nicht etwa die <lb/>Schwefelſäure ein Beſtandteil des Äthers wird, ſondern nur <lb/>die Aufgabe hat, dem Alkohol etwas von ſeinem Waſſerſtoff <lb/>und Sauerſtoff zu entziehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1973" xml:space="preserve">Hierdurch kann man eine Flüſſig-<lb/>keit herſtellen, welche den Namen “Schwefeläther” führt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1974" xml:space="preserve">Eine <lb/>Miſchung von Schwefeläther und Alkohol bildet auch den <lb/>Hauptbeſtandteil der bekannten Hoffmanns – Tropfen, deren <lb/>Geruch wohl jedermann kennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1975" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1976" xml:space="preserve">Nach dieſen Andeutungen über den Äther wollen wir nun-<lb/>mehr zur Verwandlung des Alkohols in den bekannteren Stoff, <lb/>in Eſſig, übergehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1977" xml:space="preserve">—</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div61" type="section" level="1" n="53">
<head xml:id="echoid-head60" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIX. Die Verwandlung des Alkohols in Eſſig.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1978" xml:space="preserve">Kein Zweig der Fabrikation iſt durch die Chemie ſo außer-<lb/>ordentlich erleichtert worden, als die Fabrikation des Eſſigs.</s>
  <s xml:id="echoid-s1979" xml:space="preserve">
<pb o="55" file="143" n="143"/>
Während die Chemie bei der Erzeugung von Zucker, von <lb/>Alkohol und Bier nur Verbeſſerungen der Methode anzugeben <lb/>brauchte, hat ſie in der Eſſig-Fabrikation ein ganz neues Ver-<lb/>fahren eingeführt, und mit deſſen Hilfe iſt man jetzt imſtande, <lb/>ein Fabrikat in wenig Stunden zu erzeugen, zu dem man <lb/>ſonſt Wochen und Monate Zeit bedurfte.</s>
  <s xml:id="echoid-s1980" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1981" xml:space="preserve">Schon die gewöhnliche Erfahrung wird jeden belehrt haben, <lb/>daß Bier in warmen Tagen ſauer wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s1982" xml:space="preserve">Fragt man ſich, was <lb/>in dem Gemiſch, welches im Bier enthalten, in Säure über-<lb/>gegangen iſt, ſo findet man durch Verſuche, daß es der Alkohol <lb/>des Bieres iſt, der ſich in eigentümlicher Weiſe in Eſſig ver-<lb/>wandelt hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s1983" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1984" xml:space="preserve">Man ſollte nun glauben, daß, wenn der Alkohol des <lb/>Bieres die ganze Flüſſigkeit ſauer macht, der bloße Alkohol <lb/>um ſo ſchneller in der Wärme zu Eſſig werden müßte; </s>
  <s xml:id="echoid-s1985" xml:space="preserve">allein <lb/>dem iſt nicht ſo. </s>
  <s xml:id="echoid-s1986" xml:space="preserve">Es ſind zu dieſer Umwandlung außer der <lb/>Wärme noch zwei Umſtände nötig, um ſie zu vollſtrecken und <lb/>wenn dieſe beiden Umſtände nicht zuſammentreffen, ſo kann die <lb/>Verwandlung nicht vor ſich gehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1987" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1988" xml:space="preserve">Dieſe zwei Umſtände ſind folgende. </s>
  <s xml:id="echoid-s1989" xml:space="preserve">Erſtens muß in der <lb/>alkoholiſchen Flüſſigkeit, mag ſie nun Bier, Wein oder Brannt-<lb/>wein heißen, ein Stoff vorhanden ſein, der das Beſtreben hat, <lb/>den Sauerſtoff der Luft an ſich zu ziehen und ihn dann dem <lb/>Alkohol abzugeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s1990" xml:space="preserve">Zweitens muß die Flüſſigkeit mit der Luft <lb/>in Berührung kommen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1991" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1992" xml:space="preserve">Im Branntwein iſt kein Stoff vorhanden, der Sauerſtoff <lb/>aus der Luft anzieht, und deshalb kann man ihn in der Wärme <lb/>offen ſtehen laſſen, ohne daß er in Eſſig umgewandelt werden <lb/>wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s1993" xml:space="preserve">Im Bier iſt jener Stoff wohl vorhanden. </s>
  <s xml:id="echoid-s1994" xml:space="preserve">In jedem <lb/>Bier und Wein iſt immer noch ein wenig Hefe vorhanden, die, <lb/>wenn es warm wird, die Eigenſchaft hat, Sauerſtoff aus der <lb/>Luft an ſich zu ziehen und ihn dem Alkohol der Flüſſigkeit <lb/>abzugeben, und deshalb wird offenſtehendes, der Luft zugäng-
<pb o="56" file="144" n="144"/>
liches Bier oder dergleichen Wein ſauer und mit der Zeit <lb/>immer ſaurer, bis aller Alkohol der Flüſſigkeit in Eſſigſäure <lb/>umgewandelt worden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1995" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1996" xml:space="preserve">Eſſigſäure iſt alſo Alkohol, der eine bedeutende Portion <lb/>Sauerſtoff in ſich aufgenommen und dafür eine beſtimmte <lb/>Menge Waſſerſtoff abgegeben hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s1997" xml:space="preserve">aber der Alkohol nimmt <lb/>den Sauerſtoff nicht unmittelbar auf, ſondern er bedarf ge-<lb/>wiſſermaßen eines Vermittlers, eines Kommiſſionärs, der für <lb/>ihn den Sauerſtoff erſt aus der Luft bezieht und ihm dann <lb/>denſelben überläßt, und dieſe Vermittlerrolle ſpielt im Bier <lb/>und Wein die kleine Spur von Hefe, die darin enthalten iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1998" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1999" xml:space="preserve">So ſonderbar es auch dem Unkundigen erſcheinen mag, daß <lb/>es in der Chemie ſolche Kommiſſionäre geben ſoll, die gewiſſe <lb/>Dienſte zum Nutzen anderer Stoffe verrichten, ſo wahr iſt doch <lb/>dieſe Thatſache und ſo leicht läßt ſie ſich in vielen Fällen <lb/>nachweiſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2000" xml:space="preserve">— So iſt z. </s>
  <s xml:id="echoid-s2001" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s2002" xml:space="preserve">bei der Fabrikation der Schwefel-<lb/>ſäure ein ſolcher Vermittler nötig, da bei der Verbrennung <lb/>des Schwefels ſich zwar leicht ſchweflige Säure, eine luftartige, <lb/>halbfertige Schwefelſäure, bildet, aber nicht wirkliche, flüſſige <lb/>Schwefelſäure, wie man ſie braucht. </s>
  <s xml:id="echoid-s2003" xml:space="preserve">Um aus ſchwefliger <lb/>Säure wirkliche Schwefelſäure zu machen, dazu gehört eine <lb/>ſtärkere Portion Sauerſtoff, als der Schwefel beim einfachen <lb/>Verbrennen aufnehmen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s2004" xml:space="preserve">Man bedient ſich deshalb der <lb/>Salpeterſäure als eines Kommiſſionärs; </s>
  <s xml:id="echoid-s2005" xml:space="preserve">denn die Salpeter-<lb/>ſäure, die ſehr viel Sauerſtoff enthält, giebt dieſen außer-<lb/>ordentlich leicht an die ſchweflige Säure ab, aber in demſelben <lb/>Maße, wie ſie ihn abgiebt, holt ſie ſich friſchen Sauerſtoff <lb/>aus der Luft und ergänzt ſich ihren Verluſt, ſo daß gewiſſer-<lb/>maßen die Salpeterſäure ein ununterbrochenes Kommiſſions-<lb/>geſchäft verrichtet, das heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s2006" xml:space="preserve">immerfort Sauerſtoff aus der <lb/>Luft nimmt, nicht um ihn zu behalten, ſondern um ihn der <lb/>ſchwefligen Säure zuzuführen, die dadurch fertige Schwefel-<lb/>ſäure wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s2007" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="57" file="145" n="145"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2008" xml:space="preserve">Wer Gelegenheit hat, eine Schwefelſäure-Fabrik zu be-<lb/>ſuchen, der unterlaſſe nicht, ſich die Einrichtung zeigen zu <lb/>laſſen und vergeſſe auch nicht, ſich die Salpeterſäure anzuſehen, <lb/>die dieſen getreulichen Kommiſſionsdienſt pünktlicher als alle <lb/>Kommiſſionäre der Welt verrichtet.</s>
  <s xml:id="echoid-s2009" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2010" xml:space="preserve">Ein gleiches Kommiſſionsgeſchäft führt die Spur von Hefe <lb/>aus, die im Bier vorhanden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2011" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2012" xml:space="preserve">Die Hefe zieht Sauerſtoff aus der Luft an, was der Al-<lb/>kohol ſelbſt nicht thut; </s>
  <s xml:id="echoid-s2013" xml:space="preserve">aber der Alkohol hat die Eigenſchaft, <lb/>der angeſäuerten Hefe den Sauerſtoff zu entziehen, und ihn <lb/>ſelber in ſich aufzunehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2014" xml:space="preserve">Die Hefe wird dadurch ihren <lb/>Sauerſtoff los und wiederum fähig, neuen Sauerſtoff aufzu-<lb/>nehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2015" xml:space="preserve">Sie thut es, wird wiederum vom Alkohol ihres <lb/>Sauerſtoffes beraubt und wird wiederum fähig ſich neuen <lb/>Sauerſtoff zu holen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2016" xml:space="preserve">und ſo geht dies Kommiſſionsgeſchäft <lb/>immerfort, bis endlich aller Alkohol zu Eſſigſäure geworden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2017" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2018" xml:space="preserve">Wenn nun auch die Spur von Hefe im Bier ein ſehr <lb/>getreuer Kommiſſionär iſt, ſo geht doch das Kommiſſions-<lb/>geſchäft, wie ſich denken läßt, für die Eſſigfabrikation viel zu <lb/>langſam, und deshalb wollen wir im nächſten Artikel die beſſeren <lb/>Kommiſſionäre kennen lernen, durch die das Geſchäft in einer <lb/>unglaublichen Schnelligkeit betrieben wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s2019" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div62" type="section" level="1" n="54">
<head xml:id="echoid-head61" xml:space="preserve"><emph style="bf">XX. Die ſchnellere Verwandlung des Alkohols</emph> <lb/><emph style="bf">in Eſſig.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2020" xml:space="preserve">Die Umwandlung des Weingeiſtes in Eſſig geſchieht ſchon <lb/>ſchneller als beim gewöhnlichen Sauerwerden des Bieres oder <lb/>Weins, ſobald man zu dem verdünnten Weingeiſt einen bereits <lb/>eſſigſauren Stoff bringt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2021" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2022" xml:space="preserve">Wenn man etwas Branntwein in ein Glas gießt, ihn mit <lb/>Waſſer verdünnt, und ein wenig Sauerteig oder einen Streifen
<pb o="58" file="146" n="146"/>
Brot, das mit Eſſig befeuchtet iſt, hineinſtellt, ſo verrichtet <lb/>dieſe angeſäuerte Zuthat gleichfalls die Vermittelung, von der <lb/>wir bereits geſprochen haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s2023" xml:space="preserve">Der Alkohol des Branntweins <lb/>entzieht dem Sauerteig oder dem Brot den Sauerſtoff, während <lb/>dieſes immer friſchen Sauerſtoff aus der Luft anzieht und <lb/>dieſes Übertragen des Sauerſtoffs der Luft auf den Alkohol <lb/>geht ſo lange fort, bis aller Alkohol in Eſſigſäure umgewandelt <lb/>worden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2024" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2025" xml:space="preserve">Zwar iſt dies in aller Strenge nicht ganz ſo. </s>
  <s xml:id="echoid-s2026" xml:space="preserve">Nicht der <lb/>ganze Alkohol wird Eſſig, ſondern der Alkohol verliert durch <lb/>dieſen Vorgang etwas von ſeinen Beſtandteilen, und der Reſt <lb/>wird Eſſig. </s>
  <s xml:id="echoid-s2027" xml:space="preserve">Dieſer Verluſt beſteht darin, daß der Alkohol <lb/>einen Teil ſeines Waſſerſtoffs abgiebt und zwar dem hinzu-<lb/>tretenden Sauerſtoff abgiebt, damit dieſer mit dem Waſſerſtoff <lb/>Waſſer bildet. </s>
  <s xml:id="echoid-s2028" xml:space="preserve">Hiernach entſteht eigentlich aus einem Pfund <lb/>Alkohol eine Flüſſigkeit, die mehr wiegt als ein Pfund. </s>
  <s xml:id="echoid-s2029" xml:space="preserve">Das <lb/>Waſſer und die Eſſigſäure zuſammen betragen auch dem Maße <lb/>nach mehr, als der Alkohol betragen hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s2030" xml:space="preserve">denn es iſt Sauer-<lb/>ſtoff aus der Luft hinzugekommen, der mit dem Waſſerſtoff <lb/>des Alkohols Waſſer gebildet hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s2031" xml:space="preserve">aber gerade darum, weil <lb/>der Alkohol etwas von ſeinen Beſtandteilen verlieren mußte, <lb/>um Eſſigſäure zu werden, darum iſt aus dem Pfund Alkohol <lb/>nicht ein Pfund reine Eſſigſäure geworden.</s>
  <s xml:id="echoid-s2032" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2033" xml:space="preserve">Reine Eſſigſäure iſt daher auch viel teurer als reiner <lb/>Alkohol; </s>
  <s xml:id="echoid-s2034" xml:space="preserve">unſer gewöhnlicher Eſſig aber iſt darum ſo bedeutend <lb/>billiger, weil er aus ſehr wenig reiner Eſſigſäure und ſehr viel <lb/>Waſſer beſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s2035" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2036" xml:space="preserve">Seitdem aber der Fortſchritt der Wiſſenſchaft den eigent-<lb/>lichen Hergang bei der Eſſigbildung kennen lehrte, iſt die <lb/>Fabrikation des Eſſigs nicht nur außerordentlich leicht, ſondern <lb/>ſie geſchieht auch ungemein ſchnell, und deshalb iſt jetzt Eſſig <lb/>unvergleichlich billiger als früher.</s>
  <s xml:id="echoid-s2037" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2038" xml:space="preserve">Die Schnell-Eſſigfabrikation gehört zu den intereſſanteſten
<pb o="59" file="147" n="147"/>
und verbreitetſten Fabrikationszweigen, weil man zu derſelben <lb/>außerordentlich wenig Einrichtungen braucht. </s>
  <s xml:id="echoid-s2039" xml:space="preserve">Die ganze <lb/>Fabrik beſteht eigentlich in einer einzigen To@ne, an deren <lb/>einem Ende man ordinären Branntwein mit viel Waſſer ver-<lb/>dünnt eingießt und an deren anderem Ende Eſſig ausfließt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2040" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2041" xml:space="preserve">Um zu zeigen, wa@ in dieſer Tonne vorgeht, wollen wir <lb/>hier eine kurze Schilderung derſelben verſuchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2042" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2043" xml:space="preserve">Die aufrecht ſtehende Tonne hat oben einen Boden, der <lb/>viele Löcher hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s2044" xml:space="preserve">Durch jedes dieſer Löcher wird ein Stückchen <lb/>Bindfaden geſteckt, woran ein Knoten gemacht wird, damit der <lb/>Bindfaden nicht durchfällt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2045" xml:space="preserve">Wird nun auf dieſen Boden ver-<lb/>dünnter Branntwein gegoſſen, ſo fließt er an den Bindfäden <lb/>langſam tropfenweiſe hinein in die Tonne.</s>
  <s xml:id="echoid-s2046" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2047" xml:space="preserve">Inwendig aber iſt die Tonne mit Hobelſpänen aus Büchen-<lb/>holz gefüllt, welche einige Zeit in Eſſig gelegt waren; </s>
  <s xml:id="echoid-s2048" xml:space="preserve">der <lb/>verdünnte Branntwein alſo fließt hier in der Tonne auf die <lb/>angeſäuerten Hobelſpäne, und der Alkohol des Branntweins, <lb/>der an den Hobelſpänen entlang fließt, verwandelt ſich auf dem <lb/>weiten Wege, den er langſam von Span zu Span durchwandert, <lb/>in Eſſigſäure. </s>
  <s xml:id="echoid-s2049" xml:space="preserve">Damit aber dies vor ſich gehen kann, muß, <lb/>wie wir bereits wiſſen, die Luft freien Zutritt haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s2050" xml:space="preserve">Zu <lb/>dieſem Zwecke ſind in der Nähe des untern und obern Bodens <lb/>der Tonne Löcher eingebohrt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2051" xml:space="preserve">Durch den chemiſchen Vorgang <lb/>entſteht in der Tonne von ſelber ein hoher Grad von Wärme, <lb/>ſo daß die Luft, die in der Tonne warm wird, zu den oberen <lb/>Löchern ausſtrömt, während durch die untern Löcher friſche <lb/>Luft einſtrömt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2052" xml:space="preserve">Es entſteht demnach innerhalb der Tonne <lb/>eine Luftſtrömung, ähnlich wie die in unſern Lampen-Cylindern, <lb/>wo auch oben heiße Luft ausſtrömt und unten kalte Luft ein-<lb/>ſtrömt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2053" xml:space="preserve">Dieſe friſche Luft aber bringt den Hobelſpänen immer <lb/>friſchen Sauerſtoff zu und giebt immer mehr Veranlaſſung, <lb/>die Eſſigſäure zu bilden.</s>
  <s xml:id="echoid-s2054" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2055" xml:space="preserve">So langt der Alkohol, der oben auf den Boden der Tonne
<pb o="60" file="148" n="148"/>
gegoſſen wird, um langſam an den Schnüren hinabzufließen, <lb/>durch den weiten Weg, den er tropfend-fließend von Hobelſpan <lb/>zu Hobelſpan macht, und, von dem friſchen Sauerſtoff der Luft <lb/>ſtets umweht, in verwandelter Natur auf dem untern Boden <lb/>der Tonne an, und durch einen Hahn, der daſelbſt angebracht <lb/>iſt, fließt er als Eſſig aus.</s>
  <s xml:id="echoid-s2056" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2057" xml:space="preserve">Man hat es nicht nötig, die Hobelſpäne wiederum in <lb/>Eſſig zu legen, denn ſie tränken ſich von ſelber immerfort mit <lb/>friſchem Eſſig, der in ihnen entſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s2058" xml:space="preserve">Die Fabrik alſo ergänzt <lb/>ſich immer ſelber und wenn nur jemand dafür ſorgt, daß <lb/>oben der Alkohol aufgegoſſen und unten der Eſſig fortgebracht <lb/>wird, ſo iſt die Fabrik in ununterbrochenem Gange. </s>
  <s xml:id="echoid-s2059" xml:space="preserve">—</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div63" type="section" level="1" n="55">
<head xml:id="echoid-head62" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXI. Die Bedeutung der Chemie als Wiſſenſchaft.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2060" xml:space="preserve">Bevor wir nunmehr unſer diesmaliges Thema verlaſſen, <lb/>wollen wir noch zeigen, wie übergroß das Gebiet der Chemie <lb/>bereits iſt und wie unendlich groß noch die Aufgabe iſt, die <lb/>ſie ſich zu ſtellen hat und auch ſchon ſtellt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2061" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2062" xml:space="preserve">Man kann im vollen Sinne des Wortes ſagen: </s>
  <s xml:id="echoid-s2063" xml:space="preserve">die Chemie <lb/>iſt ſo unendlich wie die Welt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2064" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2065" xml:space="preserve">Alles, was wir bisher unſern Leſern in kurzen Umriſſen <lb/>vorgeführt haben, iſt im Grunde genommen nichts als ein <lb/>ſchwaches und ſehr unvollkommenes Bild der Verwandlungen, <lb/>welche vier Urſtoffe annehmen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s2066" xml:space="preserve">Wir haben ſo eigentlich <lb/>nur mit Sauerſtoff und Waſſerſtoff, Stickſtoff und Kohlenſtoff <lb/>etwas zu thun gehabt, und haben dieſe in ihrem Weſen als <lb/>unorganiſche wie als organiſche Verbindung in einigen <lb/>Pflanzenſtoffen gezeigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2067" xml:space="preserve">Es giebt aber, wie bereits erwähnt, <lb/>einige ſiebzig Urſtoffe, und jeder dieſer Stoffe ſpielt eine Rolle <lb/>in der Welt und muß von der Wiſſenſchaft in all ſeinen Ver-<lb/>bindungen betrachtet werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s2068" xml:space="preserve">und wenn auch nicht jeder dieſer
<pb o="61" file="149" n="149"/>
Stoffe gleiche Wichtigkeit in der Welt hat wie die oben ge-<lb/>nannten, ſo iſt doch wohl klar einzuſehen, daß die große Zahl <lb/>derſelben das Gebiet der Wiſſenſchaft unendlich erweitert.</s>
  <s xml:id="echoid-s2069" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2070" xml:space="preserve">Aber wäre man auch mit dieſen Stoffen ſchon fertig, ſo <lb/>bliebe doch noch ein unüberſehbares Feld des Forſchens, um <lb/>all die Rätſel zu löſen, die ſich in jedem einzelnen Stoffe <lb/>zeigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2071" xml:space="preserve">Der gründliche Chemiker beruhigt ſich nicht mit der <lb/>Thatſache, daß Kohlenſtoff die Neigung hat, ſich mit dem <lb/>Sauerſtoff der Luft zu verbinden und daß dieſe Verbindung <lb/>im Verbrennen vor ſich geht. </s>
  <s xml:id="echoid-s2072" xml:space="preserve">Er fragt ſich, was iſt denn dieſe <lb/>rätſelhafte Neigung? </s>
  <s xml:id="echoid-s2073" xml:space="preserve">Warum verbindet ſich mit einer be-<lb/>ſtimmten Menge Kohle nur eine ganz genau beſtimmte Portion <lb/>Sauerſtoff? </s>
  <s xml:id="echoid-s2074" xml:space="preserve">Was geht denn vor im Moment dieſer Verbindung? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2075" xml:space="preserve">Liegen in der Kohlenſäure die Kohle und der Sauerſtoff neben <lb/>einander in unſichtbaren, kleinen Teilchen geordnet, oder durch-<lb/>dringen ſie einander derart, daß ſelbſt ein Mikroſkop, das <lb/>unendlich vergrößert, kein Teilchen beider Stoffe zeigen würde? </s>
  <s xml:id="echoid-s2076" xml:space="preserve"><lb/>Die Wiſſenſchaft hat höchſt ſinnreiche Geſetze der Verbin-<lb/>dungen aufgefunden, die ſich immer mehr und mehr beſtätigt <lb/>haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s2077" xml:space="preserve">allein der Grund dieſer Geſetze iſt im höchſten Grade <lb/>rätſelhaft.</s>
  <s xml:id="echoid-s2078" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2079" xml:space="preserve">Nicht minder ſind höchſt auffallende Entdeckungen gemacht <lb/>worden über den Zuſammenhang des Gewichts der Urſtoffe <lb/>zu der Art ihrer chemiſchen Verbindung. </s>
  <s xml:id="echoid-s2080" xml:space="preserve">Aber auch dieſes <lb/>ſind noch große Rätſel, die ihrer wiſſenſchaftlichen Löſung <lb/>harren. </s>
  <s xml:id="echoid-s2081" xml:space="preserve">Noch intereſſanter ſind die Entdeckungen, die darthun, <lb/>daß ein ganz enger Zuſammenhang beſteht zwiſchen der Fähig-<lb/>keit eines Urſtoffes, ſich chemiſch mit einem anderen zu ver-<lb/>binden, und der Fähigkeit desſelben Urſtoffs, ſich zu erwärmen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2082" xml:space="preserve">Allein auch dieſes Geſetz erwartet noch ſeinen ſcharfſinnigen <lb/>Meiſter, der es genau nachweiſt und erklärt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2083" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2084" xml:space="preserve">Begeben wir uns gar auf das Feld der Chemie der <lb/>Pflanzenſtoffe, der organiſchen Chemie, ſo erweitert ſich die
<pb o="62" file="150" n="150"/>
Aufgabe bis zu ganz unüberſehbaren Grenzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2085" xml:space="preserve">Was man <lb/>ſonſt Leben und Lebenskraft nannte und in früheren Zeiten <lb/>durch bloße Spekulationen erkannt haben wollte, das hat jetzt <lb/>die Naturwiſſenſchaft und namentlich die Chemie vor ihre <lb/>Schranken gerufen und verſucht ihre Kraft an dieſer höchſten <lb/>Aufgabe des menſchlichen Geiſtes.</s>
  <s xml:id="echoid-s2086" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div64" type="section" level="1" n="56">
<head xml:id="echoid-head63" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXII. Die höchſte Aufgabe der Tierchemie.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2087" xml:space="preserve">Noch weit erhabener und unüberſehbar erſcheint das Gebiet <lb/>der Chemie, wenn man ſich auf das Feld begiebt, das von <lb/>ihren Meiſtern erſt in den letzten Jahrzehnten betreten worden <lb/>iſt, wir meinen das Feld der Tierchemie.</s>
  <s xml:id="echoid-s2088" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2089" xml:space="preserve">Wenn ſchon in den Pflanzen die Chemie eine ſo unüber-<lb/>ſehbare Rolle ſpielt, wenn ſie ſchon dort aus der verſchiedenen <lb/>Zuſammenſtellung der vier Urſtoffe, die wir in Betracht ge-<lb/>zogen haben, eine ſo unendliche Reihe von verſchiedenen Pflanzen-<lb/>ſtoffen erzeugt, daß die Forſcher faſt ermüden, ihre Grenzen <lb/>aufzuſuchen, — ſo iſt das, was die Chemie in der Tierwelt <lb/>erzeugt, von noch garnicht überſehbarer Ausdehnung.</s>
  <s xml:id="echoid-s2090" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2091" xml:space="preserve">Ein Stückchen Fleiſch oder ein beliebiger Beſtandteil des <lb/>tieriſchen Körpers (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s2092" xml:space="preserve">6) von der Größe eines Nadelkopfes <lb/>iſt für den Forſcher, der es mit dem Mikroſkop unterſucht, <lb/>gewiſſermaßen ein Berg, ü<unsure/>ber den ſich Frage über Frage auf-<lb/>türmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2093" xml:space="preserve">Es iſt ein Gewirre von unendlich feinen Nervenfaſern, <lb/>und jedes Nervenfäſerchen zeigt verſchiedene Beſtandteile, von <lb/>denen jedes beſonders unterſucht werden muß, da es ſicherlich <lb/>auch von verſchiedener chemiſcher Beſchaffenheit iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2094" xml:space="preserve">Durch <lb/>dieſes. </s>
  <s xml:id="echoid-s2095" xml:space="preserve">Gewirr von Nervenfäſerchen ſchlängelt ſich ein anderes <lb/>Gewirr von faſt unſichtbaren Blutgefäßen, von Äderchen, deren <lb/>es wiederum zwei Gattungen giebt, deren beiderſeitige Grenzen <lb/>man nicht einmal kennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2096" xml:space="preserve">Dieſes Gewirr von Nervenfaſern und
<pb o="63" file="151" n="151"/>
Blutgefäßen durchſchlängelt das Muskelfleiſch, das wiederum <lb/>aus einer großen Reihe vereinzelter Gebilde, den Muskelfaſern, <lb/>beſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s2097" xml:space="preserve">Jede Muskelfaſer kann wieder Querſtreifen zeigen, die <lb/>regelmäßig über dieſelbe verteilt ſind und ihr das Anſehen <lb/>einer feinen Perlenſchnur geben. </s>
  <s xml:id="echoid-s2098" xml:space="preserve">Dazwiſchen befindet ſich <lb/>Bindegewebe von wiederum anderer Natur und chemiſcher <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-151-01a" xlink:href="fig-151-01"/>
Beſchaffenheit, und all das iſt durchtränkt von einer Flüſſigkeit, <lb/>die nicht Blut und nicht Fleiſch iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2099" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<div xml:id="echoid-div64" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-151-01" xlink:href="fig-151-01a">
<caption xml:id="echoid-caption10" xml:space="preserve">Fig. 6.</caption>
<description xml:id="echoid-description1" xml:space="preserve">Mikroſkopiſche Struktur der menſchlichen Milz.</description>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2100" xml:space="preserve">Will nun die Wiſſenſchaft mit jener Gewiſſenhaftigkeit zu <lb/>Werke gehen, welche ihr ziemt, ſo darf ſie es jetzt nicht mehr <lb/>machen wie ehedem, wo ſie ein ganzes Stück Fleiſch in Pauſch <lb/>und Bogen unterſuchte und die chemiſchen Beſtandteile von <lb/>ſamtundſonders bekannt machte, ſondern ſie hat vorerſt die <lb/>unendlich ſchwierigere Aufgabe, jeden Teil zu ſondern, ein
<pb o="64" file="152" n="152"/>
Stuckchen Fleiſch, das für das bloße Auge kaum ſichtbar iſt, <lb/>in ſeine verſchiedenen Gebilde zu trennen, jeden getrennten <lb/>Teil in ſeinen verſchiedenen Geſtalten zu unterſuchen, jede <lb/>Geſtalt von neuem einer Unterſuchung zu unterwerfen, und <lb/>erſt dann, auf eine Reihe von faſt übermenſchlichen Mühen <lb/>und Forſchungen gegründet, an die Frage zu gehen: </s>
  <s xml:id="echoid-s2101" xml:space="preserve">wie wirken <lb/>all dieſe vereinzelten Gebilde zu- und aufeinander ein?</s>
  <s xml:id="echoid-s2102" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2103" xml:space="preserve">Wie aber, wenn zu all den Unterſuchungen noch die Frage <lb/>hinzutritt, ob nicht in dem unter dem Mikroſkop liegenden <lb/>Stückchen toten Körperteil ganz andere Beziehungen obwalten, <lb/>als in demſelben während des Lebens thätig ſind?</s>
  <s xml:id="echoid-s2104" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2105" xml:space="preserve">Gewiß, der Laie erſchrickt vor der Unmaſſe von Schwierig-<lb/>keiten und Fragen, der Mühen und Forſchungen, die ſich berg-<lb/>hoch auftürmen, wenn man auch nur das kleinſte Gebilde der <lb/>Tierwelt bis zu den Grundbeſtimmungen verfolgen ſoll. </s>
  <s xml:id="echoid-s2106" xml:space="preserve">Wer <lb/>ſich einen Vorbegriff derartiger Arbeiten verſchaffen will, der <lb/>blicke einmal in die neueſten Werke dieſes Faches. </s>
  <s xml:id="echoid-s2107" xml:space="preserve">Es wird <lb/>ihn Erſtaunen und Bewunderung erfaſſen vor dem Geiſtes-<lb/>und Forſcherdrang, der in dieſer Wiſſenſchaft leben muß, wenn <lb/>er ſieht, wie Hunderte von Gelehrten ſich vereinen müſſen in <lb/>ihren Beſtrebungen, um dieſer erhabenen Wiſſenſchaft auch nur <lb/>einen Schritt weiteren Raum abzugewinnen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2108" xml:space="preserve">aber er wird auch <lb/>eine Ahnung erhalten von dem großen Geiſt der Wahrhaftig-<lb/>keit und Treue, der in der Wiſſenſchaft waltet, die nicht ſich <lb/>und andere täuſchen und nicht mit leeren Worten die Lücken <lb/>verdecken und die Grenzen verwiſchen will, die der jetzigen <lb/>Erkenntnis geſteckt ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s2109" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2110" xml:space="preserve">Aber eines wird er gewahren, daß es vorwärts geht. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2111" xml:space="preserve">Langſam und nach allen Seiten hin zerſtreut, bewegt ſich dieſer <lb/>Zweig der Wiſſenſchaft, der in innigſter Berührung mit allen <lb/>Naturwiſſenſchaften ſteht; </s>
  <s xml:id="echoid-s2112" xml:space="preserve">aber ſeiner Jünger ſind nicht wenig. </s>
  <s xml:id="echoid-s2113" xml:space="preserve"><lb/>In Deutſchland, England und Frankreich hat die Wiſſenſchaft <lb/>der Tierchemie ihre treuen Verehrer und unermüdlichen Jünger.</s>
  <s xml:id="echoid-s2114" xml:space="preserve">
<pb o="65" file="153" n="153"/>
Viele Tauſend Mikroſkope ſuchen und unterſuchen Stoffe der <lb/>Tierwelt, um des Lebens innerſte Geheimniſſe an dem Stoffe <lb/>zu erforſchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2115" xml:space="preserve">Viele Namen, dem Volke unbekannt, viele <lb/>Männer, vom Volke unbeachtet, ſind Zierde und Stolz der <lb/>Wiſſenſchaft geworden.</s>
  <s xml:id="echoid-s2116" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2117" xml:space="preserve">Wie im geſellſchaftlichen Leben, hat auch im wiſſenſchaft-<lb/>lichen die Teilung der Arbeit ſtattgefunden, in welcher jeder <lb/>auf ſeinem Poſten treu ausharrt, bis ein großer Meiſter kommt, <lb/>der Teil zu Teil fügt und zur Einheit des Geiſtes geſtaltet, <lb/>was jetzt die Geiſter der Einzelnen hegen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2118" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2119" xml:space="preserve">Und nun ſchließen wir unſer Thema “ein wenig Chemie” <lb/>mit dem Wunſche, daß wir durch unſere Darſtellung Liebe und <lb/>Verehrung zu dieſer Wiſſenſchaft, ihren Jüngern und Meiſtern <lb/>und Geiſtern im Volke angeregt und den Gedanken befeſtigt <lb/>haben, daß die Welt im Fortſchritt und die Wiſſenſchaft nicht <lb/>im Umkehren begriffen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2120" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2121" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s2122" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s2123" xml:space="preserve">Volksbücher VII.</s>
  <s xml:id="echoid-s2124" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb file="154" n="154"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div66" type="section" level="1" n="57">
<head xml:id="echoid-head64" xml:space="preserve"><emph style="bf">Über Bäder und deren Wirkung.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head65" xml:space="preserve"><emph style="bf">I. Was das Waſſer alles kann.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2125" xml:space="preserve">In der Zeit, in welcher immer mehr das Baden teils <lb/>zur Herſtellung, teils zur Erholung der Geſundheit, teils als <lb/>Kühlung, teils als angenehme Beluſtigung außerordentlich in <lb/>Aufſchwung gekommen iſt, halten wir es für geeignet, unſern <lb/>Leſern über Bäder und deren Wirkung ein paar Worte der <lb/>Belehrung vorzuführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2126" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2127" xml:space="preserve">Daß es mit dem Baden ſeine eigene Bewandtnis haben <lb/>müſſe, das hat wohl ſchon jeder bemerkt, der ſich all’ diejenigen <lb/>anſieht, welche ſich beim Gebrauch eines und desſelben gewöhn-<lb/>lichen Bades zuſammenfinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2128" xml:space="preserve">— Hier ſehen wir oft einen <lb/>Schmerbauch, der in der Hoffnung, daß das Waſſer, wie er <lb/>ſagt, “zehrt”, ſeinen übermäßig genährten Leib den Wellen <lb/>anvertraut, um mager zu werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2129" xml:space="preserve">Neben ihm erblicken wir <lb/>einen hagern, bleichen Mann, der mit Neid auf die Fülle ſeines <lb/>Nachbars blickt, und der in der Hoffnung ins Bad geht, ſeine <lb/>geſchwächte Ernährung aufzurichten. </s>
  <s xml:id="echoid-s2130" xml:space="preserve">Dort ſehen wir einen <lb/>Beamten, einen Gelehrten, der durch den ganzen Tag ſeinen <lb/>Stuhl nicht verlaſſen hat, ins Waſſer gehen, um ſeinen ſteif-<lb/>gewordenen Leib anzuregen, und neben ihm wirft ein Arbeiter, <lb/>der ſeine Glieder durch den ganzen lieben langen Sommertag <lb/>mit Energie und im Schweiß ſeines Angeſichts gerührt hat, <lb/>ſeine Kleider ab, um ſich im Waſſer zur erquicklichen Ruhe <lb/>vorzubereiten. </s>
  <s xml:id="echoid-s2131" xml:space="preserve">— Da klagt einer über Schläfrigkeit und Trägheit
<pb o="67" file="155" n="155"/>
in den Gliedern und hofft durch ein Flußbad aufgeweckt zu <lb/>werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s2132" xml:space="preserve">und neben ihm erzählt ein anderer, wie er ohne Bad <lb/>die Nacht in Schlafloſigkeit zubringe und wie dies ihn nötige, <lb/>ſich aus dem Waſſer Schlafluſt zu holen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2133" xml:space="preserve">Dem einen ſitzt es <lb/>im Kopf, dem andern in den Beinen, und beide gehen ins naſſe <lb/>Element, um der Geſundheit teilhaftig zu werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2134" xml:space="preserve">Und zwiſchen <lb/>dieſen, welche die entgegengeſetzten Wirkungen vom Bade hoffen, <lb/>wimmeln völlig Geſunde umher, um ſich im Waſſer zu tummeln <lb/>und auf den Wellen umherzuſchwimmen aus purer, friſcher <lb/>Lebensluſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2135" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2136" xml:space="preserve">Bedenken wir nun, daß faſt alle das Bad verlaſſen mit <lb/>dem Gefühl, daß es ihnen wohlgethan, und daß dieſes Gefühl <lb/>nur höchſt ſelten täuſcht, daß mithin das Bad wirklich die <lb/>gehoffte Wirkung hat, ſo muß man geſtehen, daß es mit dem <lb/>Baden in der That ſeine eigene Bewandtnis habe und daß <lb/>im Waſſer eine Art Univerſal-Medizin ſein muß, die in allen <lb/>Fällen wohlthätig einwirkt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2137" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2138" xml:space="preserve">Wir haben hier freilich nur das kalte Flußbad im Auge <lb/>gehabt, deſſen man ſich in den Sommermonaten ſo fleißig <lb/>bedient, und auch nur die keineswegs kranken Beſucher desſelben <lb/>betrachtet, die nicht an Übeln leiden, welche ſie nötigen, die <lb/>Hilfe des Arztes in Anſpruch zu nehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2139" xml:space="preserve">Bedenken wir jedoch, <lb/>daß in vielen Krankheitsfällen die Bäder als eines der wirk-<lb/>ſamſten Heilmittel gelten, daß es Waſſerheilanſtalten giebt, in <lb/>denen viele Gebrechen in der That Hilfe und Linderung und <lb/>oft vollſtändige Heilung finden, daß See- und Mineral-Bäder <lb/>der Sammelplatz vieler Schwerleidenden ſind, daß ſelbſt bei <lb/>häuslicher Behandlung die Umſchläge, die kalten Einwickelungen, <lb/>die naſſen Abreibungen, die lauen und die kalten Begießungen <lb/>und Bäder eine weſentliche Rolle ſpielen, daß endlich gar <lb/>außerordentlich heiße Dampfbäder, wo der Leib nicht dem <lb/>Waſſer, ſondern der Hitze des Waſſerdampfes ausgeſetzt wird, <lb/>zur Anwendung kommen, und zwar meiſthin mit gewünſchtem
<pb o="68" file="156" n="156"/>
Erfolge, ſo muß ſich die Achtung vor der Wirkung des Bades <lb/>im Allgemeinen nur ſteigern, und man wird es gerechtfertigt <lb/>finden, wenn wir das Nachdenken unſerer Leſer auf dieſes <lb/>Thema lenken.</s>
  <s xml:id="echoid-s2140" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2141" xml:space="preserve">Bei unſern naturwiſſenſchaftlichen Betrachtungen können <lb/>wir freilich nicht auf die rein mediziniſchen Bäder eingehen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2142" xml:space="preserve">Wir ſchreiben nicht für Ärzte, die die wiſſenſchaftlichen Quellen, <lb/>aus denen wir ſchöpfen, teils ſelber eröffnen, teils fleißig <lb/>benutzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2143" xml:space="preserve">Noch weniger ſchreiben wir für Kranke, weil wir <lb/>das ſchwere Übel kennen, welches gemeinfaßliche Schriften für <lb/>Kranke zu Wege bringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2144" xml:space="preserve">Schriften dieſer Art haben ſtets <lb/>nur Hypochonder gemacht, und ſind auch meiſt nur eine <lb/>Spekulation auf die große Zahl derer, die von dieſer leben-<lb/>verbitternden Krankheit geplagt ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s2145" xml:space="preserve">Wir ſchreiben für <lb/>Geſunde, die ihre Geſundheit erhalten wollen, ohne allzu <lb/>ängſtlich nach dem eigenen Puls zu fühlen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2146" xml:space="preserve">wir ſchreiben für <lb/>ſolche, die zugleich den Wunſch haben, die Wirkung des Bades <lb/>vom naturwiſſenſchaftlichen Standpunkt aus beurteilen zu können, <lb/>und die Einſicht wünſchen in eine in der That außerordentliche <lb/>Heil- und Geſundheits-Quelle, welche die Natur uns im Waſſer <lb/>und in der verſchiedenen Art ſeiner Anwendung liefert.</s>
  <s xml:id="echoid-s2147" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2148" xml:space="preserve">Um zu dieſer Einſicht zu gelangen, wollen wir nicht ſo-<lb/>gleich einen Kopfſprung ins Waſſer machen, ſondern wir <lb/>müſſen einige wichtige Dinge, die dieſem Thema drum und <lb/>dran hängen, vorerſt näher kennen lernen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2149" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div67" type="section" level="1" n="58">
<head xml:id="echoid-head66" xml:space="preserve"><emph style="bf">II. Wir leben in einem Luftbade.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2150" xml:space="preserve">Wenn wir uns über die verſchiedenen Wirkungen der <lb/>Bäder klare Rechenſchaft geben wollen, müſſen wir auf die <lb/>Naturbeſchaffenheit der Luft Rückſicht nehmen, in welcher wir <lb/>leben, auf die Naturbeſchaffenheit des Waſſers, mit welchem
<pb o="69" file="157" n="157"/>
wir ſtatt der Luft zeitweiſe während des Badens unſern Körper <lb/>umgeben, und endlich auf die Naturbeſchaffenheit unſerer Haut, <lb/>die eigentlich das Hauptgeſchäft beim Baden zu verrichten hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s2151" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2152" xml:space="preserve">Im natürlichen Zuſtand ſind wir ſtets von einer Luft-<lb/>ſchicht umgeben, die von weſentlichem Einfluß auf unſern Körper <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2153" xml:space="preserve">Nicht allein, daß wir die Luft durch die Lungen ein-<lb/>atmen, ihren Sauerſtoff verbrauchen und das Verbrauchte <lb/>als Kohlenſäure wieder ausatmen, wir ſtehen auch durch unſere <lb/>Haut in fortwährender Wechſelwirkung mit der Luft. </s>
  <s xml:id="echoid-s2154" xml:space="preserve">Wir <lb/>ſcheiden fortwährend Waſſerdunſt durch die Haut aus und <lb/>nehmen auch Sauerſtoff aus der Luft ein.</s>
  <s xml:id="echoid-s2155" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2156" xml:space="preserve">Wir werden ſofort zeigen, wie unſere Haut zu dieſem <lb/>Geſchäft ganz vortrefflich eingerichtet iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2157" xml:space="preserve">für jetzt wollen wir <lb/>nur die eine Thatſache hier anführen, die den Beweis liefert, <lb/>daß wir ohne dieſe Wechſelwirkung zwiſchen unſerm Innern <lb/>und der Luft nicht leben können. </s>
  <s xml:id="echoid-s2158" xml:space="preserve">Wenn man zwei Drittel <lb/>der Haut durch irgend einen Lack-Überzug undurchdringlich <lb/>macht, und ſo die Ausdünſtung und die Einwirkung durch die <lb/>Haut vermindert, dann erfolgt nach kurzer Zeit der Tod. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2159" xml:space="preserve">Bei Verbrennungen eines großen Teils der Haut, wie dies <lb/>zuweilen in Fällen ſtattfindet, wo Perſonen, die ſich den Körper <lb/>mit Spiritus gewaſchen, einem Lichte zu nahe kommen, ſind <lb/>es nicht die oft nur ſehr leichten Brandwunden, die ſo ge-<lb/>fährlich werden, ſondern es erfolgt zuweilen der Tod, weil <lb/>die angebrannte Haut die Ausdünſtung und Einwirkung der <lb/>Luft verhindert.</s>
  <s xml:id="echoid-s2160" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2161" xml:space="preserve">Da wir fortwährend und in allen Teilen unſeres Körpers <lb/>von Luft umgeben ſind, ſo wirkt ſowohl die Wärme wie die <lb/>Kälte der Luft auf uns ein. </s>
  <s xml:id="echoid-s2162" xml:space="preserve">Allein die Luft hat eine Eigen-<lb/>ſchaft, welche dieſe Einwirkung ſehr mildert. </s>
  <s xml:id="echoid-s2163" xml:space="preserve">Die Luft iſt ein <lb/>ſchlechter, ja der ſchlechteſte Wärme-Leiter. </s>
  <s xml:id="echoid-s2164" xml:space="preserve">Das heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s2165" xml:space="preserve">die <lb/>Wärme bahnt ſich ſehr ſchwierig ihren Weg durch die Luft, <lb/>und deshalb verlieren wir durch die kalte Luft nicht viel
<pb o="70" file="158" n="158"/>
Wärme aus dem Körper, und giebt uns heiße Luft nicht ihre <lb/>ganze Wärme ab. </s>
  <s xml:id="echoid-s2166" xml:space="preserve">— Tritt man im Winter in ein ſehr kaltes <lb/>Zimmer, ſo wird man die Beobachtung machen, daß es ſehr <lb/>lange dauert, bevor man an Geſicht und Händen in ſolchem <lb/>Zimmer ſchlimme oder ſchmerzhafte Eindrücke der Kälte em-<lb/>pfindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s2167" xml:space="preserve">Ganz anders iſt es aber, wenn man die Hand in Waſſer <lb/>ſteckt, das z. </s>
  <s xml:id="echoid-s2168" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s2169" xml:space="preserve">nur drei Grad Wärme hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s2170" xml:space="preserve">obgleich das Waſſer <lb/>vielleicht wärmer iſt als die Luft jenes Zimmers, geht doch <lb/>die Erkaltung der Hand außerordentlich ſchneller und alſo auch <lb/>empfindlicher vor ſich. </s>
  <s xml:id="echoid-s2171" xml:space="preserve">— Daß es mit der Erwärmung ebenſo <lb/>iſt, davon kann man ſich gleichfalls durch Verſuche überzeugen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2172" xml:space="preserve">Sehr oft iſt es in heißen Sommertagen auf der Sonnenſeite <lb/>der Straße kaum auszuhalten vor Hitze, während man nur <lb/>einen Schritt nach der Schattenſeite zu thun braucht, um an-<lb/>genehme Kühlung zu empfinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2173" xml:space="preserve">Würde ſich die Wärme <lb/>leicht durch die Luft mitteilen, ſo würde es im Schatten ſo <lb/>heiß ſein wie in der Sonne. </s>
  <s xml:id="echoid-s2174" xml:space="preserve">— Heiße Luft giebt ihre Wärme <lb/>ſehr ſchwer ab. </s>
  <s xml:id="echoid-s2175" xml:space="preserve">Die wirtlichen Hausfrauen ſetzen bei vielen <lb/>Verrichtungen am Feuerheerd ihre Hände ſehr oft einer außer-<lb/>ordentlich hohen Hitze aus, und zuweilen, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s2176" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s2177" xml:space="preserve">beim Kaffee-<lb/>brennen, geſchieht dies durch ſehr lange Zeit, ohne daß ſie <lb/>ſich die Hände verbrennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2178" xml:space="preserve">In einer Röhre des Stubenofens, <lb/>worin Waſſer in Kochen gerät, herrſcht eine Hitze von mindeſtens <lb/>100 Grad Celſius, gleichwohl kann man die Hand in die Röhre <lb/>halten, ohne ſich zu verbrennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2179" xml:space="preserve">In den geheizten Bratöfen <lb/>unſerer gewöhnlichen Küchen herrſcht oft eine bei weitem größere <lb/>Hitze, in welcher ſogar Fett verdampft, und dennoch ſteckt die <lb/>Hausfrau auf kurze Zeit ohne Gefahr den Arm hinein, um <lb/>den Braten zurechtzurücken und ſchützt ſich höchſtens die Finger, <lb/>mit welchen ſie die Bratpfanne berührt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2180" xml:space="preserve">In Dampfbädern, <lb/>woſelbſt oft eine Hitze von 100 Grad herrſcht, kann man es <lb/>eine Zeitlang recht gut aushalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s2181" xml:space="preserve">Bei Dampfmaſchinen ſteht <lb/>der Maſchiniſt und Feuermann in einem Raum vor dem Ofen,
<pb o="71" file="159" n="159"/>
woſelbſt zuweilen ein furchtbarer Grad von Hitze herrſcht, ohne <lb/>daß dieſe ihnen ſchadet. </s>
  <s xml:id="echoid-s2182" xml:space="preserve">— Wie ſehr man ſich aber verbrüht, <lb/>wenn auch nur eine Sekunde den Finger in Waſſer ſteckt, das <lb/>70—80 Grad heiß iſt, wird ſchon jeder ſelber erfahren haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s2183" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2184" xml:space="preserve">Hieraus geht hervor, daß es mit der Luft ein ganz eigen <lb/>Ding und durchaus anders iſt, als mit Waſſer. </s>
  <s xml:id="echoid-s2185" xml:space="preserve">Kalte Luft <lb/>entzieht unſerm Körper nicht ſchnell Wärme. </s>
  <s xml:id="echoid-s2186" xml:space="preserve">In der Luft <lb/>alſo, in welcher wir leben, vermag ſich die Wärme unſeres <lb/>Körpers auf dem ihm natürlichen und nötigen Grad ſehr lange <lb/>zu erhalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s2187" xml:space="preserve">Wir können kältere, wir können heißere Luft <lb/>vertragen, ohne ſofort darunter zu leiden und eine bedeutende <lb/>Veränderung im Körper zu verſpüren.</s>
  <s xml:id="echoid-s2188" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2189" xml:space="preserve">Wir leben in der Luft: </s>
  <s xml:id="echoid-s2190" xml:space="preserve">das heißt, wir genießen fort-<lb/>während ein Luftbad: </s>
  <s xml:id="echoid-s2191" xml:space="preserve">da aber, wie wir ſogleich ſehen werden, <lb/>das Waſſer von anderer Naturbeſchaffenheit iſt als die Luft, <lb/>ſo darf es uns nicht wundern, daß eine Veränderung mit uns <lb/>vorgeht, wenn wir ein Waſſerbad nehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2192" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div68" type="section" level="1" n="59">
<head xml:id="echoid-head67" xml:space="preserve"><emph style="bf">III. Wie Waſſer ein ander Ding iſt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2193" xml:space="preserve">Die Naturbeſchaffenheit des Waſſers iſt in den Punkten, <lb/>in welchen wir im vorhergehenden Abſchnitt die Luft betrachtet <lb/>haben, und ebenſo in anderen weſentlich von dieſer verſchieden.</s>
  <s xml:id="echoid-s2194" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2195" xml:space="preserve">Die Luft an ſich iſt trocken; </s>
  <s xml:id="echoid-s2196" xml:space="preserve">ſie nimmt aber Feuchtigkeit <lb/>in ſich auf, das heißt, es verdampfen wäſſerige Flüſſigkeiten, <lb/>wenn ſie der Luft ausgeſetzt werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2197" xml:space="preserve">Die Luft zehrt alſo am <lb/>Waſſer, und zwar in ſehr ſtarken Portionen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2198" xml:space="preserve">das Waſſer da-<lb/>gegen nimmt nur wenig Luft in ſich auf; </s>
  <s xml:id="echoid-s2199" xml:space="preserve">es hat aber die <lb/>Eigenſchaft, einen großen Teil feſter Stoffe, mit denen es in <lb/>Berührung kommt, aufzulöſen und ſich beizumiſchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2200" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2201" xml:space="preserve">Setzt man bei trockenem Wetter einen Teller mit etwas <lb/>Waſſer an die freie Luft, ſo wird man bald finden, daß das
<pb o="72" file="160" n="160"/>
Waſſer weniger wird und nach und nach ganz und gar ver-<lb/>ſchwunden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2202" xml:space="preserve">Im gewöhnlichen Leben ſagt man, das Waſſer <lb/>ſei ausgetrocknet oder eingetrocknet; </s>
  <s xml:id="echoid-s2203" xml:space="preserve">in Wahrheit aber iſt hier <lb/>eine Verwandlung des Waſſers vor ſich gegangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2204" xml:space="preserve">Es hat ſich <lb/>nach und nach in Waſſerdunſt verwandelt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2205" xml:space="preserve">dieſer Waſſerdunſt <lb/>hat ſich der Luft, die über den Teller dahinſtrich, beigemiſcht <lb/>und ſchwebt jetzt in der Luft und mit dieſer umher. </s>
  <s xml:id="echoid-s2206" xml:space="preserve">Das <lb/>Waſſer alſo iſt luftförmig geworden.</s>
  <s xml:id="echoid-s2207" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2208" xml:space="preserve">Wie aber iſt es, wenn in dem Waſſer irgend etwas auf-<lb/>gelöſt geweſen iſt? </s>
  <s xml:id="echoid-s2209" xml:space="preserve">Was wird daraus, wenn man etwas <lb/>Zuckerwaſſer oder Salzwaſſer in dem Teller der Luft aus-<lb/>geſetzt hat? </s>
  <s xml:id="echoid-s2210" xml:space="preserve">Schwimmt dann auch der Zucker oder das Salz <lb/>mit in der Luft umher? </s>
  <s xml:id="echoid-s2211" xml:space="preserve">Es iſt dies keineswegs der Fall; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2212" xml:space="preserve">man kann ſich vielmehr durch einen Verſuch ſehr leicht davon <lb/>überzeugen, daß Zucker oder Salz und ganz ſo alles andere, <lb/>das im Waſſer aufgelöſt enthalten iſt, im Teller zurückbleibt <lb/>und in feinen Kryſtallen ſichtbar wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s2213" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2214" xml:space="preserve">Wir ſehen alſo, daß das Waſſer auflöſend iſt, das heißt, <lb/>es verwandelt viele feſte Stoffe in Flüſſigkeiten und miſcht ſich <lb/>dieſen bei, dagegen iſt die Luft deſtillierend, das heißt, ſie <lb/>verwandelt das Waſſer in Gas und läßt die in demſelben auf-<lb/>gelöſt geweſenen Stoffe als feſten Beſtandteil zurück.</s>
  <s xml:id="echoid-s2215" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2216" xml:space="preserve">Auf dieſem Vorgang, der Auflöſung vieler Stoffe im <lb/>Waſſer und dem Deſtillieren des Waſſers und dem Zurück-<lb/>bleiben der feſten Beſtandteile durch die Thätigkeit der Luft, <lb/>beruht ein bedeutender Teil der Thätigkeit der Natur ſowohl <lb/>in der belebten wie in der unbelebten Welt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2217" xml:space="preserve">wir können jedoch <lb/>in unſerm Thema nicht weiter Rückſicht darauf nehmen und <lb/>müſſen die weiteren Verſchiedenheiten des Waſſers und der Luft <lb/>näher ins Auge faſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2218" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2219" xml:space="preserve">Wir haben geſehen, daß die Luft ein ſehr ſchlechter Leiter <lb/>der Wärme iſt, das heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s2220" xml:space="preserve">ſie nimmt ſehr langſam die Wärme <lb/>auf und giebt ſie ſehr langſam wieder von ſich; </s>
  <s xml:id="echoid-s2221" xml:space="preserve">beim Waſſer
<pb o="73" file="161" n="161"/>
iſt es anders. </s>
  <s xml:id="echoid-s2222" xml:space="preserve">Zwar iſt Waſſer im Vergleich mit anderen <lb/>Stoffen, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s2223" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s2224" xml:space="preserve">mit Metallen noch immer ein ſehr ſchlechter <lb/>Wärmeleiter. </s>
  <s xml:id="echoid-s2225" xml:space="preserve">Allein im Vergleich zur Luft iſt Waſſer immer <lb/>noch ein ſtarker Leiter der Wärme. </s>
  <s xml:id="echoid-s2226" xml:space="preserve">— Unſere Hand erkaltet <lb/>viel ſchneller im kalten Waſſer als in kalter, trockener Luft, <lb/>und wird vom heißen Waſſer verbrüht, ohne von ebenſo heißer <lb/>Luft irgendwie geniert zu werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s2227" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2228" xml:space="preserve">Wie bedeutend der Unterſchied iſt, ergiebt die tägliche Er-<lb/>fahrung. </s>
  <s xml:id="echoid-s2229" xml:space="preserve">— Wenn die Luft zwanzig Grad Celſius Wärme <lb/>hat, ſo nennen wir ſie eine laue Luft und ſind imſtande, in <lb/>einem Zimmer, wo dieſe Luft trocken iſt, mit Behaglichkeit tage-<lb/>lang zu verweilen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2230" xml:space="preserve">Waſſer dagegen nennt man erſt lau, wenn <lb/>es 35 bis 37 Grad Celſius hat, und wenn wir, ſei es in den <lb/>Kleidern, ſei es nackt, länger als fünfzehn Minuten in einem <lb/>zwanzig Grad warmen Waſſer zubringen, ohne uns zu bewegen, <lb/>ſo klappern uns die Zähne vor Kälte.</s>
  <s xml:id="echoid-s2231" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2232" xml:space="preserve">Da es aber unſere Haut iſt, die wir eigentlich beim Bade <lb/>zu Markte tragen, ſo müſſen wir die Naturbeſchaffenheit der-<lb/>ſelben gleichfalls ins Auge faſſen, und dies wollen wir im <lb/>nächſten Abſchnitt thun.</s>
  <s xml:id="echoid-s2233" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div69" type="section" level="1" n="60">
<head xml:id="echoid-head68" xml:space="preserve"><emph style="bf">IV. In was für Haut wir ſtecken.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2234" xml:space="preserve">Die Haut iſt der Überzug des Leibes und die Grenze <lb/>zwiſchen der ganzen Welt draußen und der höchſt wunderbaren <lb/>Lebensfabrik im Innern des Menſchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2235" xml:space="preserve">Aber dieſe Grenze iſt <lb/>eigentümlicher Natur. </s>
  <s xml:id="echoid-s2236" xml:space="preserve">Wenn wir das Innere des Menſchen <lb/>das Inland und die Welt draußen das Ausland nennen, ſo <lb/>muß man ſagen, daß die Grenzſperre nach dem Ausland bei <lb/>weitem milder iſt als die nach dem Inland. </s>
  <s xml:id="echoid-s2237" xml:space="preserve">Die Haut ſperrt <lb/>den Menſchen weit weniger von der Welt ab als die Welt von <lb/>dem Menſchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2238" xml:space="preserve">Der Weg von innen nach außen iſt ſehr frei-
<pb o="74" file="162" n="162"/>
mütig in der Haut geöffnet; </s>
  <s xml:id="echoid-s2239" xml:space="preserve">der Weg von außen nach innen <lb/>iſt ſchon weit weniger offen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2240" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2241" xml:space="preserve">Die Haut aber iſt durchaus nicht eine einfache Art Sieb, <lb/>durch das Teile des Körpers beliebig austreten können, ſondern <lb/>ſie iſt ein ſo bedeutendes und eigentümliches Organ des Körpers, <lb/>daß wir auf eine nähere Beſchreibung desſelben hier eingehen <lb/>müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2242" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2243" xml:space="preserve">Die Haut des Menſchen beſteht aus drei verſchiedenen <lb/>Lagen, die zuſammen ein gar nicht ſchwaches Leder liefern, <lb/>die obere Haut, welche wir auf dem Körper ſehen, heißt die <lb/>Hornhaut. </s>
  <s xml:id="echoid-s2244" xml:space="preserve">In ihr fließt weder Blut, noch ſind in derſelben <lb/>Nerven vorhanden; </s>
  <s xml:id="echoid-s2245" xml:space="preserve">ſie iſt deshalb blutlos und gefühllos. </s>
  <s xml:id="echoid-s2246" xml:space="preserve">Von <lb/>dieſer Oberhaut kann man ganze Fetzen abſchneiden, abreißen <lb/>und abbeißen, ohne Schmerz zu empfinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2247" xml:space="preserve">Sie reibt oder <lb/>nutzt ſich auch fortwährend ab, und erneut ſich außerordentlich <lb/>ſchnell. </s>
  <s xml:id="echoid-s2248" xml:space="preserve">Wenn man ſich ein Stückchen dieſer Haut, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s2249" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s2250" xml:space="preserve">von <lb/>der Handfläche mit einem ſcharfen Federmeſſer abſchneidet, ſo <lb/>kann man, wenn man dieſelbe geſpannt gegen das Licht hält, <lb/>ſehr deutlich ſehen, daß ſie außerordentlich viele Löcher hat. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2251" xml:space="preserve">Es ſind dies die Schweißlöcher, deren Beſtimmung wir ſofort <lb/>kennen lernen werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s2252" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2253" xml:space="preserve">Unter dieſer Hornhaut befindet ſich die Lederhaut, welche <lb/>von Nerven und Blutäderchen vielfach durchwebt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2254" xml:space="preserve">Es <lb/>kommt vor, daß man ſich durch einen Stoß am Schienbein die <lb/>Oberhaut abgeſchunden hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s2255" xml:space="preserve">in ſolchem Fall ſieht man oft die <lb/>Lederhaut unverletzt als eine glänzende, blutreiche, äußerſt <lb/>empfindliche Haut bloß liegen, ohne daß ſie jedoch blutet oder <lb/>ſchmerzt, wenn man ſie nur vor kalter Luft ſchützt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2256" xml:space="preserve">In dieſer, <lb/>der Lederhaut, liegen die Wurzeln der Haare eingebettet, wes-<lb/>halb es auch ſchmerzt, wenn man ſich ein Haar ausreißt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2257" xml:space="preserve">Auch dieſe zweite Haut iſt durchlöchert, denn die Schweiß-<lb/>kanäle führen durch ſie hindurch, da die Quelle des Schweißes <lb/>noch tief unter derſelben liegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2258" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="75" file="163" n="163"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2259" xml:space="preserve">In der That iſt es eben die dritte Haut, oder das Unter-<lb/>haut-Zellgewebe, in welcher alle Schweißkanäle ihre Wurzeln <lb/>haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s2260" xml:space="preserve">Es ſind dies eigentümlich gewundene Knäul-Drüſen, <lb/>die durch ein ſtarkes Vergrößerungsglas betrachtet, wie Därme <lb/>ausſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2261" xml:space="preserve">Dieſe ſtecken meiſt in einem Fettlager und haben <lb/>das Geſchäft, das Waſſer aus dem im Umlauf begriffenen Blut, <lb/>das an ihnen vorüberſtreicht, aufzunehmen und durch den Kanal <lb/>hinauszubefördern. </s>
  <s xml:id="echoid-s2262" xml:space="preserve">Mit dieſem Waſſer werden auch noch ein-<lb/>zelne andere Stoffe aus dem Körper hinaus befördert, die dem <lb/>Schweiß eigen ſind, und von denen wir nur hier ſo viel ſagen <lb/>wollen, daß ihr Verbleiben im Körper, nachdem ſie verbraucht <lb/>ſind, durchaus ſchädlich iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2263" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2264" xml:space="preserve">Es iſt aber nicht durchaus nötig, daß wir tropfbaren <lb/>Schweiß ausſondern; </s>
  <s xml:id="echoid-s2265" xml:space="preserve">es iſt vielmehr noch eine beſondere Auf-<lb/>gabe der Haut, die darin beſteht, daß ſie in Gasform die ver-<lb/>brauchten Stoffe ausdünſtet, und dies geſchieht fortwährend, <lb/>ſelbſt wenn wir uns ruhig verhalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s2266" xml:space="preserve">Die gasförmige Aus-<lb/>ſonderung iſt bei weitem wichtiger als die wäſſerige, denn ein <lb/>Stocken derſelben bringt die heftigſten Krankheiten hervor, und <lb/>wie wir bei künſtlichen Lack-Überzügen über den größten Teil <lb/>der Haut ſehen, erfolgt ſogar in kurzer Zeit der Tod, während <lb/>wohl alle ſchon bemerkt haben, daß man wochenlang exiſtieren <lb/>und ſich verhältnismäßig ganz wohl befinden kann, ohne in <lb/>wirklichen Schweiß zu geraten.</s>
  <s xml:id="echoid-s2267" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2268" xml:space="preserve">Es würde uns zu weit führen, wenn wir hier auf die <lb/>Art der Wirkſamkeit der Haut genauer eingehen wollten. </s>
  <s xml:id="echoid-s2269" xml:space="preserve">Wir <lb/>haben uns für jetzt nur einiges hierüber zu merken.</s>
  <s xml:id="echoid-s2270" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2271" xml:space="preserve">An der Oberhaut iſt es wichtig, daß wir ſie in einem <lb/>Zuſtande erhalten, welcher ſowohl der gasförmigen, wie <lb/>wäſſerigen Abſonderung den Durchzug geſtattet. </s>
  <s xml:id="echoid-s2272" xml:space="preserve">— In der <lb/>zweiten Haut ſtecken Blutadern und Nerven, und es läßt ſich <lb/>denken, daß bei rein gehaltener oberſter Haut auch eine Ein-<lb/>wirkung durch dieſelbe auf Blut und Nerven möglich iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2273" xml:space="preserve">End-
<pb o="76" file="164" n="164"/>
lich ſind nicht nur Blut und Nerven, ſondern auch die Schweiß-<lb/>drüſen in der unterſten Haut vorhanden, und auch auf dieſe <lb/>iſt eine mittelbare und unmittelbare Einwirkung von außen <lb/>her möglich.</s>
  <s xml:id="echoid-s2274" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2275" xml:space="preserve">Daß beim Baden ſolche verſchiedene Einwirkungen ſtatt-<lb/>finden, werden wir ſogleich ſehen, wenn wir erſt noch einen <lb/>weſentlichen Punkt über die Thätigkeit der Haut werden in <lb/>Betracht gezogen haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s2276" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div70" type="section" level="1" n="61">
<head xml:id="echoid-head69" xml:space="preserve"><emph style="bf">V. Die Verdunſtung durch die Haut.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2277" xml:space="preserve">Wie bereits geſagt, ſcheidet ſich durch die Haut ſowohl <lb/>flüſſiges Waſſer, das heißt Waſſer in tropfbarer Geſtalt, aus <lb/>dem Körper aus, wie Waſſerdunſt, das heißt Waſſer in gas-<lb/>förmiger Geſtalt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2278" xml:space="preserve">Betrachtet man nun die Haut ſelber, ſo <lb/>zeigen ſich nur die Schweißlöcher als die offenen Wege von <lb/>innen nach außen, und es liegt nahe, daß man den ganzen <lb/>Vorgang der Verdunſtung am menſchlichen Körper dieſen <lb/>offenen Kanälen der Haut zuſchreibt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2279" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2280" xml:space="preserve">Die Sache hat jedoch einige Schwierigkeit in der Er-<lb/>klärung, und man iſt durch nähere Betrachtung genötigt, einen <lb/>tiefern Grund für dieſe Verdunſtung aufzuſuchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2281" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2282" xml:space="preserve">Es haben nämlich gewiſſenhafte Naturforſcher die Zahl <lb/>der Schweißlöcher des ganzen Körpers mit ziemlicher Genauig-<lb/>keit beſtimmt, und das iſt eben nichts Kleines. </s>
  <s xml:id="echoid-s2283" xml:space="preserve">Die Zahl der-<lb/>ſelben iſt auf verſchiedenen Körperteilen ſehr verſchieden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2284" xml:space="preserve">Auf <lb/>einem Stück Haut von der Größe eines Fünfpfennigſtücks am <lb/>Nacken, am Rücken u. </s>
  <s xml:id="echoid-s2285" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s2286" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s2287" xml:space="preserve">finden ſich 400 Schweißlöcher; </s>
  <s xml:id="echoid-s2288" xml:space="preserve">auf <lb/>einem ebenſo großen Stück Haut von den Wangen ſind 540; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2289" xml:space="preserve">ein gleich großes Stück Haut von Bauch und Bruſt hat 1130, <lb/>von der Stirn 1258, vom Halſe 1300, von der Fußſohle ſogar <lb/>2685 ſolcher Schweißlöcher. </s>
  <s xml:id="echoid-s2290" xml:space="preserve">Alles in allem gerechnet, findet
<pb o="77" file="165" n="165"/>
man für den ganzen Körper eines erwachſenen Menſchen an <lb/>2 380 000 offene Kanäle der Verduuſtung.</s>
  <s xml:id="echoid-s2291" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2292" xml:space="preserve">Da man nun die Weite dieſer einzelnen Kanäle mit Ge-<lb/>nauigkeit gemeſſen hat, ſo haben ſich die Naturforſcher die <lb/>Frage vorgelegt: </s>
  <s xml:id="echoid-s2293" xml:space="preserve">wie groß ſind die Schweißlöcher ſamt und <lb/>ſonders? </s>
  <s xml:id="echoid-s2294" xml:space="preserve">das heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s2295" xml:space="preserve">wie groß würde das Loch ſein, wenn man <lb/>aus all den zwei Millionen Schweißlöchern ein einziges machen <lb/>würde? </s>
  <s xml:id="echoid-s2296" xml:space="preserve">Die Antwort hierauf iſt, daß ſolch ein Loch an zwanzig <lb/>Quadratcentimeter groß wäre, das heißt ungefähr ein ſo großes <lb/>Loch, daß man es mit einem gewöhnlichen Teller zudecken könnte.</s>
  <s xml:id="echoid-s2297" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2298" xml:space="preserve">Hierauf ſtellte ſich nun die Naturforſchung folgende weiter-<lb/>gehende Frage. </s>
  <s xml:id="echoid-s2299" xml:space="preserve">Wenn der menſchliche Körper wirklich nur an <lb/>all den einzelnen Schweißlöchern einen ebenſo großen Ver-<lb/>dunſtungsraum beſitzt, wie etwa ein Teller, ſo müßte aus <lb/>ſolchem Teller mit Waſſer, den man ſo warm hält, wie den <lb/>menſchlichen Körper, alſo 37 Grad, und den man der Luft <lb/>ausſetzt, ſo müßte aus ſolchem Teller eine ebenſo ſtarke Ver-<lb/>dunſtung ſtattfinden, wie aus dem Körper eines Menſchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2300" xml:space="preserve">— <lb/>Iſt dies aber auch wirklich der Fall?</s>
  <s xml:id="echoid-s2301" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2302" xml:space="preserve">Angeſtellte Verſuche und getreue Beobachtungen haben <lb/>gelehrt, daß ein Menſch durchaus ein ander Ding iſt, als ein <lb/>tellergroßes Loch mit Waſſer von 37 Grad Wärme.</s>
  <s xml:id="echoid-s2303" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2304" xml:space="preserve">Von einem Teller Waſſer, der auf 37 Grad Wärme er-<lb/>halten wird, verdunſten nach genauen Beobachtungen in 24 <lb/>Stunden etwa {1/4} Pfund Waſſer. </s>
  <s xml:id="echoid-s2305" xml:space="preserve">Ein Menſch aber verliert <lb/>durch die Hautausdünſtung in 24 Stunden an zwei Pfund; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2306" xml:space="preserve">das heißt nahe achtmal ſoviel, wie er verdunſten würde, wenn <lb/>er ein Teller mit Waſſer wäre.</s>
  <s xml:id="echoid-s2307" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2308" xml:space="preserve">Es laſſen ſich zwar nun Erklärungen auffinden, weshalb <lb/>die Verdunſtung am Menſchen ſoviel mal ſtärker iſt, als an <lb/>einer anderen, tellergroßen Verdunſtungsfläche. </s>
  <s xml:id="echoid-s2309" xml:space="preserve">Man hat bei <lb/>dieſer Berechnung nur den Durchmeſſer der Schweißlöcher in <lb/>Anſchlag gebracht, während man wohl die ganze Fläche des
<pb o="78" file="166" n="166"/>
Kanals hätte mit berechnen müſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2310" xml:space="preserve">Ferner geht bei der Ver-<lb/>dunſtung des Waſſers in einem Teller Vieles vor, was bei <lb/>einzelnen, getrennten Verdunſtungspunkten nicht ſtattfindet, wie <lb/>z. </s>
  <s xml:id="echoid-s2311" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s2312" xml:space="preserve">der kühlende Einfluß eines verdunſtenden Atoms auf ſein <lb/>Nachbar-Atom; </s>
  <s xml:id="echoid-s2313" xml:space="preserve">oder das Steigen des untern, erwärmten <lb/>Waſſers, und das Sinken des oben an der Verbindungsfläche <lb/>abgekühlten Waſſers, was nicht ohne ſtörenden Einfluß auf die <lb/>Verdunſtung ſelber ſein kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s2314" xml:space="preserve">Endlich darf man nicht außer <lb/>acht laſſen, daß der menſchliche Körper einmal ſo eingerichtet <lb/>iſt, daß er fortwährend eine Wärme in ſich erzeugt, und den-<lb/>noch niemals mehr als 37 Grad warm werden darf; </s>
  <s xml:id="echoid-s2315" xml:space="preserve">es muß <lb/>alſo die Verdunſtung fich ſteigern; </s>
  <s xml:id="echoid-s2316" xml:space="preserve">weil der Menſch in dieſem <lb/>Punkte gewiſſermaßen einer Flüſſigkeit gleich iſt, die ſchon bei <lb/>37 Grad kocht und alſo niemals ſtärker als bis auf 37 Grad <lb/>erwärmt werden kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s2317" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2318" xml:space="preserve">Aber wenn man auch anderweitige Erklärungen für die ſo <lb/>ſtarke Verdunſtung am menſchlichen Körper auffinden kann, ſo <lb/>iſt doch Folgendes die wichtigſte und weſentlichſte der Er-<lb/>klärungen:</s>
  <s xml:id="echoid-s2319" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2320" xml:space="preserve">Die menſchliche Haut iſt nicht nur in den Kanälen der <lb/>Schweißdrüſen durchdringlich, ſondern es findet auch ein Durch-<lb/>dringen von gasförmigen Ausdünſtungen durch die Haut ſtatt, <lb/>ſelbſt an Punkten, wo keine Schweißlöcher ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s2321" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2322" xml:space="preserve">Die Kanäle der Schweißdrüſen führen die bereits im <lb/>Körper zu Waſſer ſich verdichtenden Gaſe in wäſſeriger Form <lb/>aus dem Körper, während die Haut ſelber für das Gas durch-<lb/>dringlich iſt, und dies durch dieſelbe ihren Ausgang nimmt, <lb/>ſelbſt da, wo kein ſichtbarer Ausgang iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2323" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2324" xml:space="preserve">Daß dem wirklich ſo iſt, daß Gaſe durch Häute hindurch-<lb/>gehen, ſelbſt wenn dieſe keine Poren haben, das ergeben die <lb/>neueſten Verſuche und Unterſuchungen der mit dem Namen <lb/>Diffuſion bezeichneten Erſcheinungen, von denen wir bereits <lb/>bei einer anderen Gelegenheit Mitteilung gemacht haben,
<pb o="79" file="167" n="167"/>
namentlich findet dieſes Durchdringen der Gaſe durch Häute <lb/>dann ſtatt, wenn auf beiden Seiten der Haut verſchiedene Lüft-<lb/>arten ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s2325" xml:space="preserve">befindet ſich jedoch auf einer Seite der Haut <lb/>Waſſer und auf der anderen Luft, ſo geht das Durchdringen <lb/>der Luftart nicht ſo merklich vor ſich.</s>
  <s xml:id="echoid-s2326" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2327" xml:space="preserve">Hieraus aber entnehmen wir, daß die gasförmige Aus-<lb/>dünſtung des Menſchen durch die Haut geſchieht, und zwar <lb/>nicht durch die Schweißkanäle allein, und hauptſächlich dann, <lb/>wenn die Haut von außen mit der Luft in Berührung ſteht. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2328" xml:space="preserve">Entziehen wir zeitweiſe den Körper der Luft und gehen ins <lb/>Waſſer, ſo verſchließen wir den Durchzug und behindern die <lb/>gasförmige Verdunſtung für dieſe Zeit.</s>
  <s xml:id="echoid-s2329" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div71" type="section" level="1" n="62">
<head xml:id="echoid-head70" xml:space="preserve"><emph style="bf">VI. Einteilung der Bäder.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2330" xml:space="preserve">Nachdem wir nun die Naturbeſchaffenheit der Luft, in <lb/>welcher wir leben oder in welcher wir ſo zu ſagen fortwährend <lb/>baden, ferner die Naturbeſchaffenheit des Waſſers kennen ge-<lb/>lernt, in welches wir uns nur zeitweiſe begeben, um daſelbſt <lb/>ein Bad zu nehmen, und endlich die Naturbeſchaffenheit und <lb/>Hauptthätigkeit der Haut unſern Leſern vorgeführt haben, auf <lb/>welche zunächſt dieſer Wechſel von Luft und Waſſer wirkt, ſind <lb/>wir vorbereitet genug, um zum Bade ſelber übergehen zu <lb/>können.</s>
  <s xml:id="echoid-s2331" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2332" xml:space="preserve">Wir werden, wie bereits angegeben, auf die große Reihe <lb/>rein mediziniſcher Bäder hier nicht eingehen, ſondern haben <lb/>nur diejenigen Bäder im Auge, die der Privatmann ohne <lb/>direkte Zuziehung des Arztes benutzt und wobei er ſich ent-<lb/>weder von allgemeinen Vorſchriften oder ſeinem eignen Gefühl <lb/>und Wohlbehagen leiten läßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2333" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2334" xml:space="preserve">Wir können die Bäder je nach ihren Wirkungen in vier <lb/>verſchiedene Klaſſen einteilen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2335" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="80" file="168" n="168"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2336" xml:space="preserve">Das allgemeinſte Bad iſt das Reinigungs-Bad.</s>
  <s xml:id="echoid-s2337" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2338" xml:space="preserve">Wir haben es bereits mehrfach erwähnt, daß ein bloßer <lb/>Lack-Überzug über die Haut, welcher die Ausdünſtung der-<lb/>ſelben hindert, hinreicht, um den Tod nach ſich zu ziehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2339" xml:space="preserve">und <lb/>hieraus ergiebt es ſich von ſelbſt, daß das Reinhalten der <lb/>Haut das erſte Erfordernis zur dauernden Geſundheit des <lb/>Leibes iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2340" xml:space="preserve">Das Reinigungs-Bad iſt alſo das hauptſächlichſte <lb/>und allgemeinſte, und wir werden dies zuerſt in Betracht <lb/>ziehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2341" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2342" xml:space="preserve">Aber ſelbſt in Fällen, wo die Haut vollkommen rein iſt, <lb/>kann durch Umſtände, die wir noch näher werden kennen lernen, <lb/>ihre Thätigkeit gehemmt ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s2343" xml:space="preserve">Sie kann durch andauernde, <lb/>feuchte Kälte, ebenſo durch erſchlaffende Hitze in den Zu-<lb/>ſtand einer krankhaften Ruhe geraten und ohne ein beſtimmtes <lb/>Leiden bereits hervorgerufen zu haben, ein leichtes, erfriſchendes, <lb/>anregendes Mittel nötig machen, das ein Bad in unübertreff-<lb/>lichem Maße gewährt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2344" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2345" xml:space="preserve">Und hier iſt es, wo das Bad ſchon den Charakter einer <lb/>Kur an ſich trägt, wenn auch einer Kur, zu der das eigene <lb/>Wohlbefinden und Gemeingefühl der beſte Arzt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2346" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2347" xml:space="preserve">Da die Haut aber ein ſo einfach Ding nicht iſt, wie ſie <lb/>im gewöhnlichen Leben erſcheint, da ſie die Grenze iſt, wo <lb/>Wärme und Kälte ihren Eindruck hervorbringen, da ſie der <lb/>Sitz eines weit verzweigten Netzes von Blutadern und Nerven, <lb/>von Talgdrüſen und Schweißdrüſen iſt, und außerdem noch in <lb/>ihrem ganzen Umfang eine für innere Gaſe des Körpers durch-<lb/>dringliche und für äußere Gaſe aufnehmende Schicht bildet, <lb/>ſo können, wie ſich von ſelbſt verſteht, die Einwirkungen der <lb/>Bäder auf die Haut ſehr verſchieden ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s2348" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2349" xml:space="preserve">Wir wollen bei unſerer Einteilung der Bäder dieſelben <lb/>je nach der Wirkung und dem Organ, auf welches ſie ge-<lb/>richtet ſind, ordnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2350" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2351" xml:space="preserve">Nach der Klaſſe der Reinigungs-Bäder wollen wir die-
<pb o="81" file="169" n="169"/>
jenigen betrachten, die entweder durch Kälte oder durch Wärme <lb/>wirken. </s>
  <s xml:id="echoid-s2352" xml:space="preserve">— Beides aber, Kälte ſowohl wie Wärme, kann ebenſo <lb/>auf die Schweißdrüſen der Haut, wie auf die durch die Haut <lb/>verbreiteten Nerven und Blutgefäße einwirken, und ſo ergiebt <lb/>ſich dann folgende Einteilung.</s>
  <s xml:id="echoid-s2353" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2354" xml:space="preserve">Erſtens: </s>
  <s xml:id="echoid-s2355" xml:space="preserve">Reinigungs-Bäder.</s>
  <s xml:id="echoid-s2356" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2357" xml:space="preserve">Zweitens: </s>
  <s xml:id="echoid-s2358" xml:space="preserve">Bäder in ihrer Einwirkung auf die Drüſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2359" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2360" xml:space="preserve">Drittens: </s>
  <s xml:id="echoid-s2361" xml:space="preserve">Bäder in ihrer Einwirkung auf die Blutgefäße.</s>
  <s xml:id="echoid-s2362" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2363" xml:space="preserve">Viertens: </s>
  <s xml:id="echoid-s2364" xml:space="preserve">Bäder in ihrer Einwirkung auf das Nerven-<lb/>ſyſtem.</s>
  <s xml:id="echoid-s2365" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2366" xml:space="preserve">Um jedoch Mißverſtändniſſe zu vermeiden, müſſen wir <lb/>hier noch auf Folgendes aufmerkſam machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2367" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2368" xml:space="preserve">Der menſchliche Leib iſt eine Fabrik, in welcher zwar eine <lb/>Teilung der Arbeit ſtattfindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s2369" xml:space="preserve">Was die Nerven zu thun haben, <lb/>thun die Adern nicht, und was die Adern bewerkſtelligen <lb/>müſſen, können die Drüſen nicht vollbringen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2370" xml:space="preserve">allein es ar-<lb/>beiten die geſonderten Organe derart Hand in Hand, daß <lb/>man auf eines gar nicht einwirken kann, ohne das andere zu <lb/>treffen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2371" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2372" xml:space="preserve">Man muß ſich daher nicht vorſtellen, als könne man auf <lb/>die Drüſen allein oder das Aderſyſtem allein oder auf die <lb/>Nerven allein einen Eindruck machen, ohne alles ſamt und <lb/>ſonders dadurch anzuregen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2373" xml:space="preserve">es handelt ſich bei unſerer Ein-<lb/>teilung nur darum, auf welches dieſer Organe man vornehm-<lb/>lich und aus erſter Hand einwirken will; </s>
  <s xml:id="echoid-s2374" xml:space="preserve">aus zweiter Hand <lb/>iſt und muß auch jede Einwirkung auf die geſamten Organe <lb/>wirkend ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s2375" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2376" xml:space="preserve">Unſere Einteilung iſt alſo nicht ſowohl eine ſolche, wie <lb/>ſie die Natur des Erfolges mit ſich bringt, ſondern wie ſie <lb/>zur leichteren Überſicht der Wirkſamkeit dieſer Natur-Einwir-<lb/>kung nötig iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2377" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2378" xml:space="preserve">Und ſomit zur Sache.</s>
  <s xml:id="echoid-s2379" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2380" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s2381" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s2382" xml:space="preserve">Volksbücher VII.</s>
  <s xml:id="echoid-s2383" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="82" file="170" n="170"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div72" type="section" level="1" n="63">
<head xml:id="echoid-head71" xml:space="preserve"><emph style="bf">VII. Das Reinigungsbad.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2384" xml:space="preserve">Die Bedeutung und das Bedürfnis der Reinigungsbäder <lb/>iſt ſo allgemein bekannt und anerkannt, daß eigentlich wenig <lb/>zu ſagen bleibt zu dem, was bereits in vortrefflichen Volks-<lb/>ſchriften hierüber geſagt worden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2385" xml:space="preserve">Wir wollen deshalb nur <lb/>das hinzufügen, was in naturwiſſenſchaftlicher Beziehung be-<lb/>lehrend ſein kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s2386" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2387" xml:space="preserve">Da wir wiſſen, daß die Haut ein äußerſt wichtiges Organ <lb/>iſt, welches den Beruf hat, zwiſchen der Welt draußen und <lb/>der Lebensthätigkeit im Innern des Menſchen einen Austauſch <lb/>und eine Wechſelwirkung zu unterhalten, ſo iſt es klar, daß <lb/>man über dieſer bereits dreifachen Hautſchicht nicht noch eine <lb/>vierte anwachſen laſſen darf, eine Schmutzſchicht, welche die <lb/>Grenzſperre zwiſchen innen und außen in gefahrvoller Weiſe <lb/>verſtärken würde.</s>
  <s xml:id="echoid-s2388" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2389" xml:space="preserve">Man glaube aber nicht, daß es hierzu ſchon ausreichend ſei, <lb/>reinlich zu leben, ſich vor Berührung mit ſchmutzigen, ſtaubigen <lb/>Gegenſtänden zu hüten und gewiſſermaßen die Haut in ihrer <lb/>ſogenannten Natur-Reinheit und Natur-Schönheit zu erhalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s2390" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2391" xml:space="preserve">Nicht nur von außen her ſetzen ſich an die Haut Staub <lb/>und verſchiedenartige Teile von all’ den Dingen an, die uns <lb/>umgeben; </s>
  <s xml:id="echoid-s2392" xml:space="preserve">ſondern von innen heraus benutzt die Natur die <lb/>Haut als die Stätte, wo ſie Alles, was ſie aus dem Körper <lb/>zu ſchaffen Luſt hat, ablagert, und ſie überläßt es uns dann, das, <lb/>was ſie abgeworfen, in irgend einer Weiſe zu transportieren.</s>
  <s xml:id="echoid-s2393" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2394" xml:space="preserve">Wir haben bereits darauf aufmerkſam gemacht, wie Waſſer <lb/>die Eigenſchaft beſitzt, viele Stoffe aufzulöſen, wie aber, wenn <lb/>das Waſſer an der Luft verdunſtet, die aufgelöſten Stoffe <lb/>zurückbleiben. </s>
  <s xml:id="echoid-s2395" xml:space="preserve">Es tritt auf unſerer Haut ſolch ein Vorgang <lb/>gar oft ein.</s>
  <s xml:id="echoid-s2396" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2397" xml:space="preserve">Der wäſſerige Schweiß, der ſich aus den Schweißporen <lb/>drängt und der unſeren Körper mehr oder weniger befeuchtet,
<pb o="83" file="171" n="171"/>
iſt kein reines Waſſer. </s>
  <s xml:id="echoid-s2398" xml:space="preserve">Es befinden ſich in dieſem gar viele <lb/>Stoffe aufgelöſt, die man ſchwerlich ſonſt hier ſuchen würde. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2399" xml:space="preserve">Es iſt eine Portion Kochſalz, einiges von Schwefelverbin-<lb/>dungen, ferner noch andere Salze und Säuren und der von <lb/>Vielen ſchwerlich hier vermutete Harnſtoff in dem Schweiße <lb/>enthalten, und überdem ſchwimmen noch im Waſſer aufgelöſte <lb/>Fett-Tröpfchen umher, die man durch Vergrößerungsgläſer <lb/>ſehr gut ſehen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s2400" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2401" xml:space="preserve">Die Natur lagert demnach mit dem Strom von Schweiß, <lb/>den ſie vom Innern des Körpers nach außen hin ſendet, auf <lb/>die Haut eine ganze Maſſe ihr nicht mehr nützlicher Stoffe <lb/>ab. </s>
  <s xml:id="echoid-s2402" xml:space="preserve">Nun iſt zwar die Luft ſo freundlich, das Waſſer in <lb/>Form von feinem Dunſt fortzuführen, und mit dieſem Dunſt <lb/>verdunſten auch eine Menge flüchtiger Säuren des Schweißes, <lb/>die ihm ſeinen eigentümlichen Geruch verleihen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2403" xml:space="preserve">aber die anderen, <lb/>nicht flüchtigen Stoffe bleiben als feſte Kruſte auf der Ober-<lb/>fläche der Haut zurück und bilden einen kleinen Überzug über <lb/>derſelben, der keineswegs auf Natur-Reinheit und Natur-Schön-<lb/>heit günſtig einwirkt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2404" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2405" xml:space="preserve">Hierzu kommt noch, daß wir aus einer anderen Quelle <lb/>ſogar wirklichen Talg auf der Haut ablagern. </s>
  <s xml:id="echoid-s2406" xml:space="preserve">In der mittleren <lb/>Hautſchicht, woſelbſt die Haare eingebettet ſind, befinden ſich <lb/>an der Wurzel derſelben kleine, traubenförmige Drüſen, welche <lb/>eine ölartige Flüſſigkeit abſondern. </s>
  <s xml:id="echoid-s2407" xml:space="preserve">Auf der Oberfläche der <lb/>Haut wird das Öl hart wie Talg, erhält ein gelbes, ſchmutziges <lb/>Anſehen und verleiht der Haut jene Klebrigkeit und das ſo-<lb/>genannte ungewaſchene Anſehen, das wir an recht gehörig <lb/>verſchlafenen Geſichtern bemerken, bevor friſches Waſſer und <lb/>gute Seife die Reinigung vollzogen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2408" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2409" xml:space="preserve">Würden wir nur ſo ſcharfblickende Augen haben, wie man <lb/>ſie mit Hilfe guter Vergrößerungsgläſer ſich künſtlich verſchafft, <lb/>ſo würden wir ſtaunend bemerken, wie die Natur durchaus <lb/>nicht ſoviel auf Natur-Reinheit und Natur-Schönheit hält, als
<pb o="84" file="172" n="172"/>
ſich Natur-Enthuſiaſten einbilden, wie ſie vielmehr die Haut <lb/>als eine Art Müllkaſten betrachtet, auf dem ſie Häufchen von <lb/>Salzen ablagert, Berge von Fett auftürmt und Schuppen von <lb/>Talg anſchmiert, und wie ſie es dem Menſchen überläßt, ſich <lb/>ſelber davon zu reinigen, wenn es ihm zu arg wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s2410" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2411" xml:space="preserve">Kommen nun zu dieſer meiſt klebrigen Natur-Schminke <lb/>noch von außen her die Schönpfläſterchen des Staubes aller <lb/>Arten, den ſelbſt die vornehmſten Menſchen nicht von ſich ab-<lb/>wehren können, wie erhaben ſie ſich auch über dem Staube <lb/>dünken mögen, ſo vollendet ſich eine Toilette, die nicht nur <lb/>unſerer Schönheit, ſondern auch hauptſächlich unſerer Geſundheit <lb/>ſchweren Eintrag thut.</s>
  <s xml:id="echoid-s2412" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2413" xml:space="preserve">Indeſſen müſſen wir der Natur die Gerechtigkeit wider-<lb/>fahren laſſen, daß ſie nicht ſo ganz und gar unbarmherzig mit <lb/>unſerer Haut umgeht, ſondern ein ſehr praktiſches Mittel weiß, <lb/>ihre Ablagerungen fortzuſchaffen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2414" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2415" xml:space="preserve">Die Oberhaut, der ſie ſoviel aufbürdet, wird von der <lb/>Natur ſelber in kleinen Schüppchen abgeſtoßen, während ſich <lb/>neue Oberhaut unter derſelben bildet. </s>
  <s xml:id="echoid-s2416" xml:space="preserve">Wir ſtecken nicht gar lange <lb/>Zeit in unſerer Haut, ſondern werfen ſie in feinen Stückchen von <lb/>uns ab. </s>
  <s xml:id="echoid-s2417" xml:space="preserve">Wir häuten uns, nicht wie die Schlangen und der-<lb/>gleichen Kreaturen mit einem Male, ſondern fahren äußerſt <lb/>langſam und einzeln aus der Haut; </s>
  <s xml:id="echoid-s2418" xml:space="preserve">weshalb denn Menſchen, <lb/>die ſich lange Zeit nicht gewaſchen oder ſonſt die Haut einzeln <lb/>durch Arbeit abgerieben haben, nach Krankheiten, namentlich <lb/>Hautkrankheiten, ſich förmlich abpellen und als neue Menſchen <lb/>aus ihrer eigenen Haut kriechen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2419" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2420" xml:space="preserve">Das iſt nun freilich eine Natur-Reinigung; </s>
  <s xml:id="echoid-s2421" xml:space="preserve">aber eine, auf <lb/>die man nicht warten kann, weil ſonſt gerade die Schüppchen <lb/>der Hornhaut ſich zu der Natur-Schmiere geſellen und den <lb/>Leib ſo gehörig verkleiſtern, daß ſchwere Krankheiten die Folge <lb/>von Vernachläſſigung des Waſchens und Badens unſer Los ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s2422" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="85" file="173" n="173"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div73" type="section" level="1" n="64">
<head xml:id="echoid-head72" xml:space="preserve"><emph style="bf">VIII. Die Empfindlichkeit und die Geſundheit.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2423" xml:space="preserve">Wie ſich von ſelbſt verſteht, iſt bei dem Bade, das wir <lb/>ſoeben betrachten, die Reinigung der Haut die Hauptſache, <lb/>während das Bad nur ein Mittel hierzu iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2424" xml:space="preserve">Es folgt hieraus <lb/>von ſelbſt, daß Waſchungen, welche eine Reinheit der Haut be-<lb/>wirken, in dieſem Punkte recht wohl das Bad erſetzen können, <lb/>und weil es bei jedem ordentlichen Menſchen gebräuchlich iſt, <lb/>mindeſtens von Zeit zu Zeit durch Waſchungen die Reinigung <lb/>des Körpers vorzunehmen, iſt es dahin gekommen, daß das <lb/>Baden zu dieſem Zweck viel zu ſelten geſchieht.</s>
  <s xml:id="echoid-s2425" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2426" xml:space="preserve">Weil dies aber der Fall iſt, deshalb trifft man gar zu <lb/>häufig auf Menſchen, die das Baden mit einem gewiſſen Ge-<lb/>fühl des Unbehagens anſehen, denen es immer einen Entſchluß <lb/>koſtet, ein Bad zu nehmen, und die es, wenn ſie baden, als <lb/>eine ungewohnte Laſt betrachten, deren ſie ſich entledigen müſſen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2427" xml:space="preserve">Da aber ein lauwarmes Bad dem Zweck der Hautreinigung <lb/>am beſten entſpricht, da der Gebrauch von ein wenig Seife, <lb/>deren Wirkung darin beſteht, daß ſie imſtande iſt, Fette löslich <lb/>zu machen, die Reinigung außerordentlich unterſtützt, ſo können <lb/>wir Bäder dieſer Art nicht dringend genug Allen empfehlen, <lb/>die ihre Geſundheit erhalten wollen, und dieſer Empfehlung <lb/>die Verſicherung hinzufügen, daß ein großer Teil der gewöhn-<lb/>lichen Krankheiten ihren Grund in unterdrückter Hautthätigkeit <lb/>haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s2428" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2429" xml:space="preserve">Die Vernachläſſigung iſt allgemein, und ſelbſt in denjenigen <lb/>Volksklaſſen, welche eine Ausgabe für ein Bad nicht gerade zu <lb/>ſcheuen haben, ſo allgemein, daß wir gewiſſen verſteckten Vor-<lb/>urteilen gegen dasſelbe hier begegnen müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2430" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2431" xml:space="preserve">Wer den Mut hat, offen zu zeigen, daß er dem Baden <lb/>nicht hold iſt, führt zu ſeiner Verteidigung die Thatſachen an, <lb/>daß die geſundeſten und kräftigſten Menſchen im Arbeiter-<lb/>ſtande zu finden ſind, aus dem nur ſehr Wenige ſich zu einem
<pb o="86" file="174" n="174"/>
Bade bequemen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2432" xml:space="preserve">daß das Landvolk kräftiger iſt, als das <lb/>ſtädtiſche, trotzdem ein Bad auf dem Lande zu den ſeltenſten <lb/>Ausnahmen gehört; </s>
  <s xml:id="echoid-s2433" xml:space="preserve">daß eine beſondere Pflege der Haut eine <lb/>Verweichlichung und Verzärtelung zu Wege bringt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2434" xml:space="preserve">daß eine <lb/>Gewöhnung an das Bad die Verſagung desſelben gefährlicher <lb/>mache; </s>
  <s xml:id="echoid-s2435" xml:space="preserve">daß man nach dem Bade leichter Erkältungen ausgeſetzt <lb/>iſt, als vor demſelben, und endlich — fügen dieſe offenen <lb/>Gegner des Badens hinzu — daß ſie ſich wohl und kräftig <lb/>fühlen, trotzdem ſie höchſtens in den heißeſten Sommertagen <lb/>ein Bad im Freien zur Abkühlung nehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2436" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2437" xml:space="preserve">Es haben dieſe Einwürfe einen Schein der Wahrheit für <lb/>ſich, ſind aber im wahren Sinne dennoch falſch. </s>
  <s xml:id="echoid-s2438" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2439" xml:space="preserve">Es iſt wahr, daß man in den arbeitenden Klaſſen, die <lb/>wenig baden, eine entwickeltere Muskelſtärke findet, als in den <lb/>anderen Bevölkerungsklaſſen, die häufiger die Bäder in An-<lb/>ſpruch nehmen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2440" xml:space="preserve">aber man täuſcht ſich, wenn man den Arbeiter <lb/>im Durchſchnitt deshalb für geſunder hält. </s>
  <s xml:id="echoid-s2441" xml:space="preserve">Die Erkrankungen <lb/>ſind unter den Arbeitern ſeltener, als unter den weniger <lb/>körperlich thätigen Ständen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2442" xml:space="preserve">aber dafür finden ſich die Todes-<lb/>fälle unter erkrankten Arbeitern bei weitem häufiger, als unter <lb/>den Erkrankten der anderen Volksklaſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2443" xml:space="preserve">Und hierin hat <lb/>unter anderen Urſachen auch die vernachläſſigte Reinigung der <lb/>Haut Schuld. </s>
  <s xml:id="echoid-s2444" xml:space="preserve">Der Arbeiter empfindet bei ſeiner ſtärker ent-<lb/>wickelten Muskelkraft, bei ſeinem weniger empfindlichen Nerven-<lb/>ſyſtem die kleineren Störungen der Geſundheit weniger, die <lb/>ſtets die Vorläufer größerer Störungen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s2445" xml:space="preserve">Er geht oft an <lb/>die Arbeit, ja, er muß oft noch an die Arbeit gehen, wenn <lb/>ihm auch nicht ſo recht zu Mute iſt, und der Fall tritt nicht <lb/>ſelten ein, daß gerade die heftige Körperbewegung einen ge-<lb/>waltſamen Schweiß durch die halb verſchloſſenen Poren ſeines <lb/>Körpers treibt und ihn nach der Arbeit geſunden läßt, während <lb/>der Wohlhabendere genötigt oder gemüßigt iſt, den geſundenden <lb/>Schweiß im Bette und nach ärztlicher Hilfe abzuwarten. </s>
  <s xml:id="echoid-s2446" xml:space="preserve">In
<pb o="87" file="175" n="175"/>
ſolchen Fällen, die gar ſehr oft eintreten, erſcheint in der That <lb/>der Arbeiter als der geſündere, denn er ſelber fühlt es kaum, <lb/>daß er wirklich krank war.</s>
  <s xml:id="echoid-s2447" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2448" xml:space="preserve">Es geht mit dem Landbewohner faſt ebenſo. </s>
  <s xml:id="echoid-s2449" xml:space="preserve">Er iſt <lb/>weniger empfindlich für leichtere Übel, und deshalb eben, weil <lb/>dieſe leiſen Mahnungen der geſtörten Geſundheit nicht empfunden <lb/>werden, treten die weſentlicheren Störungen weit kräftiger und <lb/>charakteriſtiſcher auf und raffen unter einer gleichen Zahl von <lb/>Erkrankten weit mehr fort, als es unter den nichtarbeitenden <lb/>Klaſſen der Fall iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2450" xml:space="preserve">— Würde man Erkrankungsliſten führen, <lb/>ſo würden die arbeitenden Klaſſen als geſünder erſcheinen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2451" xml:space="preserve">wer <lb/>aber Sterbeliſten vergleicht, der weiß leider, wer das traurige <lb/>Material zur Füllung derſelben zumeiſt liefert.</s>
  <s xml:id="echoid-s2452" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2453" xml:space="preserve">Wenn man der vorſorglicheren Pflege der Haut durch <lb/>laue Bäder ihre größere Empfindlichkeit zuſchreibt, ſo iſt dies <lb/>ganz richtig; </s>
  <s xml:id="echoid-s2454" xml:space="preserve">aber dieſe Empfindlichkeit, wenn ſie nicht aus-<lb/>artet, iſt ein wohlthätiger Anzeiger, der rechtzeitig auf Gefahren <lb/>aufmerkſam macht.</s>
  <s xml:id="echoid-s2455" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2456" xml:space="preserve">Es gleicht in dieſer Beziehung die Haut mit ihren Schweiß-<lb/>poren dem Sicherheitsventil einer Dampfmaſchine. </s>
  <s xml:id="echoid-s2457" xml:space="preserve">So lange <lb/>keine Gefahr da iſt, arbeitet eine Maſchine mit nicht empfind-<lb/>lichem Ventil noch ungenierter, als eine mit empfindlicherem <lb/>Ventil, das fortwährend die Schwankungen des Dampfdrucks <lb/>anzeigt und Regulierung fordert. </s>
  <s xml:id="echoid-s2458" xml:space="preserve">In Gefahren aber iſt das <lb/>unempfindliche Ventil gar oft die Urſache, daß der Dampf den <lb/>Keſſel ſprengt und ſchweren Schaden anrichtet, während die <lb/>ſcheinbar unbequeme, große Empfindlichkeit eines Ventils davor <lb/>zu ſchützen vermag.</s>
  <s xml:id="echoid-s2459" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2460" xml:space="preserve">Das Reinigungs-Bad macht an ſich nicht geſund; </s>
  <s xml:id="echoid-s2461" xml:space="preserve">aber es <lb/>iſt ein gutes Mittel, das Sicherheits-Ventil der Geſundheit auf-<lb/>recht und wirkſam zu erhalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s2462" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="88" file="176" n="176"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div74" type="section" level="1" n="65">
<head xml:id="echoid-head73" xml:space="preserve"><emph style="bf">IX. Die Ginwirkung des Waſſer-Druckes.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2463" xml:space="preserve">Wir wollen nun das Baden in ſeiner Einwirkung auf die <lb/>Schweißdrüſen oder überhaupt auf die abſondernde Eigen-<lb/>tümlichkeit der Haut betrachten.</s>
  <s xml:id="echoid-s2464" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2465" xml:space="preserve">Beim Reinigungsbad war die Hauptſache eine bloße Rei-<lb/>nigung der Haut, bei der es gleichgültig iſt, ob ſie durch <lb/>Baden oder Waſchen, oder auch durch bloßes trockenes Ab-<lb/>reiben, wenn es möglich wäre, geſchieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s2466" xml:space="preserve">In ſolchem Falle <lb/>wirkt das Waſſer eigentlich nur mechaniſch. </s>
  <s xml:id="echoid-s2467" xml:space="preserve">Sobald man <lb/>jedoch eine Einwirkung auf die Lebensorgane des Menſchen <lb/>verlangt, muß ſchon die Naturbeſchaffenheit, alſo die phyſikaliſche <lb/>Eigenſchaft des Waſſers, mitwirken und in eingreifende Be-<lb/>ziehung zu der Naturbeſchaffenheit des Leibes treten.</s>
  <s xml:id="echoid-s2468" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2469" xml:space="preserve">Blicken wir nun auf die phyſikaliſchen Einwirkungen, ſo <lb/>ſtellen ſich dieſe bei einem Menſchen, der das Luftbad, das er <lb/>fortwährend genießt, verläßt und ſich ins Waſſer begiebt, in <lb/>folgender Weiſe heraus.</s>
  <s xml:id="echoid-s2470" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2471" xml:space="preserve">Vor Allem iſt Waſſer eine ſchwerere Umgebung als Luft. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2472" xml:space="preserve">Der Druck, den die Luft auf die ganze Oberfläche der Haut <lb/>ausübt, ſteht in genauem Verhältnis zu der Thätigkeit der <lb/>inneren Organe, wie zur Haut-Ausdünſtung und -Ausſchwitzung. </s>
  <s xml:id="echoid-s2473" xml:space="preserve"><lb/>Wenn ſich nun nicht mit Genauigkeit die Wirkung angeben <lb/>läßt, die bei Vermehrung des Druckes durch das ſchwerere <lb/>Waſſer eintritt, ſo rührt dies daher, daß die Wirkungen des <lb/>Waſſers im allgemeinen ſo weſentlich und vielfach ſind, daß <lb/>der vermehrte Druck ſich nicht mit Beſtimmtheit fühlbar macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s2474" xml:space="preserve"><lb/>Ohne Einfluß aber kann dieſer Druck nicht ſein, wenn er auch <lb/>auf dem Barometer ſich nicht bedeutend in jener Tiefe erweiſt, <lb/>welche der menſchliche badende Leib einnimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2475" xml:space="preserve">Bedenkt man, <lb/>daß beim Beſteigen ſehr hoher Berge, woſelbſt der Druck der <lb/>Luft etwas abnimmt, die Einwirkung auf Ausdünſtung und <lb/>Ausſchwitzung des Körpers ſo bedeutend iſt, daß die Bewegung
<pb o="89" file="177" n="177"/>
der Glieder äußerſt beſchwerlich wird und ein Ermatten der-<lb/>ſelben ſehr ſchnell eintritt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2476" xml:space="preserve">bedenkt man ferner, wie “die <lb/>Witterung”, das heißt die Schwere oder Leichtigkeit der Luft, <lb/>welches ſich durch ein geringes Steigen oder Fallen des Baro-<lb/>meters kundgiebt, von ſo weſentlichem Einfluß auf das All-<lb/>gemeinwohl des Menſchen iſt, ſo darf man den Schluß ziehen, <lb/>daß der vermehrte Druck auf die Haut, der beim Baden ſtatt-<lb/>findet, einflußreich ſein muß, wenn es auch ſehr ſchwer hält zu <lb/>beſtimmen, wie dieſer Einfluß ſich ergiebt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2477" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2478" xml:space="preserve">Wer in einer Wanne lauwarmen Waſſers badet, wo weder <lb/>Kälte noch Wärme einen mächtigen Eindruck auf den Körper <lb/>macht, der wird die Einwirkung, die der Druck des Waſſers <lb/>ausübt, wohl im allgemeinen empfunden haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s2479" xml:space="preserve">Man fühlt <lb/>die Glieder des Leibes vom Waſſer getragen und gehoben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2480" xml:space="preserve">Erhebt man den Arm unter dem Waſſer bis zur Oberfläche, <lb/>ſo fühlt man, wie ſanft und leicht die Bewegung iſt, hebt <lb/>man ihn weiter aus dem Waſſer heraus, ſo fühlt man, welch <lb/>eine Laſt ſolch ein Arm hat, und merkt die Anſtrengung der <lb/>Muskeln, die zu dieſer Bewegung nötig iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2481" xml:space="preserve">— Man ſitzt mit <lb/>behaglicher Gemächlichkeit nackt in einer ungepolſterten Bade-<lb/>wanne, die ohne Waſſer nicht wenig, namentlich magere Menſchen, <lb/>drücken würde; </s>
  <s xml:id="echoid-s2482" xml:space="preserve">jetzt, wo Waſſer darin iſt, vermindert deſſen <lb/>Gewicht die Schwere unſeres Leibes. </s>
  <s xml:id="echoid-s2483" xml:space="preserve">Der allſeitige Druck <lb/>des Waſſers, der eben unſeren Körper faſt ſchwebend im <lb/>Waſſer erhält, bringt es mit ſich, daß man im Bade noch <lb/>mehr Muskel-Ruhe hat, als beim Liegen auf dem Lager, wo <lb/>immerhin der unten liegende Körperteil die Laſt der oben <lb/>liegenden zu tragen hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s2484" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2485" xml:space="preserve">Das alles fühlt man im lauwarmen Bade, weil in dieſem <lb/>jeder andere mächtigere Eindruck fehlt, der im heißen oder <lb/>kalten Waſſer ſtattfindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s2486" xml:space="preserve">Dieſe mächtigen Eindrücke, die wir <lb/>noch näher kennen lernen werden, verwiſchen nur beim nicht <lb/>lauwarmen Bade den Einfluß des vermehrten Druckes des
<pb o="90" file="178" n="178"/>
ſchweren Waſſers; </s>
  <s xml:id="echoid-s2487" xml:space="preserve">keineswegs aber kann man dieſe Ein-<lb/>wirkung unbedeutend und gleichgültig nennen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2488" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2489" xml:space="preserve">Es kommt vor, daß heftige, dauernde Muskel-Anſtrengung <lb/>eine augenblickliche Ermattung zu Wege bringt, in welcher <lb/>einem die auf der Bettdecke ruhende Hand ſchwer wie ein <lb/>Stein vorkommt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2490" xml:space="preserve">wer in einem ſolchen Zuſtand in ein lau-<lb/>warmes Bad gebracht wird und zehn Minuten darin verweilt, <lb/>der wird die große Erleichterung fühlen, welche der Druck des <lb/>Waſſers, dieſes allſeitige Tragen des Körpers, ausübt, und — <lb/>abgeſehen von den ſonſtigen Einwirkungen des Bades, die <lb/>natürlich den Umſtänden angemeſſen ſein müſſen — wohl ein <lb/>Wörtchen mitſprechen können von der Wirkung des veränderten <lb/>Druckes der leichteren Luft und des ſchwereren Waſſers.</s>
  <s xml:id="echoid-s2491" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2492" xml:space="preserve">Was hierbei direkt auf die Muskeln einwirkt, — und <lb/>vielleicht noch weſentlicher auf die Nerven, welche zur Bewegung <lb/>der Muskeln dienen — wirkt aber ganz ſicher auch auf die <lb/>Haut und ihre Thätigkeit, wenn es auch nicht leicht iſt, auf <lb/>ſtreng naturwiſſenſchaftlichem Wege dieſe Einwirkung genau <lb/>feſtzuſtellen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2493" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2494" xml:space="preserve">Auf ſicherem Boden befinden wir uns aber, wenn wir <lb/>bedenken, daß Waſſer eine Flüſſigkeit iſt, welche dieſen Druck <lb/>ausübt, und von dem Einfluß dieſes Umſtandes auf die Haut <lb/>und die Schweißdrüſen wollen wir im nächſten Abſchnitt <lb/>ſprechen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2495" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div75" type="section" level="1" n="66">
<head xml:id="echoid-head74" xml:space="preserve"><emph style="bf">X. Die Haut als durchdringliche Wand.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2496" xml:space="preserve">Wenn man die Einwirkungen ganz überſehen will, welche <lb/>eintreten, ſobald der Menſch die Luft verläßt und ſeinen <lb/>Körper dem Waſſer ausſetzt, ſo muß man einen Umſtand in <lb/>Erwägung ziehen, den erſt die Wiſſenſchaft der neueren Zeit <lb/>einer Unterſuchung zu unterwerfen angefangen hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s2497" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="91" file="179" n="179"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2498" xml:space="preserve">Im gewöhnlichen Leben kommt es einem ſo vor, als ob <lb/>der menſchliche Körper aus feſtem Stoffe beſtehe, in welchem <lb/>höchſtens in einzelnen Teilen etwas Waſſer enthalten iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2499" xml:space="preserve">nähere <lb/>Unterſuchungen aber ergeben dies als einen Irrtum. </s>
  <s xml:id="echoid-s2500" xml:space="preserve">— Wenn <lb/>man die Beſtandteile des menſchlichen Leibes ſamt und ſonders, <lb/>mit Blut, Fleiſch, Haut Haaren, Knochen, Nägeln und ſo weiter <lb/>zerlegt, ſo findet ſich, daß nur dreißig Prozent davon feſte <lb/>Beſtandteile, während volle ſiebzig Prozent Waſſer ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s2501" xml:space="preserve">Das <lb/>heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s2502" xml:space="preserve">in einem Menſchen, der hundert Pfund wiegt, ſind <lb/>ſiebzig Pfund Waſſer enthalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s2503" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2504" xml:space="preserve">Wer dies unglaublich findet, den wollen wir nur an die <lb/>eine Thatſache erinnern, daß Kinder in den erſten Monaten <lb/>ihres Lebens nichts als Milch genießen, und nach Verlauf <lb/>eines Jahres dreimal ſo ſchwer ſind, als ſie nach der Geburt <lb/>geweſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2505" xml:space="preserve">In hundert Gramm Muttermilch aber ſind an neunzig <lb/>Gramm Waſſer, während die Beſtandteile des Käſeſtoffes, der <lb/>Butter, des Zuckers und einiger Salze nur zehn Gramm <lb/>davon ausmachen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2506" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2507" xml:space="preserve">In Wahrheit iſt der menſchliche Körper durch und durch <lb/>mit Waſſer getränkt, welches in der geſamten Bildung ſeiner <lb/>Organe aufgeht; </s>
  <s xml:id="echoid-s2508" xml:space="preserve">und dieſes Waſſer iſt in einem fortwährenden <lb/>Wechſel begriffen, es wird verbrauchtes durch Haut-Ausdünſtung, <lb/>durch Ausatmen und durch Harn ausgeſchieden, während in <lb/>Speiſen und Getränken der Erſatz dafür in den Körper gebracht <lb/>werden muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s2509" xml:space="preserve">Nur in Krankheitsfällen, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s2510" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s2511" xml:space="preserve">bei Waſſer-<lb/>ſucht oder bei den Entleerungen und Erbrechungen in der <lb/>Cholera, tritt mehr Waſſer aus den Organen, wie mit der <lb/>Nahrung aufgenommen wird, als ein Zeichen des geſtörten <lb/>Zuſtandes des Blutes.</s>
  <s xml:id="echoid-s2512" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2513" xml:space="preserve">In phyſikaliſcher Beziehung kann man daher den Menſchen <lb/>wie eine Maſſe betrachten, von welcher nur etwa ein Drittel <lb/>aus feſtem Stoff, während über zwei Drittel aus Flüſſigkeit <lb/>beſtehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2514" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="92" file="180" n="180"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2515" xml:space="preserve">Die Maſſe iſt nun in einer Haut eingeſchloſſen, und in <lb/>dieſer Haut iſt ſie fortwährend der Luft ausgeſetzt und wird <lb/>auch zeitweiſe ins Waſſer gebracht.</s>
  <s xml:id="echoid-s2516" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2517" xml:space="preserve">Was wird die Folge hiervon ſein?</s>
  <s xml:id="echoid-s2518" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2519" xml:space="preserve">Erſt die neuere Zeit vermochte dieſe Folgen wiſſenſchaftlich <lb/>zu beſtimmen, und zwar nach vorangegangenen, ſtreng geführten <lb/>Verſuchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2520" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2521" xml:space="preserve">Setzt man eine Flüſſigkeit in Tierblaſe verſchloſſen der <lb/>Luft aus, ſo verdunſtet ſie durch die verſchloſſene Blaſe hin-<lb/>durch. </s>
  <s xml:id="echoid-s2522" xml:space="preserve">Die Haut des menſchlichen Körpers iſt ſchwächer als <lb/>gewöhnliches Leder; </s>
  <s xml:id="echoid-s2523" xml:space="preserve">aber ſelbſt durch eine lederne Blaſe ver-<lb/>dunſtet wäſſerige Flüſſigkeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s2524" xml:space="preserve">Bringt man ſolch eine gefüllte <lb/>Blaſe in Waſſer, ſo ſtellt ſich Folgendes heraus.</s>
  <s xml:id="echoid-s2525" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2526" xml:space="preserve">Wenn das Waſſer in der Blaſe ganz gleich iſt in Be-<lb/>ſtandteilen, wie das Waſſer, in welches die Blaſe eingetaucht <lb/>wird, ſo geſchieht weder ein Eintritt noch ein Austritt der <lb/>Flüſſigkeit durch die Wände der Blaſe; </s>
  <s xml:id="echoid-s2527" xml:space="preserve">ſobald aber die beiden <lb/>Waſſer nicht von gleicher Beſchaffenheit ſind, ſo findet ein <lb/>Austauſch ſtatt, und zwar derart, daß das dünnere, leichtere <lb/>Waſſer ſich in größeren Mengen durch die Haut drängt und <lb/>ſich dem dichteren, ſchwereren Waſſer beimiſcht, als von dieſem <lb/>zu jenem übergeht.</s>
  <s xml:id="echoid-s2528" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2529" xml:space="preserve">Man kann ſich hiervon durch einen Verſuch überzeugen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2530" xml:space="preserve">Bindet man einen Lampen-Cylinder unten mit Tierblaſe zu, <lb/>gießt in denſelben ſtarkes Salzwaſſer und ſetzt ihn dann in <lb/>ein Glas gewöhnlichen Waſſers hinein, ſo wird, wenn die beiden <lb/>Flüſſigkeiten anfangs ganz gleich hoch ſtehen, bald ein Unterſchied <lb/>bemerkbar werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s2531" xml:space="preserve">denn es wird ſich durch die Tierblaſe hin-<lb/>durch mehr reines Waſſer in den Cylinder hineindrängen, <lb/>ſo daß die Flüſſigkeit im Cylinder zu ſteigen anfängt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2532" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2533" xml:space="preserve">Daß der menſchliche Körper gleichen Geſetzen unterworfen <lb/>iſt, lehrt die tägliche Erfahrung.</s>
  <s xml:id="echoid-s2534" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="93" file="181" n="181"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2535" xml:space="preserve">Warum dürſtet man nach ſalzigen Speiſen? </s>
  <s xml:id="echoid-s2536" xml:space="preserve">Weshalb <lb/>trinkt man ſoviel nach dem Genuß von Häring?</s>
  <s xml:id="echoid-s2537" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2538" xml:space="preserve">Es rührt daher, daß die Wände des Magens ebenfalls <lb/>durchdringlich für Flüſſigkeiten ſind und bei weitem durch-<lb/>dringlicher als gewöhnliche Tierblaſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s2539" xml:space="preserve">Nun aber zirkuliert in <lb/>den Wänden des Magens das Blut durch reichhaltige Adern. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2540" xml:space="preserve">Befindet ſich im Magen eine Flüſſigkeit, die leichter iſt als <lb/>die Blutflüſſigkeit, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s2541" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s2542" xml:space="preserve">reines Waſſer, ſo tritt durch die <lb/>Wände des Magens das Waſſer ſofort ins Blut über, weshalb <lb/>denn unſer Durſt ſo außerordentlich ſchnell durch einen Trunk <lb/>geſtillt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s2543" xml:space="preserve">Nimmt man aber ſalzige Speiſen zu ſich, ſo <lb/>wird durch die Auflöſung der Salze die Flüſſigkeit im Magen <lb/>dichter als die Blutflüſſigkeit, und es treten Waſſerbeſtandteile <lb/>aus dem Blute durch die Wand des Magens zu der dort be-<lb/>findlichen, dichteren, ſalzigen Flüſſigkeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s2544" xml:space="preserve">Salzige Speiſen im <lb/>Magen entziehen demnach dem Blute Waſſerbeſtandteile und <lb/>verurſachen im Blute den Mangel an Waſſer, den das Gefühl <lb/>des Durſtes uns anzeigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2545" xml:space="preserve">Denn Durſt iſt eine Naturſprache, <lb/>welche ins Deutſche überſetzt ſoviel heißt wie: </s>
  <s xml:id="echoid-s2546" xml:space="preserve">“Unſer Blut <lb/>braucht Waſſer!”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2547" xml:space="preserve">Wir ſehen hiernach aus den täglichen Erfahrungen, daß <lb/>im lebenden Körper jenes Durchdringen der leichteren Flüſſigkeit <lb/>zur dichteren, die man wiſſenſchaftlich “Endosmoſe” nennt, <lb/>ſtattfindet, und ſind nun ſo weit, zeigen zu können, wie dies <lb/>beim Baden von weſentlichem Einfluß iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2548" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div76" type="section" level="1" n="67">
<head xml:id="echoid-head75" xml:space="preserve"><emph style="bf">XI. Die Anregung der Haut-Thätigkeit.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2549" xml:space="preserve">Die Haut des Badenden iſt es, die zwei Flüſſigkeiten von <lb/>einander trennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2550" xml:space="preserve">Inwendig im Körper ſtrömt unter der Ober-<lb/>haut ein fortwährender, in unzählbaren, feinen Kanälen ver-<lb/>teilter Blutſtrom in ununterbrochenem Kreislauf; </s>
  <s xml:id="echoid-s2551" xml:space="preserve">und draußen
<pb o="94" file="182" n="182"/>
am Körper befindet ſich beim Badenden eine ihn umſpülende <lb/>Waſſermaſſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s2552" xml:space="preserve">Das Blut iſt auf der einen Seite der Haut, <lb/>das Waſſer auf der anderen, und der Austauſch durch dieſe <lb/>Wand hindurch bleibt nicht aus, ſobald beide Flüſſigkeiten <lb/>nicht völlig von gleicher Dichtigkeit ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s2553" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2554" xml:space="preserve">Zwar iſt das Blut ſelbſt noch in der zarten Haut der äußerſt <lb/>feinen Adern, die ihrer Feinheit wegen die Haargefäße genannt <lb/>werden, eingeſchloſſen, und man könnte hiernach glauben, daß <lb/>dieſe doppelte Scheidewand ein Hindernis des Austauſches ſei; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2555" xml:space="preserve">wer jedoch ſchon bemerkt hat, wie bei Ohnmachten das Ein-<lb/>reiben der Haut mit Äther wirkſam iſt, und an ſich ſelbſt <lb/>einmal gefühlt hat, wie ſchnell der leichte Äther durch die <lb/>Haut und die Blutgefäße hindurch ins Blut dringt, der wird <lb/>nicht zweifeln, daß der Austauſch trotz der verdoppelten Haut <lb/>ſtattfindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s2556" xml:space="preserve">Ja, im Leben der Pflanzen, wo ſich Flüſſigkeiten <lb/>von der Wurzel aus bis zur höchſten Spitze verbreiten, rührt <lb/>auch die Verbreitung derſelben nur von dem Austauſch durch <lb/>die Wände von vielen Millionen Zellen her, die rings ver-<lb/>ſchloſſen ſind und doch ein Durchdringen der Flüſſigkeit geſtatten.</s>
  <s xml:id="echoid-s2557" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2558" xml:space="preserve">Es kommt nun darauf an, in was für Waſſer wir baden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2559" xml:space="preserve">Das Blut iſt nur um ein Zwanzigteil ſchwerer als reines <lb/>Waſſer, und dieſer Unterſchied will nicht viel ſagen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2560" xml:space="preserve">allein man <lb/>muß hierbei bedenken, daß bei dieſer Vergleichung der Schwere <lb/>ein ſehr verſchiedener Grad von Wärme vorausgeſetzt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2561" xml:space="preserve">Das <lb/>Blut iſt hier in ſeiner Naturwärme von nahe 37 Grad gemeint, <lb/>während das Waſſer im Zuſtande ſeiner größten Dichtigkeit, <lb/>das heißt, wenn es vier Grad warm iſt, zum Maßſtab an-<lb/>genommen wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s2562" xml:space="preserve">Setzen wir nun voraus, daß man ein lau-<lb/>warmes Bad nimmt, ſo iſt durch die Wärme des Waſſers <lb/>deſſen Schwere bedeutend verringert, und es ſtellt ſich der <lb/>Unterſchied der Dichtigkeit zwiſchen ſolchem Waſſer und dem <lb/>Blut ſchon bei weitem ſtärker heraus. </s>
  <s xml:id="echoid-s2563" xml:space="preserve">— Der Unterſchied <lb/>verliert aber auch nicht viel an Größe, wenn wir ein kaltes
<pb o="95" file="183" n="183"/>
Bad nehmen, indem die Kälte des Waſſers ſich für den Augen-<lb/>blick dem Blut mitteilt und es jedenfalls für einen Moment <lb/>dichter macht.</s>
  <s xml:id="echoid-s2564" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2565" xml:space="preserve">Baden wir alſo in reinem Waſſer, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s2566" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s2567" xml:space="preserve">in Flüſſen, <lb/>ſo tritt durch die Haut Waſſer in unſer Blut über. </s>
  <s xml:id="echoid-s2568" xml:space="preserve">Wir ſind <lb/>imſtande, durch ein Bad in reinem Waſſer den Durſt zu <lb/>löſchen, durch ein Bad in leichten Flüſſigkeiten dem Körper <lb/>nährende und anregende Stoffe zuzuführen, was bei den Malz-<lb/>Bädern und Kräuter-Bädern der Fall iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2569" xml:space="preserve">Verweilt man <lb/>längere Zeit im Waſſer, ſo mehrt ſich deshalb die Aufnahme <lb/>des Waſſers im Körper derart, daß man den Drang nach <lb/>Waſſer-Entleerung empfindet.</s>
  <s xml:id="echoid-s2570" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2571" xml:space="preserve">Ganz anders aber iſt es, wenn man in einer Flüſſigkeit <lb/>badet, welche dichter iſt als die Blutflüſſigkeit; </s>
  <s xml:id="echoid-s2572" xml:space="preserve">es tritt dann <lb/>Waſſer aus dem Innern des Körpers in das Bad über. </s>
  <s xml:id="echoid-s2573" xml:space="preserve">Vom <lb/>Bad in Salzwaſſer, wie dem Seebad, ſagt man mit Recht im <lb/>Volke, daß es zehre, in der That enzieht die dichtere Flüſſigkeit, <lb/>in welcher man badet, dem Blut die leichteren Beſtandteile. </s>
  <s xml:id="echoid-s2574" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2575" xml:space="preserve">Die Hausfrauen, welche Fleiſch einſalzen, werden ſchon <lb/>die Bemerkung gemacht haben, daß nach einiger Zeit der <lb/>Boden des Gefäßes, worin das geſalzene Fleiſch liegt, mit <lb/>einer blutigen Flüſſigkeit bedeckt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2576" xml:space="preserve">Es rührt dies daher, <lb/>daß die obere Schicht von Salzwaſſer, die ſich über dem Fleiſch <lb/>bildet, die leichtere Flüſſigkeit aus dem Innern des Fleiſches <lb/>herauszieht, die nun abtropft und ſich am Boden des Gefäßes <lb/>anſammeln.</s>
  <s xml:id="echoid-s2577" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2578" xml:space="preserve">Man nehme nun ein Bad, welches man wolle, wenn das <lb/>Waſſer nicht gerade eben ſo dicht iſt wie das Blut — und <lb/>das wäre ein ſonderbarer Zufall —, ſo wird entweder ein <lb/>Austritt oder ein Eintritt von Flüſſigkeit durch die Haut <lb/>ſtattfinden.</s>
  <s xml:id="echoid-s2579" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2580" xml:space="preserve">Käme es nun auf weiter nichts an, als wäſſerige Flüſſig-<lb/>keiten in den Körper zu bringen oder aus ihm zu entfernen,
<pb o="96" file="184" n="184"/>
ſo könnte man dies auf leichterem Wege, durch Trinken oder <lb/>Durſten haben, obgleich es mediziniſch oft von Wichtigkeit iſt, <lb/>gerade gewiſſe Stoffe durch die Haut eindringen oder entfernen <lb/>zu laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2581" xml:space="preserve">Für unſer Thema jedoch iſt nicht die eintretende <lb/>oder austretende Flüſſigkeit die Hauptſache, ſondern die An-<lb/>regung, welche die Haut hierbei erhält, das Wechſelgeſchäft, <lb/>zu dem ſie berufen iſt, kräftiger fortzuſetzen, wenn ſie wieder <lb/>aus dem Bade iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2582" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2583" xml:space="preserve">Unſere Haut iſt denſelben phyſikaliſchen Geſetzen unter-<lb/>worfen, wie ein Lederſack, der, mit einer Flüſſigkeit gefüllt, in <lb/>eine andere Flüſſigkeit geſtellt wird; </s>
  <s xml:id="echoid-s2584" xml:space="preserve">aber unſere Haut iſt kein <lb/>bloßer Lederſack, ſondern ein lebensthätiges Organ, das, wenn <lb/>es phyſikaliſch angeregt iſt zu einer Thätigkeit, dieſe auch fort-<lb/>ſetzt, ſelbſt wenn die Anregung aufhört. </s>
  <s xml:id="echoid-s2585" xml:space="preserve">Das, was während <lb/>des Badens geſchieht, iſt an ſich gleichgültig; </s>
  <s xml:id="echoid-s2586" xml:space="preserve">aber es regt <lb/>das Bad die Durchdringlichkeit der Haut überhaupt an, und <lb/>nach dem Bade iſt dieſelbe nicht nur mechaniſch gereinigt <lb/>ſondern auch phyſikaliſch angeregt worden, ihr Geſchäft beſſer <lb/>fortzuſetzen, ſobald man wieder aus dem Waſſerbade ins Luft-<lb/>bad tritt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2587" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2588" xml:space="preserve">Das Bad alſo regt die Lebensthätigkeit der Haut an und <lb/>macht dieſe ſamt ihren Drüſen energiſcher und wirkſamer.</s>
  <s xml:id="echoid-s2589" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div77" type="section" level="1" n="68">
<head xml:id="echoid-head76" xml:space="preserve"><emph style="bf">XII. Die lebendige Gegenwirkung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2590" xml:space="preserve">Wir haben bisher die Wirkung des Bades nur von dem <lb/>Geſichtspunkt aus betrachtet, daß die Haut in ihrer natur-<lb/>gemäßen Thätigkeit gefördert werden ſolle. </s>
  <s xml:id="echoid-s2591" xml:space="preserve">Jedes Bad aber <lb/>leiſtet in Wirklichkeit mehr als dies, denn es bleibt nicht ohne <lb/>Einfluß auf Blut und Nerven und wirkt durch dieſe auf den <lb/>ganzen Körper des Menſchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2592" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2593" xml:space="preserve">Hierbei ſpielt jedoch eine Eigenſchaft der lebenden Natur
<pb o="97" file="185" n="185"/>
eine große Rolle, welche wir mit einigen Worten erſt näher <lb/>bezeichnen müſſen: </s>
  <s xml:id="echoid-s2594" xml:space="preserve">wir meinen die Eigenſchaft der “Gegen-<lb/>wirkung.</s>
  <s xml:id="echoid-s2595" xml:space="preserve">”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2596" xml:space="preserve">Es iſt ein Zeichen des Lebens, daß der Körper gegen <lb/>äußerliche Eindrücke einen gewiſſen Widerſtand leiſtet und daß <lb/>eine Wirkung auf ein beſtimmtes Organ eine Gegenwirkung <lb/>von innen herausfordert. </s>
  <s xml:id="echoid-s2597" xml:space="preserve">Man kann dies ſchon im gewöhn-<lb/>lichen Leben in vielfachen Fällen wahrnehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2598" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2599" xml:space="preserve">Drückt man z. </s>
  <s xml:id="echoid-s2600" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s2601" xml:space="preserve">mit einem Finger auf irgend eine Stelle <lb/>der Haut, ſo ſchwindet unter dem Drucke das Blut aus dem <lb/>zuſammengedrückten, feinen Ader-Geſpinnſt, das die Haut durch-<lb/>zieht; </s>
  <s xml:id="echoid-s2602" xml:space="preserve">die Stelle wird bleich. </s>
  <s xml:id="echoid-s2603" xml:space="preserve">Läßt man mit dem Druck nach, <lb/>ſo ſtrömt nicht nur das Blut hinzu, wie es vor dem Drucke <lb/>war, ſondern das Zuſtrömen iſt heftiger, und es rötet ſich dieſe <lb/>Stelle in demſelben Maße ſtärker, als ſie erblichen war.</s>
  <s xml:id="echoid-s2604" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2605" xml:space="preserve">Durch Reiben kann man für den erſten Moment aus einem <lb/>Glied des Körpers das Blut verdrängen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2606" xml:space="preserve">ſetzt man aber das <lb/>Reiben fort oder läßt man auch nur damit nach, ſo findet die <lb/>“Gegenwirkung” ſtatt: </s>
  <s xml:id="echoid-s2607" xml:space="preserve">es drängt ſich das Blut gerade ſtärker <lb/>nach der Stelle hin, von wo es verdrängt geweſen war. </s>
  <s xml:id="echoid-s2608" xml:space="preserve">— <lb/>In krankhaften Zuſtänden iſt es ein ſchlimmes Zeichen, wenn <lb/>dieſe Gegenwirkung nicht mehr eintritt, denn es liegt darin <lb/>der Beweis, daß das Leben nicht mehr die Energie beſitzt, <lb/>ſein geſtörtes Gleichgewicht wiederherzuſtellen und fortan dem <lb/>auflöſenden Einfluß der Krankheit nicht mehr Widerſtand <lb/>leiſten wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s2609" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2610" xml:space="preserve">Es würde uns zu weit abführen von unſerm Haupt-Thema, <lb/>wenn wir auf eine weitere Erklärung dieſer höchſt wichtigen <lb/>Erſcheinung der Lebensthätigkeit eingehen wollten. </s>
  <s xml:id="echoid-s2611" xml:space="preserve">Es gehört <lb/>noch zu den ungelöſten Fragen, ob bei der Gegenwirkung das <lb/>Blut oder die Nerven die Hauptrolle ſpielen, ob die Elaſtizität <lb/>der Adern, die namentlich in hohem Maße allen denjenigen <lb/>Adern eigen iſt, die das Blut vom Herzen nach allen Teilen</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2612" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s2613" xml:space="preserve">Bernſtein, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s2614" xml:space="preserve">Volksbücher VIII.</s>
  <s xml:id="echoid-s2615" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="98" file="186" n="186"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2616" xml:space="preserve">des Leibes führen, hierbei die Hauptſache iſt, oder ob der <lb/>Reiz auf die feinen Nervenzweige, die in der Haut verbreitet <lb/>ſind, die Veranlaſſung zu einer erhöhten Thätigkeit derſelben <lb/>und ſomit zum verſtärkten Zuſtrom des Blutes bildet. </s>
  <s xml:id="echoid-s2617" xml:space="preserve">Nur <lb/>ſoviel ſteht durch tauſendfache Erfahrungen feſt, daß Kälte wie <lb/>Wärme ſehr mächtige Eindrücke auf die lebendige Widerſtands-<lb/>kraft hervorbringen und lebensvolle Gegenwirkung in hohem <lb/>Maße hervorrufen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2618" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2619" xml:space="preserve">Jedermann weiß es, daß man beim Austritt in kalte <lb/>Winterluft anfangs blaß wird und ſich ein fröſtelndes Gefühl <lb/>der Haut einſtellt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2620" xml:space="preserve">Das Blut zieht ſich auf den erſten Eindruck <lb/>der Kälte aus der Haut zurück in die inneren Organe. </s>
  <s xml:id="echoid-s2621" xml:space="preserve">Bewegt <lb/>man ſich jedoch kräftig in der kalten Luft, ſo folgt ſchnell ein <lb/>ebenſo ſtarkes Füllen der Hautäderchen mit Blut und namentlich <lb/>an den Stellen, die am meiſten ſchutzlos der Luft ausgeſetzt <lb/>ſind, wie die zu beiden Seiten in den Wind hineinragende <lb/>und noch von innen offene Naſe, die ſchutzloſen Ohren und <lb/>die von feinerer Hornhaut bedeckten Kinn und Wangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2622" xml:space="preserve">An <lb/>ſolchem kältegeröteten Geſicht, das trotz der Kälte einen hohen <lb/>Grad der Wärme und der Blutanfüllung zeigt, ſieht man die <lb/>Kraft der “Gegenwirkung” und nimmt ſie mit Recht als ein <lb/>Zeichen der Geſundheit an. </s>
  <s xml:id="echoid-s2623" xml:space="preserve">Iſt die Kälte ſo heftig, daß ſie <lb/>die feinen Blutäderchen zuſammenzieht und die Nerventhätigkeit <lb/>in der Haut lähmt, ſo erſcheint das betroffene Glied bleich <lb/>und abgeſtorben, ein Zeichen, daß hier bald ein Erfrieren ein-<lb/>treten werde. </s>
  <s xml:id="echoid-s2624" xml:space="preserve">Was aber thut man in ſolchem Fall? </s>
  <s xml:id="echoid-s2625" xml:space="preserve">Nun, <lb/>das weiß wohl ſchon jeder, daß man ſolch ein Glied nur noch <lb/>retten kann, wenn man es zeitig mit Schnee reibt, das heißt, <lb/>es noch einer heftigen Einwirkung der Kälte ausſetzt, und <lb/>dadurch einen kräftigen Reiz auf das Hervortreten der “Gegen-<lb/>wirkung” ausübt, um dieſe deſto ſtärker hervorzuheben. </s>
  <s xml:id="echoid-s2626" xml:space="preserve">— Wie <lb/>ſtark dieſe hervortritt, wiſſen die Kinder am beſten, die das <lb/>Vergnügen durch den Schnee zu waten oder mit Schneebällen
<pb o="99" file="187" n="187"/>
zu ſpielen, durch Froſtbeulen büßen müſſen, welche eben ein <lb/>ſo ſtarkes Zuſtrömen von Blut zu den erkalteten Teilen zeigen, <lb/>daß eine entzündliche Röte als “Gegenwirkung” auftritt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2627" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2628" xml:space="preserve">Daß Kälte alſo eine Gegenwirkung auf die Haut hervor-<lb/>ruft, dürfen wir hiernach als bekannt vorausſetzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2629" xml:space="preserve">Es iſt aber <lb/>nicht minder mit der Wärme der Fall, wenngleich dieſe Er-<lb/>ſcheinung nicht ſo auffallend hervortritt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2630" xml:space="preserve">Wer am warmen <lb/>Ofen hockt, der fröſtelt, ſowie er ſich von demſelben entfernt; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2631" xml:space="preserve">wer ſich die Hände am Kaminfeuer erhitzt hat, empfindet ein <lb/>eiſiges Gefühl in denſelben im ſonſt warmen Zimmer, wenn <lb/>er ſie vom Feuer entfernt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2632" xml:space="preserve">— Bei ſolchen und ähnlichen Fällen <lb/>ſpielt die Gegenwirkung, wenn auch nicht ausſchließlich, ſo doch <lb/>eine bedeutende Rolle, und wie dieſe ſowohl beim kalten wie <lb/>beim warmen Bade eintritt, und eine bedeutende Einwirkung <lb/>auf Blut und Nerven und ſomit auf den ganzen Körper ver-<lb/>anlaßt, das wollen wir in den nächſten Abſchnitten darthun.</s>
  <s xml:id="echoid-s2633" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div78" type="section" level="1" n="69">
<head xml:id="echoid-head77" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIII. Die warmen Bäder.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2634" xml:space="preserve">Im warmen Bade, das heißt in einem Bade von 37 Grad <lb/>Celſius, geſchieht vor allem die Reinigung der Haut weit <lb/>ſchneller und beſſer als im kalten, wovon ſich jeder beim Waſchen <lb/>der Hände oft genug überzeugt haben wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s2635" xml:space="preserve">Es durchdringt <lb/>aber auch warmes Waſſer weit ſchneller die Haut als kaltes, <lb/>weshalb jenes Eintreten oder Austreten der Flüſſigkeiten aus <lb/>dem Körper während des warmen Bades ſtärker vor ſich geht.</s>
  <s xml:id="echoid-s2636" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2637" xml:space="preserve">Da ein warmes Bad auch zugleich ein Wohlbehagen für <lb/>den erſten Moment erzeugt und namentlich das Gefühl der <lb/>Wärme nach dem Entkleiden und dem leichten Fröſteln hierbei <lb/>ſehr angenehm iſt, ſo iſt es dahin gekommen, daß mit Ausnahme <lb/>der ſehr heißen Sommermonate das warme Bad bei weitem <lb/>noch gebräuchlicher iſt als das kalte.</s>
  <s xml:id="echoid-s2638" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="100" file="188" n="188"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2639" xml:space="preserve">Die Wirkung des warmen Bades auf Blut und Nerven <lb/>iſt aber ſo ganz entſchieden anders als die des kalten, daß <lb/>es am wichtigſten iſt, ſich gerade hierüber eine Einſicht zu <lb/>verſchaffen, damit jeder ſich ſelber je nach ſeinem Zuſtand für <lb/>das eine oder andere entſcheiden könne.</s>
  <s xml:id="echoid-s2640" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2641" xml:space="preserve">Um zu dieſer Einſicht zu gelangen, müſſen wir noch einen <lb/>beſonderen Umſtand in der Thätigkeit unſeres Leibes hervor-<lb/>heben; </s>
  <s xml:id="echoid-s2642" xml:space="preserve">und das iſt die Erzeugung der innern Wärme.</s>
  <s xml:id="echoid-s2643" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2644" xml:space="preserve">Wie bekanntlich die Umwandlung eines Eies in ein <lb/>Hühnchen nicht bewerkſtelligt werden kann, wenn man ihm <lb/>nicht 37 Grad Wärme zuführt, ſo kann auch die Umwandlung <lb/>der nicht lebendigen Speiſen im lebendigen Leib nicht vor ſich <lb/>gehen, wenn im Körper nicht 37 Grad Wärme verhanden ſind. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2645" xml:space="preserve">Ja es ſteht mit dem lebenden Leibe noch ſchlimmer. </s>
  <s xml:id="echoid-s2646" xml:space="preserve">Dem <lb/>Ei kann man oder muß man vielmehr von außen her Wärme <lb/>zuführen, um ſeine Umwandlung zu veranlaſſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2647" xml:space="preserve">dem menſch-<lb/>lichen Körper würde alles Zuführen von Wärme nichts helfen, <lb/>wenn dieſe nicht im Innern ſich ſelber herſtellte. </s>
  <s xml:id="echoid-s2648" xml:space="preserve">Zum Glück <lb/>iſt die innere Fabrik außerordentlich thätig zur Erzeugung <lb/>von Wärme, und zwar iſt die Hauptquelle derſelben der <lb/>chemiſche Vorgang des Atmens, und das Blut, welches recht <lb/>eigentlich die Hauptrolle hierbei ſpielt, trägt die Wärme durch <lb/>den ganzen Körper.</s>
  <s xml:id="echoid-s2649" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2650" xml:space="preserve">Da man aber fortwährend atmet, alſo einem Ofen gleicht, <lb/>in welchem fortwährend eingeheizt wird, ſo würde unzweifelhaft <lb/>ein zu hoher Grad entſtehen, wenn nicht in jedem Augenblick <lb/>Teile des lebendigen Leibes in uns ſich wieder auflöſen und <lb/>abſterben würden, wodurch die erzeugte Wärme verbraucht <lb/>wird; </s>
  <s xml:id="echoid-s2651" xml:space="preserve">und indem wir die abgeſtorbenen Teile aus dem Körper <lb/>hinausbefördern, indem wir ſie ausatmen, und auch auf anderem <lb/>Wege Stoffe aus unſerem Leibe ausſcheiden, vermindern wir <lb/>wieder die Wärme und geben ſoviel weg von der Wärme, als <lb/>wir erzeugen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2652" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="101" file="189" n="189"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2653" xml:space="preserve">Lebten wir nun in einer Luft, die Tag und Nacht, Jahr <lb/>aus und Jahr ein 37 Grad warm iſt — was beiläufig geſagt <lb/>nicht zum Aushalten wäre — ſo würde die Rechnung immer <lb/>ſtimmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2654" xml:space="preserve">Wir leben aber nicht in einer ſo warmen Luft und <lb/>ſind auch nicht danach eingerichtet, fortdauernd in ſo heißer <lb/>Luft zu leben; </s>
  <s xml:id="echoid-s2655" xml:space="preserve">ſo ſchwach nun auch die Leitungsfähigkeit der <lb/>Luft in Bezug auf Wärme iſt, ſo ſehr nimmt ſie doch einen <lb/>Teil der Leibeswärme fort, und wir würden ſelbſt im Sommer <lb/>erfrieren, wenn der Körper nicht mehr an Wärme fabrizierte, <lb/>als er zu ſeinem Lebensprozeß verbraucht; </s>
  <s xml:id="echoid-s2656" xml:space="preserve">und dieſer Überſchuß <lb/>iſt es, der durch die Haut teils mit der gasartigen Ausſcheidung <lb/>teils durch den Schweiß davongeht.</s>
  <s xml:id="echoid-s2657" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2658" xml:space="preserve">Begeben wir uns nun in ein Bad, das 37 Grad Wärme <lb/>hat, ſo empfinden wir nach dem Fröſteln während des völligen <lb/>Entkleidens, wo eine Entziehung von Wärme ſtattgefunden hat, <lb/>das Wohlbehagen der natürlichen Erwärmung. </s>
  <s xml:id="echoid-s2659" xml:space="preserve">Nicht ſowohl <lb/>die Wärme des Waſſers iſt es, die dies Behagen erzeugt, ſondern <lb/>die Wärme im Innern, die dem Waſſer nichts abgiebt, weil <lb/>es gleichfalls 37 Grad warm iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2660" xml:space="preserve">Dadurch erhöht ſich für den <lb/>erſten Augenblick die Lebensthätigkeit, das Blut ſtrömt kräftiger, <lb/>der Herzſchlag iſt lebendiger, die Haut rötet ſich mehr, und <lb/>indem die feinen Adern derſelben ſich reichhaltiger füllen, findet <lb/>der Austauſch mit dem Waſſer lebhafter ſtatt, ſo daß dieſe <lb/>Seite der Wirkung eines Bades im erſten Moment beſſer im <lb/>warmen Waſſer erfüllt wird als im kalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s2661" xml:space="preserve">Allein der An-<lb/>drang des Blutes nach allen Teilen der Haut bringt als <lb/>Gegenwirkung eine Verminderung derſelben in den inneren <lb/>Organen hervor. </s>
  <s xml:id="echoid-s2662" xml:space="preserve">Die Wärme, die die feinen Adern der Haut <lb/>ausdehnt, bringt es zu Wege, daß ſie mehr Blut faſſen als <lb/>im gewöhnlichen Zuſtand, und die hierdurch entſtehende Ver-<lb/>minderung des Blutes im Innern erzeugt bald entgegengeſetzte <lb/>Erſcheinungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2663" xml:space="preserve">Daher tritt nach dieſen erſten Momenten eine <lb/>Verminderung des Pulsſchlages ein, es macht die empfundene
<pb o="102" file="190" n="190"/>
Wärme bald einem Gefühl des Erkaltens Platz, ſo daß das <lb/>Waſſer, das anfangs brühend heiß ſchien, jetzt wie erkältend <lb/>einwirkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2664" xml:space="preserve">Hierdurch aber tritt ſowohl im Atmen wie im <lb/>Nervenleben eine gewiſſe Beruhigung ein, und wenn man das <lb/>Bad nun verläßt und mit gehöriger Vorſicht Abtrocknung und <lb/>Ankleiden und Abkühlung bewerkſtelligt hat, wird man als <lb/>Wirkung des Bades eine empfänglichere Haut, eine größere <lb/>Regſamkeit ihrer Thätigkeit gewounen haben, während bei einem <lb/>Gefühl angenehmer Kühle eine Beruhigung des Blutlaufs und <lb/>der Nerventhätigkeit eintritt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2665" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2666" xml:space="preserve">Nach heftigen Anſtrengungen und bei bedeutenden Stockungen <lb/>der Hautthätigkeit bewährt daher das warme Bad ſeinen <lb/>Nutzen, wenn es nicht übertrieben wird; </s>
  <s xml:id="echoid-s2667" xml:space="preserve">während der häufige <lb/>Gebrauch eine Erſchlaffung und Verweichlichung bedenklicher <lb/>Art hervorbringt, die die geſamte Lebensthätigkeit bedeutend <lb/>herabzuſtimmen vermag.</s>
  <s xml:id="echoid-s2668" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div79" type="section" level="1" n="70">
<head xml:id="echoid-head78" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIV. Die Gegenwirkung im kalten Bade.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2669" xml:space="preserve">Wie wir geſehen haben, iſt das warme Bad gerade durch <lb/>entgegengeſetzte Wirkung auf den Körper vom weſentlichſten <lb/>Einfluß; </s>
  <s xml:id="echoid-s2670" xml:space="preserve">anſtatt durch die Wärme die Lebensthätigkeit zu er-<lb/>höhen, was auch im erſten Moment des Badens der Fall iſt, <lb/>ſtellt ſich durch die innere Gegenwirkung bald eine Beruhigung <lb/>und Ermattung ein, während die geſteigerte Haut-Ausdünſtung <lb/>ein Gefühl der angenehmen Kühle über den Körper verbreitet. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2671" xml:space="preserve">Dieſer wohlthätige Einfluß, der in vielen, namentlich krank-<lb/>haften Fällen garnicht auf anderem Wege zu erreichen iſt und <lb/>der dem warmen Bade ſeinen unſchätzbaren Wert verleiht, <lb/>verliert ſich jedoch, ſobald man zulange im Bade verweilt <lb/>oder noch höhere Grade der Wärme anwendet, was meiſthin <lb/>ſolche Badende thun, die ſchnell zum heißen Waſſerrohr greifen
<pb o="103" file="191" n="191"/>
zu müſſen glauben, ſobald ſich nach den erſten Momenten des <lb/>Badens das Gefühl der Wärme in ihrer Haut verliert.</s>
  <s xml:id="echoid-s2672" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2673" xml:space="preserve">Die Folgen dieſer Übertreibung ſind Erhöhung der Eigen-<lb/>wärme des Körpers; </s>
  <s xml:id="echoid-s2674" xml:space="preserve">hierdurch rötet ſich die Haut, ohne daß <lb/>ſie unter Waſſer Schweiß abſondert. </s>
  <s xml:id="echoid-s2675" xml:space="preserve">Der Atem wird kürzer <lb/>und ſchwerer, der Puls voller und lebhafter, das Blut ſtrömt <lb/>nach dem Kopfe, die Schlagadern des Halſes ſind in heftiger <lb/>Thätigkeit, es tritt ein Gefühl von Schwere und Druck im <lb/>Kopfe, Schwindel, Flimmern vor den Augen ein, bis endlich <lb/>das Geſicht ſich mit einem heftigen Schweiß bedeckt, ohne daß <lb/>dieſer das Wohlgefühl herbeiführt, das ſonſt unter günſtigen <lb/>Umſtänden der Begleiter des Schweißes iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2676" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2677" xml:space="preserve">Da in Fällen dieſer Art bei unvorſichtigem Benehmen <lb/>nach dem Bade ſchlimmere Zufälle eintreten als ſie vor dem <lb/>Bade geweſen, ſo können wir als allgemeine Regel bei Be-<lb/>nutzung warmer Bäder das Zufüllen warmen Waſſers während <lb/>des Badens als ſchädlich bezeichnen und den Moment, wo <lb/>nach dem erſten Gefühl der Erwärmung das der Kühlung ſich <lb/>kund giebt, als den geeignetſten betrachten, das Bad zu verlaſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2678" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2679" xml:space="preserve">Ganz entgegengeſetzt verhält es ſich mit der Wirkung der <lb/>kalten Bäder, worunter wir Bäder von 16 bis 21 Grad <lb/>Wärme verſtehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2680" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2681" xml:space="preserve">Begiebt man ſich in ſolch’ ein Bad, ſo iſt die erſte <lb/>Wirkung desſelben das Gefühl des Fröſtelns, ſelbſt in Zeiten, <lb/>wo die Luft noch kälter iſt als das Badewaſſer. </s>
  <s xml:id="echoid-s2682" xml:space="preserve">Es rührt <lb/>dies von der ſchnelleren Leitung der Wärme her, welche dem <lb/>Waſſer in höherem Maße eigen iſt als der Luft. </s>
  <s xml:id="echoid-s2683" xml:space="preserve">Die Kälte <lb/>bewirkt das Zuſammenziehen der feinen Adern der Haut und <lb/>giebt deshalb derſelben ein bleiches Anſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2684" xml:space="preserve">Es kann ſich <lb/>ſogar für den erſten Augenblick heftiger Schauder, Beklemmung <lb/>der Bruſt einſtellen, Atem und Puls werden langſamer, wie <lb/>überhaupt die Lebensthätigkeit für einen Moment niedergedrückt <lb/>wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s2685" xml:space="preserve">Die außerordentlich reich verzweigten Nerven der Haut
<pb o="104" file="192" n="192"/>
werden von dem plötzlichen Gefühl der Kälte derart angegriffen, <lb/>daß ſie auf das ganze Nervenſyſtem vorerſt herabſtimmend ein-<lb/>wirken. </s>
  <s xml:id="echoid-s2686" xml:space="preserve">— Aber es tritt ſofort nach dieſem erſten Eindruck, <lb/>der für viele etwas Abſchreckendes hat, die von uns bereits <lb/>beſprochene Gegenwirkung ein.</s>
  <s xml:id="echoid-s2687" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2688" xml:space="preserve">Der Grund dieſer Gegenwirkung iſt keineswegs mit voller <lb/>Beſtimmtheit anzugeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s2689" xml:space="preserve">Es iſt möglich, daß das aus der ganzen <lb/>Haut verdrängte Blut, welches nach den innern Organen hin-<lb/>ſtrömt, daſelbſt einen verſtärkten Reiz auf die Nerven ausübt <lb/>und ſie zu energiſcher Thätigkeit anregt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2690" xml:space="preserve">es iſt möglich, daß <lb/>ſchon die bloße Entziehung der Wärme an der Oberfläche des <lb/>Körpers eine kräftigere Wärme-Erzeugung als Ausgleichung im <lb/>Innern hervorruft und hierdurch die ganze Lebensthätigkeit <lb/>erhöht; </s>
  <s xml:id="echoid-s2691" xml:space="preserve">es iſt endlich möglich, daß der plötzliche Eindruck auf <lb/>die Hautnerven auf die geſamte Thätigkeit des Nervenſyſtems <lb/>als Reiz wirkt und die Gegenwirkung hervorruft; </s>
  <s xml:id="echoid-s2692" xml:space="preserve">aber gleich-<lb/>viel, ob hier das eine oder das andere der Fall iſt, oder ob <lb/>alle Fälle gemeinſam wirken, es bleibt die Gegenwirkung nicht <lb/>aus und giebt ſich ſelbſt bei bedeutend in ihrer Geſundheit <lb/>herabgekommenen Menſchen kund.</s>
  <s xml:id="echoid-s2693" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2694" xml:space="preserve">Regt und bewegt man ſich im Bade, namentlich wenn <lb/>man die ſehr wirkſamen Schwimmbewegungen macht, ſo fördert <lb/>man die wohlthätige Gegenwirkung bedeutend, und es macht <lb/>das Gefühl der Kälte und des Abſchreckens dem der ange-<lb/>nehmſten Kühlung und der Behaglichkeit ſchnell Platz. </s>
  <s xml:id="echoid-s2695" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2696" xml:space="preserve">Will man auch hier die Wirkung nicht übertreiben, ſo iſt <lb/>es nicht gut, zu lange im Bade zu verweilen, namentlich nicht, <lb/>wenn man im Wannenbade ſitzt oder wenn man im Flußbade <lb/>nicht recht kräftig den Körper bewegt, wie man es beim <lb/>Schwimmen thut. </s>
  <s xml:id="echoid-s2697" xml:space="preserve">Wer ſolch’ kräftiger Anſtrengung nicht fähig <lb/>iſt, aber dennoch gern im Bade längere Zeit bleibt, der ſuche <lb/>ein gutes Wellenbad auf, wo das an der Haut vorüberſtrömende <lb/>Waſſer eine ähnliche Wirkung wie die Körperbewegung im
<pb o="105" file="193" n="193"/>
ſtehenden Waſſer hervorbringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2698" xml:space="preserve">Am beſten ſind die Wellen <lb/>des Seebades, deren ſtarker Schlag eine Muskelanſtrengung <lb/>erfordert, um ſich auf den Beinen zu erhalten und ſo eine <lb/>kräftigende Thätigkeit des Leibes erweckt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2699" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2700" xml:space="preserve">Verläßt man das kalte Bad zur rechten Zeit, das heißt <lb/>zur Zeit, wo die Gegenwirkung noch vorhanden iſt, ſo wird <lb/>weder Zittern noch Zähneklappern eintreten, die ein Zeichen <lb/>des zu langen Badens ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s2701" xml:space="preserve">es wird ſich vielmehr eine Rötung <lb/>der Haut beim gehörigen Abreiben einſtellen und während <lb/>man auf der Haut angenehme Erwärmung, im Innern friſche <lb/>Kühlung empfindet, nimmt man eine Stärkung der Nerven und <lb/>der ganzen Lebensthätigkeit wahr und fühlt ſich abgehärtet gegen <lb/>Einwirkungen der Witterung, die ſonſt nicht ſelten die Quelle <lb/>ſchwerer Leiden ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s2702" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div80" type="section" level="1" n="71">
<head xml:id="echoid-head79" xml:space="preserve"><emph style="bf">XV. Schlußbetrachtungen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2703" xml:space="preserve">Wir haben über die Wirkung der Bäder auf den Menſchen <lb/>vom naturwiſſenſchaftlichen Standpunkt aus geſprochen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2704" xml:space="preserve">über <lb/>den Gebrauch der Bäder kann freilich nur das eigne Wohl-<lb/>gefühl des Geſunden und der ärztliche Rat bei Kranken die <lb/>Entſcheidung treffen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2705" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2706" xml:space="preserve">Im allgemeinen läßt ſich indeſſen zur Regel Folgendes <lb/>aufſtellen:</s>
  <s xml:id="echoid-s2707" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2708" xml:space="preserve">Menſchen, die an der Lunge leiden, dürfen überhaupt <lb/>nicht baden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2709" xml:space="preserve">Der Druck des Waſſers, der wegen der Schwere <lb/>desſelben ſtärker iſt als der Druck der Luft, iſt an ſich genügend, <lb/>bei ſolchen Perſonen das Atmen zu erſchweren. </s>
  <s xml:id="echoid-s2710" xml:space="preserve">Das Aus-<lb/>atmen wird ihnen zu leicht werden, denn hierzu hilft der <lb/>Druck des Waſſers, der von außen auf den Bruſtkaſten wirkt, <lb/>während das Einatmen, bei welchem ſie den Bruſtkaſten er-
<pb o="106" file="194" n="194"/>
weitern und alſo das Waſſer, das ihn umgiebt, verdrängen <lb/>ſollen, in ſehr merklichem Grade erſchwert wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s2711" xml:space="preserve">Dies ſind <lb/>ſchon die Beſchwerden, die ihnen beim lauwarmen Bade ent-<lb/>gegenſtehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2712" xml:space="preserve">beim kalten ſowohl wie beim warmen Bade treten <lb/>noch die Wirkungen auf Blut und Nerven hinzu, die momentan <lb/>den Blutumlauf in ſtarkem Maße erhöhen und leicht bei <lb/>Kranken dieſer Art Blutſturz veranlaſſen, das heißt, ein Über-<lb/>füllen der Luftröhrchen der Lunge mit Blut, das dann nach <lb/>Platzen eines Äderchens unter Erſtickungs-Anfällen aus dem <lb/>Munde ſtrömt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2713" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2714" xml:space="preserve">Perſonen, deren Beſchäftigung während des Tages ſie mit <lb/>Staub, Öl oder ſonſt mit Stoffen in Berührung bringt, welche <lb/>die Schweißporen der Haut leicht verſtopfen, thun am beſten, <lb/>wenn ſie, außer dem täglichen Waſchen mit Seife, welche die <lb/>Eigenſchaft hat, ſowohl das Fett des Schweißes wie von außen <lb/>herkommendes Öl aufzulöſen, mindeſtens zweimal wöchentlich <lb/>ein lauwarmes Bad von 28 bis 30 Grad nehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2715" xml:space="preserve">Ein ſolcher <lb/>Wärme-Grad iſt hinreichend, die Reinigung der Haut zu fördern <lb/>und wird weder durch Kälte noch durch Wärme eine bedeutende <lb/>Umſtimmung der Lebensthätigkeit hervorrufen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2716" xml:space="preserve">Regt und <lb/>bewegt man ſich in ſolchem Bade und reibt man namentlich <lb/>die Haut gut ab, ſo ſtellt ſich der kleine Verluſt an Wärme <lb/>durch eine mäßige Erhöhung der Hautthätigkeit her.</s>
  <s xml:id="echoid-s2717" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2718" xml:space="preserve">Perſonen, die eine ſitzende Lebensart führen, die geiſtige <lb/>Beſchäftigung haben, die leicht an Unterleibsbeſchwerden leiden <lb/>und die öfter Schlaffheit der Glieder verſpüren, thun in der <lb/>Regel gut, wenn ſie das kalte Baden vorziehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2719" xml:space="preserve">Sie werden <lb/>nach kurzem Gebrauch ſolcher Bäder die ſteigende Friſche und <lb/>Rüſtigkeit empfinden, die eine erhöhte Lebensthätigkeit erzeugt, <lb/>und werden namenlich, unter ſonſt günſtigen Umſtänden, bald <lb/>an ihrem Appetit ein Kennzeichen haben, wie der Stoff-Umſatz <lb/>im Körper gehoben und ſomit ihre ganze Körper-Beſchaffenheit <lb/>belebter und gekräftigter wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s2720" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="107" file="195" n="195"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2721" xml:space="preserve">Der dauernde Gebrauch warmer Bäder hat im allgemeinen <lb/>für Geſunde nichts Empfehlenswertes und ſollte eigentlich nur <lb/>auf ärztliche Anordnung in Anwendung kommen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2722" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2723" xml:space="preserve">Dahingegen iſt das kalte Bad faſt durchgängig von wohl-<lb/>thätiger Wirkung und ein treffliches Mittel zur Erhaltung der <lb/>Geſundheit. </s>
  <s xml:id="echoid-s2724" xml:space="preserve">Beſonders verdient es hervorgehoben zu werden, <lb/>daß dem mannigfachen leidenden Zuſtande der Frauen, ihrer <lb/>Nervenſchwäche und deren Folge am beſten durch Gebrauch <lb/>kalter Bäder vorgebeugt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s2725" xml:space="preserve">Abgeſehen davon, daß das <lb/>Frauengeſchlecht von der Natur ſchon auf Ertragung mannig-<lb/>facher Leiden und Schmerzen hingewieſen iſt, findet gerade in <lb/>der Haut-Thätigkeit der Frauen ein erhöhter Zuſtand ſtatt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2726" xml:space="preserve">Es ſchwitzen Frauen um ein bedeutendes mehr als Männer, <lb/>wohingegen ſie auf anderem Wege weniger Flüſſigkeit aus dem <lb/>Körper ausſcheiden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2727" xml:space="preserve">Da nun einmal die Zuſtände bei uns ſo <lb/>ſind, daß die Frauen bei weitem leichter gekleidet gehen als <lb/>Männer, und Hals, Bruſt, Nacken und Arme dem Spiel der <lb/>Luft in oft übermäßigem Grade preisgeben, ſo iſt die ſo-<lb/>genannte Abhärtung, die kalte Bäder gewähren, ihnen um ſo <lb/>notwendiger.</s>
  <s xml:id="echoid-s2728" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2729" xml:space="preserve">Inwieweit der geregelte Gebrauch des kalten Waſſers <lb/>auch ein Heilmittel in Erkrankungsfällen iſt, das gehört in <lb/>die mediziniſche Wiſſenſchaft. </s>
  <s xml:id="echoid-s2730" xml:space="preserve">Von unſerem Geſichtspunkte aus <lb/>können wir nur ſagen, daß eben nur ſo wenig wie irgend ein <lb/>geprieſenes Univerſal-Mittel ſich als ſolches bewährt hat, eben <lb/>ſo wenig auch das kalte Waſſer ein ſolches zu ſein ſcheint, <lb/>das von allen Übeln befreit. </s>
  <s xml:id="echoid-s2731" xml:space="preserve">Wohl aber iſt die vernünftige <lb/>Anwendung desſelben und namentlich als Reizmittel auf die <lb/>Haut-Thätigkeit, wie auf Blut und Nerven bereits in die <lb/>Praxis gebildeter und einſichtsvoller Ärzte übergegangen und <lb/>es ſteht wohl die Zeit in Ausſicht, wo die Kalt-Waſſer-Kuren <lb/>für gewiſſe Krankheitsfälle in allgemein anerkannte Anwendung <lb/>kommen werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s2732" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="108" file="196" n="196"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2733" xml:space="preserve">Zum Lobe des kalten Bades, namentlich als Mittel zur <lb/>Erhaltung der Geſundheit wollen wir ſchließlich noch Folgendes <lb/>ſagen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2734" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2735" xml:space="preserve">Die Sorge für die Kräftigung des heranwachſenden Ge-<lb/>ſchlechtes hat manches Gute bereits ins Leben gerufen, wozu <lb/>hauptſächlich das Turnen gehört. </s>
  <s xml:id="echoid-s2736" xml:space="preserve">Eine Turnübung vorzüglicher <lb/>Art iſt das Schwimmen, ſowohl als Bewegung des Leibes an <lb/>ſich, wie als ein Mittel, die ſchlimmen Folgen des zu langen <lb/>Verweilens im kalten Bade zu verhüten. </s>
  <s xml:id="echoid-s2737" xml:space="preserve">Solange ein Schwimmer <lb/>nicht ermattet, ſolange wird das Verharren im kalten Bade <lb/>nicht von ſchädlichem Einfluß ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s2738" xml:space="preserve">— Für die Jugend aber, <lb/>beſonders in den Entwickelungs-Jahren, iſt die Abhärtung <lb/>durch kalte Bäder das beſte Schutzmittel gegen Laſter, die im <lb/>Verborgenen ſchleichen, und eine treffliche Förderung der <lb/>körperlichen Geſundheit, die ſtets die Grundbedingung geiſtiger <lb/>Geſundheit iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2739" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div81" type="section" level="1" n="72">
<head xml:id="echoid-head80" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVI. Anhang: Die Kneipp-Kur.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2740" xml:space="preserve">Man hat in der letzten Zeit ſo viel von der Kneipp-Kur <lb/>geleſen und gehört, daß es unſere Leſer gewiß intereſſieren wird, <lb/>wenn wir ſie im Anſchluß an das Vorhergehende einer kurzen <lb/>Beſprechung würdigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2741" xml:space="preserve">Dieſe Heilmethode, erfunden von dem <lb/>kürzlich verſtorbenen katholiſchen Pfarrer <emph style="sp">Sebaſtian Kneipp</emph> <lb/>zu Wörishofen in dem bairiſchen Regierungsbezirk Schwaben, <lb/>gehört zur Art der ſogenannten phyſikaliſch-diätetiſchen Kuren, <lb/>das heißt derjenigen, welche auf der Wirkung der natürlichen <lb/>Heilmittel (Waſſer, Dämpfe, Luft, Licht, Wärme und Kälte) <lb/>und einer beſonderen vorgeſchriebenen Ernährungsweiſe beruhen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2742" xml:space="preserve">Der letztere Punkt muß für uns hier ausſcheiden, da er aus <lb/>dem allgemeinen Gebiet der Naturwiſſenſchaften hinaus in den
<pb o="109" file="197" n="197"/>
ſpeziellen Bereich der Medizin fällt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2743" xml:space="preserve">Wohl aber müſſen wir <lb/>unſere Aufmerkſamkeit dem erſteren Teile, dem auch bei weitem <lb/>wichtigeren der ganzen Kur, zuwenden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2744" xml:space="preserve">Pfarrer Kneipp war <lb/>ein Empiriker, das heißt, ein Erfahrungsmenſch. </s>
  <s xml:id="echoid-s2745" xml:space="preserve">Er gab ſich <lb/>nicht mit theoretiſchen Studien ab, ſondern kam auf dem Wege <lb/>des Verſuches zu ſeinen Ergebniſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2746" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2747" xml:space="preserve">Zu ſeiner Ehre muß angeführt werden, daß er alle An-<lb/>wendungen zunächſt an ſich ſelbſt erprobt hat und ſie nur dann <lb/>bei Kranken anwendete, wenn ſie ihm ſelbſt gut bekamen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2748" xml:space="preserve">In <lb/>ſeinem Buche “Meine Waſſerkur,” welchem wir hier im weſent-<lb/>lichen folgen, führt er an, daß er mit 21 Jahren als ſchwind-<lb/>ſüchtig von den Ärzten aufgegeben war und durch ein ihm <lb/>zufällig in die Hände gefallenes Büchlein “über die Heilkraft <lb/>des kalten Waſſers,” welches einen Arzt zum Verfaſſer hatte, <lb/>auf die Waſſerbehandlung hingeleitet worden wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s2749" xml:space="preserve">Dieſelbe <lb/>hätte er dann mit ſo großem Erfolge an ſich ſelbſt angewendet, <lb/>daß er noch im höheren Greiſenalter den doppelten Anſtrengungen <lb/>ſeines Berufs als Seelſorger und als Naturheilkundiger voll-<lb/>kommen gewachſen wäre.</s>
  <s xml:id="echoid-s2750" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2751" xml:space="preserve">Die Kneippkur beruht auf zwei altbekannten und viel <lb/>erprobten Grundſätzen: </s>
  <s xml:id="echoid-s2752" xml:space="preserve">Die Krankheiten ſind durch eine ver-<lb/>nünftige, naturgemäße Lebensweiſe und durch maßvolle Ab-<lb/>härtung möglichſt zu vermeiden, bereits entſtandene Übel aber <lb/>durch natürliche Mittel, zu denen Kneipp auch zahlreiche einfache <lb/>und zuſammengeſetzen Thees aus den gewöhnlichſten Wald-<lb/>und Feldkräutern und Pflanzen rechnet, möglichſt raſch zur <lb/>Heilung zu bringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2753" xml:space="preserve">Das Hauptheilmittel iſt das Waſſer, das <lb/>in allen erdenklichen Formen, teilweiſe auf recht originelle Art, <lb/>gebraucht wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s2754" xml:space="preserve">Kneipp behauptet nun, worin ihm freilich die <lb/>gelehrten Mediziner nicht beipflichten, daß das Waſſer alle <lb/>überhaupt heilbaren Krankheiten heile. </s>
  <s xml:id="echoid-s2755" xml:space="preserve">Nach ihm hat das <lb/>Waſſer eine vierfache Wirkung auf den erkrankten menſchlichen <lb/>Organismus:</s>
  <s xml:id="echoid-s2756" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="110" file="198" n="198"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2757" xml:space="preserve">1. </s>
  <s xml:id="echoid-s2758" xml:space="preserve">Es löſt die Krankheitsſtoffe im Blut auf;</s>
  <s xml:id="echoid-s2759" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2760" xml:space="preserve">2. </s>
  <s xml:id="echoid-s2761" xml:space="preserve">es ſcheidet das Aufgelöſte aus;</s>
  <s xml:id="echoid-s2762" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2763" xml:space="preserve">3. </s>
  <s xml:id="echoid-s2764" xml:space="preserve">das gereinigte Blut wird in beſſeren Umlauf gebracht <lb/>und endlich</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2765" xml:space="preserve">4. </s>
  <s xml:id="echoid-s2766" xml:space="preserve">der geſchwächte Organismus wird zu neuer Thätigkeit <lb/>gekräftigt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2767" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2768" xml:space="preserve">Über die auflöſende Wirkung des Waſſers haben wir <lb/>ſchon unter Nr. </s>
  <s xml:id="echoid-s2769" xml:space="preserve">III (Wie Waſſer ein ander Ding iſt) geſprochen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2770" xml:space="preserve">In erhöhtem Maße wohnt dieſe Kraft dem warmen Waſſer <lb/>bei. </s>
  <s xml:id="echoid-s2771" xml:space="preserve">— Kneipp verordnet zu dieſem Zwecke warme Bäder, in <lb/>denen Heilkräuter gekocht ſind (vergleiche Seite 95) — und am <lb/>meiſten leiſten in dieſer Hinſicht die Waſſerdämpfe.</s>
  <s xml:id="echoid-s2772" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2773" xml:space="preserve">Was die Ausſcheidung der Krankheitsſtoffe anlangt, ſo <lb/>ſucht ſie Kneipp durch Wickelungen, ſogenannte Aufſchläger und <lb/>Güſſe zu erreichen und zwar bevorzugt er die Behandlung <lb/>einzelner Körperteile. </s>
  <s xml:id="echoid-s2774" xml:space="preserve">Bei den Wickelungen werden dieſelben <lb/>zuerſt in ein naſſes, grobes Leinentuch gepackt und alsdann <lb/>mit einer wollenen Decke feſt verhüllt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2775" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2776" xml:space="preserve">Der Wickel wird auf verſchiedene Arten angewendet: </s>
  <s xml:id="echoid-s2777" xml:space="preserve">als <lb/>Kopfwickel, Halswickel, Bruſt- und Rückenwickel, Fuß- und <lb/>Kniewickel, Unterwickel, kurzer Wickel, naſſes Hemd und ſpaniſcher <lb/>Mantel. </s>
  <s xml:id="echoid-s2778" xml:space="preserve">Die Beſchreibung der einzelnen Anwendungen würde <lb/>uns hier zu weit führen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2779" xml:space="preserve">Unter “Aufſchläger” verſteht Kneipp <lb/>kalte Umſchläge und unterſcheidet den “Oberaufſchläger”, der die <lb/>Bruſt und den Unterleib, und den “Unteraufſchläger,” der den <lb/>ganzen Rücken bedeckt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2780" xml:space="preserve">Es werden auch beide zuſammen, oder <lb/>endlich der Umſchlag auch auf den Unterleib allein angewendet. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2781" xml:space="preserve">Beſonders bekannt iſt Kneipp durch ſeine Güſſe geworden, die <lb/>unter dem Namen “Kneippſche Güſſe” von den Anhängern der <lb/>Naturheilmethode, unter denen ſich auch praktiſche Ärzte be-<lb/>finden, allgemein in die Zahl der Heilmittel aufgenommen <lb/>ſind und denen gute Erfolge nachgeſagt werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2782" xml:space="preserve">Kneipp kennt
<pb o="111" file="199" n="199"/>
fünf verſchiedene Arten ſolcher Gießungen, die entweder mit <lb/>der Gießkanne oder einem Schlauche angewendet werden, den <lb/>Knieguß, den Oberguß, den Rückenguß, den Unterguß und den <lb/>Ganz- oder Vollguß.</s>
  <s xml:id="echoid-s2783" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2784" xml:space="preserve">Zur Stärkung des geſamten Organismus dienen endlich <lb/>die Abhärtungsmittel, als welche aufgeführt werden: </s>
  <s xml:id="echoid-s2785" xml:space="preserve">die kalten <lb/>Bäder, die Waſchungen und das Barfußgehen, welches auf bloßer <lb/>Erde im naſſen Graſe, auf naſſen Steinen, im kalten Waſſer, <lb/>ja ſogar im neugefallenen Schnee zur Ausführung kommt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2786" xml:space="preserve">Auch gehört hierzu das Stehen und Gehen im kalten Waſſer <lb/>und das ſogenannte Waſſertreten, bei welchem die Füße in <lb/>knöcheltiefem Waſſer abwechſelnd herausgezogen und wieder <lb/>hineingeſetzt werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2787" xml:space="preserve">Von Bädern werden Fußbäder, Halb-<lb/>bäder, Sitzbäder, Vollbäder und Teilbäder unterſchieden, von <lb/>denen ſämtliche, mit Ausnahme der Halbbäder, kalt oder warm <lb/>gebraucht werden können.</s>
  <s xml:id="echoid-s2788" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2789" xml:space="preserve">Die Teilbäder zerfallen wiederum in Hand- und Arm-<lb/>bäder, Kopfbäder und Augenbäder. </s>
  <s xml:id="echoid-s2790" xml:space="preserve">Ebenſo wie Voll- und <lb/>Teilbäder werden auch die Ganzwaſchungen und Teilwaſchungen <lb/>unterſchieden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2791" xml:space="preserve">Die Beſchreibung der Kräuterbäder und der aus <lb/>Kräutern zuſammengeſetzen Heilmittel (Tinkturen, Theeſorten, <lb/>Pulver, Öle) gehörte zwar zu unſerm Thema, paßte aber nicht <lb/>in unſeren Abſchnitt von den Wirkungen des Waſſers, zu <lb/>welchem dieſer Schlußaufſatz nur das Nachwort bilden ſoll. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2792" xml:space="preserve">Faſſen wir das Geſagte kurz zuſammen, ſo können wir wohl <lb/>mit Fug ſagen, daß die unleugbaren Wirkungen der Kneipp-<lb/>ſchen Heilmethode auf derjenigen Naturkraft des Waſſers be-<lb/>ruhen, die wir unter Nr. </s>
  <s xml:id="echoid-s2793" xml:space="preserve">XII als “lebendige Gegenwirkung” <lb/>bezeichnet haben, wenngleich ihre Bedeutung von zahlreichen <lb/>Laien ungebührlich überſchätzt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s2794" xml:space="preserve">Wir wollen endlich noch <lb/>hinzufügen, daß Kneipp ſelbſt einen möglichſt milden Gebrauch <lb/>des Waſſers befürwortet und den Grundſatz vertritt, daß kurz-<lb/>dauernde Anwendungen ganz kalten Waſſers im allgemeinen
<pb o="112" file="200" n="200"/>
die beſte Wirkung ausüben, was ja auch mit unſeren Aus-<lb/>führungen im XIV. </s>
  <s xml:id="echoid-s2795" xml:space="preserve">Abſchnitte übereinſtimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2796" xml:space="preserve">Im Übrigen <lb/>ſpricht Kneipp in dem Vorwort zur erſten Auflage ſeines Waſſer-<lb/>buches wohl in der Erkenntnis, daß man mit dem bloßen Aus-<lb/>probieren allein die Urſachen der Heilwirkung des Waſſers <lb/>nicht ergründen könne, den Wunſch aus, daß die Leute vom <lb/>Fach (naturwiſſenſchaftlich gebildete Ärzte) allgemeiner und um-<lb/>faſſender auch die Waſſerheilmethode gründlich ſtudieren und <lb/>in die Hand und Aufſicht nehmen mögen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2797" xml:space="preserve">Die Erfolge, die <lb/>Pfarrer Kneipp mit ſeiner Kur erzielte, ſind allerdings be-<lb/>deutend, ſo daß dieſelbe täglich mehr Anhänger gewinnt und <lb/>auch ſchon in ärztlichen Kreiſen Beachtung gefunden hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s2798" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb file="201" n="201"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div82" type="section" level="1" n="73">
<head xml:id="echoid-head81" xml:space="preserve"><emph style="bf">Naturwiſſenſchaftliche Volksbiicher</emph> <lb/>von <lb/><emph style="bf">A. Bernſtein.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head82" xml:space="preserve"><emph style="bf">Fünfte, reich illuſtrierte Auflage.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head83" xml:space="preserve">Durchgeſehen und verbeſſert <lb/>von <lb/><emph style="bf">H. Potonié</emph> und <emph style="bf">R. Hennig.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head84" xml:space="preserve">Achter Ceil.</head>
  <figure>
    <image file="201-01" xlink:href="http://echo.mpiwg-berlin.mpg.de/zogilib?fn=/permanent/library/xxxxxxxx/figures/201-01"/>
  </figure>
</div>
<div xml:id="echoid-div83" type="section" level="1" n="74">
<head xml:id="echoid-head85" xml:space="preserve"><emph style="bf">Berlin.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head86" xml:space="preserve">Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.</head>
<pb file="202" n="202"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div84" type="section" level="1" n="75">
<head xml:id="echoid-head87" xml:space="preserve">Das Recht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.</head>
<pb file="203" n="203"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div85" type="section" level="1" n="76">
<head xml:id="echoid-head88" xml:space="preserve">Inhaltsverzeichnis.</head>
<note position="right" xml:space="preserve"> <lb/># # Seite <lb/>## <emph style="bf">Etwas vom Alter der Erde.</emph> <lb/>I. # Das Leben der ſogenannten “toten Natur” . . . . # 1 <lb/>II. # Wie entſtehen die Berge und die Meere? . . . . . # 5 <lb/>III. # Die Wirkung entgegengeſetzter Kräfte auf die Erde . . # 7 <lb/>IV. # Wie ſieht es im Innern der Erde aus? . . . . . # 11 <lb/>V. # Die harte Erdſchale . . . . . . . . . . . . # 14 <lb/>VI. # Die Bildung des tropfbaren Waſſers auf der Erde . # 17 <lb/>VII. # Geſteine, die ſich unter dem Waſſer gebildet haben . . # 20 <lb/>VIII. # Unterſchied der Geſteinarten . . . . . . . . . # 23 <lb/>IX. # Unterſchied in Bezug auf das Vorkommen der Geſteine # 27 <lb/>X. # Die gegenwärtige Umbildung der Erde . . . . . # 29 <lb/>XI. # Das norddeutſche Flachland . . . . . . . . . # 37 <lb/>XII. # Die Braunkohle und ihre Entſtehung . . . . . . # 40 <lb/>XIII. # Der Bernſtein . . . . . . . . . . . . . . # 45 <lb/>XIV. # Die Eiszeit . . . . . . . . . . . . . . . # 57 <lb/>XV. # Wie alt iſt der gegenwärtige Zuſtand der Erde? . . # 73 <lb/>XVI. # Wie lange Zeit brauchte die Erdrinde, um zu erkalten? # 76 <lb/>XVII. # Haben wir noch eine Umwälzung der Erde zu erwarten? # 78 <lb/>XVIII. # Iſt eine einſtmalige Rückbildung der Erde denkbar? . # 81 <lb/>XIX. # Veränderungen, die man an den Kometen beobachtet . # 84 <lb/>XX. # Das Entſtehen und Vergehen der Fixſterne . . . . # 91 <lb/>XXI. # Nebelflecke . . . . . . . . . . . . . . . # 94 <lb/>## <emph style="bf">Bon der Umdrehung der Erde.</emph> <lb/>I. # Die Uhr . . . . . . . . . . . . . . . # 100 <lb/>II. # Das Pendel . . . . . . . . . . . . . . # 104 <lb/>III. # Die Taſchenuhren . . . . . . . . . . . . . . # 110 <lb/>IV. # Rotiert die Erde gleichmäßig? . . . . . . . . # 114 <lb/>V. # Der Umlauf des Mondes . . . . . . . . . . # 117 <lb/>VI. # Scheinbare Beſchleunigung des Mondes . . . . . # 120 <lb/>VII. # Wie der Mond unſere Tage länger macht. . . . . # 123 <lb/></note>
<pb o="IV" file="204" n="204"/>
<note position="right" xml:space="preserve"> <lb/># # Seite <lb/>## <emph style="bf">Von der Geſchwindigkeit des Lichtes.</emph> <lb/>I. # Vom Licht . . . . . . . . . . . . . . . # 128 <lb/>II. # Der Poſtenlauf des Lichtes . . . . . . . . . # 130 <lb/>III. # Was uns der Planet Jupiter angeht . . . . . . # 133 <lb/>IV. # Wie die Geſchwindigkeit des Lichtes gemeſſen wurde . # 135 <lb/>V. # Die weiteren Beſtätigungen . . . . . . . . . # 138 <lb/>VI. # Die Entdeckung Bradleys . . . . . . . . . . # 140 <lb/>VII. # Wie Bradley die Ab-Irrung des Lichtes entdeckte . . # 143 <lb/>VIII. # Ein Blick in die Unendlichkeit . . . . . . . . . # 146 <lb/></note>
<pb file="205" n="205"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div86" type="section" level="1" n="77">
<head xml:id="echoid-head89" xml:space="preserve"><emph style="bf">Etwas vom Alter der Grde.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head90" xml:space="preserve"><emph style="bf">I. Das Leben der ſogenannten “toten Natur.”</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2799" xml:space="preserve">Wir wiſſen, daß die Erdoberfläche, auf der wir leben, <lb/>nicht immer ſo beſchaffen war, wie ſie jetzt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2800" xml:space="preserve">Die Luft, die <lb/>die Erde umgiebt, war ehedem eine andere als die jetzige; </s>
  <s xml:id="echoid-s2801" xml:space="preserve">die <lb/>Pflanzen anders als die, die jetzt unter uns gedeihen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2802" xml:space="preserve">Die <lb/>Tierwelt war eine von der unſrigen verſchiedene, und der <lb/>Menſch? </s>
  <s xml:id="echoid-s2803" xml:space="preserve">— — es war ehedem eine lange Zeit, in der er <lb/>noch gar nicht auf der Erde exiſtierte, und ſicherlich war das <lb/>Menſchengeſchlecht, als es auftrat, ein anderes als das jetzige.</s>
  <s xml:id="echoid-s2804" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2805" xml:space="preserve">Iſt dem aber ſo — und hierüber herrſcht in der Wiſſen-<lb/>ſchaft nicht mehr der geringſte Zweifel — dann darf man <lb/>nicht glauben, daß die Erde fortan und in aller Ewigkeit ſo <lb/>bleiben wird, wie ſie iſt, daß Luft und Waſſer und Pflanzen <lb/>und Tiere und Menſchen in Form und Weſen unabänderlich <lb/>für alle Ewigkeit ſo fortbeſtehen werden, ſondern wir haben <lb/>das Recht, den Schluß zu ziehen, daß die Veränderungen, die <lb/>ſich nach beſtimmten Geſetzen bisher entwickelt haben, noch <lb/>ferner ſtattfinden und Umgeſtaltungen hervorgebracht werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s2806" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2807" xml:space="preserve">War die Erde einmal anders und iſt ſie bis jetzt anders <lb/>geworden, weshalb ſollte man annehmen, daß ſie nicht noch <lb/>ferner ſich umgeſtalten wird? </s>
  <s xml:id="echoid-s2808" xml:space="preserve">Große Gebiete der Erde, die <lb/>ehedem vom Waſſer bedeckt waren, liegen jetzt als trockener <lb/>Boden vor uns. </s>
  <s xml:id="echoid-s2809" xml:space="preserve">Ja, hohe Gebirge, die gegenwärtig, von <lb/>Wolken umhüllt, emporragen, tragen die unverkennbarſten
<pb o="2" file="206" n="206"/>
Spuren, daß ſie ehedem auf dem Boden eines Meeres ge-<lb/>legen haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s2810" xml:space="preserve">Sandſteinblöcke, die ganze Gebirgsketten aus-<lb/>machen, auf denen jetzt rieſige Bäume wurzeln, die die Vögel <lb/>des Himmels bewohnen und um welche die neugierigen Menſchen <lb/>herumwandeln, um von der Höhe hinabzublicken in die ſonnige <lb/>Ebene des flachen Landes, — dieſe Sandſteinblöcke waren ehe-<lb/>dem lockerer, loſer Sand auf dem Grunde eines Meeres, welcher <lb/>Muſcheln der Schalttiere in ſich aufgenommen hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s2811" xml:space="preserve">Und dieſer <lb/>lockere, loſe Sand, in dem ſich unter Umſtänden unzählige Reſte <lb/>eines ehemaligen Lebens erhalten haben, iſt erſt im Verlauf <lb/>vieler Tauſende von Jahren auf dem Boden des Meeres zu <lb/>Stein geworden, und wurde dann durch eine Kraft empor-<lb/>gerichtet als Felsgebirge, die der Menſch anſtaunt und als <lb/>ein Bild unveränderlicher Ewigkeit betrachtet.</s>
  <s xml:id="echoid-s2812" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2813" xml:space="preserve">Und Gebiete, die heute unter dem Meeresſpiegel liegen, <lb/>ſie haben ebenſo unzweifelhaft einmal dem Licht und der Luft <lb/>angehört und waren der feſte Boden für die vorweltliche Tier-<lb/>und Pflanzenwelt, die die Reſte ihres Daſeins darin zurück-<lb/>gelaſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2814" xml:space="preserve">Das Meer hat das jetzt begraben, was die Erde einſt <lb/>in ihren Schoß aufgenommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2815" xml:space="preserve">Denn das Meer, das uns wie <lb/>ein Bild der Unendlichkeit erſcheint, hat ſich ſtets verändert.</s>
  <s xml:id="echoid-s2816" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2817" xml:space="preserve">Auch in menſchlich-hiſtoriſcher Zeit ſind ſolche Schwan-<lb/>kungen hier und da durch günſtige Umſtände bemerkbar ge-<lb/>worden; </s>
  <s xml:id="echoid-s2818" xml:space="preserve">ſo ſind langſame und ſtetige Senkungen beziehungs-<lb/>weiſe Hebungen an vielen Küſten beobachtet worden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2819" xml:space="preserve">Ein be-<lb/>rühmtes Beiſpiel bieten die an der Meeresküſte gelegenen Ruinen <lb/>des Serapis-Tempel bei Puzzuoli nahe Neapel. </s>
  <s xml:id="echoid-s2820" xml:space="preserve">Die drei etwas <lb/>über 12 Meter hohen, aus je einem einzigen Marmorſtück ge-<lb/>fertigten Säulen (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s2821" xml:space="preserve">1), zeigen in ihrem unterſten Teil bis <lb/>2 {1/2} Meter Höhe eine unverſehrte glatte Oberfläche, die darüber <lb/>befindliche etwa 3 {1/2} Meter hohe Zone hingegen iſt mit zahl-<lb/>reichen Löchern verſehen, welche von der Bohrmuſchel, deren <lb/>Schalen in den Löchern vielfach noch erhalten ſind, gebohrt
<pb o="3" file="207" n="207"/>
wurden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2822" xml:space="preserve">Um wenigſtens 6 Meter muß der Boden des Serapis-<lb/>Tempels ſich einmal geſenkt haben, um den Bohrmuſcheln <lb/>Gelegenheit zu geben, ihre Löcher in die Säulen zu bohren. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2823" xml:space="preserve">Die glatte Zone im unterſten Teil der Säulen erklärt ſich leicht <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-207-01a" xlink:href="fig-207-01"/>
dadurch, daß die letzteren, als ſie im Waſſer ſtanden, bis zur <lb/>Höhe dieſer Zone in vulkaniſchem Sand ſteckten. </s>
  <s xml:id="echoid-s2824" xml:space="preserve">Die Boden-<lb/>Bewegung dauert an der Stelle fort: </s>
  <s xml:id="echoid-s2825" xml:space="preserve">nachdem die Tempelreſte <lb/>wieder in die Luft erhoben wurden, ſinken ſie, dem Boden folgend, <lb/>heute, und zwar jährlich um ca. </s>
  <s xml:id="echoid-s2826" xml:space="preserve">2 Centimeter, wieder hinab.</s>
  <s xml:id="echoid-s2827" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div86" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-207-01" xlink:href="fig-207-01a">
<caption xml:id="echoid-caption11" xml:space="preserve">Fig. 1.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2828" xml:space="preserve">Ungeheure Veränderungen haben langſam im Laufe der
<pb o="4" file="208" n="208"/>
Zeiten auf der Erde ſtattgefunden: </s>
  <s xml:id="echoid-s2829" xml:space="preserve">wie ſtetes Tropfen den <lb/>Stein aushöhlt, ſo ergeben auch immerwährend und ewige <lb/>Zeiten hindurch währende kleine Bewegungen gewaltige Reſultate. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2830" xml:space="preserve">Wo alſo heute Feſtland iſt, war Meer, und wo heute Meer iſt, <lb/>da war Feſtland. </s>
  <s xml:id="echoid-s2831" xml:space="preserve">In den verſchiedenen geologiſchen Epochen <lb/>ſah die Landkarte der Erde demnach ganz anders aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s2832" xml:space="preserve">Das <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-208-01a" xlink:href="fig-208-01"/>
Kärtchen (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s2833" xml:space="preserve">2) zeigt uns z. </s>
  <s xml:id="echoid-s2834" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s2835" xml:space="preserve">das etwaige Ausſehen Central-<lb/>Europas zu einer Zeit, die wir noch als die “Kreidezeit” kennen <lb/>lernen werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2836" xml:space="preserve">Wo alſo heute u. </s>
  <s xml:id="echoid-s2837" xml:space="preserve">a. </s>
  <s xml:id="echoid-s2838" xml:space="preserve">Hamburg, Berlin und <lb/>Breslau, München und Wien liegen, war damals Meer.</s>
  <s xml:id="echoid-s2839" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div87" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-208-01" xlink:href="fig-208-01a">
<caption xml:id="echoid-caption12" xml:space="preserve">Fig. 2.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2840" xml:space="preserve">Alſo die Berge ſind nicht ewig und das Meer nicht unend-<lb/>lich vor dem Forſcherblick der Wiſſenſchaft; </s>
  <s xml:id="echoid-s2841" xml:space="preserve">beginnen wir daher <lb/>dieſe unſere geologiſchen Betrachtungen mit der Thätigkeit der <lb/>Erde in Bildung der Gebirge und der Meere.</s>
  <s xml:id="echoid-s2842" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="5" file="209" n="209"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div89" type="section" level="1" n="78">
<head xml:id="echoid-head91" xml:space="preserve"><emph style="bf">II. Wie entſtehen die Berge und die Meere?</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2843" xml:space="preserve">Die Berge ſind nicht ewig und die Meere nicht unendlich. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2844" xml:space="preserve">Die Berge ſind erſt groß geworden und entſtehen teilweiſe <lb/>noch jetzt — langſam und unmerklich —, und die Meere <lb/>ſind in ihrem Sein und Weſen der ewigen Umwandlung aus-<lb/>geſetzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2845" xml:space="preserve">Es fehlte nur bisher der beobachtenden Menſchheit der <lb/>Blick für die Geſchichte dieſer Umwandlungen, und die Wiſſen-<lb/>ſchaft hat unendliche Mühe, der Natur in ihren kleinen Wir-<lb/>kungen und großen Folgen mit ſicherem Blicke nachzuſpüren.</s>
  <s xml:id="echoid-s2846" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2847" xml:space="preserve">Wir werden von der Bildung der Berge und der Meere <lb/>noch ein Näheres unſeren Leſern darzulegen ſuchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2848" xml:space="preserve">Für jetzt <lb/>jedoch wollen wir den Kampf ſchildern, der zwiſchen den <lb/>Bergen und den Meeren geführt wird; </s>
  <s xml:id="echoid-s2849" xml:space="preserve">ein Kampf, bei welchem <lb/>die Quellen, die Flüſſe und Ströme einerſeits und andererſeits <lb/>die Luft, die Alles umſchließt, ihre große, unendliche Rolle <lb/>ſpielen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2850" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2851" xml:space="preserve">Von den Bergen wäſcht der Regen unausgeſetzt kleine Teile <lb/>ab. </s>
  <s xml:id="echoid-s2852" xml:space="preserve">Selbſt die härteſten Steine verwittern an ihrer Oberfläche <lb/>durch die Einwirkung der Luft und der Feuchtigkeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s2853" xml:space="preserve">Die <lb/>Oberfläche aller Steine ſieht faſt immer anders aus, als ihr <lb/>Inneres, denn dieſe Oberfläche iſt immer im Verwittern, im <lb/>Zerkrümeln begriffen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2854" xml:space="preserve">Felſen, die bis in die Wolken hinein-<lb/>ragen, ſind beſtimmt, nach Tauſenden und Millionen von <lb/>Jahren dem Erdboden gleich gemacht zu werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2855" xml:space="preserve">Die Wolken, <lb/>die ſie umhüllen, ſind die Zeugen ihrer fortwährenden, langſam <lb/>vor ſich gehenden Zerſtörung. </s>
  <s xml:id="echoid-s2856" xml:space="preserve">Was in ſtiller, feuchter Luft <lb/>von den Felſen verwittert, führt der trockene Wind als feinen <lb/>Staub davon und wäſcht der Regen herunter, um es am Fuße <lb/>der Gebirge abzulagern. </s>
  <s xml:id="echoid-s2857" xml:space="preserve">Daher iſt am Fuße der meiſten Ge-<lb/>birge ein reiches Fruchtland verbreitet, denn aus den ver-<lb/>witterten Geſteinen wird eine fruchtbare Erddecke. </s>
  <s xml:id="echoid-s2858" xml:space="preserve">Die dürren <lb/>Felſen, die ein Bild des ſtarren Todes ſind, werden nach ihrer
<pb o="6" file="210" n="210"/>
Verwitterung geſegnet und bilden einen üppigen Grund, auf <lb/>dem ein Pflanzen-Paradies gedeiht.</s>
  <s xml:id="echoid-s2859" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2860" xml:space="preserve">Sammelt ſich aber der Regen auf den Höhen der Berge <lb/>in Vertiefungen, die ihm den Ablauf zur Erde verſperren, <lb/>ſo ſucht das ruheloſe Waſſer ſeinen Weg durch alle Spalten <lb/>des Felſens, durch alle Lücken der Geſteine und ſickert hindurch <lb/>durch Sand- und Erdlagen und bricht dann an einer tiefer <lb/>liegenden, oft ſehr fernen Stelle als ſchwacher Berg-Quell <lb/>heraus an das Licht des Tages, um das Geſtein unter ihm <lb/>zu überrieſeln, durch Rinnen und Hohlgänge und ausgeſpülte <lb/>Dämme bald zu ſtürzen, bald zu fließen, bald ſich hindurch zu <lb/>winden, bis er Genoſſen findet, die gleichen Weges mit ihm <lb/>ziehen und ſich zu einem größeren Quell vereinen, der einem <lb/>Bache zueilt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2861" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2862" xml:space="preserve">Wo eilt der Bach hin? </s>
  <s xml:id="echoid-s2863" xml:space="preserve">Der Bach ſchlängelt ſich ſo lange <lb/>durchs Land, bis er einen Strom findet, der das Waſſer ver-<lb/>ſchiedener Bäche in ſich aufgenommen hat, und der Strom eilt <lb/>dem Meere zu, um in deſſen unendlichem Becken ſich zu ver-<lb/>lieren und das ewig volle und dennoch ewig dürſtende Meer <lb/>mit ſeinen Gewäſſern ſpeiſen zu helfen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2864" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2865" xml:space="preserve">Aber jeder Regen und jeder Quell und jeder Bach und <lb/>jeder Strom und jeder Fluß führt kleine, in ihm ſchwebende <lb/>oder auch aufgelöſte Teilchen der feſten Gebirge mit ſich hinab. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2866" xml:space="preserve">Was auf dem weiten Wege zu beiden Seiten der Ufer oder <lb/>in der Tiefe abgelagert wird, reißt das nächſte Waſſer bei <lb/>vollerem Strom wieder weiter fort, und ſo fließt und ſtrömt <lb/>und ſtürzt und wirbelt fort und fort das im Vergehen be-<lb/>griffene Gebirge ins Meer hinab, und ſo ſind die himmel-<lb/>anragenden Felſen beſtimmt, vernichtet und in die Ebene ge-<lb/>tragen, zum Teil vom Meere verſchlungen zu werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s2867" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="7" file="211" n="211"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div90" type="section" level="1" n="79">
<head xml:id="echoid-head92" xml:space="preserve"><emph style="bf">III. Die Wirkung entgegengeſetzter Kräfte auf</emph> <lb/><emph style="bf">die Erde.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2868" xml:space="preserve">Die Berge alſo zerfallen und fließen mit den Gewäſſern <lb/>in kleinen, aufgeſchwemmten Teilen ins Meer.</s>
  <s xml:id="echoid-s2869" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2870" xml:space="preserve">Das Meer aber ſammelt an den Mündungen der Ströme <lb/>alle jene kleinen Geſteinsteilchen wieder, wo ſie zu Boden fallen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2871" xml:space="preserve">Iſt es jedoch hinabgelangt in die Tiefe, ſo findet es daſelbſt <lb/>Genoſſen, die vor ihm ſich hingelagert haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s2872" xml:space="preserve">liegen aber <lb/>ſtändig Geſteinsteilchen ruhig im Waſſer nebeneinander, ſo <lb/>werden ſie im Laufe langer Zeit miteinander verkittet, ſodaß <lb/>ſie wiederum Felſen werden, wie ſie es ehedem waren, als ſie <lb/>hoch in die Luft emporragten.</s>
  <s xml:id="echoid-s2873" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2874" xml:space="preserve">Verſchlingt das Meer demnach die Felſen, ſo verdrängen <lb/>fort und fort die kleinen Teilchen wiederum das Meer und <lb/>füllen ſeinen Boden aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s2875" xml:space="preserve">Das Meer muß daher in ſeinen <lb/>Ufern ſteigen und fortwährend in der Weite zunehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2876" xml:space="preserve">Und <lb/>da dies immer der Fall und ewig der Fall ſein wird, ſo <lb/>müßten die Berge verſchwinden, die Meere ſich erheben und <lb/>die Länder bedecken, die jetzt über dem Spiegel der Gewäſſer <lb/>hervorragen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2877" xml:space="preserve">Der trockene Boden müßte hinabſinken und <lb/>endlich eine gleichmäßige Kugel bilden, auf der Waſſer allein <lb/>die Oberfläche bildet.</s>
  <s xml:id="echoid-s2878" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2879" xml:space="preserve">Dieſer Zerſtörung des Erdbodens durch das Waſſer wirkt <lb/>jedoch die die Berge bildende Kraft entgegen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2880" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2881" xml:space="preserve">Wie ein Apfel, der an der Luft liegt, langſam durch Ver-<lb/>dunſtung von ſeiner Flüſſigkeit abgiebt, ſodaß der Umfang des <lb/>Apfels geringer wird und die ihn urſprünglich prall umſpannende, <lb/>unelaſtiſche Haut nunmehr Falten bilden muß, oder kurz und <lb/>bündig, ſodaß der Apfel einſchrumpft: </s>
  <s xml:id="echoid-s2882" xml:space="preserve">ebenſo ſchrumpft die <lb/>älter werdende Erde allmählich zuſammen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2883" xml:space="preserve">Sie giebt durch <lb/>langſame Abkühlung Wärme an den Weltenraum ab, und da <lb/>ſie ſich dadurch in ihrem Raumgehalt vermindert, die erſtarrte
<pb o="8" file="212" n="212"/>
Erdkruſte jedoch wie die Apfelhaut vergleichweiſe unelaſtiſch iſt, <lb/>ſo muß auch die letztere Runzeln bekommen: </s>
  <s xml:id="echoid-s2884" xml:space="preserve">Altersrunzeln, die <lb/>wir kleinen Menſchen als Gebirge bezeichnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2885" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2886" xml:space="preserve">Bei der allmählichen Erd-Abkühlung entſtehen Spaunungen <lb/>in der ſtarren Erdkruſte, die, wenn ſie ſich endlich auslöſen, als <lb/>Erdbeben in die Erſcheinung treten, wodurch oft Berge er-<lb/>ſchüttert, Thäler verſchüttet werden, der flache Boden der Erde <lb/>tiefe Riſſe erhält, Gewäſſer ihren Lauf ändern, alte Quellen <lb/>verſiegen und neue entſtehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2887" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2888" xml:space="preserve">In ſtiller Wirkſamkeit iſt die gebirgsbildende Kraft un-<lb/>unterbrochen thätig, und unbemerkbar für das Menſchenauge <lb/>und das Gedächtnis eines Menſchengeſchlechts richtet dieſe <lb/>Kraft neue Berge auf, ſchafft dieſe Kraft neue Inſeln, erhebt <lb/>dieſe Kraft große Landſtriche, die oft Hunderte von Quadrat-<lb/>meilen umfaſſen, und ſchafft neue Unebenheiten auf dem Erden-<lb/>rund, der Thätigkeit der Gewäſſer, die Alles auszugleichen <lb/>ſtrebt, entgegen wirkend.</s>
  <s xml:id="echoid-s2889" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2890" xml:space="preserve">Bei dieſem Kampf der Abtragung der Geſteine einerſeits <lb/>namentlich durch das Waſſer und der Bildung von Uneben-<lb/>heiten infolge der Abkühlung, wechſelt die Erde ihre Geſtalt <lb/>wie ein Gewand, ein Kampf, der vom Erdenleben Zeugnis <lb/>giebt, wenn auch das Leben eines Menſchen viel zu kurz iſt, <lb/>um nur den allerkleinſten Teil des Erdenlebens mit eignem <lb/>Blicke zu überſchauen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2891" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2892" xml:space="preserve">Über die wirklichen Verhältniſſe der Aufrichtungen und <lb/>Faltenbildungen der Erdkruſte findet man häufig recht falſche <lb/>Vorſtellungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2893" xml:space="preserve">Die Berge und Gebirge werden für ſteile und <lb/>plötzlich emporgerichtete Bildungen gehalten, was ſie in Wirk-<lb/>lichkeit nicht ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s2894" xml:space="preserve">In Wahrheit iſt die Erde hinſichtlich ihrer <lb/>Hervorhebungen höchſtens einer ſchwach rauhen Kegelkugel zu <lb/>vergleichen, und könnte die Erde wie eine ſolche Kugel auf <lb/>einer glatten Ebene gerollt werden, ſo würden die Gebirge <lb/>keinerlei Hinderniſſe bilden, die den Lauf auch nur irgendwie
<pb o="9" file="213" n="213"/>
ſtören könnten. </s>
  <s xml:id="echoid-s2895" xml:space="preserve">Die Erhöhungen ſind ſo ſchwach, daß ſie ſich <lb/>auf einem gewöhnlichen, großen Globus nicht auftragen laſſen:</s>
  <s xml:id="echoid-s2896" xml:space="preserve"/>
</p>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption13" xml:space="preserve">Fig. 3.</caption>
</figure>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2897" xml:space="preserve">ſie würden unbemerkt bleiben, ſodaß die Notwendigkeit, die <lb/>Berge dennoch als Hervorragungen zu markieren, zu fabelhaften
<pb o="10" file="214" n="214"/>
Übertreibungen ihrer Höhe oder, wie die Wiſſenſchaft ſagt, zu <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-214-01a" xlink:href="fig-214-01"/>
Überhöhungen nötigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2898" xml:space="preserve">Unſere <lb/>Längsſchnitte (Profile, Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s2899" xml:space="preserve">4) <lb/>durch den Brocken (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s2900" xml:space="preserve">3), die in <lb/>Richtung der in dem Kärtchen ein-<lb/>getragenen beiden, ſich im Brocken-<lb/>gipfel brechenden Linien verlau-<lb/>fen, zeigen, daß die Gebirgs-<lb/>Erhöhungen in der That nur <lb/>ſchwache Unebenheiten der Ober-<lb/>fläche ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s2901" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div90" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-214-01" xlink:href="fig-214-01a">
<caption xml:id="echoid-caption14" xml:space="preserve">Fig. 4.</caption>
<description xml:id="echoid-description2" xml:space="preserve">Braunlage<lb/>Torthaus<lb/>Rad@u<lb/>Wurm B.<lb/>Ecker<lb/>Bode<lb/>Brocken<lb/>Jlse<lb/>Brocken<lb/>Jlse<lb/>Jlse<lb/>Jlsenburg<lb/>Hassero@</description>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2902" xml:space="preserve">Man köunte nun glauben, <lb/>daß der heutige Zuſtand des <lb/>Kampfes zwiſchen Feſtem und <lb/>Flüſſigem von Ewigkeit her der-<lb/>ſelbe geweſen ſein müſſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s2903" xml:space="preserve">Aber <lb/>dies iſt nicht der Fall.</s>
  <s xml:id="echoid-s2904" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2905" xml:space="preserve">Es muß eine Zeit vor vielen, <lb/>vielen Millionen Jahren gegeben <lb/>haben, wo das Waſſer auf der <lb/>Oberfläche der Erde noch nicht <lb/>vorhanden war, wo die Erde ſelber <lb/>eine große, feurige und flüſſige <lb/>Kugel geweſen iſt, die ſich erſt <lb/>nach und nach abgekühlt und da-<lb/>durch erſt nach langen Entwicke-<lb/>lungen die harte Oberfläche er-<lb/>halten hat, welche jetzt unſer <lb/>Wohnort iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2906" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2907" xml:space="preserve">Wenn dies der Fall iſt — <lb/>und es ſprechen viele Beobachtun-<lb/>gen dafür, — ſo iſt mit der Erde <lb/>eine Veränderung vor ſich gegangen, die ihren ganzen Zuſtand
<pb o="11" file="215" n="215"/>
anders geſtaltet hat, als er urſprünglich war, und man hat <lb/>dann Grund anzunehmen, daß die Erde ſich noch immer weiter <lb/>verändern wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s2908" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2909" xml:space="preserve">Und hier eben iſt das Gebiet, wo nicht mehr die Forſchung <lb/>der ſtrengen Wiſſenſchaft, ſondern nur die Vermutung uns leiten <lb/>kann, und wo der Phantaſie ein außerordentlich freier Spiel-<lb/>raum gegönnt iſt, ſich zu verlieren in weit hinter uns liegende <lb/>vorweltliche Bilder und weit hinauszugreifen in Vorſtellungen <lb/>über eine in graueſter Ferne der Zukunft liegende Zeit.</s>
  <s xml:id="echoid-s2910" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2911" xml:space="preserve">So intereſſant dieſe Phantaſien ſein mögen, ſo wenig <lb/>wollen wir ihnen doch in dieſen Artikeln folgen, die der unter-<lb/>haltenden Belehrung, aber nicht der bloßen phantaſtiſchen Unter-<lb/>haltung gewidmet ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s2912" xml:space="preserve">Wir wollen daher unſeren Leſern lieber <lb/>mit dem offenen Geſtändnis entgegentreten, daß die ſtrenge <lb/>Wiſſenſchaft noch nicht ganz eingedrungen iſt in die Geheimniſſe <lb/>jener Vergangenheit und noch nicht, ohne ſich zu verwirren, <lb/>weit hinausgreifen darf in die verhüllte Zukunft.</s>
  <s xml:id="echoid-s2913" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div92" type="section" level="1" n="80">
<head xml:id="echoid-head93" xml:space="preserve"><emph style="bf">IV. Wie ſieht es im Innern der Erde aus?</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2914" xml:space="preserve">Die Frage, wie es im Innern der Erde ausſieht, beant-<lb/>wortet die Wiſſenſchaft in der folgenden Weiſe.</s>
  <s xml:id="echoid-s2915" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2916" xml:space="preserve">Die Thatſache, daß an geeigneten Stellen heiße Quellen <lb/>aus dem Innern herausſteigen und glutflüſſige Geſteinsmaſſen, <lb/>daß vor allem die Unterſuchungen von Bohrlöchern und der <lb/>Temperaturen in tiefen Bergwerken ergeben, daß die Temperatur <lb/>mit der Tiefe zunimmt, zwingen zu der Annahme eines <lb/>glühenden Erdkernes. </s>
  <s xml:id="echoid-s2917" xml:space="preserve">Die meiſten Gelehrten nehmen an, daß <lb/>der Erdkern glut-flüſſige Beſchaffenheit beſitzt, daß die Erde <lb/>nur an ihrer Oberfläche hart geworden iſt durch nach und nach <lb/>eingetretene Erkaltung, wie wenn eine große, geſchmolzene Wachs-
<pb o="12" file="216" n="216"/>
maſſe zuerſt auf der Oberfläche erkaltet und ſtarr wird, während <lb/>ſie im Innern eine Zeitlang flüſſig und heiß bleibt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2918" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2919" xml:space="preserve">Folgt man dieſer Vorſtellung, ſo hat man ſich die Erde <lb/>zu denken, wie einen Körper, der von einer harten Schale <lb/>umſchloſſen, unter der aber eine flüſſige, heiße Maſſe vor-<lb/>handen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2920" xml:space="preserve">— Und dieſe Vorſtellung iſt in der That hin-<lb/>reichend, ſo manche Erſcheinung der Natur zu erklären.</s>
  <s xml:id="echoid-s2921" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2922" xml:space="preserve">Vor allem hat man ſich durch Verſuche überzeugt, daß <lb/>die Wärme, welche durch die Einwirkung der Sonne auf der <lb/>Oberfläche der Erde herrſcht, nicht Einfluß hat auf die Tiefe <lb/>der Erde. </s>
  <s xml:id="echoid-s2923" xml:space="preserve">Schon in genügend tieſen Kellern iſt es Sommer <lb/>und Winter gleich warm, wie in den 28 Meter tiefen Kellern <lb/>des Obſervatoriums von Paris, die ſeit 1783, wo man mit <lb/>den Beobachtungen begann, eine konſtante Temperatur von <lb/>11,7 Grad Celſius zeigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2924" xml:space="preserve">Unſere Keller dienen daher, die <lb/>Speiſen im Sommer vor Fäulnis durch Hitze und im Winter <lb/>vor Verderben durch Froſt zu ſchützen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2925" xml:space="preserve">— Gräbt man alſo <lb/>bis zu einer geringen Tiefe, ſo iſt gar kein Unterſchied zwiſchen <lb/>heißen oder kalten Tagen, zwiſchen Sommer und Winter, <lb/>zwiſchen Tag oder Nacht zu merken. </s>
  <s xml:id="echoid-s2926" xml:space="preserve">Die Wärme bleibt dort <lb/>vollkommen dieſelbe, mag die Sonne auf der Oberfläche der <lb/>Erde glühend ſcheinen oder gar keinen Strahl hinſenden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2927" xml:space="preserve">Geht man aber noch tiefer, ſo nimmt die Wärme ſtets zu und <lb/>Verſuche haben gezeigt, daß ſie auf je 30 Meter um etwa <lb/>einen Grad ſteigt, ſo daß man in dieſer Weiſe zu dem Schluß <lb/>gekommen iſt, daß in einer Tiefe von 66 000 Metern eine Hitze <lb/>von 2000 Grad herrſchen müſſe, eine Hitze, bei welcher ſelbſt <lb/>die härteſten Gegenſtände ſchmelzen und flüſſig ſein müſſen, <lb/>wenn nicht der dort herrſchende Druck ſie vielleicht zwingt, feſt <lb/>zu bleiben.</s>
  <s xml:id="echoid-s2928" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2929" xml:space="preserve">Es iſt indeſſen keineswegs ausgemacht, daß die Hitze <lb/>wirklich fort und fort mit der Tiefe zunimmt: </s>
  <s xml:id="echoid-s2930" xml:space="preserve">denn es iſt <lb/>leicht denkbar, daß die Erde eine gewiſſe Naturwärme beſitzt,
<pb o="13" file="217" n="217"/>
wie es mit dem tieriſchen Körper der Fall iſt, deſſen Oberfläche <lb/>auch kälter iſt als das Innere, und wo eine Zunahme der Wärme <lb/>gleichfalls ſtattfindet, je tiefer man durch die Haut in den Körper <lb/>hineindringt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2931" xml:space="preserve">gleichwohl nimmt die Wärme nur bis zu einem ge-<lb/>wiſſen Grade zu, bis ſie die Blutwärme, die etwa 36 bis 38 Grad <lb/>beträgt, erreicht hat und ſodann ſich nicht weiter ſteigert.</s>
  <s xml:id="echoid-s2932" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2933" xml:space="preserve">Die ſowohl in Bergwerksſchachten als in tiefen Brunnen <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-217-01a" xlink:href="fig-217-01"/>
zahlreich angeſtellten Meſſungen haben auch in der That er-<lb/>geben, daß, je tiefer man vordringt, deſto geringer die Wärme-<lb/>zunahme wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s2934" xml:space="preserve">Im Ganzen ſind jedoch die Wärmemeſſungen <lb/>nicht weit genug gegen das Innere der Erde vorgedrungen, um <lb/>einen beſtimmten Schluß auf die Erdwärme ſelbſt zu geſtatten; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2935" xml:space="preserve">die Wärmebeſtimmungen erſtrecken ſich erſt auf eine Tiefe von <lb/>2000 Metern, was gegen den Durchmeſſer der ganzen Erdkugel <lb/>verſchwindend klein iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2936" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div92" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-217-01" xlink:href="fig-217-01a">
<caption xml:id="echoid-caption15" xml:space="preserve">Fig. 5. <lb/>Der Veſub.</caption>
</figure>
</div>
<pb o="14" file="218" n="218"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2937" xml:space="preserve">Wie dem aber auch ſein mag, ſo ſteht doch ſo viel feſt, <lb/>daß die Wärme im Innern der Erde oft genug hervorbricht <lb/>auf die Oberfläche, und die heißen Waſſerquellen, die aus der <lb/>Erde emporſteigen, die Dämpfe und Flammen, welche von <lb/>feuerſpeienden Bergen hervorgeſchleudert werden, wie die Laven, <lb/>das geſchmolzene Geſtein, das ſich aus den Kratern der <lb/>Vulkane ergießt, führen einen Teil der Erdwärme nach oben <lb/>hin und geben Zeugnis davon, daß die Glut im Innern noch <lb/>nicht erloſchen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2938" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2939" xml:space="preserve">Namentlich ſind es die durch die gebirgsbildende Kraft, <lb/>die Schrumpfung der Erdkruſte infolge allmählicher Abkühlung <lb/>entſtehenden Riſſe und Sprünge, welche Anlaß zu feuer-<lb/>ſpeienden Bergen (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s2940" xml:space="preserve">5), geben. </s>
  <s xml:id="echoid-s2941" xml:space="preserve">Nicht, wie man früher <lb/>glaubte, ſind es die Stöße einer glutflüſſigen Maſſe gegen die <lb/>Erdkruſte, welche Hervorwölbungen, Gebirge veranlaſſen, ſondern <lb/>umgekehrt, die feuerſpeienden Berge ſind nach dem Geſagten <lb/>Folge-Erſcheinungen der Schrumpfung. </s>
  <s xml:id="echoid-s2942" xml:space="preserve">Ein Längsſchnitt durch <lb/>einen feuerſpeienden Berg zeigt denn auch keine Hervor-<lb/>wölbung der Erdkruſte, ſondern es ſind die im Laufe der Zeit <lb/>im Glutzuſtande ausgequollenen und dann erſtarrten Lava-<lb/>Maſſen, welche ſich naturgemäß um die Ausſchnittsſtelle <lb/>ablagernd den feuerſpeienden Berg bilden.</s>
  <s xml:id="echoid-s2943" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div94" type="section" level="1" n="81">
<head xml:id="echoid-head94" xml:space="preserve"><emph style="bf">V. Die harte Erdſchale.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2944" xml:space="preserve">Wenn man die Gebirge der Erde genauer unterſucht, ſo <lb/>findet man eine auffallende Erſcheinung an denſelben.</s>
  <s xml:id="echoid-s2945" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2946" xml:space="preserve">Man ſollte meinen, auf den Spitzen der Berge müßten <lb/>ſich diejenigen Stein- und Erd-Arten finden, die ſonſt auf <lb/>oberem Boden zu finden ſind, während der Fuß des Gebirges <lb/>ſolche Maſſen zeigen ſoll, die ſonſt tief unter dem flachen <lb/>Erdboden vorhanden wären. </s>
  <s xml:id="echoid-s2947" xml:space="preserve">— Dies iſt aber nicht der Fall.</s>
  <s xml:id="echoid-s2948" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="15" file="219" n="219"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2949" xml:space="preserve">Es zeigt ſich vielmehr umgekehrt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2950" xml:space="preserve">Die höchſten Berge <lb/>beſtehen gerade in ihren Höhen aus ſolchen Geſteinen, die ſonſt <lb/>am tiefſten unter der Oberfläche der Erde liegen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2951" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2952" xml:space="preserve">Es verhält ſich hierbei folgendermaßen:</s>
  <s xml:id="echoid-s2953" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2954" xml:space="preserve">Wenn man ein Loch in die Erde gräbe und dies immer <lb/>tiefer und tiefer bohrt, ſo findet man, daß die harte Schale <lb/>der Erde, die ihre Oberfläche bildet, aus verſchiedenen Schichten <lb/>beſteht, die über einander liegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2955" xml:space="preserve">Indem wir dieſe Schichten <lb/>ſpäter noch näher bezeichnen werden, wollen wir nur für jetzt <lb/>ſagen, daß die unterſte all’ dieſer Schichten von Steinarten <lb/>gebildet iſt, zu denen z. </s>
  <s xml:id="echoid-s2956" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s2957" xml:space="preserve">der Granit gehört, und daß dieſe <lb/>ſo tief unter der Oberfläche liegen, daß man durch Nachgrabungen <lb/>noch garnicht bis zu dem Granit gekommen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2958" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2959" xml:space="preserve">Dies iſt nur auf flachem Boden der Fall, wo kein Gebirge <lb/>vorhanden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2960" xml:space="preserve">— Wo aber Gebirge ſich hoch emporrichten, da <lb/>iſt es oft gerade umgekehrt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2961" xml:space="preserve">Das unterſte Geſtein der am <lb/>tiefſten liegenden Schicht bildet das höchſte und ſchroffſte <lb/>Gebirge und liegt ſo, daß die oberen Schichten immer von ihm <lb/>durchriſſen und die unterſten durch die oberen hindurch ge-<lb/>drängt erſcheinen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2962" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2963" xml:space="preserve">Dieſe Erſcheinung kommt dadurch zuſtande, daß das die <lb/>Berge langſam, aber ſicher abraſierende Waſſer naturgemäß <lb/>zunächſt die oberen Stücke hinweggenommen hat und in dem <lb/>angenommenen Fall bis zum Granit u. </s>
  <s xml:id="echoid-s2964" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s2965" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s2966" xml:space="preserve">vorgedrungen <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2967" xml:space="preserve">In anderen Fällen werden glutflüſſige Geſteinsmaſſen <lb/>durch ſchwache Stellen der Erdrinde hervorgepreßt, ſich ſo <lb/>über die ſchon vorhandenen Schichten ergießend und nach ihrer <lb/>Erkaltung den Eindruck machend, als ſeien dieſe ergoſſenen <lb/>Geſteine älter als diejenigen, die nunmehr darunter liegen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2968" xml:space="preserve">So iſt’s mit dem Baſalt, der ſich nach der Erkaltung in Säulen <lb/>zerklüftet (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s2969" xml:space="preserve">6), dem Porphyr und anderen Geſteinen, die <lb/>durch die Geſteine, die über ihnen lagen, gewiſſermaßen hin-<lb/>durchgingen wie eine Kanonenkugel durch eine Wand.</s>
  <s xml:id="echoid-s2970" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="16" file="220" n="220"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2971" xml:space="preserve">Auch ſolche Geſteine können Gebirge bilden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2972" xml:space="preserve">Noch nirgend <lb/>hat man gefunden, daß der Baſalt von einer andern Steinart <lb/>durchbrochen worden iſt, ſondern er durchbricht alle übrigen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2973" xml:space="preserve">Daraus hat man den Schluß gezogen, daß der Baſalt das <lb/>Geſtein ſein muß, das, geologiſch geſprochen, ſehr ſpät durch <lb/>die harte Erdſchale durchgebrochen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2974" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2975" xml:space="preserve">Der Porphyr durchbricht alle übrigen Geſteine, wenn <lb/>er ein Gebirge bildet, nur den Baſalt nicht; </s>
  <s xml:id="echoid-s2976" xml:space="preserve">folglich hat man <lb/>daraus mit Recht geſchloſſen, daß der Porphyr in früherer <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-220-01a" xlink:href="fig-220-01"/>
Zeit die harte Erdrinde <lb/>durchbrochen als der <lb/>Baſalt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2977" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div94" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-220-01" xlink:href="fig-220-01a">
<caption xml:id="echoid-caption16" xml:space="preserve"><emph style="bf">Fig. 6.</emph> <lb/>Baſalt-Säulen auf der Iuſel Staffa.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2978" xml:space="preserve">Aus der Betrach-<lb/>tung der höchſten Ge-<lb/>birge hat man nun die <lb/>Geheimniſſe der Tiefe, <lb/>in die noch kein Menſch <lb/>hineinzudringen ver-<lb/>mochte, zu erforſchen <lb/>geſucht, und hat den <lb/>richtigen und zuver-<lb/>läſſigen Schluß gezogen, daß in verſchiedenen Epochen des <lb/>Erdenlebens verſchiedene Geſteine durch die immer dicker ge-<lb/>wordenen Schalen der Erde an die Oberfläche gekommen ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s2979" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2980" xml:space="preserve">Stellt man ſich nun die Erde als glutflüſſige Maſſe im <lb/>Innern vor, die von einer harten Geſteins-Schale umgeben iſt, <lb/>ſo fragt es ſich vor allem, woher die Schale wohl gekommen <lb/>ſein mag, ob dieſelbe ſich noch fortwährend bildet, oder ob ſie <lb/>wohl noch einmal zuſammenſchmelzen könnte?</s>
  <s xml:id="echoid-s2981" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2982" xml:space="preserve">Die Vorſtellung, die man ſich hiervon zu machen berechtigt <lb/>iſt, iſt folgende:</s>
  <s xml:id="echoid-s2983" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2984" xml:space="preserve">Ehedem, ſicherlich vor vielen, vielen Millionen Jahren, iſt <lb/>die Hitze der Erde groß genug geweſen, um auch dieſe Ge-
<pb o="17" file="221" n="221"/>
ſteine im Schmelzzuſtande zu erhalten, und die ganze Erde <lb/>war nur eine flüſſige Feuerkugel, jedoch durch Ausſtrahlung <lb/>der Wärme in den Weltraum iſt die äußerſte Hülle erkaltet <lb/>und hart und erſt nach und nach zu dieſer vergleichweiſe dünnen <lb/>Schale geworden, die den Kern jetzt einſchließt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2985" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2986" xml:space="preserve">Daß die Hitze der Erde im Innern einmal ſo wachſen <lb/>ſollte, daß ſie ihre Geſteinsdecke wiederum ſchmilzt, das iſt <lb/>nicht anzunehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2987" xml:space="preserve">Die Erde verliert vielmehr tagtäglich nicht <lb/>unbeträchtliche Maſſen von Wärme. </s>
  <s xml:id="echoid-s2988" xml:space="preserve">Die warmen Waſſerquellen, <lb/>die emporſtrömen, entführen ihr unausgeſetzt Wärme, und <lb/>Vulkane ſind nicht minder thätig, ihr fortwährend Wärme zu <lb/>entziehen, ſo daß man eher an eine Erkaltung als an ein neues <lb/>Aufflammen der Erde zu denken hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s2989" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div96" type="section" level="1" n="82">
<head xml:id="echoid-head95" xml:space="preserve"><emph style="bf">VI. Die Bildung des tropfbaren Waſſers auf der</emph> <lb/><emph style="bf">Erde.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2990" xml:space="preserve">Die erſte Erſtarrungskruſte iſt keineswegs der Grund und <lb/>Boden, auf dem wir leben, ſondern es iſt jene Schale noch von <lb/>viele Kilometer dicken Schichten umgeben, die erſt nach und <lb/>nach die Grundlage geworden ſind zu dem Wohnſitz und der <lb/>Entwickelung aufkeimender Pflanzen, lebender Tiere und endlich <lb/>denkender Menſchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2991" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2992" xml:space="preserve">Sicherlich hat bereits jeder unſerer Leſer ſich die Frage <lb/>vorgelegt, wo denn damals, als die Erde erſt durch Erkaltung <lb/>jene Steinſchale um ſich gebildet hatte, das Waſſer geweſen <lb/>ſein mag, das jetzt einen ſo großen Teil der Erdoberfläche <lb/>bildet?</s>
  <s xml:id="echoid-s2993" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2994" xml:space="preserve">Die Antwort hierauf iſt folgende.</s>
  <s xml:id="echoid-s2995" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2996" xml:space="preserve">Das Waſſer iſt ſeiner Natur nach flüſſig, ſo lange es nicht <lb/>über 100 Grad Celſius hinaus erwärmt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s2997" xml:space="preserve">Sobald es jedoch</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2998" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s2999" xml:space="preserve">Bernſtein, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s3000" xml:space="preserve">Volſsbücher VIII.</s>
  <s xml:id="echoid-s3001" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="18" file="222" n="222"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3002" xml:space="preserve">dieſen Grad der Wärme erreicht hat, verdampft es und bildet <lb/>Waſſerdampf, der ſich mit der Luft miſcht und mit derſelben <lb/>unendliche Zeiten ſich unverändert erhalten kann, ſobald er <lb/>nicht erkaltet.</s>
  <s xml:id="echoid-s3003" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3004" xml:space="preserve">Noch jetzt verwandelt ſich das Waſſer auf der Oberfläche <lb/>der Erde fortwährend zu Waſſerdampf, ſchwebt in der Luft umher <lb/>und ſtrömt dann in Form von Regen, Schnee a. </s>
  <s xml:id="echoid-s3005" xml:space="preserve">wieder zur <lb/>Erde nieder. </s>
  <s xml:id="echoid-s3006" xml:space="preserve">Auch von den unendlichen Waſſermaſſen gilt <lb/>jener Kreislauf der Veränderung, der alles Daſein charakteriſiert, <lb/>und wir werden bei anderer Gelegenheit von dem Kreislauf <lb/>des Waſſers unſeren Leſern ein Näheres mitteilen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3007" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3008" xml:space="preserve">Zur Zeit, als die Erde ihre feſte Geſtalt der Oberfläche <lb/>erſt bildete, war ohne Zweifel das Waſſer noch gar nicht vor-<lb/>handen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3009" xml:space="preserve">Vielmehr konnte bei dieſen alle unſere Vorſtellungen <lb/>überſteigenden Hitzegraden der Sauerſtoff und der Waſſerſtoff <lb/>nur unverbunden nebeneinander in der Atmoſphäre der Erde <lb/>exiſtieren; </s>
  <s xml:id="echoid-s3010" xml:space="preserve">ganz ſo wie jetzt das Waſſer in ſeine beiden luft-<lb/>förmigen Beſtandteile zerfällt, wenn es ſehr hohen Wärme-<lb/>graden ausgeſetzt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3011" xml:space="preserve">Erſt nachdem die Erde auf einen be-<lb/>ftimmten Grad abgekühlt war, vereinigten ſich der Waſſerſtoff <lb/>und der Sauerſtoff der Atmoſphäre zu Waſſerdampf, der in <lb/>der weiteren Erdbildung eine große Rolle ſpielen mußte, wie <lb/>wir dies nunmehr näher betrachten wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3012" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3013" xml:space="preserve">Verſetzt man ſich in Gedanken in jene Zeit, in welcher <lb/>die Erde durch Erkalten ihre harte Geſteinsſchale um ſich bildete, <lb/>ſo iſt es klar, daß dieſe Schale in der erſten Zeit noch immer <lb/>ſo heiß geweſen iſt, daß auf ihr kein Tropfen Waſſer nieder-<lb/>fallen konnte, ohne ſofort zu verdampfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3014" xml:space="preserve">Dahingegen muß <lb/>in der Höhe der Luft, damals, als eine yarte Schale die <lb/>Glut im Innern der Erde verſchloſſen hielt, ſchon ein ſolcher <lb/>Grad von Kälte geherrſcht haben, daß der Dampf, wenn er <lb/>nach oben hinauf gelangte, ſich in Wolken und Waſſertropfen <lb/>und Regen verwandelte.</s>
  <s xml:id="echoid-s3015" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="19" file="223" n="223"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3016" xml:space="preserve">Und nun begann bei der Bildung der Erde auch das <lb/>Waſſer ſeine Rolle zu ſpielen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3017" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3018" xml:space="preserve">Man ſtelle ſich nur vor, daß zu jener Zeit das Waſſer <lb/>aller Meere, Seen und Flüſſe nicht als tropfbares Wafſer, <lb/>jondern als Waſſerdampf die Erde umgab, ſo wird man leicht <lb/>einſehen, daß die Erde außer den Geſteinshüllen noch eine <lb/>Dampfhülle von ungeheurer Größe um ſich hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s3019" xml:space="preserve">In dieſer <lb/>Dampfhülle verwandelte ſich ſtets der obere Teil, der <lb/>kälteſte, in Waſſer und ſtürzte toſend zur Erde. </s>
  <s xml:id="echoid-s3020" xml:space="preserve">Hier aber <lb/>gelangte das Waſſer auf die heißen Geſteine und wurde wieder <lb/>unter dem Brauſen heftig kochenden Waſſers ſchnell in Dampf <lb/>verwandelt, der wieder zur Höhe emporſteigen mußte. </s>
  <s xml:id="echoid-s3021" xml:space="preserve">Man <lb/>wird wohl einſehen, daß dies ein Toſen und Strömen hervor-<lb/>bringen mußte, für welches jede Phantaſie zu ſchwach iſt, um <lb/>es auch nur einigermaßen ſich vorſtellen zu können. </s>
  <s xml:id="echoid-s3022" xml:space="preserve">Ganze <lb/>Weltmeere im Niederſtürzen begriffen, und wieder in Dampf <lb/>verwandelt hinaufgeſchleudert, und wieder in der Höhe zu <lb/>Waſſer umgeſchaffen und wieder auf das Geſtein herabſtürzend, <lb/>um wiederum zu kochen und wiederum hinaufgeſchleudert zu <lb/>werden! Man erwäge nur, daß dieſe Erſcheinungen, das <lb/>Verwandeln des Waſſers in Dampf, und das Verwandeln des <lb/>Dampfes in Waſſer, ſchon bei unſeren Dampfkeſſeln mit dem <lb/>ſtürmendſten Toſen vor ſich gehen, daß die Erſcheinungen ſtets <lb/>von elektriſchen Erſcheinungen begleitet ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s3023" xml:space="preserve">In jenem Stadium <lb/>der Erdbildung müſſen daher jene Revolutionen von fort-<lb/>währenden Gewittern begleitet geweſen ſein, deren Furcht-<lb/>barkeit alle Begriffe überſteigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3024" xml:space="preserve">Man ſtelle ſich vor, daß <lb/>damals die Glut im Innern der Erde noch in einer ſchwachen <lb/>Decke eingeſchloſſen war, und daß die elektriſchen Flammen <lb/>in der weiten, großen, fortwährend im Verwandeln begriffenen <lb/>Dampfhülle die verwandten Flammen der Erde hervorlockten. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3025" xml:space="preserve">Dabei ein ewiges Donnern und ein ewiges Niederſtürzen der <lb/>Gewäſſer, und unter unendlichen Blitzen und Flammenzucken
<pb o="20" file="224" n="224"/>
aus dem Innern der Erde ein Zerreißen der Geſteinshülle! — <lb/>Und all’ dies nicht nur durch Tage und Monate und Jahre, <lb/>ſondern durch viele Jahrtauſende hindurch, bis die Geſteinshülle <lb/>dick und abgekühlt genug war, um Meere auf ſich zu dulden <lb/>und ſie in großen Becken zu ſammeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s3026" xml:space="preserve">— Man ſtelle ſich, <lb/>ſoweit die Phantaſie reicht, nur ſolch ein Bild vor, und man <lb/>wird ſich einen ſchwachen Begriff davon machen können, welche <lb/>Erſchütterungen die Bildung des tropfbaren Waſſers auf der <lb/>Erde begleiten mußten.</s>
  <s xml:id="echoid-s3027" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div97" type="section" level="1" n="83">
<head xml:id="echoid-head96" xml:space="preserve"><emph style="bf">VII. Geſteine, die ſich unter dem Waſſer gebildet</emph> <lb/><emph style="bf">haben.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3028" xml:space="preserve">Wie viele Jahrtauſende die aus der Glutflüſſigkeit er-<lb/>ſtarrten Geſteine die oberſte feſte Decke der Erde bildeten, läßt <lb/>ſich nicht beſtimmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3029" xml:space="preserve">Als die Glut aufhörte eine ſolche Rolle <lb/>auf der Oberfläche der Erde zu ſpielen wie bisher, und als <lb/>das Waſſer ſich in allen tiefen Stellen der harten Erd-<lb/>kruſte ſammelte, begann das große Werk der Umbildung der <lb/>Erde und ſchaffte nunmehr aus den verwitternden Gebirgen <lb/>der Vorwelt neue Lagen und Schichten über den Tiefen der <lb/>Erde, die ſich nach und nach zu großen Maſſen anſammelten <lb/>und gewaltige Steinmaſſen bildeten, die ſpäter als neue Ge-<lb/>birge auftraten.</s>
  <s xml:id="echoid-s3030" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3031" xml:space="preserve">Ähnlich wie noch gegenwärtig in den Tiefen der Meere <lb/>ſich alles anſammelt, was der Regen hinabſpült in die Bäche, <lb/>in Ströme und Flüſſe, die alle ihre Gewäſſer zum Meere <lb/>tragen, ähnlich wie dieſer Vorgang muß der damalige ge-<lb/>weſen ſein und aus ihm ging eine Maſſe von Geſteinen hervor, <lb/>in denen man Spuren oder Anhäufungen von Reſten von <lb/>Tieren und Pflanzen findet, wie in der Steinkohle, die nichts
<pb o="21" file="225" n="225"/>
iſt als der verſteinerte Überreſt einer vorweltlichen, gewaltigen <lb/>Pflanzenwelt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3032" xml:space="preserve"/>
</p>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption17" xml:space="preserve"><emph style="bf">Fig. 7.</emph> <lb/>Meeresboden, wie er an manchen Stellen des Mittelländiſchen Meeres erſcheint, mit <lb/>den Schal-Reſten von 20 verſchiedenen Meerestieren.</caption>
</figure>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3033" xml:space="preserve">Zwar wuchs dieſe Pflanzenwelt nicht unter der Oberfläche <lb/>des Waſſers; </s>
  <s xml:id="echoid-s3034" xml:space="preserve">nur der Boden, in welchem dieſe Pflanzenwelt
<pb o="22" file="226" n="226"/>
wurzelte, bildete ſich auf dem Grunde der Gewäſſer aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s3035" xml:space="preserve">Aber <lb/>dieſer in den Tiefen des Abgrundes liegende Boden wurde <lb/>durch die ſtets wirkende gebirgsbildende Kraft emporgehoben <lb/>und zu Flachland oder Gebirgen über dem Waſſer umgeſtaltet, <lb/>während andere Strecken, die bis dahin über das Waſſer hin-<lb/>ausragten, niederſanken und vom Waſſer bedeckt wurden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3036" xml:space="preserve">So <lb/>entſtand ſtreckenweiſe eine neue Erde mit neuem Boden, der <lb/>Pflanzen trug und auf dem ſpäter eine Tierwelt ſich zu <lb/>bewegen anfing.</s>
  <s xml:id="echoid-s3037" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3038" xml:space="preserve">Es iſt nichts intereſſanter und lehrreicher, als eine Be-<lb/>ſchreibung der Reſte vorweltlicher Tiere und Pflanzen, die <lb/>man jetzt zahlreich auffindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s3039" xml:space="preserve">Nach dieſer Zeit, in der ſchon <lb/>Pflanzen und Tiere auf der Erde zu leben begonnen hatten, <lb/>ſind noch gewaltige und zum Teil gewaltſame Umwälzungen <lb/>vorgegangen, und ſie haben die Erde ſo weſentlich umgeſtaltet, <lb/>daß wir von ihrem ehemaligen Leben keine Ahnung gehabt <lb/>hätten, wenn nicht die Wiſſenſchaft die Gebirge durchforſcht <lb/>hätte, die die Spuren der untergegangenen Welt an ſich tragen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3040" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3041" xml:space="preserve">Alle Kalkgebirge, Sandſteingebirge, Kreidegebirge, alle <lb/>Gebirge, in denen ſich Gips und Steinſalz findet, haben ſich <lb/>ehedem unter der Oberfläche des Waſſers gebildet. </s>
  <s xml:id="echoid-s3042" xml:space="preserve">Sie ſind <lb/>außerordentlich reich an Muſcheln und Schalen ſolcher Tiere, die <lb/>nur unter dem Waſſer leben konnten, wie denn Kalk- und <lb/>Kreidelager (vergl. </s>
  <s xml:id="echoid-s3043" xml:space="preserve">Teil VI, Seite 67, Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3044" xml:space="preserve">4) überhaupt nur <lb/>Überreſte ſind von Tieren, die ihre harten Schalen zurückließen, <lb/>nachdem ſie geſtorben.</s>
  <s xml:id="echoid-s3045" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3046" xml:space="preserve">Die Betrachtung des heutigen Meeresbodens, wie er z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3047" xml:space="preserve">B. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3048" xml:space="preserve">an manchen Stellen des mittelländiſchen Meeres (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3049" xml:space="preserve">7), <lb/>beobachtet wird, macht die ausſchließliche Zuſammenſetzung <lb/>ganzer Kalkfelſen aus den Schalen von Meerestieren ver-<lb/>ſtändlich.</s>
  <s xml:id="echoid-s3050" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="23" file="227" n="227"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div98" type="section" level="1" n="84">
<head xml:id="echoid-head97" xml:space="preserve"><emph style="bf">VIII. Unterſchied der Geſteinarten.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3051" xml:space="preserve">Wir haben nur flüchtig über die Art und Weiſe ge-<lb/>ſprochen, wie ſich, nachdem ſich das Waſſer auf der Erde ge-<lb/>ſammelt und weite <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-227-01a" xlink:href="fig-227-01"/>
Meere geſchaffen hatte, <lb/>ganze Geſteine unter <lb/>der Oberfläche des <lb/>Waſſers zu bilden an-<lb/>fingen; </s>
  <s xml:id="echoid-s3052" xml:space="preserve">wir können aber <lb/>nicht umhin hier an-<lb/>zuführen, daß zwiſchen <lb/>dieſen Geſteinen, die <lb/>vom Waſſer abgeſetzt <lb/>werden, und denen, <lb/>welche durch Erkalten <lb/>geſchmolzener Maſſen <lb/>entſtanden ſind, ein <lb/>ſehr weſentlicher Unter-<lb/>ſchied auch ſchon äußer-<lb/>lich zu merken iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3053" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div98" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-227-01" xlink:href="fig-227-01a">
<caption xml:id="echoid-caption18" xml:space="preserve">Fig. 8.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3054" xml:space="preserve">Alle Geſteine, die <lb/>aus geſchmolzenen Maſſen entſtanden ſind, haben ein mehr <lb/>oder weniger krnſtalliſches Anſehen und Gefüge und einen <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-227-02a" xlink:href="fig-227-02"/>
glaſigen Anſchein. </s>
  <s xml:id="echoid-s3055" xml:space="preserve">Die hin-<lb/>gegen, welche unter. </s>
  <s xml:id="echoid-s3056" xml:space="preserve">dem <lb/>Waſſer entſtanden, ſind ſchich-<lb/>tenweiſe gelagert, haben oft <lb/>einen blätterigen Bruch und <lb/>ein körniges Gefüge und be-<lb/>weiſen dadurch, daß ſie nicht <lb/>vor ihrer Entſtehung ein durch <lb/>Glut flüſſig geweſenes Gemiſch
<pb o="24" file="228" n="228"/>
waren, das nur durch Erkalten erſtarrt iſt, ſondern daß ſie ſich <lb/>regelmäßig Schicht auf Schicht gelagert und Körnchen an <lb/>Körnchen geſammelt haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s3057" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div99" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-227-02" xlink:href="fig-227-02a">
<caption xml:id="echoid-caption19" xml:space="preserve">Fig. 9.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3058" xml:space="preserve">Wie ſehr ſich der Sandſtein von Granit unterſcheidet, weiß <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-228-01a" xlink:href="fig-228-01"/>
wohl Jeder. </s>
  <s xml:id="echoid-s3059" xml:space="preserve">Der Granit iſt eine durch Feuer geſchmolzene <lb/>und durch Erkalten zu Geſtein verhärtete Maſſe; </s>
  <s xml:id="echoid-s3060" xml:space="preserve">der Sand-<lb/>ſtein hat ſchon ſeinen Namen von dem Sande, aus welchem er <lb/>beſteht: </s>
  <s xml:id="echoid-s3061" xml:space="preserve">er iſt fein- oder grobkörnig wie der Sand und verrät <lb/>ſchon dem Auge die Geſchichte ſeiner Entſtehung, daß er nämlich
<pb o="25" file="229" n="229"/>
durch Anſammlung einzelner Körner unter dem Waſſer ent-<lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-229-01a" xlink:href="fig-229-01"/>
ſtanden iſt, und daß er durch ſein jahrtauſendlan<unsure/>ges Ruhen <lb/>zu Stein verhärtet iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3062" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div100" type="float" level="2" n="3">
<figure xlink:label="fig-228-01" xlink:href="fig-228-01a">
<caption xml:id="echoid-caption20" xml:space="preserve">Fig. 10.</caption>
</figure>
<figure xlink:label="fig-229-01" xlink:href="fig-229-01a">
<caption xml:id="echoid-caption21" xml:space="preserve">Fig. 11. <lb/>Das Prebiſchthor in der Sächſiſchen Schweiz.</caption>
</figure>
</div>
<pb o="26" file="230" n="230"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3063" xml:space="preserve">Darum trägt ein urſprünglich aus Sand gebildetes, wie <lb/>überhaupt ein vom Waſſer abgeſetztes Geſtein oft Spuren, daß <lb/>es ehedem weich geweſen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3064" xml:space="preserve">Man findet in ſolchen Geſteinen <lb/>die Reſte von Tieren (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3065" xml:space="preserve">8 u. </s>
  <s xml:id="echoid-s3066" xml:space="preserve">9), wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3067" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s3068" xml:space="preserve">Muſcheln, in reicher <lb/>Maſſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s3069" xml:space="preserve">Man hat auch in Sandſteinen die Fußtapfen großer <lb/>Tiere entdeckt (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3070" xml:space="preserve">10), die zum Teil in der Luft, zum Teil <lb/>im Waſſer gelebt haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3071" xml:space="preserve">In den Steinen, die ſich unter dem <lb/>Waſſer bildeten, findet man Gerippe von ungeheuern, eidechſen-<lb/>artigen Tieren, die Überreſte von Fiſchen und Krebſen, und <lb/>dies iſt offenbar ein Beweis, daß dieſe Steine dereinſt weich <lb/>waren, daß Tiere ſich auf ihrer Oberfläche bewegten und <lb/>Spuren oder nach dem Tode ihre weniger leicht zerfallenden <lb/>Körperteile, dieſe mehr oder minder erhalten, zurückließen, daß <lb/>dann nach und nach neue Schichten ſich über ihnen lagerten, <lb/>die ſpäter gleichfalls erhärteten.</s>
  <s xml:id="echoid-s3072" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3073" xml:space="preserve">Auch vom Sandſtein findet man Lager, die hoch über die <lb/>ehemalige Waſſergrenze hinausgehoben worden ſind, wie die <lb/>ſächſiſche Schweiz, deren Säulen und Quadern, in die der <lb/>Sandſtein dort nachträglich zerklüftet iſt, dem Gebirge den <lb/>eigenartigen Anblick geben (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3074" xml:space="preserve">11).</s>
  <s xml:id="echoid-s3075" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3076" xml:space="preserve">Wie viele Jahrtauſende aber vergingen wohl, bevor ſich <lb/>Körnchen auf Rörnchen häufte? </s>
  <s xml:id="echoid-s3077" xml:space="preserve">bevor ſie ſich miteinander <lb/>verkitteten? </s>
  <s xml:id="echoid-s3078" xml:space="preserve">bevor ſie über das Waſſer erhoben wurden? </s>
  <s xml:id="echoid-s3079" xml:space="preserve">Wie <lb/>viele Jahrtauſende ſchon ſtehen dieſe Felſen hoch in die Luft <lb/>hineinragend? </s>
  <s xml:id="echoid-s3080" xml:space="preserve">Wie viele Jahrtauſende wird es dauern, bevor <lb/>Wind und Regen wieder körnchenweiſe dieſes Gebirge ab-<lb/>getragen? </s>
  <s xml:id="echoid-s3081" xml:space="preserve">— Wie viel Menſchengeſchlechter entſtehen und wie <lb/>viele vergehen, bevor ein ſolch’ Gebirge entſteht, bevor ein <lb/>ſolch’ Gebirge vergeht!</s>
</p>
<pb o="27" file="231" n="231"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div102" type="section" level="1" n="85">
<head xml:id="echoid-head98" xml:space="preserve"><emph style="bf">IX. Unterſchied in Bezug auf das Vorkommen</emph> <lb/><emph style="bf">der Geſteine.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3082" xml:space="preserve">Auch in Bezug auf das Vorkommen der Geſteine iſt ein <lb/>Unterſchied zwiſchen den vom Feuer flüſſig gewordenen und <lb/>dann durch Erkalten zu Stein verhärteten Maſſen und den <lb/>vom Waſſer gebildeten Geſteinen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3083" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3084" xml:space="preserve">Die Geſteine, die durch das Erkalten der feurig-flüſſigen <lb/>Maſſe entſtanden ſind, ſind ohne Zweifel <emph style="sp">allenthalben</emph> als <lb/>unterſte Schicht der Erdkruſte vorhanden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3085" xml:space="preserve">Sie ſind zuweilen <lb/>durch die gebirgsbildende Kraft emporgekommen; </s>
  <s xml:id="echoid-s3086" xml:space="preserve">aber man <lb/>hat ſich vorzuſtellen, daß dieſe Geſteine die Erde um-<lb/>ſchließen wie eine allenthalben ſchließende Schale einen Kern, <lb/>und darf die Gebirge, die ſie bilden, als eine Ausnahme be-<lb/>trachten.</s>
  <s xml:id="echoid-s3087" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3088" xml:space="preserve">Anders iſt es mit den Geſteinen, die erſt durch das <lb/>Waſſer gebildet worden ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s3089" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3090" xml:space="preserve">Sie bildeten ſich zur Zeit, als bereits Gebirge und Thäler <lb/>von den älteren Geſteinen, den Feuer-Gebilden, vorhanden <lb/>waren. </s>
  <s xml:id="echoid-s3091" xml:space="preserve">Nur in den Thälern können die verwitterten Teilchen <lb/>vom Waſſer abgelagert werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3092" xml:space="preserve">Man darf ſich daher die ge-<lb/>ſchichteten Geſteine nicht als eine um die ganze Erde ſchließende <lb/>Geſteinsſchale denken, ſondern als eine Schale, die urſprünglich <lb/>ſchon durch ältere Gebirge durchbrochen war, und die ſich nur <lb/>in den Thälern lagerte und in tieferen Thälern am ſtärkſten <lb/>vorhanden war.</s>
  <s xml:id="echoid-s3093" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3094" xml:space="preserve">Freilich können ſpäter die in den Tiefen entſtehenden Ge-<lb/>ſteine emporgehoben werden, denn die Maſſe vieler Gebirge iſt <lb/>thatſächlich unter der Oberfläche des Waſſers entſtanden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3095" xml:space="preserve">Die <lb/>Baumeiſter dieſer Gebirge waren z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3096" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s3097" xml:space="preserve">auch kleine, dem freien <lb/>Auge unſichtbare Tiere, die in kalkigen Schalen lebten und <lb/>nach ihrem Tode die jetzt zu Gebirgen aufgetürmten Kalkſchalen <lb/>zurückließen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3098" xml:space="preserve">(Vergl. </s>
  <s xml:id="echoid-s3099" xml:space="preserve">Teil VII, S. </s>
  <s xml:id="echoid-s3100" xml:space="preserve">66 u. </s>
  <s xml:id="echoid-s3101" xml:space="preserve">67 Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3102" xml:space="preserve">3 u. </s>
  <s xml:id="echoid-s3103" xml:space="preserve">4.)</s>
  <s xml:id="echoid-s3104" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="28" file="232" n="232"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3105" xml:space="preserve">Große Strecken feſten Erdbodens beſtehen aus Lagern von <lb/>kleinen, tierartigen Pflänzchen “Diatomaceen” (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3106" xml:space="preserve">12), oder <lb/>beſſer aus den harten, kieſeligen Skelett-Teilen ihrer Leiber. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3107" xml:space="preserve">In Berlin ſteht der größte Teil der Häuſer der Luiſenſtadt <lb/>auf einem ſolchen, durch dieſe Pflänzchen gebildeten Boden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3108" xml:space="preserve"><lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-232-01a" xlink:href="fig-232-01"/>
Sie ſind ſo klein, daß Millionen davon in einem Kubik-<lb/>zentimeter Erde enthalten ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s3109" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div102" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-232-01" xlink:href="fig-232-01a">
<caption xml:id="echoid-caption22" xml:space="preserve">Fig. 12. <lb/>Diatomeen-Erde unter dem Mikroſkov geſehen.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3110" xml:space="preserve">Wir erwähnen noch, daß gewaltige Maſſen von kleinen, <lb/>dem bloßen Auge unſichtbaren Tieren noch jetzt immerfort in <lb/>der Tiefe der Meere gebildet werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s3111" xml:space="preserve">die Kalkgebirge meiſt <lb/>und die Kreidegebirge alle beſtehen aus ſolchen Überreſten von <lb/>unter dem Waſſer lebenden, kleinen Geſchöpfen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3112" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="29" file="233" n="233"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div104" type="section" level="1" n="86">
<head xml:id="echoid-head99" xml:space="preserve"><emph style="bf">X. Die gegenwärtige Umbildung der Erde.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3113" xml:space="preserve">Was man von der Bildung der Oberfläche der Erde an-<lb/>zunehmen berechtigt iſt, beſteht kurz wiederholt darin, daß zuerſt <lb/>eine harte Geſteinsſchale durch Erkalten der ehemals flüſſigen <lb/>Geſteine ſich gebildet hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s3114" xml:space="preserve">Die durch die allmähliche Abkühlung <lb/>bedingte Zuſammenziehung der Erde aber hat dieſe harte Schale <lb/>an vielen Stellen durchbrochen, hat die Oberfläche uneben ge-<lb/>macht und ſo die älteſten hohen Gebirge gebildet.</s>
  <s xml:id="echoid-s3115" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3116" xml:space="preserve">Erſt nachdem die Geſteinsſchale bis unter 100 Grad ab-<lb/>gekühlt war, konnte ſich das Waſſer, das ehemals nur in der <lb/>Luft ſchwebte, auf der Erde ſammeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s3117" xml:space="preserve">Dieſes lagerte alle feſten <lb/>Teilchen, die in ihm aufgeſchwemmt waren und die es ab-<lb/>ſpülte von den Bergen, nach und nach ab, und es bildeten ſich <lb/>ſo Geſteinsarten, die man “Waſſergebilde” nennen kann, und zu <lb/>welchen auch ſolche gezählt werden, die nicht vom Waſſer ſelber <lb/>mechaniſch abgelagert wurden, ſondern aus den Reſten von <lb/>Tieren und Pflanzen, die im Waſſer lebten, beſtehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3118" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3119" xml:space="preserve">Während dieſer gewiß viele Millionen Jahre betragenden <lb/>Zeit bildeten ſich Pflanzen und Tiere aus, zunächſt im Waſſer, <lb/>ſodann auch auf dem Feſtlande der Erde.</s>
  <s xml:id="echoid-s3120" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3121" xml:space="preserve">Wir haben unſere Betrachtung begonnen mit dem lang-<lb/>ſamen Verwittern und Zerfallen der älteſten Gebirge und der <lb/>Hinabbewegung kleiner, aufgelöſter oder fortgeſpülter Teile in <lb/>den Meeresgrund. </s>
  <s xml:id="echoid-s3122" xml:space="preserve">Wir haben gezeigt, welch’ ein Kampf zwiſchen <lb/>dem Meere und den Bergen beſteht, und auf das Gleichgewicht <lb/>hingewieſen, das zwiſchen der Alles gleichmachenden Wirkung <lb/>des Waſſers auf der Oberfläche der Erde und der ſtets Er-<lb/>hebungen und Senkungen veranlaſſenden gebirgsbildenden Kraft <lb/>ſtattſindet.</s>
  <s xml:id="echoid-s3123" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3124" xml:space="preserve">Denn wir haben geſehen, daß die fortſchreitende Abkühlung, <lb/>wie in älteſter Zeit, ſo auch heute die Bildung von Gebirgen <lb/>veranlaßt, und ſo reicht der Kampf zwiſchen Gebirgs-Entſtehung
<pb o="30" file="234" n="234"/>
und Gebirgs-Vernichtung bis in unſere Zeit und wird vielleicht <lb/>das Menſchen-Geſchlecht überdauern. </s>
  <s xml:id="echoid-s3125" xml:space="preserve">Sehen wir uns dieſen <lb/>Kampf in der freien Natur einmal an.</s>
  <s xml:id="echoid-s3126" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3127" xml:space="preserve">Alle Bäche, alle Flüſſe, alle Ströme der Erde ſind in <lb/>fortwährendem Laufe begriffen, und doch werden ſie nicht <lb/>waſſerleer; </s>
  <s xml:id="echoid-s3128" xml:space="preserve">alle Gewäſſer ziehen in das Meer, und doch wird <lb/>dieſes nicht überfüllt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3129" xml:space="preserve">Es rührt dies daher, daß das Waſſer <lb/>die Eigenſchaft hat, zu verdunſten und ſich mit der Luft zu <lb/>vermiſchen, und daß die ſtets in Bewegung befindliche Luft den <lb/>Waſſerdunſt über den trockenen Boden der Erde hinführt, und <lb/>ihn als Nebel, als Wolke, als Regen oder Schnee oder Hagel <lb/>wieder zurück auf die Erde fallen läßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3130" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3131" xml:space="preserve">Da die Ströme nur das Waſſer zum Meere tragen, was <lb/>ihnen von den Bergen und allen höher gelegenen Orten zu-<lb/>fließt, und da die Berge wiederum dieſe Waſſermaſſen nur aus <lb/>der Luft empfangen, welche ſie wiederum aus dem Meere ent-<lb/>nimmt, ſo iſt es eine unbezweifelte Thatſache, daß nur ſo viel <lb/>Waſſer nach dem Meere ſtrömt, als früher verdunſtet war, daß <lb/>alſo die Verdunſtung und die Waſſerbildung ſich immer das <lb/>Gleichgewicht halten, und daß ſich ſo ein Kreislauf herſtellt, in <lb/>welchem das Waſſer aller Ströme dem Meere zueilt, und zwar <lb/>ſichtbar vor Aller Augen; </s>
  <s xml:id="echoid-s3132" xml:space="preserve">in welchem aber, abgeſehen von der <lb/>Wolken-Bildung unſichtbar für das Auge, hoch über uns, in <lb/>der Luft, ein Zurückſtrömen des Waſſers ſtattfindet.</s>
  <s xml:id="echoid-s3133" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3134" xml:space="preserve">Alles, was auf der Erde lebt, wird nur erhalten durch <lb/>dieſen Kreislauf des Waſſers; </s>
  <s xml:id="echoid-s3135" xml:space="preserve">dieſer Kreislauf des Waſſers <lb/>wird nur erhalten durch die Kreisſtrömungen der Luft; </s>
  <s xml:id="echoid-s3136" xml:space="preserve">dieſe <lb/>Luftſtrömungen beſtehen nur durch den täglichen Umlauf der <lb/>Erde um ihre Achſe und die Alles belebende Kraft der Wärme <lb/>erzeugenden Sonne. </s>
  <s xml:id="echoid-s3137" xml:space="preserve">— Für heute wollen wir nur darthun, <lb/>wie die Verwandlung der Oberfläche der Erde, welche von den <lb/>ewig ſtrömenden Gewäſſern herrührt, mit in dieſen großen <lb/>Kreis hineingehört und ſicherlich ſo notwendig zum Geſamt-
<pb o="31" file="235" n="235"/>
daſein iſt, wie nur irgend eine andere großartige Erſcheinung <lb/>der Natur.</s>
  <s xml:id="echoid-s3138" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3139" xml:space="preserve">Das von allen Höhen zum Meere ſtrömende Waſſer nimmt <lb/>die abgewitterten Teilchen mit, löſt und reißt kleine Teile von <lb/>den höher gelegenen Teilen ſeines oft ſehr langen Weges ab <lb/>und ſenkt ſie nieder in die Tiefen, über die der Weg dahin <lb/>führt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3140" xml:space="preserve">Hierdurch entſteht eine Ausgleichung, ein Ebnen des <lb/>Strombettes, das fort und fort weiter vorſchreitet, ſo daß ſich <lb/>nach und nach alle Unebenheiten auf dem Boden der Ströme <lb/>verlieren müſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3141" xml:space="preserve">So lange der Strom in ſeinem Laufe iſt, <lb/>läßt er zwar die mitgeriſſenen kleinen Teile feſter Erde, wie <lb/>Sandkörner, Lehm, Thon und Steingerölle langſam oder <lb/>ſchnell auf dem Boden des Strombettes niederſinken; </s>
  <s xml:id="echoid-s3142" xml:space="preserve">aber die <lb/>nachfolgenden Waſſer ſpülen alle dieſe Maſſen immer weiter <lb/>hinunter; </s>
  <s xml:id="echoid-s3143" xml:space="preserve">nur dort, wo ſich dem Strom ein Hindernis in den <lb/>Weg ſtellt, wo er alſo genötigt iſt, langſamer dahin zu ziehen, <lb/>da findet eine größere Ablagerung der mitgeriſſenen feſten Teile <lb/>ſtatt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3144" xml:space="preserve">Wo aber der Strom ins Meer hineintritt, da trifft er <lb/>auf ſolch ein Hindernis ſeines Laufes; </s>
  <s xml:id="echoid-s3145" xml:space="preserve">denn die Waſſer des <lb/>Meeres, die an den Mündungen der Flüſſe nicht ſtrömen, <lb/>ſtellen ſich ihrem Laufe entgegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3146" xml:space="preserve">Der Strom wird, wenn er <lb/>ins Meer gelangt iſt, zum Stehen gebracht, und deshalb läßt <lb/>er nach ſeinem Eintritt in das Meer alle ſeine feſten, unter-<lb/>wegs noch nicht abgelagerten Teile fallen und bildet ſich ſo <lb/>ſelber ein Hindernis ſeines Weges.</s>
  <s xml:id="echoid-s3147" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3148" xml:space="preserve">Dieſes Hindernis, das ſich immerfort vergrößert, wächſt <lb/>bald zu einem kleinen Berge unter dem Waſſer an, und der <lb/>Strom iſt genötigt, ſich zu teilen und ſich durch den Berg neue <lb/>Wege zu ſuchen, um ſeine Waſſer mit dem des Meeres zu <lb/>miſchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3149" xml:space="preserve">Mit der Zeit aber nimmt das Hindernis immer mehr <lb/>zu; </s>
  <s xml:id="echoid-s3150" xml:space="preserve">es ſammeln ſich immer mehr und mehr feſte Teilchen und <lb/>lagern ſich an dem Berge ab, bis endlich der Berg heran-<lb/>wächſt und ſo hoch wird, daß er bis an die Oberfläche des
<pb o="32" file="236" n="236"/>
Waſſers hervorragt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3151" xml:space="preserve">— Schwillt nun der Strom zuweilen an <lb/>und erhebt ſich über dieſen Berg, ſo lagert er, während er <lb/>darüber hinfließt, noch mehr Teilchen auf demſelben ab, der <lb/>Berg wächſt alſo durch den angeſchwollenen Strom noch mehr, <lb/>und wenn nach einiger Zeit der Strom fällt, ſo ragt an ſeiner <lb/>Mündung der Berg über die Fläche des Waſſers hinaus und <lb/>es iſt Land entſtanden aus all’ den kleinen Teilchen, die das <lb/>Waſſer mit ſich führte; </s>
  <s xml:id="echoid-s3152" xml:space="preserve">und der Strom iſt meiſt genötigt, in <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-236-01a" xlink:href="fig-236-01"/>
mehreren Armen durch dieſes neue Land herum ins Meer zu <lb/>fließen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3153" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div104" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-236-01" xlink:href="fig-236-01a">
<caption xml:id="echoid-caption23" xml:space="preserve">Fig. 13.</caption>
<description xml:id="echoid-description3" xml:space="preserve"><emph style="sp"><emph style="bf">Mittelländisches Meer</emph></emph></description>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3154" xml:space="preserve">Dieſes neu entſtandene Land wächſt nun langſam immer <lb/>mehr und mehr und wird unter günſtigen Umſtänden zu einer <lb/>weiten Ebene, wo Pflanzen und Waldungen entſtehen und <lb/>Dörfer und Städte errichtet werden können. </s>
  <s xml:id="echoid-s3155" xml:space="preserve">Je mehr aber <lb/>das Land wächſt, deſto mehr muß ſich der Strom teilen, und <lb/>je mehr dies geſchieht, deſto weiter wächſt das Land ſtrom-<lb/>aufwärts zwiſchen die Arme des Stromes hinein.</s>
  <s xml:id="echoid-s3156" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="33" file="237" n="237"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3157" xml:space="preserve">Das iſt die Art, wie ein neues Land an den Strom-<lb/>müudungen entſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s3158" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3159" xml:space="preserve">Man nennt die bezeichnete Art, wie durch einen Strom <lb/>ſich neues Land bildet, wo derſelbe in das Meer fließt, <lb/>die Delta-Bildung. </s>
  <s xml:id="echoid-s3160" xml:space="preserve">Die berühmteſte Delta-Bildung iſt die des <lb/>Niles in Ägypten, die ein Dreieck und daher die Form des <lb/>griechiſchen Buchſtabens Delta (Δ) nachahmt (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3161" xml:space="preserve">13). </s>
  <s xml:id="echoid-s3162" xml:space="preserve">Ja, <lb/>ganz Unter-Ägypten iſt in der bezeichneten Weiſe entſtanden, <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-237-01a" xlink:href="fig-237-01"/>
und die Betrachtung dieſes Landes und ſeines Stromes iſt <lb/>darum ſo lehrreich geworden, weil man mit Sicherheit die <lb/>Veränderungen kennt, welchen das Land ſeit dem Altertum <lb/>unterworfen iſt, und mit ziemlicher Genauigkeit angeben kann, <lb/>wie dieſes Land ſich noch fernerhin verändern wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3163" xml:space="preserve">Als <lb/>ein weiteres Beiſpiel ſei das Rheindelta genannt, welches den <lb/>Boden des Königreiches der Niederlande bildet, und ferner das <lb/>weit ins Meer vorgeſchobene Delta des Miſſiſſippi (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3164" xml:space="preserve">14). <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3165" xml:space="preserve">Allenthalben haben die Ströme neues Land angebaut und da-</s>
</p>
<div xml:id="echoid-div105" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-237-01" xlink:href="fig-237-01a">
<caption xml:id="echoid-caption24" xml:space="preserve">Fig. 14.</caption>
<description xml:id="echoid-description4" xml:space="preserve"><emph style="bf">Mississippi Mündungen</emph> <lb/><emph style="bf">GOLF von MEXICO</emph></description>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3166" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s3167" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s3168" xml:space="preserve">Volksbücher VIII.</s>
  <s xml:id="echoid-s3169" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="34" file="238" n="238"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3170" xml:space="preserve">durch ihren eigenen Eintritt ins Meer verändert; </s>
  <s xml:id="echoid-s3171" xml:space="preserve">und weil <lb/>dies ſeit ungeheurer Zeit der Fall war, ſind hierdurch Ver-<lb/>änderungen der Erdoberfläche entſtanden, durch welche an den <lb/>Küſten das Land wuchs und das Meer weit zurücktrat.</s>
  <s xml:id="echoid-s3172" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3173" xml:space="preserve">Aber auch das Meer iſt unausgeſetzt thätig, einerſeits <lb/>Land abzureißen und andererſeits Land anzuſchwemmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3174" xml:space="preserve">Die <lb/>Ufer des Meeres ſind in fortwährender Veränderung begriffen <lb/>und verändern langſam die Grenzen des feſten Bodens und <lb/>der Waſſerfläche. </s>
  <s xml:id="echoid-s3175" xml:space="preserve">Die Flut trägt oft einem Stück Land be-<lb/>deutende Maſſen erdiger Teile zu und läßt ſie auf denſelben <lb/>zurück, während ſie auf andern Orten Landmaſſen abſpült und <lb/>beim Abfluß während der Ebbe mit ſich fortführt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3176" xml:space="preserve">Die Wellen, <lb/>die an das Ufer des Landes anprallen und Brandungen ge-<lb/>nannt werden, höhlen oft ſtreckenweiſe Felſen, namentlich Sand-<lb/>ſteinfelſen aus und untergraben das Feſtland, daß es dereinſt <lb/>zuſammen und ins Meer ſtürzen muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s3177" xml:space="preserve">Stellenweiſe iſt dies an <lb/>den Küſten Englands der Fall, Oſtfriesland und Holland ſind <lb/>hierdurch einer fortwährend langſam vor ſich gehenden Ver-<lb/>änderung ihrer Küſten ausgeſetzt, und die Inſel Helgoland iſt <lb/>ſo offenbar dem Angriff der Brandungen ausgeſetzt, daß man <lb/>den vollſtändigen Untergang derſelben mit Sicherheit voraus-<lb/>ſagen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s3178" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3179" xml:space="preserve">Es leben an den meiſten Meeres-Ufern Deutſchlands Sagen <lb/>im Munde des Volkes von Städten und Ländern, die dereinſt <lb/>dort geſtanden haben, wo jetzt das Meer herrſcht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3180" xml:space="preserve">Zu dieſen <lb/>Sagen hat ſicherlich die Beobachtung Veranlaſſung gegeben, daß <lb/>das Meer ſtellenweiſe das Ufer zerſtört und das Land bedeckt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3181" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3182" xml:space="preserve">Wenn auch die berühmteſte dieſer Sagen, die von der <lb/>untergegangenen Stadt Vineta am Streckelberg auf Uſedom <lb/>(beim heutigen Dorfe Coſerow), wie ſo manche andere, höchſt <lb/>wahrſcheinlich keinerlei hiſtoriſchen Hintergrund beſitzt, ſo weiß <lb/>man doch, daß zahlloſe Ortſchaften — zumal an der deutſchen <lb/>und holländiſchen Nordſeeküſte — thatſächlich, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3183" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s3184" xml:space="preserve">durch
<pb o="35" file="239" n="239"/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-239-01a" xlink:href="fig-239-01"/>
<pb o="36" file="240" n="240"/>
winterliche Sturmfluten, völlig zerſtört und vom Meere be-<lb/>graben wurden.</s>
  <s xml:id="echoid-s3185" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div106" type="float" level="2" n="3">
<figure xlink:label="fig-239-01" xlink:href="fig-239-01a">
<caption xml:id="echoid-caption25" xml:space="preserve">Fig. 15. <lb/>Ein “Baumkirchhof”. (Der weiße Berg bei Misdroy an der Oſtſee.)</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3186" xml:space="preserve">Daß nicht nur das Waſſer, ſondern auch der Wind die <lb/>Oberfläche der Erde zu verändern imſtande iſt, iſt den Be-<lb/>wohnern der Küſten unſeres Heimatlandes beſonders bekannt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3187" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3188" xml:space="preserve">Wo lockere Maſſen, wie Sandmaſſen, angehäuft ſind, <lb/>werden dieſe von regelmäßig wehenden Winden nach und <lb/>nach an beſtimmte Stellen transportiert, ſodaß im Verlauf der <lb/>nötigen Zeit in dieſer Weiſe ganze Berge verſetzt werden <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-240-01a" xlink:href="fig-240-01"/>
können. </s>
  <s xml:id="echoid-s3189" xml:space="preserve">Solche durch Wind veranlaßten Ablagerungen werden <lb/>als <emph style="sp">Dünen</emph> bezeichnet; </s>
  <s xml:id="echoid-s3190" xml:space="preserve">ſie können ganze Dörfer und Wälder, <lb/>(Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3191" xml:space="preserve">15) überſchütten. </s>
  <s xml:id="echoid-s3192" xml:space="preserve">In China ſind ganze Landſchaften <lb/>von Geſteins-Staubabſätzen, Löß, gebildet worden, die im <lb/>Laufe langer Zeiten durch ſtändige Winde eine gewaltige <lb/>Mächtigkeit erreicht haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s3193" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div107" type="float" level="2" n="4">
<figure xlink:label="fig-240-01" xlink:href="fig-240-01a">
<caption xml:id="echoid-caption26" xml:space="preserve">Fig. 16. <lb/>Kantengeſteine (“Dreikanter”).</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3194" xml:space="preserve">Auch hier iſt es alſo eine lange Zeiten hindurch währende <lb/>Veranlaſſung, der Wind, der durch die ſtändige Wirkung im <lb/>Reſultat Gewaltiges vollbringt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3195" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3196" xml:space="preserve">Wie das Waſſer, ſo trägt auch der Wind zur Zermahlung
<pb o="37" file="241" n="241"/>
des feſten Geſteins bei, wie die Kantengeſteine (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3197" xml:space="preserve">16) be-<lb/>weiſen, die ſich vielfach in unſerer Heimat vorfinden, und die <lb/>ſich durch ſcharfkantige, zuſammenſtoßende, glattpolierte Flächen <lb/>auszeichnen, welche durch das ſtete Anprallen von Geſteins-<lb/>körnchen, die der Wind herzuträgt, abgeſchliffen wurden.</s>
  <s xml:id="echoid-s3198" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div109" type="section" level="1" n="87">
<head xml:id="echoid-head100" xml:space="preserve"><emph style="bf">XI. Das norddeutſche Flachland.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3199" xml:space="preserve">Von beſonderem Intereſſe muß uns die Geſtaltung des <lb/>norddeutſchen Flachlandes ſein, auf die wir nun etwas ein-<lb/>gehen wollen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3200" xml:space="preserve">Es iſt aber nötig, vorher einige Namen kennen <lb/>zu lernen, die die Geologen, alſo die Gelehrten, die ſich <lb/>mit dem Bau und der Entſtehung der Erdrinde beſchäftigen, <lb/>anwenden.</s>
  <s xml:id="echoid-s3201" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3202" xml:space="preserve">Die Geologen teilen die verſchiedenen Zeitepochen nach <lb/>den während derſelben in der angedeuteten Weiſe entſtandenen <lb/>Geſteinablagerungen und deren organiſchen Einſchlüſſen ein, <lb/>und in der folgenden Überſicht nennen wir die aufeinander-<lb/>folgenden geologiſchen Zeiten reſp. </s>
  <s xml:id="echoid-s3203" xml:space="preserve">Schichten (<emph style="sp">Formationen</emph>) <lb/>mit ihren wiſſenſchaftlichen Namen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3204" xml:space="preserve">Wir beginnen mit den <lb/>jüngeren Formationen, um ein der Natur entſprechendes Bild <lb/>zu geben, in welcher ja auch — abgeſehen alſo von etwaigen <lb/>nachträglichen “Verwerfungen” — die jüngeren Schichten die <lb/>oberen, die älteren die unteren ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s3205" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3206" xml:space="preserve">Känolithiſche Epoche: </s>
  <s xml:id="echoid-s3207" xml:space="preserve">Quartär. </s>
  <s xml:id="echoid-s3208" xml:space="preserve">Jetztzeit (Alluvium), Eis-<lb/>zeit (Diluvium). </s>
  <s xml:id="echoid-s3209" xml:space="preserve">Tertiär (Braunkohlen-Formation).</s>
  <s xml:id="echoid-s3210" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3211" xml:space="preserve">Meſolithiſche Epoche: </s>
  <s xml:id="echoid-s3212" xml:space="preserve">Kreide, Jura. </s>
  <s xml:id="echoid-s3213" xml:space="preserve">Trias.</s>
  <s xml:id="echoid-s3214" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3215" xml:space="preserve">Paläolithiſche Epoche: </s>
  <s xml:id="echoid-s3216" xml:space="preserve">Perm (Dyas), Carbon, Devon, <lb/>Silur.</s>
  <s xml:id="echoid-s3217" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3218" xml:space="preserve">Archäolithiſche Epoche: </s>
  <s xml:id="echoid-s3219" xml:space="preserve">(Aus dem Glutflüſſigen erſtarrte <lb/>erſte Beſtandteile der Erdkruſte).</s>
  <s xml:id="echoid-s3220" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3221" xml:space="preserve">Daß nicht überall und an jedem Orte der Erde die ge-
<pb o="38" file="242" n="242"/>
nannten Schichten vorhanden ſind, iſt wohl ohne weiteres klar, <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-242-01a" xlink:href="fig-242-01"/>
wo z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3222" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s3223" xml:space="preserve">heute trockenes Land iſt, <lb/>können keine Waſſerabſätze gebildet <lb/>werden, vielmehr wird das Material <lb/>des Kontinentes langſam, aber ſtetig <lb/>in den Flußläufen und dann im <lb/>Meer zur Ablagerung gebracht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3224" xml:space="preserve">So <lb/>war es natürlich ſtets: </s>
  <s xml:id="echoid-s3225" xml:space="preserve">die Beſtand-<lb/>teile älterer Formationen haben <lb/>immer hergehalten zur Bildung der <lb/>neuen Formationen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3226" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div109" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-242-01" xlink:href="fig-242-01a">
<caption xml:id="echoid-caption27" xml:space="preserve">Fig. 17.</caption>
<description xml:id="echoid-description5" xml:space="preserve">Süd,<lb/>Nord.<lb/>Dobrilugk<lb/>Stargardt<lb/>Hilmersdorf<lb/>Berlin<lb/>N. Brandenburg<lb/>Dahme<lb/>Neddemin<lb/>Golm B.<lb/>Spiegel der Ost – See</description>
<variables xml:id="echoid-variables3" xml:space="preserve">i h s f e d a a e b a</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3227" xml:space="preserve">Als ein kleines Beiſpiel, wie <lb/>die Schichtenfolgen übereinander auf-<lb/>treten, wählen wir die Schichten-<lb/>folgen des Bodens, wie ſie durch <lb/>Bohrungen in der Provinz Branden-<lb/>burg erſchloſſen worden ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s3228" xml:space="preserve">Der <lb/>durch Zuhülfenahme der Bohrreſul-<lb/>tate erſchloſſene Schnitt, das Profil <lb/>(Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3229" xml:space="preserve">17) durch die oberſten Schichten <lb/>dieſer Provinz zeigt uns in ſchema-<lb/>tiſcher Weiſe von a bis i ihre zeit-<lb/>liche Aufeinanderfolge, die ſich durch <lb/>die Übereinanderlagerung kundthut. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3230" xml:space="preserve">a iſt Geſtein älterer Formationen, <lb/>b bis h ſind Tertiär-Schichten und i <lb/>iſt die zur Eiszeit gebildete obere, <lb/>heutige Decke.</s>
  <s xml:id="echoid-s3231" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3232" xml:space="preserve">Von den “Formationen” treten <lb/>in Norddeutſchland außer den ge-<lb/>nannten beiden noch mehrere zu <lb/>Tage, ſo die Trias-Formation in <lb/>dem Kalkgeſtein von Rüdersdorf, öſtlich von Berlin, eine
<pb o="39" file="243" n="243"/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-243-01a" xlink:href="fig-243-01"/>
<pb o="40" file="244" n="244"/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-244-01a" xlink:href="fig-244-01"/>
Bildung, die Verſteinerungen von <lb/>Meerestieren enthält (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3233" xml:space="preserve">18), und ſich <lb/>dadurch als eine Meeres-Ablagerung <lb/>kundgiebt, ferner die Kreide, aus der <lb/>z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3234" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s3235" xml:space="preserve">Stubbenkammer auf Rügen gebildet <lb/>wird, und die ebenfalls ein Meeres-<lb/>Abſatz iſt, u. </s>
  <s xml:id="echoid-s3236" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s3237" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s3238" xml:space="preserve">Etwas näher ein-<lb/>gehen wollen wir bei ihrer Bedeutung <lb/>für den Menſchen auf eine Bildung <lb/>der Tertiärzeit, auf die Braunkohlen-<lb/>Bildung, die im norddeutſchen Flach-<lb/>lande eine beſondere Rolle ſpielt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3239" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div110" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-243-01" xlink:href="fig-243-01a">
<caption xml:id="echoid-caption28" xml:space="preserve">Fig. 18.</caption>
<description xml:id="echoid-description6" xml:space="preserve">Meerestier-Verſteinerungen aus dem Muſchelkalk.</description>
</figure>
<figure xlink:label="fig-244-01" xlink:href="fig-244-01a">
<caption xml:id="echoid-caption29" xml:space="preserve">Fig. 19.</caption>
<description xml:id="echoid-description7" xml:space="preserve">Eine Meeresmuſchel <lb/>(Leda Deshayesiana) <lb/>aus dem “Septarienthon” <lb/>des Tertiärs.</description>
</figure>
</div>
</div>
<div xml:id="echoid-div112" type="section" level="1" n="88">
<head xml:id="echoid-head101" xml:space="preserve"><emph style="bf">XII. Die Braunkohle und ihre Entſtehung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3240" xml:space="preserve">Die Zeit, die der noch näher zu beſprechenden Eiszeit <lb/>unmittelbar vorausging und in der die Schichten gebildet <lb/>wurden, die ſich allermeiſt tief unterhalb unſerer eiszeitlichen <lb/>Mergel-, Sand-, Lehm- und Thon-Schichten befinden, bezeichnet <lb/>der Geologe alſo als die Tertiärzeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s3241" xml:space="preserve">Die Tertiärſchichten be-<lb/>ſtehen zum Teil auch noch aus Meeresabſätzen, wie die in <lb/>denſelben vorkommenden Verſteinerungen von Meerestieren, von <lb/>denen Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3242" xml:space="preserve">19 ein Beiſpiel bietet, beweiſen, zum anderen Teil <lb/>aus Süßwaſſer-Ablagerungen und großen Moorbildungen, die <lb/>ſich in den Braunkohlen dieſer Formation erhalten haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s3243" xml:space="preserve">wir <lb/>können die Tertiärzeit daher als Braunkohlenzeit bezeichnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3244" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3245" xml:space="preserve">Die Braunkohlenlager ſind allermeiſt die Überreſte tertiärer <lb/>großer Waldmoore, wie ſie noch heute im ſüdlichen Nord-<lb/>Amerika große Strecken bedecken. </s>
  <s xml:id="echoid-s3246" xml:space="preserve">Das heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s3247" xml:space="preserve">ebenſo wie die <lb/>Pflanzen der Torf- und Waldmoore an Ort und Stelle, wo <lb/>ſie wachſen, Humuslager erzeugen, war es auch in der Vorzeit <lb/>die Norm, daß ſolche Lager an derſelben Stelle gebildet wurden,
<pb o="41" file="245" n="245"/>
wo auch das Material derſelben gewachſen iſt, und das gilt <lb/>nicht allein für die Braunkohlenſchichten (Flötze), ſondern auch <lb/>für die Kohlen der Steinkohlenzeit.</s>
  <s xml:id="echoid-s3248" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3249" xml:space="preserve">Von den Mooren, die ſchnell große Humusmaſſen erzeugen, <lb/>bis zu den bewaldeten Sandflächen der Provinz Brandenburg, <lb/>die in den meiſten Fällen (namentlich die Böden der Kiefern-<lb/>wälder) auch nicht einmal ſchwach humös werden, ſondern rein <lb/>ſandig verbleiben, giebt es alle Übergänge, je nachdem das ab-<lb/>ſterbende Pflanzenmaterial durch die vorhandenen Bedingungen, <lb/>namentlich Luftabſchluß, mit dauernder Hinterlaſſung von <lb/>Humus eine Umbildung erfährt, wie in den Mooren, oder <lb/>mehr oder minder weitgehend oder endlich namentlich bei ge-<lb/>nügendem Luftzutritt, ſtets vollſtändig derartig zerſetzt wird, <lb/>daß in oder auf dem Boden nichts zurückbleibt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3250" xml:space="preserve">Die Erhaltung <lb/>des Pflanzen-Materials bei Umbildung zu Humus iſt alſo <lb/>ſeiner Maſſe nach je nach den bei der Verweſung und Fäulnis <lb/>durch die Verhältniſſe bedingten chemiſchen Vorgängen ganz ver-<lb/>ſchieden, ja, wie wir ſehen, kann die geſamte abgeſtorbene Sub-<lb/>ſtanz ohne Hinterlaſſung feſter Beſtandteile verſchwinden.</s>
  <s xml:id="echoid-s3251" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3252" xml:space="preserve">Das Braunkohlenflötz z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3253" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s3254" xml:space="preserve">des Senftenberger Reviers in <lb/>der Niederlauſitz bietet ein treffliches Beiſpiel für den Nach-<lb/>weis der Bildung des Kohlen-Materials, des vorweltlichen, <lb/>man kann ſagen verſteinerten Humus, an derſelben Stelle, wo <lb/>auch die Pflanzen, welche die Kohle geliefert haben, gewachſen <lb/>ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s3255" xml:space="preserve">Das Senftenberger Braunkohlen-Flötz, auf dem viele <lb/>Gruben bauen, iſt in einem Bezirk von etwa einer Quadrat-<lb/>meile bekannt; </s>
  <s xml:id="echoid-s3256" xml:space="preserve">es beſitzt eine Mächtigkeit von rund 10 bis <lb/>20 Meter und wird von Thonen und Sanden überlagert, die, wo <lb/>die Mächtigkeit derſelben nicht zu bedeutend iſt, abgedeckt <lb/>werden, ſodaß dann die Kohle in Tagebauen abgebaut wird. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3257" xml:space="preserve">Mehrere der letzteren bieten eine beſonders intereſſante Erſchei-<lb/>nung dadurch, daß in dem Kohlen-Flötz mächtige, bis 4 Meter, <lb/>unter Umſtänden auch mehr im Durchmeſſer zeigende, aufrechte
<pb o="42" file="246" n="246"/>
Baumſtümpfe ſtecken: </s>
  <s xml:id="echoid-s3258" xml:space="preserve">die Reſte der alten Rieſen, welche das <lb/>Waldmoor einſt belebten.</s>
  <s xml:id="echoid-s3259" xml:space="preserve"/>
</p>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption30" xml:space="preserve">Fig. 20.</caption>
<description xml:id="echoid-description8" xml:space="preserve">Braunkohlen-Tagebau. Aus dem Senftenberger Braunkohlenrevier.</description>
</figure>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3260" xml:space="preserve">Ein ſehr inſtruktives Bild entſteht nach dem Abbau eines <lb/>größeren Flötzteiles an der Stelle, wo er ſich befand. </s>
  <s xml:id="echoid-s3261" xml:space="preserve">Der <lb/>Boden, der das Flötz trug, zeigt ſich nämlich mit gebräunten,
<pb o="43" file="247" n="247"/>
mächtigen Vaumſtümpfen bedeckt, in Entfernungen von ein-<lb/>ander, wie ſie der Kampf ums Daſein in einem Urwalde ſchafft <lb/>(Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3262" xml:space="preserve">20). </s>
  <s xml:id="echoid-s3263" xml:space="preserve">Die Stümpfe ſind alle bis zu einer beſtimmten <lb/>Höhe verbrochen, vermutlich dadurch den ehemaligen Waſſer-<lb/>ſtand anzeigend: </s>
  <s xml:id="echoid-s3264" xml:space="preserve">der über das Waſſer hinausragende Teil war <lb/>durch den Einfluß der Atmoſphäre hinfälliger als der unter <lb/>Waſſer befindliche. </s>
  <s xml:id="echoid-s3265" xml:space="preserve">Horizontal liegende Baumreſte, Stamm-<lb/>ſtücke, gelegentlich bis zu einer Länge von über 20 m geben <lb/>Kunde von den geſtürzten Teilen der Rieſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3266" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3267" xml:space="preserve">Auf der Oberfläche des Flötzes, nach Entfernung der Sand-<lb/>und Thon-Decke, dasſelbe Bild, und auch inmitten des Flötzes <lb/>ſelbſt (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3268" xml:space="preserve">2 auf Seite 56 im VI. </s>
  <s xml:id="echoid-s3269" xml:space="preserve">Teil), ſind die aufrechten, <lb/>noch bewurzelten Stümpfe und die zugehörigen abgebrochenen <lb/>Stämme in horizontaler Lage vorhanden (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3270" xml:space="preserve">21). </s>
  <s xml:id="echoid-s3271" xml:space="preserve">Es handelt <lb/>ſich eben in dem Flötz um ein foſſiles Waldmoor, in welchem <lb/>die ſpäteren Generationen auf den Leichen der vorhergehenden <lb/>wuchſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3272" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3273" xml:space="preserve">In der Jetztzeit bieten die nordamerikaniſchen Cypreſſen-<lb/>Sümpfe, die “Cypreß-Swamps” der Amerikaner, dieſelbe Er-<lb/>ſcheinung. </s>
  <s xml:id="echoid-s3274" xml:space="preserve">Ja, um den Vergleich vollkommen zu machen: </s>
  <s xml:id="echoid-s3275" xml:space="preserve">ſo-<lb/>gar der Hauptbaum dieſer Swamps, die virginiſche Sumpf-<lb/>Cypreſſe, Taxodium distichum, hat auch in unſerem nieder-<lb/>lauſitzer vorweltlichen, “verſteinerten” Swamp dieſelbe Rolle <lb/>geſpielt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3276" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3277" xml:space="preserve">Für den Bergbau iſt das Vorhandenſein des Braunkohlen-<lb/>Holzes, den “Lignits”, in der Kohle (es iſt erdige Braunkohle) <lb/>keineswegs günſtig: </s>
  <s xml:id="echoid-s3278" xml:space="preserve">die Stümpfe im Liegenden des Flötzes <lb/>bleiben ſtehen und werden in den Tagebauen mit dem “Abraum”, <lb/>dem Material der Flötzdecke, das fortgeſchafft wird, um das <lb/>Flötz freizulegen, wieder verſchüttet. </s>
  <s xml:id="echoid-s3279" xml:space="preserve">Abgeſehen davon, daß <lb/>das Holz den Abbau der ſehr waſſerhaltigen Kohle erſchwert, <lb/>iſt es nämlich für die Briquettierung unverwertbar.</s>
  <s xml:id="echoid-s3280" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3281" xml:space="preserve">Die Stümpfe ſind allermeiſt hohl. </s>
  <s xml:id="echoid-s3282" xml:space="preserve">In den Höhlungen be-
<pb o="44" file="248" n="248"/>
findet ſich gewöhnlich Schweelkohle: </s>
  <s xml:id="echoid-s3283" xml:space="preserve">eine ſehr harzreiche Kohle, <lb/>die, angezündet, leicht weiter ſchweelt oder mit leuchtender Flamme <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-248-01a" xlink:href="fig-248-01"/>
ohne weiteres brennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3284" xml:space="preserve">Die Taxodien ſind harzführend. </s>
  <s xml:id="echoid-s3285" xml:space="preserve">Das <lb/>Harz wird von den Bäumen als Wundverſchluß benutzt, und <lb/>da die Höhlung in einem alten Baume als eine mächtige
<pb o="45" file="249" n="249"/>
Wunde anzuſehen iſt, ſo wird in dieſe ein beſonders reichlicher <lb/>Harzerguß erfolgen, der nach abwärts fließend ſchließlich den <lb/>übrigbleibenden Stumpf erfüllt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3286" xml:space="preserve">Im rechten Vordergrunde <lb/>der Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3287" xml:space="preserve">20 befindet ſich ein Stumpf, aus deſſen Höhlung die <lb/>Schweelkohle entfernt wurde, im linken Vordergrunde ein <lb/>anderer Stumpf, bei dem das Außenholz bis zur Ausfüllungs-<lb/>maſſe der Höhlung, alſo exkluſive der Schweelkohle, fort-<lb/>genommen worden iſt, ſodaß auf dem die Baſis der Höhlung <lb/>bildenden, übrigbleibenden Holzklotz ein tüchtiger Klotz von <lb/>Schweelkohle thront.</s>
  <s xml:id="echoid-s3288" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div112" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-248-01" xlink:href="fig-248-01a">
<caption xml:id="echoid-caption31" xml:space="preserve">Fig. 21.</caption>
<description xml:id="echoid-description9" xml:space="preserve">Braunkohlen-Tagebau. Aus dem Senftenberger Braunkohlenrevier.</description>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3289" xml:space="preserve">Unſer vorweltliches Waldmoor liefert ein wichtiges Heiz-<lb/>material. </s>
  <s xml:id="echoid-s3290" xml:space="preserve">Die Kohle wird, da ſie ziemlich waſſerhaltig iſt, in <lb/>Pulverform getrocknet, dann unter hohem Druck in beſtimmte <lb/>Formen gepreßt und als Senftenberger Braunkohlenbriquetts <lb/>verkauft.</s>
  <s xml:id="echoid-s3291" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div114" type="section" level="1" n="89">
<head xml:id="echoid-head102" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIII. Der Bernſtein.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3292" xml:space="preserve">Wir haben im vorhergehenden Kapitel Gelegenheit gehabt, <lb/>von Harzergüſſen der vorweltlichen tertiären Bäume zu reden <lb/>und wir wollen uns nun näher mit dem altbekannten Bern-<lb/>ſtein beſchäftigen, der nichts anderes als ein ſolches verſteinertes <lb/>Harz aus der Braunkohlenzeit iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3293" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3294" xml:space="preserve">Der Bernſtein verdankt ſeinen Namen ſeiner leichten <lb/>Brennbarkeit; </s>
  <s xml:id="echoid-s3295" xml:space="preserve">Brennſtein wäre uns daher im erſten Au<unsure/>gen-<lb/>blick verſtändlicher. </s>
  <s xml:id="echoid-s3296" xml:space="preserve">Bernſtein kommt von dem altdeutſchen <lb/>Wort börnen, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s3297" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s3298" xml:space="preserve">brennen, und dementſprechend ſagte man <lb/>daher auch urſprünglich Börnſtein; </s>
  <s xml:id="echoid-s3299" xml:space="preserve">ſingt doch Caspar Henne-<lb/>berger 1576</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3300" xml:space="preserve">Wenn ausz dem Weſten der Wind weht, <lb/>Allhie man viel des Börnſteins fäht.</s>
  <s xml:id="echoid-s3301" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3302" xml:space="preserve">Der Bernſtein iſt dem Menſchen ſchon ſeit ſehr langer
<pb o="46" file="250" n="250"/>
Zeit, namentlich — es brauchte kaum geſagt zu werden — als <lb/>Verwendungsmittel für Schmuckſachen bekannt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3303" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3304" xml:space="preserve">Aus der Steinzeit iſt Bernſteinſchmuck als Zeichen älteſter <lb/>Kultur in Nord- und Mittel-Europa gefunden worden, aus <lb/>den Jahren 1000—800 vor unſerer Zeitrechnung. </s>
  <s xml:id="echoid-s3305" xml:space="preserve">Die Durch-<lb/>bohrung der Stücke, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3306" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s3307" xml:space="preserve">großer Bernſtein-Perlen, iſt offenbar <lb/>nicht durch Metallinſtrumente, ſondern durch Feuerſteinſplitter <lb/>hergeſtellt worden.</s>
  <s xml:id="echoid-s3308" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3309" xml:space="preserve">Bei den alten Griechen hieß der Bernſtein Elektron, von <lb/>welchem Wort die Bezeichnung “Elektrizität” abgeleitet wird, <lb/>weil ja der Bernſtein durch Reibung ſehr leicht negativ-elektriſch <lb/>wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3310" xml:space="preserve">Da nun bei Homer die Frauen zur Zeit des trojaniſchen <lb/>Krieges Hals- und Armbänder von Elektron tragen, ſo ſcheint <lb/>hiernach auch vor Homers Helden der Bernſtein Verwendung <lb/>gefunden zu haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3311" xml:space="preserve">Allerdings iſt dabei zu beachten, daß der <lb/>Name Elektron im Altertum eine doppelte Bedeutung hatte: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3312" xml:space="preserve">man verſtand nämlich darunter auch eine Metallmiſchung von <lb/>etwa vier Teilen Gold und einem Teil Silber. </s>
  <s xml:id="echoid-s3313" xml:space="preserve">Die ſichere <lb/>Entſcheidung, was Homer unter “Elektron” verſteht, iſt nicht <lb/>leicht, möglicherweiſe iſt es bei ihm bald Bernſtein bezw. </s>
  <s xml:id="echoid-s3314" xml:space="preserve"><lb/>Edelſtein überhaupt, bald die genannte Metallmiſchung. </s>
  <s xml:id="echoid-s3315" xml:space="preserve">Sicher <lb/>aber gebrauchten die Alten den Bernſtein zur Blütezeit der <lb/>Phönizier, die ihnen den Bernſtein meiſt aus dem Golf von <lb/>Genua zuführten, vornehmlich als Räuchermittel und als <lb/>Frauenſchmuck. </s>
  <s xml:id="echoid-s3316" xml:space="preserve">In der römiſchen Kaiſerzeit kam er ſogar <lb/>in ſolcher Menge nach Rom, daß er ganz im Werte ſank. </s>
  <s xml:id="echoid-s3317" xml:space="preserve"><lb/>Auch andere Völkerſchaften, wie die Etrusker, haben den <lb/>Bernſtein geſchätzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3318" xml:space="preserve">Gewiſſe Namen von Räucherharzen in <lb/>der Bibel werden auf Bernſtein bezogen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3319" xml:space="preserve">— Als Heilmittel <lb/>iſt unſer vorweltliches Harz und zwar namentlich im Mittel-<lb/>alter gebraucht worden, es iſt das faſt ſelbſtverſtändlich, <lb/>denn es iſt ja leichter anzugeben, was noch nicht als Heil-<lb/>mittel gedient hat, als die unzählige Schaar von Stoffen
<pb o="47" file="251" n="251"/>
zu nennen, die in der genannten Weiſe mißbraucht worden <lb/>ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s3320" xml:space="preserve">Wenn auch nicht der Bernſtein ſelbſt, ſo iſt doch ein <lb/>aus ihm dargeſtelltes Produkt, die Bernſteinſäure, als ein die <lb/>Nerventhätigkeit belebendes, krampſſtillendes Mittel beliebt <lb/>geweſen und wird auch wohl heute noch hier und da benutzt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3321" xml:space="preserve">Außerdem haben auch Bernſteinöl und bernſteinſaure Präparate <lb/>mediziniſche Verwendung gefunden und finden ſie vielleicht <lb/>auch jetzt noch. </s>
  <s xml:id="echoid-s3322" xml:space="preserve">Der Verwertung von Bernſteingegenſtänden <lb/>ſeit älteren Zeiten als Amulette und in Form von Ketten als <lb/>vermeintliches Schutz- und Heilmittel gegen Rheumatismus <lb/>und Zahnſchmerzen ſei auch gedacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3323" xml:space="preserve">Wenn endlich noch auf <lb/>die Benutzung unſeres Minerals zur Darſtellung des Beru-<lb/>ſteinlackes hingewieſen iſt, ſo haben wir wohl alle ſeine Ver-<lb/>wendungsarten erwähnt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3324" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3325" xml:space="preserve">Das Vorkommen des baltiſchen Bernſteins (Succinit) er-<lb/>ſtreckt ſich über ganz Norddeutſchland, Polen, die ruſſiſchen <lb/>Oſtſeeprovinzen und Finnland, andererſeits über Holland, <lb/>England, Dänemark und Schweden; </s>
  <s xml:id="echoid-s3326" xml:space="preserve">am häufigſten findet er <lb/>ſich im Samland bei Königsberg in Oſtpreußen, wo alljährlich <lb/>über 100 000 Kilo im Werte von über 3 Millionen Mark ge-<lb/>wonnen werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3327" xml:space="preserve">Schon ſeit dem Altertum und noch früher fließt <lb/>hier die Quelle; </s>
  <s xml:id="echoid-s3328" xml:space="preserve">beſonders die Phönizier zu Schiffe und an-<lb/>dere Kaufleute zu Lande haben von hier durch Zwiſchenhandel <lb/>den Bernſtein den Römern zugeführt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3329" xml:space="preserve">“Der Bernſteinhandel <lb/>— ſagt <emph style="sp">Alexander von Humboldt</emph> — bietet uns in ſeiner <lb/>nachmaligen Ausdehnung für die Geſchichte der Weltanſchauung <lb/>ein merkwürdiges Beiſpiel von dem Einfluß dar, den die Liebe <lb/>zu einem einzigen fernen Erzeugnis auf die Eröffnung eines <lb/>inneren Völkerverkehrs und auf die Kenntnis großer Länder-<lb/>ſtrecken haben kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s3330" xml:space="preserve">Derſelbe ſetzte zuerſt die Küſten des <lb/>nördlichen Ozeans in Verbindung mit dem adriatiſchen Meer-<lb/>buſen und dem Pontus.</s>
  <s xml:id="echoid-s3331" xml:space="preserve">” Er ſcheint in der That die Urſache <lb/>des Beginnes der geographiſchen Kenntnis unſeres Nordens.</s>
  <s xml:id="echoid-s3332" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="48" file="252" n="252"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3333" xml:space="preserve">Bei der Wichtigkeit des Samlandes ſei im folgenden nur <lb/>dieſes berückſichtigt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3334" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3335" xml:space="preserve">Die ſogenannte blaue Erde des Samlandes, ein Sand, <lb/>in welchem ſich der Bernſtein, ferner Holzſtücke, zuſammen mit <lb/>Neſten von Meerestieren, wie Muſcheln, Haifiſchzähne u. </s>
  <s xml:id="echoid-s3336" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s3337" xml:space="preserve">w. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3338" xml:space="preserve">eingelagert finden, iſt ſeiner zeitlichen Entſtehung nach natürlich <lb/>jünger als der Bernſtein. </s>
  <s xml:id="echoid-s3339" xml:space="preserve">Die Nadelbäume, welche den <lb/>Bernſtein als Harz abſonderten, der Bernſteinwald ſtand auf <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-252-01a" xlink:href="fig-252-01"/>
Trümmern der Kreideformation, <lb/>er ſelbſt gehört der älteren Ter-<lb/>tiärformation an, dem Eocän <lb/>der Geologen, während die <lb/>blaue Erde mitteltertiären (ſpe-<lb/>zieller unteroligocänen) Alters <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3340" xml:space="preserve">Meereswaſſer hat den Bern-<lb/>ſtein mit den begleitenden Reſten <lb/>und der blauen Erde zuſammen-<lb/>geſchwemmt: </s>
  <s xml:id="echoid-s3341" xml:space="preserve">er befindet ſich ſo-<lb/>mit im Samlande an zweiter <lb/>Lagerſtätte. </s>
  <s xml:id="echoid-s3342" xml:space="preserve">Wird er in noch <lb/>jüngeren, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3343" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s3344" xml:space="preserve">häufig genug <lb/>in den das Tertiär überlagern-<lb/>den Diluvial-Schichten (das ſind <lb/>die Schichten der noch zu be-<lb/>ſprechenden “Eiszeit”) angetroffen, ſo befindet er ſich demnach <lb/>hier an dritter Lagerſtätte. </s>
  <s xml:id="echoid-s3345" xml:space="preserve">Bei Groß-Hubniken — vergl. </s>
  <s xml:id="echoid-s3346" xml:space="preserve">die <lb/>beigegebene Profilzeichnung Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3347" xml:space="preserve">22 — liegt unter der blauen <lb/>Erde eine Schicht, die ſogenannte wilde Erde a, der Oſtſeeſpiegel <lb/>trennt die blaue Erde b von darüber lagerndem Triebſand c, <lb/>dann folgt eine Lage weißen Sandes d, dann ein Braun-<lb/>kohlenflötz e, feiner, geſtreifter Sand f, endlich Diluvium g und <lb/>als oberſte Schicht Humus h. </s>
  <s xml:id="echoid-s3348" xml:space="preserve">Wie hier liegt auch anderswo die <lb/>Bernſtein führende Sandſchicht meiſt unter dem Meeresſpiegel
<pb o="49" file="253" n="253"/>
und zwar vielfach unmittelbar am Meere und auch den See-<lb/>grund bildend. </s>
  <s xml:id="echoid-s3349" xml:space="preserve">Das Waſſer zerſtört die Schicht unabläſſig, <lb/>nimmt den Bernſtein auf und wirft ihn, da ſein ſpezifiſches <lb/>Gewicht dem des Oſtſeewaſſers ungefähr gleichkommt, oftmals <lb/>an den Strand. </s>
  <s xml:id="echoid-s3350" xml:space="preserve">Auch diluviale Gletſcher, welche, wie wir <lb/>noch ſehen werden, einſtmals unſere Heimat bedeckten, haben <lb/>an der Zerſtörung der Bernſteinſchichten, die eine ausgedehnte <lb/>weſtliche Verbreitung gehabt haben müſſen, weſentlich Anteil <lb/>genommen, und ſo iſt der Bernſtein als “Geſchiebe” in unſer <lb/>Diluvium, ſowie in dasjenige Jütlands, der däniſchen Inſeln <lb/>und Schwedens hineingelangt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3351" xml:space="preserve">Aber die Wiederzerſtörung der <lb/>Ablagerungen der blauen Erde hat ſchon früher, zur Tertiärzeit <lb/>ſelbſt, begonnen, und es findet ſich daher auch Bernſtein in <lb/>den Schichten über der blauen Erde, namentlich in den ge-<lb/>ſtreiften Sanden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3352" xml:space="preserve">Wie mächtig die Zerſtörung auch jetzt um <lb/>ſich greift, erhellt daraus, daß z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3353" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s3354" xml:space="preserve">die St. </s>
  <s xml:id="echoid-s3355" xml:space="preserve">Adalbertskapelle <lb/>bei Fiſchhauſen früher eine Meile vom Seeufer entfernt lag, <lb/>die Ruinen derſelben aber heutzutage in unmittelbarer Nähe <lb/>des Strandes zu finden ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s3356" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div114" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-252-01" xlink:href="fig-252-01a">
<caption xml:id="echoid-caption32" xml:space="preserve">Fig. 22.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables4" xml:space="preserve">{ca/+28o<emph style="super">m</emph>} h g f d c 0,0m 0,0m b Osl-See {Ca/ -6,0}m</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3357" xml:space="preserve">Was die Gewinnung des Bernſteins anbetrifft, ſo wurde <lb/>urſprünglich nur der Seebernſtein gewonnen, ſpäter erſt wurde <lb/>Bernſtein gegraben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3358" xml:space="preserve">Das Fiſchen, Schöpfen, geſchah zunächſt <lb/>einfach durch Käſcher, jetzt durch Taucherei und Baggerei; </s>
  <s xml:id="echoid-s3359" xml:space="preserve">aus <lb/>dem primitiven Ausgraben hat ſich Bergbau entwickelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3360" xml:space="preserve">Bei dem <lb/>Abteufen der Schächte zum Abbau der blauen Erde bietet der <lb/>über dieſer liegende Triebſand, das “ſchwimmende Gebirge” <lb/>der Bergleute, die größten Schwierigkeiten, weil deſſen Waſſer-<lb/>zufluß unter Umſtänden nicht zu bewältigen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3361" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3362" xml:space="preserve">Nun zur Frage nach der urſprünglichen Herkunft des <lb/>Bernſteins.</s>
  <s xml:id="echoid-s3363" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3364" xml:space="preserve">Es iſt allbekannt, daß der Bernſtein — wie ſchon an-<lb/>gedeutet — ein foſſiles Harz ausgeſtorbener Nadelhölzer iſt, <lb/>alſo ein durch chemiſche Einwirkung der äußeren Einflüſſe um-</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3365" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s3366" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s3367" xml:space="preserve">Volksbücher VIII.</s>
  <s xml:id="echoid-s3368" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="50" file="254" n="254"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3369" xml:space="preserve">gebildetes, erhärtetes, urſprünglich zähflüſſiges Harz. </s>
  <s xml:id="echoid-s3370" xml:space="preserve">Schon <lb/><emph style="sp">Ariſtoteles</emph> ſchließt aus den im Bernſtein vorkommenden <lb/>Inſekten, daß dieſer Stoff ähnlich der Myrrha flüſſig den <lb/>Bäumen entquollen ſei.</s>
  <s xml:id="echoid-s3371" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3372" xml:space="preserve">Auch <emph style="sp">Cornelius Tacitus</emph>, der uns wegen ſeines be-<lb/>rühmten Geſchichtswerkes über das alte Deutſchland ja beſonders <lb/>intereſſieren muß, meint, man erkenne den Bernſtein als ein <lb/>Baumharz, “denn man ſieht — ſagt er — oft kriechende und <lb/>ſelbſt fliegende Inſekten durchſchimmern, welche von der flüſſigen <lb/>Maſſe erfaßt, nachmals bei deren Verhärtung eingeſchloſſen <lb/>wurden.</s>
  <s xml:id="echoid-s3373" xml:space="preserve">” Tacitus fährt fort: </s>
  <s xml:id="echoid-s3374" xml:space="preserve">“Ich denke mir, daß, wie in <lb/>den fernen Gegenden des Morgenlandes, wo Weihrauch und <lb/>Balſam ausſchwitzt, es ſo auch auf den Inſeln und Küſten <lb/>des Abendlandes fruchtbare Wälder und Haine giebt, wo <lb/>Baumharz durch die Strahlen der nahen Sonne aus-<lb/>gezogen und flüſſig gemacht ins nächſte Meer hinabrinnt und <lb/>durch Sturmesgewalt ans gegenüberliegende Ufer geſchwemmt <lb/>wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s3375" xml:space="preserve">”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3376" xml:space="preserve">Über die Bedeutung der Harze für das Leben der Gewächſe <lb/>haben die Botaniker zur Zeit eine ziemlich übereinſtimmende <lb/>Anſicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3377" xml:space="preserve">Hiernach fällt ihnen die Aufgabe zu, bei etwaigen <lb/>Verletzungen die Wundſtelle durch das ausgeſchiedene Sekret luft-<lb/>dicht abzuſchließen und ſo das verwundete Organ vor Ver-<lb/>weſung und Fäulnis zu ſchützen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3378" xml:space="preserve">In der That werden z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3379" xml:space="preserve">B. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3380" xml:space="preserve">die zum Zweck der Harzgewinung angeſchnittenen Stämme <lb/>von dem Sekret überrieſelt und die Heilung der Wunden iſt <lb/>regelmäßig die Folge. </s>
  <s xml:id="echoid-s3381" xml:space="preserve">Die Behälter, die das Harz enthalten, <lb/>finden ſich beſonders in der Rinde der Stämme und Zweige, <lb/>alſo in den am leichteſten Beſchädigungen ausgeſetzten Teilen, <lb/>ſie ſind aber auch im Holze reichlich vorhanden; </s>
  <s xml:id="echoid-s3382" xml:space="preserve">es ſind Kanäle <lb/>oder anders geſtaltete Räume, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3383" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s3384" xml:space="preserve">wie bei der Fichte, der <lb/>Kiefer und auch den Bernſteinbäumen, welche alle außer <lb/>Harzkanälen ſogenannte Harzdruſen oder Harzgallen aufweiſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3385" xml:space="preserve">
<pb o="51" file="255" n="255"/>
Die Harzdruſen ſind beſtimmt-vorgebildete Zellenkomplexe, <lb/>welche verharzen (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3386" xml:space="preserve">23 u. </s>
  <s xml:id="echoid-s3387" xml:space="preserve">24).</s>
  <s xml:id="echoid-s3388" xml:space="preserve"/>
</p>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption33" xml:space="preserve">Fig. 23. <lb/>Querſchliff durch Bernſteinholz. 56 mal vergrößert. <lb/>Im Holz liegt eine Gruppe abnormer Zellen aP. Die Lücken im Gewebe ſind durch Herausfallen <lb/>einzelner Partieen während des Schleifens entſtanden. M = Markſtrahlen. — Hs = Holzzellen. — <lb/>Bc = Bernſteinkanäle.</caption>
<description xml:id="echoid-description10" xml:space="preserve">Hs<lb/>Bc<lb/>a.P.<lb/>Bc M</description>
</figure>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3389" xml:space="preserve">Die ſämtlichen bisher gefundenen Holzreſte der Bernſtein-<lb/>bäume ſind, worauf <emph style="sp">Conwentz</emph> aufmerkſam gemacht hat, etwa
<pb o="52" file="256" n="256"/>
um die genauen Pflanzen-Arten danach zu beſtimmen, nicht zu <lb/>unterſcheiden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3390" xml:space="preserve">Zu den Bernſteinbäumen rechnet Conwentz <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-256-01a" xlink:href="fig-256-01"/>
<pb o="53" file="257" n="257"/>
nach Blatt- und Blütenreſten vier Kiefernarten, von welchen <lb/>aber keine einzige unſerer Föhre oder gemeinen Kiefer, Pinus <lb/>silvestris, uaheſteht, feruer eine Fichtenart, die der Picea <lb/>ajanensis vom Amur und von der Inſel Jezo ähnlich ſieht. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3391" xml:space="preserve">Außerdem gediehen immergrüne Eichen und Buchen, zuſammen <lb/>mit Palmen und lorbeerartigen Gewächſen, mit Magnolien. </s>
  <s xml:id="echoid-s3392" xml:space="preserve"><lb/>Es iſt wahrſcheinlich, daß alle dieſe verſchiedenartigen Bäume <lb/>und Sträucher nach verſchiedenen Regionen geſondert waren <lb/>und nicht etwa ſich zu einem gemiſchten Wald zuſammenſchloſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3393" xml:space="preserve"><lb/>So bildeten die eigentlichen Bernſteinbäume für ſich einen <lb/>geſchloſſenen Beſtand, welcher nur hier und da von anderen <lb/>Baumarten unterbrochen wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s3394" xml:space="preserve">Die Kiefern nahmen hierin <lb/>eine durchaus vorherrſchende Stellung ein. </s>
  <s xml:id="echoid-s3395" xml:space="preserve">Vergeſſen wir <lb/>nicht, daß es ſich um Urwälder handelt und nicht um wohl-<lb/>gepflegte Forſten, wie wir ſie zu ſehen gewöhnt ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s3396" xml:space="preserve">Um <lb/>demnach einen Vergleich mit heutigen Verhältniſſen zu haben, <lb/>müſſen wir den Urwald durchſtreifen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3397" xml:space="preserve">Conwentz hat dies <lb/>gethan und namentlich im Böhmerwald Studien angeſtellt; </s>
  <s xml:id="echoid-s3398" xml:space="preserve">ex <lb/>zieht aus dieſen den Schluß, daß es im ganzen Bernſteinwald <lb/>kaum einen geſunden Baum gegeben haben kann — das <lb/>Krankhafte war die Regel, das Normale die Ausnahme! Nicht <lb/>allein durch Wind und Wetter, ſondern auch durch pflanzliche <lb/>Paraſiten und Fäulnis, ſowie durch Inſekten und andere <lb/>Tiere vollzogen ſich an ihnen unausgeſetzt Beſchädigungen, <lb/>welche zu Harzfluß und zu weiteren Krankheitserſcheinungen <lb/>Anlaß boten. </s>
  <s xml:id="echoid-s3399" xml:space="preserve">Es lag in der Natur der Dinge, daß die aus <lb/>Anflug hervorgegangenen und gedrängt aufgewachſenen Bäume <lb/>ihre unteren Äſte verloren, ſobald dieſe bei mangelnder Be-<lb/>leuchtung nicht mehr genügend ernährt werden konnten. </s>
  <s xml:id="echoid-s3400" xml:space="preserve">Bei <lb/>der geringſten Erſchütterung durch Wind oder Regen, durch <lb/>Tiere oder andere Agentien brachen ſie ab und hinterließen <lb/>eine offene Wunde, die in der Folge durch Harz und bei fort-<lb/>ſchreitendem Wachstum des Stammes durch Überwallung ver-
<pb o="54" file="258" n="258"/>
narben konnten. </s>
  <s xml:id="echoid-s3401" xml:space="preserve">Obſchon auf dieſe Weife den Bäumen kein <lb/>erheblicher Schaden zugefügt wurde, iſt dieſer Prozeß doch <lb/>wegen ſeines allgemeinen Vorkommens nicht ohne Einfluß auf <lb/>das Leben der Bäume geblieben; </s>
  <s xml:id="echoid-s3402" xml:space="preserve">aber es ſpielten ſich im <lb/>Bernſteinwald auch mancherlei andere Vorgänge ab, wodurch <lb/>erhebliche Beſchädigungen angerichtet wurden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3403" xml:space="preserve">Alte, abgeſtorbene <lb/>Bäume ſenkten ſich zu Boden und ſtreiften und knickten die <lb/>Zweige anderer Bäume in weitem Umkreis, um dann mit der <lb/>ganzen Wucht ihres Körpers auf alles das niederzufallen, <lb/>was ihnen in ihrer Fallrichtung entgegenſtand. </s>
  <s xml:id="echoid-s3404" xml:space="preserve">Mit Gewalt <lb/>ſchlugen ſie an die Nachbarſtämme an, riſſen ihre Borke auf <lb/>weite Strecken hin ab und verletzten ſtellenweiſe auch den Holz-<lb/>körper ſelbſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3405" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div115" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-256-01" xlink:href="fig-256-01a">
<caption xml:id="echoid-caption34" xml:space="preserve">Fig. 24. <lb/>Längsſchliff durch Bernſteinholz, 80 mal vergrößert.</caption>
<description xml:id="echoid-description11" xml:space="preserve">Bgl = Bernſteingallen. — M = Markſtrahlen. Die mehrreihigen Markſtrahlen <lb/>umſchließen je einen Harzgang, Bernſteinkanal: Bc. — Hs = Holzzellen.</description>
<variables xml:id="echoid-variables5" xml:space="preserve">Hs. M Bal aP. Bgl Bc.</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3406" xml:space="preserve">Auch heftigere Winde und Orkane zogen über den Bernſtein-<lb/>wald hin und richteten in demſelben die ſchlimmſten Verhee-<lb/>rungen an. </s>
  <s xml:id="echoid-s3407" xml:space="preserve">Was die Natur durch Jahrhunderte geſchaffen, <lb/>wurde im Verlauf weniger Augenblicke durch ein furchtbares <lb/>Element zerſtört. </s>
  <s xml:id="echoid-s3408" xml:space="preserve">Ein Wirbelwind ſetzte ſich in die mächtige <lb/>Krone und drehte ſie auf ihrem Stamme in kürzeſter Zeit ab; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3409" xml:space="preserve">die ſtärkſten Bäume wurden wie Grashalme über dem Boden <lb/>geknickt und kreuz und quer durcheinander geworfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3410" xml:space="preserve">Andere <lb/>Bäume wurden mit ihren Wurzeln aus der Erde gehoben und <lb/>auf weite Strecken durch die Luft gewirbelt, bis ſie zu Boden <lb/>fielen oder an irgend einem noch aufrechten Baum hängen <lb/>blieben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3411" xml:space="preserve">Dieſes Phänomen mag immer nur an einzelnen <lb/>Stellen des Waldes aufgetreten ſein, verſchonte aber kaum ein <lb/>Individuum und riß daher große Lücken in den Beſtand, wo <lb/>nunmehr eine enorme Menge von totem Material angehäuft <lb/>wurde.</s>
  <s xml:id="echoid-s3412" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3413" xml:space="preserve">Zu anderen Zeiten herrſchte wohl eine drückende Schwüle <lb/>im Bernſteinwald, und heftige Gewitter entluden ſich über <lb/>demſelben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3414" xml:space="preserve">Blitze ſchlugen in die Baumkrone oder in einen <lb/>alten Aſtſtumpf und ſprengten dann auf weite Strecken hin die
<pb o="55" file="259" n="259"/>
Rinde ab, deren Fetzen teilweiſe an den Wundrändern hängen <lb/>blieben und frei in die Luft hineinragten; </s>
  <s xml:id="echoid-s3415" xml:space="preserve">auch der Holzkörper <lb/>wurde geſpalten und die herausgeriſſenen Holzſplitter flogen, <lb/>ſamt einzelnen Rindenfetzen, weit fort. </s>
  <s xml:id="echoid-s3416" xml:space="preserve">Zuweilen fuhr ein <lb/>Blitzſtrahl in einen abſterbenden Baum oder auch in pilz-<lb/>krankes Holz und bewirkte hier eine Entzündung. </s>
  <s xml:id="echoid-s3417" xml:space="preserve">Das Feuer <lb/>ergriff nicht nur den getroffenen Stamm und die Nachbar-<lb/>ſtämme, ſondern lief auch am Boden hin und verzehrte das <lb/>auf demſelben lagernde, trockene Material. </s>
  <s xml:id="echoid-s3418" xml:space="preserve">Auch das von <lb/>Mulm und Moos umgebene alte Harz der Bäume wurde vom <lb/>Feuer erfaßt, konnte aber nicht hell aufflammen, ſondern ſchweelte <lb/>auf der ſchützenden Decke nur langſam fort und ſetzte eine <lb/>ſchwärzliche Rinde an. </s>
  <s xml:id="echoid-s3419" xml:space="preserve">Der Bernſteinwald wurde von einer <lb/>ſehr reichen Tierwelt belebt, denn Inſekten und Spinnen, <lb/>Schnecken und Krebſe, Vögel und Säugetiere hielten ſich hier <lb/>auf, ganz wie in den Wäldern der Jetztzeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s3420" xml:space="preserve">Das Leben der <lb/>meiſten ſtand in inniger Beziehung zum Leben der Bernſtein-<lb/>bäume, und es giebt unter ihnen viele, welche den grünenden <lb/>Baum ſchädigten, während andere das tote Holz angegriffen <lb/>haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3421" xml:space="preserve">Größere Tiere brachen mutwillig und unabſichtlich <lb/>Äſte ab und verletzten durch ihren Tritt die zu Tage liegenden <lb/>Wurzeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s3422" xml:space="preserve">Eichhörnchen ſprangen von Zweig zu Zweig und <lb/>ſchälten die junge Rinde derſelben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3423" xml:space="preserve">Die Stille des Waldes <lb/>wurde vom Klopfen des Spechtes unterbrochen, welcher in der <lb/>Rinde und im Holz der Bernſteinbäume nach Inſekten ſuchte, auch <lb/>wohl Höhlen zum Nachtaufenthalt und zum Brutgeſchäft in <lb/>das Innere hineinzimmerte. </s>
  <s xml:id="echoid-s3424" xml:space="preserve">Mit vereinten Kräften mögen <lb/>auch beide Tiere die Zapfen der Nadelbäume bearbeitet und <lb/>zerſtört haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s3425" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3426" xml:space="preserve">Überall wo eine Beſchädigung ſtattfand — und ſie kam <lb/>ja an jedem Baum vielfältig vor — ſuchte die Natur durch <lb/>Harzerguß die Wunde zu heilen; </s>
  <s xml:id="echoid-s3427" xml:space="preserve">dieſer trat aber gewöhnlich <lb/>nicht ſo ſchnell ein, daß nicht vorher Pilzſporen anfliegen und zur
<pb o="56" file="260" n="260"/>
Keimung gelangen konnten. </s>
  <s xml:id="echoid-s3428" xml:space="preserve">Die weitere Entwickelung derſelben <lb/>wurde um ſo mehr begünſtigt, als Wärme und Feuchtigkeit in <lb/>reichem Maße vorhanden waren. </s>
  <s xml:id="echoid-s3429" xml:space="preserve">Daher wurden nach und <lb/>nach alle Bäume von einem oder dem anderen, oft auch von <lb/>mehreren Paraſiten gleichzeitig befallen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3430" xml:space="preserve">Auch höhere Pflanzen, <lb/>wie miſtelähnliche Gewächſe, lebten paraſitiſch auf den Bernſtein-<lb/>bäumen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3431" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3432" xml:space="preserve">Sie führten reichlich Harz in allen ihren Teilen, vor-<lb/>nehmlich aber — wie ſchon geſagt — in der Rinde und im <lb/>Holze. </s>
  <s xml:id="echoid-s3433" xml:space="preserve">Wenn man das normale Vorkommen der harzbildenden <lb/>Organe, deren Größe und Verteilung ins Auge faßt, kann <lb/>man einen erheblichen Unterſchied von unſeren heutigen Kiefern <lb/>und Fichten nicht bemerken; </s>
  <s xml:id="echoid-s3434" xml:space="preserve">ebenſo finden die verſchiedenen <lb/>abnormen Bildungsweiſen des Harzes durchweg ihre Ähnlichkeit <lb/>bei Tannen der Jetztzeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s3435" xml:space="preserve">Was aber die Bernſteinbäume in <lb/>hervorragendem Maße auszeichnet, iſt der Umſtand, daß <lb/>die ihnen ſo häufig zu teil gewordenen Beſchädigungen nicht <lb/>allein den Harzausfluß, ſondern auch die Neuanlage von Harz-<lb/>behältern weſentlich begünſtigten. </s>
  <s xml:id="echoid-s3436" xml:space="preserve">Wenn das klare Harz die <lb/>Oberfläche des Stammes und der Äſte überzog, nahm es leicht <lb/>vorüberfliegende Inſekten, ſowie angewehte Pflanzenreſte in <lb/>ſich auf: </s>
  <s xml:id="echoid-s3437" xml:space="preserve">bei wiederholtem Fluß entſtanden geſchichtete Stücke, <lb/>die “Schlauben” des Handels, welche ſich durch den Reichtum <lb/>an organiſchen Einſchlüſſen auszeichnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3438" xml:space="preserve">Das dünnflüſſige <lb/>Harz tropfte aber auch von Zweig zu Zweig und bildete in <lb/>dieſen freihängende Zäpfchen, welche durch Ablagerung neuer <lb/>Schichten immer mehr an Umfang und Länge zunahmen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3439" xml:space="preserve">während dieſes Vorgangs wurden gleichfalls kleine Tiere und <lb/>Pflanzen eingeſchloſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3440" xml:space="preserve">Mit Rückſicht darauf, daß dieſer Prozeß <lb/>ſchnell vor ſich ging und die einhüllende Maſſe dünnflüſſig war, <lb/>zeigen die ſo erhaltenen Organismen außerordentliche Schärfe. </s>
  <s xml:id="echoid-s3441" xml:space="preserve"><lb/>Wegen der, wenn auch geringen Durchläſſigkeit der Harzmaſſe <lb/>konnte jedoch eine Verweſung der Einſchlüſſe nicht verhindert
<pb o="57" file="261" n="261"/>
werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s3442" xml:space="preserve">nur Kohlenreſte, ſowie widerſtandsfähige Subſtanzen <lb/>finden ſich noch in den Hohlräumen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3443" xml:space="preserve">Die vermeintlichen zarten <lb/>Blüten, Inſekten u. </s>
  <s xml:id="echoid-s3444" xml:space="preserve">dergl. </s>
  <s xml:id="echoid-s3445" xml:space="preserve">im Bernſtein ſind daher nur treue <lb/>Naturſelbſtdrucke.</s>
  <s xml:id="echoid-s3446" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3447" xml:space="preserve">Das dünnflüſſige Harz fiel auch auf den Boden und ver-<lb/>kittete den Mulm, unförmige Maſſen bildend, welche den Firnis <lb/>des Bernſteinhandels geliefert haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s3448" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3449" xml:space="preserve">Das Wort Bernſtein iſt übrigens keine wiſſenſchaftliche <lb/>Bezeichnung für eine beſtimmte Harzart, ſondern umfaßt eine <lb/>größere Zahl von foſſilen Harzen und harzähnlichen Körpern, <lb/>welche nach ihrer Abſtammung und Bildungsweiſe, ſowie nach <lb/>ihrem chemiſchen und phyſikaliſchen Verhalten verſchieden ſind. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3450" xml:space="preserve">Auch das geologiſche Vorkommen und, wie wir ſahen, die geo-<lb/>graphiſche Verbreitung der Bernſteine weicht von einander ab.</s>
  <s xml:id="echoid-s3451" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div117" type="section" level="1" n="90">
<head xml:id="echoid-head103" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIV. Die Eiszeit.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3452" xml:space="preserve">Nach der Braunkohlenzeit trat in unſerer Heimat eine <lb/>Kälte-Periode ein, die derſelben ein Anſehen gab, wie es heute <lb/>etwa Grönland beſitzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3453" xml:space="preserve">Die ſchlagenden Thatſachen, die zu <lb/>dieſer Annahme zwingen, wollen wir näher vorführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3454" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3455" xml:space="preserve">Auf den Rauenſchen Bergen bei Fürſtenwalde liegen zwei <lb/>mächtige Granitſteine, die “Markgrafenſteine” (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3456" xml:space="preserve">25), deren <lb/>einer das Material zu der großen Granitſchale vor dem Ber-<lb/>liner Muſeum hergegeben hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s3457" xml:space="preserve">Solche loſen Blöcke (der Geo-<lb/>loge nennt ſie <emph style="sp">Geſchiebe</emph>), aber nur ſelten ſo groß wie die <lb/>genannten, kommen vielfach in unſerem Flachlande vor, zwar <lb/>nicht immer aus Granit, ſondern aus den allerverſchiedenſten <lb/>mineraliſchen Beſtandteilen gebildet: </s>
  <s xml:id="echoid-s3458" xml:space="preserve">nicht nur Geſteine, die <lb/>vulkaniſchen Erſcheinungen ihren Urſprung verdanken, ſondern <lb/>auch urſprünglich durch Waſſerabſatz gebildete Geſteine, unter <lb/>Umſtänden noch Verſteinerungen enthaltend. </s>
  <s xml:id="echoid-s3459" xml:space="preserve">Die Blöcke ſind
<pb o="58" file="262" n="262"/>
Fremdlinge in unſerer Heimat; </s>
  <s xml:id="echoid-s3460" xml:space="preserve">ſie heißen denn auch Irr-<lb/>Blöcke (“erratiſche” Blöcke).</s>
  <s xml:id="echoid-s3461" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3462" xml:space="preserve">Eine genaue Unterſuchung derſelben hat die überraſchende <lb/>Thatſache ergeben, daß dieſe Irr-Blöcke ihre urſprüngliche <lb/>Heimat im Norden, nämlich in Skandinavien, Finnland und <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-262-01a" xlink:href="fig-262-01"/>
in den ruſſiſchen Oſtſeeprovinzen haben, eine Thatſache, die <lb/>ſchon lange bekannt, u. </s>
  <s xml:id="echoid-s3463" xml:space="preserve">a. </s>
  <s xml:id="echoid-s3464" xml:space="preserve">von dem berühmten Berliner Geo-<lb/>logen <emph style="sp">Leopold von Buch</emph> (1774—1853) durch die Annahme <lb/>erklärt wurde, daß ungeheuerliche Waſſerfluten die Blöcke über <lb/>die Oſtſee geſchleudert hätten.</s>
  <s xml:id="echoid-s3465" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div117" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-262-01" xlink:href="fig-262-01a">
<caption xml:id="echoid-caption35" xml:space="preserve">Fig. 25. <lb/>Der kleine Markgrafenſtein.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3466" xml:space="preserve">Nun zeigte ſich aber, daß die Alpen in vorhiſtoriſcher Zeit
<pb o="59" file="263" n="263"/>
eine weit ins Vorland hineinreichende Vergletſcherung beſeſſen <lb/>haben und die heutigen Gletſcher nur als die minimalen letzten <lb/>Reſte der alten Eisbedeckung dieſes Gebirges anzuſehen ſind, <lb/>und daß hier durch die Transportfähigkeit dieſer alten Gletſcher-<lb/>Bedeckung die aus den Alpen-Geſteinen ſtammenden Geſchiebe <lb/>ins Vorland der Alpen geſchafft worden ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s3467" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3468" xml:space="preserve">Auf Grund dieſer Kenntnis und der gewonnenen Einſicht, <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-263-01a" xlink:href="fig-263-01"/>
daß auch namentlich Skandinavien einſt ganz vergletſchert ge-<lb/>weſen iſt, kam der große engliſche Geologe <emph style="sp">Charles Lyell</emph> <lb/>(1797—1875) zu der Vermutung, daß Norddeutſchland nach der <lb/>Braunkohlenzeit von einem Meere bedeckt geweſen ſei, und daß <lb/>die ſich von den ins Waſſer ragenden Teilen der Eisbedeckung <lb/>Skandinaviens ablöſenden und nun nach Süden ſchwimmenden <lb/>“Eisberge” die mittransportierten Blöcke beim Schmelzen fallen <lb/>ließen und dieſe ſo über das norddeutſche Flachland verbreitet <lb/>haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3469" xml:space="preserve">Unſere Abbildung (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3470" xml:space="preserve">26) giebt eine Anſchauung von
<pb o="60" file="264" n="264"/>
den bis ins Meer ragenden Gletſcherenden, wie es heute im <lb/>hohen Norden vorkommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3471" xml:space="preserve">Die ins Waſſer ſich vorſchiebenden <lb/>Eismaſſen brechen ſchließlich ab (“kalben”) und ſchwimmen nach <lb/>Süden, um auf dem Wege allmählich zu ſchmelzen und die <lb/>eventuell mitgeſchleppten Geſteinsmaſſen ins Meer fallen zu <lb/>laſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3472" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div118" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-263-01" xlink:href="fig-263-01a">
<caption xml:id="echoid-caption36" xml:space="preserve">Fig. 26.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3473" xml:space="preserve">Erſt 1875 wurde von dem noch lebenden bedeutenden <lb/>ſchwediſchen Geologen <emph style="sp">Otto Torrell</emph> gezeigt, daß die Ver-<lb/>gletſcherung von Norden bis an die mitteldeutſchen Gebirge <lb/>(Harz—Rieſengebirge) gereicht hat, von einer Meeresbedeckung <lb/>alſo bei uns zur Zeit, von der wir ſprechen, nicht die Rede <lb/>ſein kann, daß wir es vielmehr mit derſelben Erſcheinung zu <lb/>thun haben, wie in den Alpen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3474" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3475" xml:space="preserve">In den Gebieten des ewigen Schnees im Hochgebirge fällt <lb/>mehr Schnee, als durch Verdunſtung wieder abgegeben wird. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3476" xml:space="preserve">Der ſtarke Druck, den die neu hinzukommenden Maſſen auf die <lb/>untenliegenden ausüben und andere Verhältniſſe verwandeln <lb/>den Schnee in feſtes Eis, das wie ein Waſſerlauf in einem <lb/>Strombett zwar viel langſamer aber fortdauernd und un-<lb/>widerſtehlich die Thäler entlang in die Ebene ſich vorſchiebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3477" xml:space="preserve"><lb/>Dieſe Eisſtröme ſind die bekannten Gletſcher (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3478" xml:space="preserve">27).</s>
  <s xml:id="echoid-s3479" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3480" xml:space="preserve">Die auf den Rücken des Gletſchers herabfallenden Geſteins-<lb/>brocken und der auf ihn gelangende Schutt werden ſo nach ab-<lb/>wärts geführt, je nach der Länge des Gletſchers, die durch <lb/>Abſchmelzen in wärmeren Regionen bedingt wird, mehr oder <lb/>minder fern von der Urſprungsſtelle hinweg, ebenſo wie die <lb/>von dem Gletſcher durch den an ſeinem Grunde ausgeübten <lb/>Druck fortgeſchobenen, meiſt feinpulverig zerriebenen Unter-<lb/>grundmaſſen, deren Abwärtsbeförderung durch das am Grunde <lb/>des Gletſchers zu Thal fließende Schmelzwaſſer unterſtützt wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s3481" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3482" xml:space="preserve">Alles vom Gletſcher transportierte Geſtein wird <emph style="sp">Moränen</emph>-<lb/>Material genannt; </s>
  <s xml:id="echoid-s3483" xml:space="preserve">man ſpricht demgemäß von Ober-Moränen <lb/>und von Grund-Moränen, ſowie von End-Moränen, welche
<pb o="61" file="265" n="265"/>
letzteren ſich am Fußende der Gletſcher aufthürmen, wo durch <lb/>das vollſtändige Wegſchmelzen des Eiſes ein Weitertransport <lb/>unmöglich wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s3484" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3485" xml:space="preserve">Die Grundmoräne bildet, wenn ſie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3486" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s3487" xml:space="preserve">aus gemahlenen <lb/>granitiſchen Geſteinen hervorgegangen iſt, eine ſchlammige, <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-265-01a" xlink:href="fig-265-01"/>
lehmig-ſandige Maſſe mit eingeſtreuten größeren und kleineren <lb/>Granit-Geſteinsbrocken, die durch das Aneinanderreiben und <lb/>durch Reibung am Untergrunde dieſen und ſich ſelbſt ab-<lb/>polieren und mit Ritzen verſehen, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s3488" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s3489" xml:space="preserve">Gletſcherſchliffe und <lb/>Gletſcherſchrammen erzeugen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3490" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div119" type="float" level="2" n="3">
<figure xlink:label="fig-265-01" xlink:href="fig-265-01a">
<caption xml:id="echoid-caption37" xml:space="preserve">Fig. 27.</caption>
</figure>
</div>
<pb o="62" file="266" n="266"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3491" xml:space="preserve">Die Oberflächen-Geſtaltung des norddeutſchen Flachlandes <lb/>und die Beſchaffenheit der Ablagerungen, die nach der Braun-<lb/>kohlenzeit entſtanden ſind, zeigen nun unwiderleglich, daß <lb/>dieſe Ablagerungen im weſentlichen gewaltige Grundmoränen-<lb/>Maſſen ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s3492" xml:space="preserve"/>
</p>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption38" xml:space="preserve">Fig. 28. <lb/>Rüdersdorfer Gletſcherſchrammen.</caption>
</figure>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3493" xml:space="preserve">Wo feſtes Geſtein <lb/>unter dieſem Grund-<lb/>moränen-Material <lb/>vorkommt, ſieht <lb/>man dasſelbe auf <lb/>ſeiner Oberfläche <lb/>poliert und ge-<lb/>ſchrammt, wie auf <lb/>dem Kalkgeſtein von <lb/>Rüdersdorf bei <lb/>Berlin (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3494" xml:space="preserve">28), <lb/>deſſen Studium auch <lb/>zuerſt Torrell zu <lb/>ſeiner heute allge-<lb/>mein angenomme-<lb/>nen Eiszeit-Theorie <lb/>Beweiſe lieferte <lb/>(3. </s>
  <s xml:id="echoid-s3495" xml:space="preserve">November 1875). <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3496" xml:space="preserve">Die dortige Grund-<lb/>moräne iſt deshalb <lb/>beſonders inter-<lb/>eſſant, weil dieſelbe die abgewitterten, alſo an der Ober-<lb/>fläche liegenden Kalkgeſteinsbrocken in ſich aufgenommen <lb/>hat, weshalb man in ſolchen Fällen von einer Lokal-Moräne <lb/>(Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3497" xml:space="preserve">29) ſpricht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3498" xml:space="preserve">Die in dieſer lokalen Moräne, L M unſerer <lb/>Figur, vorkommenden Kalkſtücke ſind bei dem geringfügigen <lb/>Transport oder da ſie an Ort und Stelle in die Grund-<lb/>Moräne eingebacken wurden, noch kantig und zeigen nicht die
<pb o="63" file="267" n="267"/>
durch lange Bewegung bedingte Abrundung der Kanten, wie <lb/>weither transportierte Geſchiebe, wie ſie ſich in den die Grund-<lb/>Moräne bedeckenden Schichten L und L S zeigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3499" xml:space="preserve">Unſere Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3500" xml:space="preserve">30 <lb/>zeigt ein ſolch typiſches Geſchiebe aus der Grund-Moräne des <lb/>norddeutſchen Flachlandes.</s>
  <s xml:id="echoid-s3501" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3502" xml:space="preserve">Auch Strudellöcher oder “Rieſenkeſſel” ſind in Rüders-<lb/>dorf gefunden worden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3503" xml:space="preserve">Sie kommen durch das in Spalten <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-267-01a" xlink:href="fig-267-01"/>
des Eiſes herabſtürzende Schmelzwaſſer zuſtande, das im <lb/>Felsuntergrunde mit Unterſtützung von mahlenden Geſchieben <lb/>Vertiefungen aushöhlt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3504" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div120" type="float" level="2" n="4">
<figure xlink:label="fig-267-01" xlink:href="fig-267-01a">
<caption xml:id="echoid-caption39" xml:space="preserve">Fig. 29. <lb/>Lokale Grund-Moräne von Rüdersdorf LM mit Kalkgeſteinsſtücken. K = an-<lb/>ſtehendes Kalkgeſtein. — L = Lehm und LS = lehmiger Sand, beide mit Geſchieben.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables6" xml:space="preserve">N. S. LS L LM K 0 1 2 3 4 5 Meter</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3505" xml:space="preserve">Die alte, oder, wie wir noch andeuten werden, die beiden <lb/>alten Grund-Moränen Norddeutſchlands ſind natürlich durch <lb/>Schmelzwaſſer und ſpätere Waſſerläufe vielfach angegriffen <lb/>und verändert worden: </s>
  <s xml:id="echoid-s3506" xml:space="preserve">Sande, Thone und Kalkmaterialien <lb/>ſind ausgeſchlemmt und wo anders hin abgelagert worden,
<pb o="64" file="268" n="268"/>
ſodaß naturgemäß auch zur Eiszeit Waſſerablagerungen neben <lb/>den Grundmoränen, unſerem <emph style="sp">Geſchiebemergel</emph>, vorkommen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3507" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3508" xml:space="preserve">Die Eisdecke, welche Norddeutſchland bedeckte, muß im <lb/>Durchſchnitt auf rund 100 m Dicke angenommen werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s3509" xml:space="preserve">ſie <lb/>hat ja aber auch ganz gewaltige Wirkungen hinterlaſſen, die <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-268-01a" xlink:href="fig-268-01"/>
ſich uns auf Schritt und Tritt zeigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3510" xml:space="preserve">Die Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3511" xml:space="preserve">31 z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3512" xml:space="preserve">B. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3513" xml:space="preserve">bietet den Anblick aus einer Thongrube bei Lehnin, deren <lb/>Schichten durch Eisdruck zu ſattelförmigen Bildungen aus ihrer <lb/>urſprünglich horizontalen Lage zuſammengepreßt worden ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s3514" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div121" type="float" level="2" n="5">
<figure xlink:label="fig-268-01" xlink:href="fig-268-01a">
<caption xml:id="echoid-caption40" xml:space="preserve">Fig. 30. <lb/>Geſchiebe mit Gletſcherſchrammen.</caption>
<description xml:id="echoid-description12" xml:space="preserve">RKATTER. X.A. BERLIN</description>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3515" xml:space="preserve">Aus der Beſchaffenheit der Ablagerungen iſt anzunehmen, <lb/>daß wenigſtens eine zweimalige, von einer Zwiſchenzeit (Inter-<lb/>glacialzeit) getrennte Eiszeit hereingebrochen iſt, da wir zwei
<pb o="65" file="269" n="269"/>
Grund-Moränen, alſo einen unteren und einen oberen Ge-<lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-269-01a" xlink:href="fig-269-01"/>
ſchiebemergel haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3516" xml:space="preserve">In den Schichten dieſer Zwiſcheneiszeit <lb/>ſind eine Anzahl tieriſcher Reſte gefunden worden, die von</s>
</p>
<div xml:id="echoid-div122" type="float" level="2" n="6">
<figure xlink:label="fig-269-01" xlink:href="fig-269-01a">
<caption xml:id="echoid-caption41" xml:space="preserve">Fig. 31.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3517" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s3518" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s3519" xml:space="preserve">Volksbücher VIII.</s>
  <s xml:id="echoid-s3520" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="66" file="270" n="270"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3521" xml:space="preserve">Tieren herſtammen, welche ausgeſtorben ſind, wie das Mammut <lb/>(Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3522" xml:space="preserve">32 u. </s>
  <s xml:id="echoid-s3523" xml:space="preserve">33), und ein Nashorn (Rhinoceros tichorhinus) <lb/>neben Tieren, die heute nur noch im hohen Norden der Erde <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-270-01a" xlink:href="fig-270-01"/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-270-02a" xlink:href="fig-270-02"/>
leben, wie der Moſchusochſe und <lb/>das Rentier. </s>
  <s xml:id="echoid-s3524" xml:space="preserve">Es ſeien noch ge-<lb/>nannt der Elch, Rieſenhirſche <lb/>(Cervus euryceros, Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3525" xml:space="preserve">34, <lb/>und C. </s>
  <s xml:id="echoid-s3526" xml:space="preserve">Ruffii), unſer Edel-<lb/>hirſch, der Ur- oder Wildſtier <lb/>(Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3527" xml:space="preserve">35), der Auerochs (Bison
<pb o="67" file="271" n="271"/>
priscus), das Wildpferd, der Wolf, der Bär, der Polarfuchs <lb/>und der Biber.</s>
  <s xml:id="echoid-s3528" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div123" type="float" level="2" n="7">
<figure xlink:label="fig-270-01" xlink:href="fig-270-01a">
<caption xml:id="echoid-caption42" xml:space="preserve">Fig. 32. <lb/>Das Mammut.</caption>
</figure>
<figure xlink:label="fig-270-02" xlink:href="fig-270-02a">
<caption xml:id="echoid-caption43" xml:space="preserve">Fig. 33. <lb/>Ein Backzahn des Mammut, von der <lb/>Kaufläche geſehen.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3529" xml:space="preserve">Von beſonderer Wichtigkeit iſt für uns das Auftreten des <lb/>Menſchen, von dem in der Braunkohlenzeit auch noch nicht <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-271-01a" xlink:href="fig-271-01"/>
eine Spur gefunden wurde, während Reſte des Menſchen, wie <lb/>z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3530" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s3531" xml:space="preserve">Zähne (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3532" xml:space="preserve">36), und Spuren ſeiner Thaten in eiszeit-<lb/>lichen Ablagerungen, namentlich in den unmittelbar auf die <lb/>letzte Eiszeit folgenden mehrfach beobachtet worden ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s3533" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div124" type="float" level="2" n="8">
<figure xlink:label="fig-271-01" xlink:href="fig-271-01a">
<caption xml:id="echoid-caption44" xml:space="preserve"><emph style="bf">Fig. 34.</emph> <lb/>Skelett des iriſchen Rieſenhirſches.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3534" xml:space="preserve">Auch Pflanzenreſte ſind mehrfach gefunden; </s>
  <s xml:id="echoid-s3535" xml:space="preserve">als Beiſpiel
<pb o="68" file="272" n="272"/>
geben wir eine Auswahl in unſerer Figur 37, die aus einem <lb/>zwiſcheneiszeitlichen Torfmoor von Klinge bei Cottbus ſtammen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3536" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3537" xml:space="preserve">Beim Rückgange der letzten Eisbedeckung, die nicht ſtetig, <lb/>ſondern etappenweiſe ſtattgefunden hat, ſind dort, wo der ab-<lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-272-01a" xlink:href="fig-272-01"/>
ſchmelzende Fuß, das Ende des Juland-<lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-272-02a" xlink:href="fig-272-02"/>
eiſes, längere Zeit verweilt hat, noch heute <lb/>auffällig als Wälle ſichtbare End-Moränen <lb/>aufgehäuft worden; </s>
  <s xml:id="echoid-s3538" xml:space="preserve">unſere Karte (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3539" xml:space="preserve">38) <lb/>giebt ein Bild von 3 ſolchen Endmoränen <lb/>im Gebiete der Provinz Brandenburg und <lb/>Vorpommerns, und wir können den Ber-<lb/>linern nur empfehlen, das bequem zu er-<lb/>reichende Stück des auf der Karte als <lb/>1. </s>
  <s xml:id="echoid-s3540" xml:space="preserve">Endmoräne bezeichneten Geſchiebe-Walles <lb/>in der Gegend des beliebten Ausflugsortes <lb/>Chorin hinter Eberswalde zu beſuchen, um
<pb o="69" file="273" n="273"/>
ſich dort ſinnend ein Bild der Vergangenheit vorzuzaubern. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3541" xml:space="preserve">Das Berliner Pflaſter iſt zum Teil aus den dort aufgehäuften <lb/>Geſchieben hergeſtellt worden.</s>
  <s xml:id="echoid-s3542" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div125" type="float" level="2" n="9">
<figure xlink:label="fig-272-01" xlink:href="fig-272-01a">
<caption xml:id="echoid-caption45" xml:space="preserve"><emph style="bf">Fig. 35.</emph> <lb/>Schädel von Bos primigenius.</caption>
</figure>
<figure xlink:label="fig-272-02" xlink:href="fig-272-02a">
<caption xml:id="echoid-caption46" xml:space="preserve"><emph style="bf">Fig. 36.</emph> <lb/>Ein Menſchenzahn <lb/>aus der Eiszeit, in <lb/>doppelter, natürlicher <lb/>Größe.</caption>
</figure>
</div>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption47" xml:space="preserve"><emph style="bf">Fig. 37.</emph> <lb/>1 = Kiefer- Zapfen, 2 = Halbe Frucht des Feld-Ahorn, 3 u. 4 = Haſelnüſſe, <lb/>5 = ein Fichten-Same, 6 – 9 = Samen einer mit der Victoria regia verwandten <lb/>Seeroſe, 10 = Frucht der Stechpalme, 11 – 14 = Früchte der Waſſerzinke (Cerato-<lb/>phyllum), 15 – 17 = Früchte der Hainbuche, 18 – 26 = Samen der Waſſer-Aloë.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables7" xml:space="preserve">3 4 1 2 11 12 {2/1} 10 {2/1} 13 14 6 7 8 9 5 15 16 17 {3/1} {3/1} {3/4} 18 19 20 21 22 23 24 25 26</variables>
</figure>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3543" xml:space="preserve">Die gewaltigen abſchmelzenden Waſſermaſſen der letzten <lb/>Eiszeit ſind von Oſten nach Weſten, den unteren Elblauf be-<lb/>nutzend, in die Nordſee gefloſſen und haben mächtige von Oſt nach <lb/>Weſt verlaufende Ströme gebildet, deren gewaltige Thäler noch
<pb o="70" file="274" n="274"/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-274-01a" xlink:href="fig-274-01"/>
<pb o="71" file="275" n="275"/>
heute unſer Flachland auszeichnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3544" xml:space="preserve">Berlin liegt an einer engen <lb/>Stelle eines dieſer gewaltigen Thäler (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3545" xml:space="preserve">39), wodurch ſich <lb/>wohl die Lage und Entſtehung der nunmehrigen Rieſenſtadt <lb/>erklärt, da hier auch noch nach dem Schwinden der großen <lb/>Ströme ein guter Übergang von Süden nach Norden und <lb/>umgekehrt vorhanden war. </s>
  <s xml:id="echoid-s3546" xml:space="preserve">Wir ſagen ausdrücklich auch noch <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-275-01a" xlink:href="fig-275-01"/>
nach dem Schwinden der Ströme, da ſich die Moore vor-<lb/>wiegend in alten Thälern bilden und ſo die Paſſage doch <lb/>weſentlich erſchweren. </s>
  <s xml:id="echoid-s3547" xml:space="preserve">Vielleicht iſt im Altertum der Weg über <lb/>das jetzige Berlin auch für den Bernſteinhandel aus dem Sam-<lb/>lande benutzt worden.</s>
  <s xml:id="echoid-s3548" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div126" type="float" level="2" n="10">
<figure xlink:label="fig-274-01" xlink:href="fig-274-01a">
<caption xml:id="echoid-caption48" xml:space="preserve">Fig. 38.</caption>
</figure>
<figure xlink:label="fig-275-01" xlink:href="fig-275-01a">
<caption xml:id="echoid-caption49" xml:space="preserve">Fig. 39.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3549" xml:space="preserve">Zum Schluß unſerer Beſprechung über die Eiszeit wollen <lb/>wir noch ausdrücklich darauf aufmerkſam machen, daß nicht <lb/>etwa die ganze Erde zur Eiszeit vereiſt war, ſondern nur ein
<pb o="72" file="276" n="276"/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-276-01a" xlink:href="fig-276-01"/>
<pb o="73" file="277" n="277"/>
weit größerer Teil der nördlichen Erdhalbkugel als heute. </s>
  <s xml:id="echoid-s3550" xml:space="preserve">Wir <lb/>ſagten ſchon, daß die Vereiſung bei uns etwa bis zu den <lb/>mitteldeutſchen Gebirgen reichte und die Karte (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3551" xml:space="preserve">40) ver-<lb/>anſchaulicht, wie weit die erſte und zweite Vereiſung zur Di-<lb/>luvialzeit in Nord-Amerika nach Süden herabreichte.</s>
  <s xml:id="echoid-s3552" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div127" type="float" level="2" n="11">
<figure xlink:label="fig-276-01" xlink:href="fig-276-01a">
<caption xml:id="echoid-caption50" xml:space="preserve">Fig. 40.</caption>
<description xml:id="echoid-description13" xml:space="preserve"><emph style="bf">THEIL DES NORDAMERIK. GLACIALGEBIETES mit seinen ENDMORÄNEN</emph></description>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3553" xml:space="preserve">Über die Urſache der Eiszeiten ſind mannichfache Ver-<lb/>mutungen ausgeſprochen und zu begründen verſucht worden, <lb/>ohne daß wir aber größere Sicherheit über dieſelbe gewonnen <lb/>hätten.</s>
  <s xml:id="echoid-s3554" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3555" xml:space="preserve">Seit dem Ende der letzten Eiszeit mögen gegen 40 000 <lb/>Jahre verfloſſen ſein; </s>
  <s xml:id="echoid-s3556" xml:space="preserve">jedoch iſt dieſe Angabe nicht ſicher.</s>
  <s xml:id="echoid-s3557" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3558" xml:space="preserve">Gehen wir wieder einer Eiszeit entgegen, ſodaß wir uns <lb/>jetzt in einer Zwiſcheneiszeit zwiſchen der zweiten und einer <lb/>dritten Eiszeit befinden? </s>
  <s xml:id="echoid-s3559" xml:space="preserve">— Die Antwort müſſen wir ſchuldig <lb/>bleiben!</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div129" type="section" level="1" n="91">
<head xml:id="echoid-head104" xml:space="preserve"><emph style="bf">XV. Wie alt iſt der gegenwärtige Zuſtand</emph> <lb/><emph style="bf">der Erde?</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3560" xml:space="preserve">Nachdem wir ſo die Veränderungen der Erdoberfläche mit <lb/>beſonderer Berückſichtigung der allerletzten Zeit der Braun-<lb/>kohlen- und Eiszeit in flüchtigem Umriß dargelegt haben, <lb/>wollen wir jetzt eine Frage beantworten, die ſicherlich ſchon <lb/>vielen unſerer Leſer nahe getreten iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3561" xml:space="preserve">Es iſt die Frage über <lb/>das Alter der Erde oder mindeſtens über die Zeitdauer der <lb/>einzelnen Zuſtände.</s>
  <s xml:id="echoid-s3562" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3563" xml:space="preserve">Die Antwort auf dieſe Frage iſt durchweg ſehr un-<lb/>beſtimmt, gleichwohl wollen wir den kleinſten Teil der Frage <lb/>ſoweit zu beantworten ſuchen, als Männer der ſtrengſten For-<lb/>ſchung ſich Antworten hierauf erlaubt haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s3564" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3565" xml:space="preserve">Es iſt eine Thatſache, von der ſich jeder ſelbſt über-<lb/>zeugen kann, daß all’ die Unterſchiede, die wir zwiſchen feſten,
<pb o="74" file="278" n="278"/>
flüſſigen und luftförmigen Körpern machen, nur wirklich exi-<lb/>ſtieren bei einem beſtimmten Grad der Wärme, daß aber, ſo-<lb/>bald die Wärme ſich ändert, auch der Zuſtand der Körper <lb/>ganz anders wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s3566" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3567" xml:space="preserve">Diejenigen Menſchen, die in heißen Ländern geboren ſind, <lb/>wo es niemals friert, die können ſich keine Vorſtellung davon <lb/>machen, daß aus Waſſer ein feſter Körper werden kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s3568" xml:space="preserve">Sehr <lb/>lehrreich iſt in dieſer Beziehung die Anekdote von dem euro-<lb/>päiſchen Reiſenden am Hofe eines indiſchen Fürſten: </s>
  <s xml:id="echoid-s3569" xml:space="preserve">Der <lb/>Reiſende war ein arger Prahlhans und band dem Fürſten die <lb/>ungeheuerlichſten Abenteuer und Reiſegeſchichten auf, der Fürſt <lb/>aber glaubte alles Wort für Wort. </s>
  <s xml:id="echoid-s3570" xml:space="preserve">Als jedoch eines Tages <lb/>der Reiſende von ſeiner Heimat erzählte und berichtete, wie <lb/>dort zuweilen das Waſſer in den Flüſſen ſo hart würde, daß <lb/>Wagen darüber fahren könnten, da wandte ſich der Fürſt un-<lb/>willig ab und erklärte, die Geſchichte ſei aufgeſchnitten, und <lb/>zum Beſten halten ließe er ſich nicht.</s>
  <s xml:id="echoid-s3571" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3572" xml:space="preserve">Wir dagegen wiſſen aus Erfahrung, daß, wenn man dem <lb/>Waſſer Wärme entzieht, es zu Eis wird, alſo zu einem harten <lb/>Körper, der alle Eigenſchaften feſter Körper an ſich und alle <lb/>Eigenſchaften flüſſiger Körper verloren hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s3573" xml:space="preserve">Denken wir uns <lb/>wieder Weſen, die nur in ſolchen Gegenden leben, wo es Jahr <lb/>aus Jahr ein friert, ſo werden ſie, wenn ſie noch keine andere <lb/>Erfahrung gemacht haben, es nicht begreifen, daß Eis, dieſer <lb/>ſtarre, feſte Körper, jemals flüſſig ſein kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s3574" xml:space="preserve">Waſſer iſt alſo <lb/>unter dem Gefrierpunkt ein feſter Körper, über dem Gefrier-<lb/>punkt ein flüſſiger Körper. </s>
  <s xml:id="echoid-s3575" xml:space="preserve">Erhitzt man aber gar Waſſer bis <lb/>zu 100 Grad, ſo wird daraus ein luftförmiger Körper, ein <lb/>Gas, welches, ſo lange es in dem heißen Zuſtande verbleibt, <lb/>alle Eigenſchaften der gasförmigen Körper beſitzt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3576" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3577" xml:space="preserve">Man hat aber durch die Erfahrung erlernt, daß es mit <lb/>allen Körpern ſo geht wie mit dem Waſſer. </s>
  <s xml:id="echoid-s3578" xml:space="preserve">Man kann Metalle <lb/>ſo lange erhitzen, bis ſie flüſſig werden, und ſie bei weiterer
<pb o="75" file="279" n="279"/>
Erhitzung ſogar in Dampf verwandeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s3579" xml:space="preserve">Es unterliegt ebenſo <lb/>gar keinem Zweifel, daß man Gaſe durch Kälte oder Zu-<lb/>ſammenpreſſen tropfbar-flüſſig machen und dieſe Flüſſigkeiten in <lb/>noch höherer Kälte zum Gefrieren, das heißt zum Feſt- und <lb/>Hartwerden bringen kann (ſiehe Teil II).</s>
  <s xml:id="echoid-s3580" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3581" xml:space="preserve">Wer dies einſieht, der wird ſich leicht die Vorſtellung <lb/>machen können, daß alles Feſtwerden auf der Erde nur von <lb/>dem langſam wachſenden Einfluß der Kälte herrührt, die im <lb/>Weltraume herrſcht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3582" xml:space="preserve">Würde die innere Wärme der Erde ein-<lb/>mal durch irgend einen Umſtand ſich in hohem Maße ſteigern, <lb/>ſo würden alle feſten Körper flüſſig, alle flüſſigen Körper <lb/>luftförmig werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s3583" xml:space="preserve">ja, die ganze Erde könnte ſich in Gas <lb/>verwandeln und ſich dabei ausdehnen und einen viel tauſendmal <lb/>größeren Raum einnehmend durch den Weltraum wandeln.</s>
  <s xml:id="echoid-s3584" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3585" xml:space="preserve">Alle Naturforſcher hegen die Vermutung, daß wirklich die <lb/>Erde dereinſt ſolch ein ungeheurer luftförmiger Körper geweſen <lb/>ſei, daß ſie erſt nach und nach durch Erkalten zu einem <lb/>feurigen, flüſſigen Körper geworden ſei, und daß dann erſt <lb/>die Zeit eintrat, wo durch weitere Abkühlung die obere Rinde <lb/>erſtarrte und eine feſte Hülle über dem noch flüſſigen Kern <lb/>ſich bildete, wie wir dies bereits ausgeführt haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s3586" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3587" xml:space="preserve">Fragt man nun nach dem Alter der Erde, ſo hat man <lb/>auch nicht den geringſten Maßſtab dafür, wie lange Zeit ſie <lb/>wohl im gasförmigen Zuſtande exiſtiert haben mag. </s>
  <s xml:id="echoid-s3588" xml:space="preserve">Eben ſo <lb/>wenig weiß man etwa anzugeben, wie lange die Erde in <lb/>feurig-flüſſigem Zuſtande zugebracht habe; </s>
  <s xml:id="echoid-s3589" xml:space="preserve">dahingegen hat <lb/>man ſchon einigen Anhalt über die Dauer der Zeit, welche <lb/>das Erkalten und Erſtarren der Rinde gebraucht haben mag, <lb/>und darf ſchon von einigen Vermutungen über die Zeit <lb/>ſprechen, in welcher das Waſſer die Geſteine anſammelte, <lb/>feſte Erdſchichten aufſchwemmte und ganze Landſtrecken an-<lb/>ſchwemmte.</s>
  <s xml:id="echoid-s3590" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3591" xml:space="preserve">Alle dieſe Angaben ſind zwar außerordentlich unſicher und
<pb o="76" file="280" n="280"/>
haben nur das Recht, als entfernte Vermutungen angeſehen zu <lb/>werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s3592" xml:space="preserve">wir wollen ſie jedoch als ſolche unſeren Leſern nun-<lb/>mehr vorführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3593" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div130" type="section" level="1" n="92">
<head xml:id="echoid-head105" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVI. Wie lange Zeit brauchte die Erdrinde,</emph> <lb/><emph style="bf">um zu erkalten?</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3594" xml:space="preserve">Man hat Verſuche über die Abkühlung großer Geſteins-<lb/>maſſen gemacht, um einigermaßen die Zeit der Abkühlung zu <lb/>beſtimmen, welche die Erde brauchte, um eine 25 Meilen dicke <lb/>Schicht zu erhalten; </s>
  <s xml:id="echoid-s3595" xml:space="preserve">allein es ſchreitet die Abkühlung der <lb/>Maſſen, je größer ſie ſind, deſto langſamer fort, und es hängt <lb/>die Abkühlung ſo enge mit der Fähigkeit der Maſſen, die <lb/>Wärme zu leiten, zuſammen, daß man jeden künſtlichen Ver-<lb/>ſuch dieſer Art vergeblich nennen muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s3596" xml:space="preserve">— Indeſſen bietet die <lb/>Natur ſelbſt die Gelegenheit dar, die außerordentlich langſame <lb/>Abkühlung großer heißer Steinmaſſen zu beobachten.</s>
  <s xml:id="echoid-s3597" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3598" xml:space="preserve">Die Vulkane, wenn ſich in ihnen ein Weg gebahnt hat <lb/>aus dem Innern der heißen Erde nach außen hin, ſpeien <lb/>unter Krachen und Toſen Rauchſäulen, Flammen und Aſchen-<lb/>regen aus, und das Ende dieſer furchtbaren Naturerſcheinung <lb/>iſt gemeinhin, daß aus irgend einer Spalte des feuerſpeienden <lb/>Berges oder über den niedrigſten Rand des Kraters ein <lb/>Strom geſchmolzenen Geſteins ſich ergießt, der aus dem Innern <lb/>der Erde emporquillt und in langer Strecke hin ins Thal <lb/>fließt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3599" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3600" xml:space="preserve">Wenn dieſer Glut-Strom erkaltet, ſo wird er zu Stein, <lb/>den man Lava nennt, und eine Unterſuchung der Lava in <lb/>neuerer Zeit hat ergeben, daß ſie aus denſelben Geſteinsarten <lb/>beſteht, die die harte Rinde um die Erde bilden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3601" xml:space="preserve">Die Ver-<lb/>ſchiedenheit der Lava hängt von der Verſchiedenheit ihrer Er-<lb/>kaltung ab. </s>
  <s xml:id="echoid-s3602" xml:space="preserve">So werden kleine Maſſen, die außerordentlich
<pb o="77" file="281" n="281"/>
ſchnell erkalten, zu dem ſchwammartig gebauten Bimsſtein, <lb/>während langſamer abkühlende Maſſen feſteres Gefüge annehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3603" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3604" xml:space="preserve">Wo aber Lava in großen Strömen ſich ergoſſen hat, und <lb/>in irgend einer Vertiefung des Thales in dicker Lage vor-<lb/>handen iſt, da hat man gute Gelegenheit, die außerordentlich <lb/>lange Zeit zu beobachten, die es dauert, bevor auch nur die <lb/>Lava bis in eine Tiefe von einem halben Meter erſtarrt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3605" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3606" xml:space="preserve">Der Reiſende, der dieſe Stätten lange Jahre nach dem <lb/>Ausbruche des Veſuvs bei Neapel beſucht, wird durch den <lb/>kundigen Führer überraſcht, der ſeinen Stock hineinbohrt in <lb/>die Lava, auf welcher man herumwandelt und ihn nach einiger <lb/>Zeit verkohlt wieder herauszieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3607" xml:space="preserve">— Lava, die zehn Jahre lag, <lb/>von oben vollkommen erſtarrt war und nicht im mindeſten ver-<lb/>riet, daß ſie inwendig noch heiß iſt, fing zu fließen an, als <lb/>man den Rand abſtach, ſo daß es ſich ergab, wie ſie in einer <lb/>Tiefe von etwa 1 {1/2} Meter noch vollkommen flüſſig war. </s>
  <s xml:id="echoid-s3608" xml:space="preserve">Man <lb/>hat ferner die Bemerkung gemacht, daß zwanzig Jahre nach dem <lb/>Austritt aus dem Innern der Erde die Lava noch Dämpfe <lb/>verbreitet, was offenbar von dem hohen Grad der Hitze zeugt, <lb/>die im Innern der Lavalage herrſcht, ſelbſt wenn ſie von <lb/>außen vollkommen die natürliche Wärme der Luft angenommen <lb/>hatte.</s>
  <s xml:id="echoid-s3609" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3610" xml:space="preserve">Obwohl man nun noch nicht das Geſetz genauer hat be-<lb/>ſtimmen können, wie langſam die Abkühlung ſolcher großen <lb/>Maſſen vor ſich geht, ſo hat man doch den einen Schluß <lb/>daraus gezogen, daß eine Lage von 25 Meilen eine ungeheuer <lb/>große Reihe von Jahrmillionen gebraucht haben muß, um ſo <lb/>weit zu erkalten, daß ſie von dem flüſſigen Zuſtande in den <lb/>feſten übergehen konnte.</s>
  <s xml:id="echoid-s3611" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3612" xml:space="preserve">Dies iſt freilich eine ſehr unbeſtimmte Vorſtellung, die <lb/>man ſich von der Zeit der Abkühlung der Erde zu machen <lb/>hat, oder von der Zeit, in welcher ſich die feſte Rinde bildete <lb/>aus den Geſteinen, die man die Feuerbildungen nennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3613" xml:space="preserve">— Eine
<pb o="78" file="282" n="282"/>
etwas beſtimmtere Zahl weiß man ſchon von der Zeit an-<lb/>zugeben, wo ſich Geſteinsmaſſen unter dem Waſſer gebildet <lb/>haben mögen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3614" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3615" xml:space="preserve">Wir haben es bereits erwähnt, daß das Land, wo man <lb/>die Anſchwemmung am längſten beobachtet hat, Ägypten iſt; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3616" xml:space="preserve">dieſes Land kennt man ſchon ſeit Jahrtauſenden, indem man <lb/>Schriften beſitzt, die über dasſelbe Aufſchluß geben aus der <lb/>Zeit des hohen Menſchenaltertums. </s>
  <s xml:id="echoid-s3617" xml:space="preserve">Zugleich beſitzt Ägypten <lb/>Baudenkmäler, deren Erbauungszeit ziemlich ſicher anzugeben <lb/>iſt, und es haben daher Naturforſcher zu ermitteln geſucht, um <lb/>wie viel der Boden Ägyptens, durch die Ablagerungen von <lb/>Erdteilchen, die der Nil alljährlich mit ſich führt, höher ge-<lb/>worden iſt, ſeit jener Erbauungszeit der Denkmäler. </s>
  <s xml:id="echoid-s3618" xml:space="preserve">Die <lb/>Unterſuchung hat ergeben, daß es mindeſtens vierzigtauſend <lb/>Jahre dauert, bevor der Boden durch Waſſerablagerungen hier <lb/>nur 30 Meter höher wird, und wenn dies einen Schluß auf <lb/>die Waſſergebilde, die eine Geſteinsſchale um die Erde bilden, <lb/>zuläßt, ſo hat es an zehn Millionen Jahre gedauert, bis dieſe <lb/>zu der Mächtigkeit von nur einer Meile anwuchſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3619" xml:space="preserve">Freilich <lb/>iſt dabei zu berückſichtigen, daß natürlich in demſelben Zeit-<lb/>raum an verſchiedenen Orten ganz verſchieden dicke Lagen ge-<lb/>bildet werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s3620" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div131" type="section" level="1" n="93">
<head xml:id="echoid-head106" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVII. Haben wir noch eine Umwälzung der Erde</emph> <lb/><emph style="bf">zu erwarten?</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3621" xml:space="preserve">Es ſteht feſt, daß nach und nach mit der Eniwickelung der <lb/>Erdſchichten auch eine Entwickelung der Tier- und Pflanzen-<lb/>welt ſtattgefunden hat, und zwar eine Entwickelung von nie-<lb/>drigen Gattungen zu höhern. </s>
  <s xml:id="echoid-s3622" xml:space="preserve">In den Verſteinerungen, die <lb/>man in der Erde auffindet, ſpricht ſich dies ſehr deutlich und <lb/>unumſtößlich aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s3623" xml:space="preserve">Die älteſten Überreſte von Pflanzen und
<pb o="79" file="283" n="283"/>
Tieren zeigen uns, daß zuerſt ſolche von einfacherem Bau <lb/>exiſtierten. </s>
  <s xml:id="echoid-s3624" xml:space="preserve">Je jünger die Erdſchichten ſind, die man unter-<lb/>ſucht, deſto entwickelter und vollkommener werden die Pflanzen <lb/>und die Tiere, bis man endlich in der jüngſten Erdſchicht die <lb/>Spuren findet, daß der Menſch, das vollkommenſte der lebenden <lb/>Geſchöpfe, ein Bewohner der Erde wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3625" xml:space="preserve">Der fortſchreitende <lb/>Charakter der Pflanzenwelt und Tierwelt ſeit der älteſten Zeit <lb/>bis auf die Gegenwart iſt ſo unzweifelhaft in den Überreſten <lb/>ausgeprägt, daß kein einſichtiger Menſch mehr zweifelt, daß <lb/>hier wirklich ein Fortſchritt von einfachſten und unausgebildetſten <lb/>Organismen zu vielfältigern und ausgebildetern ſtattgefunden <lb/>hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s3626" xml:space="preserve">Nun aber hält dieſer Fortſchritt genau mit den Ver-<lb/>änderungen des Zuſtandes der Erde Schritt: </s>
  <s xml:id="echoid-s3627" xml:space="preserve">eine höhere <lb/>Pflanzengattung, eine höhere Tiergattung tritt immer erſt auf, <lb/>nachdem eine weitere Veränderung mit der Erde vor ſich ge-<lb/>gangen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3628" xml:space="preserve">Man ſieht, daß die Erde mit jeder neuen Epoche <lb/>erſt immer die Fähigkeit erhielt, neue und ausgebildetere lebende <lb/>Weſen auf ſich zu erhalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s3629" xml:space="preserve">Jedenfalls geht hieraus hervor, daß <lb/>die Veränderungen der Erde mit dem Leben auf der Erde im <lb/>engſten Zuſammenhange ſtehen und daß ein Fortſchreiten und <lb/>eine immer höhere Ausbildung der Pflanzen- und Tierwelt <lb/>auch genau mit einer Fortſchreitung und einer höheren Aus-<lb/>bildung der Erde ſelber Hand in Hand geht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3630" xml:space="preserve">Dies aber iſt <lb/>ganz und gar der Charakter des Lebens, eine Veränderung, <lb/>die zugleich eine Entwickelung iſt aus einem unausgebildeten <lb/>Zuſtand in einen höhern und vollendeteren.</s>
  <s xml:id="echoid-s3631" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3632" xml:space="preserve">Freilich drängt ſich hiernach die Frage auf: </s>
  <s xml:id="echoid-s3633" xml:space="preserve">wenn all’ die <lb/>bisherigen Veränderungen der Erde eine ſtufenweiſe Ent-<lb/>wickelung ihres Lebens waren, wird dieſe Entwickelung nicht <lb/>auch weiter gehen? </s>
  <s xml:id="echoid-s3634" xml:space="preserve">Darf man annehmen, daß die jetzige Tier-<lb/>und Pflanzenwelt die vollendetſte iſt, wenn man ſieht, daß ſie <lb/>erſt nach und nach ſich entwickelt hat, und alſo gar nicht zu <lb/>vermuten ſteht, daß ſie ſich nicht noch weiter entwickeln kann?</s>
  <s xml:id="echoid-s3635" xml:space="preserve">
<pb o="80" file="284" n="284"/>
Der Menſch iſt in jetziger Zeit das vollendetſte der Geſchöpfe <lb/>auf Erden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3636" xml:space="preserve">Es hat aber eine Zeit gegeben, wo noch keine <lb/>Menſchen auf Erden lebten, und damals waren ohne Zweifel <lb/>die Affen die geiſtig reichſten Geſchöpfe; </s>
  <s xml:id="echoid-s3637" xml:space="preserve">iſt es nicht wahr-<lb/>ſcheinlich, daß dereinſt, wenn auch erſt nach Jahrtauſenden oder <lb/>Jahrmillionen neue und zwar höhere Geſchöpfe auf Erden leben <lb/>werden, gegen welche das <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-284-01a" xlink:href="fig-284-01"/>
Menſchengeſchlecht der <lb/>Jetztzeit ſo tief ſteht, wie <lb/>etwa das Affengeſchlecht <lb/>gegenüber dem jetzigen <lb/>Menſchengeſchlecht?</s>
  <s xml:id="echoid-s3638" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div131" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-284-01" xlink:href="fig-284-01a">
<caption xml:id="echoid-caption51" xml:space="preserve">Fig. 41.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3639" xml:space="preserve">Auf dieſe, ſicherlich <lb/>ſehr ernſte und wichtige <lb/>Frage weiß die Natur-<lb/>wiſſenſchaft keine ſichere <lb/>Antwort. </s>
  <s xml:id="echoid-s3640" xml:space="preserve">Wir wiſſen nur zwei Dinge, die zu einem Schluß <lb/>über dieſe Frage Berechtigung geben.</s>
  <s xml:id="echoid-s3641" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3642" xml:space="preserve">Erſtens haben ſich die Naturforſcher unendliche Mühe ge-<lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-284-02a" xlink:href="fig-284-02"/>
geben, um auszuſpüren, <lb/>ob die Erde noch jetzt <lb/>irgendwie neue Geſchöpfe <lb/>hervorbringt, und dies <lb/>iſt durchaus nicht ge-<lb/>lungen, nachzuweiſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3643" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div132" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-284-02" xlink:href="fig-284-02a">
<caption xml:id="echoid-caption52" xml:space="preserve">Fig. 42.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3644" xml:space="preserve">Eine Zeitlang glaubte <lb/>man, daß die Infuſorien (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3645" xml:space="preserve">41 u. </s>
  <s xml:id="echoid-s3646" xml:space="preserve">42), die außerordentlich <lb/>kleinen Tierchen, die millionen- und millionenfach entſtehen, <lb/>wenn man Pflanzen mit Waſſer übergießt und dieſen Aufguß <lb/>einige Tage ſtehen läßt, neue Geſchöpfe ſind, die ohne Zeugung, <lb/>ohne Eltern neu entſtehen, und wirklich nahm man dies als <lb/>einen Beweis der noch exiſtierenden Schöpferkraft an. </s>
  <s xml:id="echoid-s3647" xml:space="preserve">In-<lb/>deſſen hat ſich das als Irrtum erwieſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3648" xml:space="preserve">Es ſteht jetzt feſt,
<pb o="81" file="285" n="285"/>
daß dieſe Geſchöpfe nicht neu aus faulenden Pflanzenſtoffen <lb/>entſtehen, ſondern daß ſie ſich aus Keimen entwickeln, die auf <lb/>den Pflanzen und in dem Waſſer in großer Zahl vorhanden <lb/>ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s3649" xml:space="preserve">— Jedenfalls iſt es eine unbeſtreitbare Thatſache, daß <lb/>irgend eine noch jetzt thätige Schöpferkraft der Erde, die neue <lb/>Geſchöpfe hervorbringt, nirgends hat nachgewieſen werden <lb/>können, woraus freilich noch nicht folgt, daß ſie nicht vielleicht <lb/>doch exiſtiert.</s>
  <s xml:id="echoid-s3650" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3651" xml:space="preserve">Entwickelt ſich aber dennoch die Erde und ſoll ſie dennoch <lb/>höhere Gattungen von Geſchöpfen hervorbringen, als der <lb/>Menſch jetzt iſt, ſo dürfen wir zweitens nicht vergeſſen, daß <lb/>der Menſch ſelber noch unendlich höherer geiſtiger Ent-<lb/>wickelung fähig iſt, und daß ſeine geiſtige Entwickelung fort-<lb/>ſchreitet, daß es alſo nicht gerade neuer Geſchöpfe bedarf, um <lb/>höhere Weſen zu erzeugen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3652" xml:space="preserve">Bei dem natürlichen Triebe des <lb/>Menſchengeſchlechts, ſich geiſtig weiter und weiter heranzubilden, <lb/>bei dem unbeſiegbaren Streben, die Erkenntnis zu bereichern, <lb/>iſt mindeſtens nicht notwendig anzunehmen, daß eine neue <lb/>Gattung Geſchöpfe zu entſtehen braucht, die einen Fortſchritt <lb/>gegenüber der Menſchheit bildet.</s>
  <s xml:id="echoid-s3653" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div134" type="section" level="1" n="94">
<head xml:id="echoid-head107" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVIII. Iſt eine einſtmalige Rückbildung der</emph> <lb/><emph style="bf">Erde denkbar?</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3654" xml:space="preserve">Wir haben noch eine der wichtigſten Fragen in Betreff <lb/>des Erdlebens zu beantworten.</s>
  <s xml:id="echoid-s3655" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3656" xml:space="preserve">Wenn es ausgemacht iſt, daß die Erde ehedem einen ganz <lb/>anderen Zuſtand hatte, wenn es wahr iſt, daß ſie dereinſt vor <lb/>vielen Jahrmillionen nur eine ungeheure, gasförmige Kugel <lb/>war, die nach und nach ſich verdichtete und feurig-flüſſig wurde, <lb/>bis ihre Oberfläche ſich abkühlte und eine harte Geſteinsrinde <lb/>bildete, auf welcher wir und mit uns die Tier- und Pflanzen-</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3657" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s3658" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s3659" xml:space="preserve">Volksbücher VIII.</s>
  <s xml:id="echoid-s3660" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="82" file="286" n="286"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3661" xml:space="preserve">welt die Wohnſtätte haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s3662" xml:space="preserve">ſo fragt es ſich, ob ſie nicht der-<lb/>einſt wieder in jenen Urzuſtand zurückkehren wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s3663" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3664" xml:space="preserve">Eine natürliche Logik ſagt uns, daß alles, was mit der <lb/>Zeit entſteht, auch mit der Zeit vergeht, daß ein Ding, <lb/>welches nicht von Ewigkeit her immer dieſelbe unveränderliche <lb/>Geſtalt gehabt hat, auch nicht in die Ewigkeit hin ſeine <lb/>Geſtalt unverändert beibehalten wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3665" xml:space="preserve">Aber wenn wir <lb/>auch dieſer Logik nicht trauen wollten, ſo lehrt uns doch <lb/>die Erfahrung, daß in allen Dingen des Daſeins ein Kreislauf <lb/>der Veränderungen ſtattfindet, daß die Pflanzen aus Urſtoffen <lb/>entſtehen, daß die Tierwelt den Stoff ihres Leibes aus den <lb/>Pflanzen entnimmt, daß aber der Tierkörper wieder zerfällt <lb/>und ſeine Stoffe wieder zu Urſtoffen und deren einfachen Ver-<lb/>bindungen werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3666" xml:space="preserve">Hiernach alſo fragt es ſich mit Recht: </s>
  <s xml:id="echoid-s3667" xml:space="preserve">wird <lb/>nicht einſt die Erde, die “ein Tropfen im Eimer”, eben nur <lb/>ein geringes Glied in der unendlich großen Familie des Welt-<lb/>alls iſt, wird ſie nicht einſt in den Urzuſtand zurückkehren, in <lb/>welchem ſie dereinſt geweſen iſt? </s>
  <s xml:id="echoid-s3668" xml:space="preserve">Wird nicht wieder eine Rück-<lb/>bildung der Erde ſtattfinden, wie einſt eine Entwickelung und <lb/>Bildung derſelben ſtattgefunden hat?</s>
  <s xml:id="echoid-s3669" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3670" xml:space="preserve">Will man auf dieſe Frage eine Antwort geben und hierbei <lb/>ſich nicht von Gefühlen und Phantaſien, ſondern von den <lb/>Spuren leiten laſſen, die die bisherige Naturforſchung bietet, <lb/>ſo muß man ſeinen Blick aufwärts zum Himmelsraum wenden, <lb/>woſelbſt die anderen Weltkörper ihr Licht als ein Zeichen <lb/>ihres Daſeins zu uns herabſenden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3671" xml:space="preserve">Die Erde, ein kleines <lb/>Glied dieſer unendlichen Weltfamilie, hat ſicherlich unter einer <lb/>ſo unendlich großen Zahl von Himmelskörpern viele, die ein <lb/>gleiches Schickſal mit ihr teilen, und da ſchwerlich alle Himmels-<lb/>körper gleichen Alters mit ihr und untereinander ſind, ſo iſt <lb/>es wohl möglich, daß wir unter den Sternen viele erblicken <lb/>werden, die auf eine Rückbildung oder Auflöſung von Himmels-<lb/>körpern ſchließen laſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3672" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="83" file="287" n="287"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3673" xml:space="preserve">Die nächſten Sterne, auf die wir hier zu blicken haben, ſind <lb/>ohne Zweifel die Planeten, die, wie wir bereits angeführt haben, <lb/>in der Bildung ihrer Oberfläche viel Ähnlichkeit mit der Erde <lb/>beſitzen; </s>
  <s xml:id="echoid-s3674" xml:space="preserve">allein bisher ſind alle Unterſuchungen darüber, ob <lb/>ſchon einmal Planeten vorhanden waren, die ſich wiederum <lb/>aufgelöſt haben, oder ob die exiſtierenden Planeten Spuren <lb/>ihrer Auflöſung zeigen, vergeblich geweſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3675" xml:space="preserve">— Noch vor Kurzem <lb/>nahm man meiſthin an, daß die kleinen Planeten, die zwiſchen <lb/>Mars und Jupiter ihren Umkreis um die Sonne nehmen, nur <lb/>Bruchſtücke eines zerſtörten großen Planeten ſeien, der durch <lb/>äußere und innere Veranlaſſung zerſprengt worden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3676" xml:space="preserve">Man <lb/>hätte alſo hier wohl ein Beiſpiel des Untergangs eines <lb/>Himmelskörpers, welcher ohne Zerſtörung alles Lebens auf <lb/>demſelben nicht vor ſich gehen konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s3677" xml:space="preserve">— Allein in neuerer <lb/>Zeit iſt man mit Recht von der ganzen Vorſtellung zurück-<lb/>gekommen, daß die kleinen Planeten Bruchſtücke eines größeren <lb/>ſeien. </s>
  <s xml:id="echoid-s3678" xml:space="preserve">Schon vor dem Jahre 1845, bis wohin man nur die <lb/>erſten vier in dieſem Jahrhundert entdeckten kleinen Planeten <lb/>kannte, vermochte man nicht einzuſehen, woher die große Ver-<lb/>ſchiedenheit der Bahnen der kleinen Planeten ſtammen ſollte, <lb/>wenn ſie die auseinander geſprengten Bruchſtücke Eines <lb/>Planeten wären; </s>
  <s xml:id="echoid-s3679" xml:space="preserve">ſeit dieſer Zeit aber, alſo in den letzten fünfzig <lb/>Jahren, wo noch Hunderte von neuen kleinen Planeten in <lb/>dieſer Himmelsgegend entdeckt worden ſind, iſt die Möglichkeit, <lb/>daß ſie Bruchſtücke eines einzigen Himmelskörpers ſeien, ganz <lb/>und gar geſchwunden; </s>
  <s xml:id="echoid-s3680" xml:space="preserve">ihre Entfernungen von der Sonne weichen <lb/>ſo außerordentlich ſtark von einander ab, daß man gegenwärtig <lb/>jeden Gedanken aufgeben muß, in den kleinen Planeten Reſte <lb/>eines zerſtörten größeren Planeten zu ſehen, und nur annehmen <lb/>kann, daß ſich hier urſprünglich aus unbekannten Urſachen <lb/>ſtatt eines großen Planeten eine große Reihe einzelner kleiner <lb/>Planeten gebildet habe.</s>
  <s xml:id="echoid-s3681" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3682" xml:space="preserve">Außer dieſem Raum aber, wo die kleinen Planeten ihre
<pb o="84" file="288" n="288"/>
Vahnen haben, giebt es im Planetenſyſtem, vom Merkur, der <lb/>der Sonne am nächſten iſt, bis zum Neptun, dem der Sonne <lb/>fernſten Planeten, keinen Platz, wo man Spuren eines unter-<lb/>gegangenen Planeten zu ſuchen hat, und man kann ſich daher <lb/>nur in der Welt der Kometen und im Reich der Fixſterne um-<lb/>thun, um zu ſehen, ob dort Spuren des Entſtehens und Ver-<lb/>gehens vorhanden ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s3683" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3684" xml:space="preserve">Dies wollen wir in den nächſten Abſchnitten vornehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3685" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div135" type="section" level="1" n="95">
<head xml:id="echoid-head108" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIX. Veränderungen, die man an den Kometen</emph> <lb/><emph style="bf">beobachtet.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3686" xml:space="preserve">Wenn ſich irgend wie unter den Körpern des Himmels-<lb/>raumes ſolche finden, die Veränderungen an ſich tragen, welche <lb/>man für Zeichen des Entſtehens und Vergehens halten könnte, <lb/>ſo ſind es die Kometen (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3687" xml:space="preserve">43 bis 47).</s>
  <s xml:id="echoid-s3688" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3689" xml:space="preserve">Ihre Maſſe iſt ſo wenig dicht, daß ſie vollkommen durch-<lb/>ſichtig ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s3690" xml:space="preserve">man ſieht die ſchwächſten Sterne, vor denen Ko-<lb/>meten vorübergehen, ganz ſo deutlich, als wären die Kometen <lb/>nicht vorhanden (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3691" xml:space="preserve">47). </s>
  <s xml:id="echoid-s3692" xml:space="preserve">Dabei verändert ſich die ganze <lb/>Geſtalt des Kometen, je mehr er ſich der Sonne nähert. </s>
  <s xml:id="echoid-s3693" xml:space="preserve">Die <lb/>Maſſe lockert ſich noch mehr auf und nimmt eine längliche <lb/>Geſtalt an, wobei ſich oft Schweife von ungeheurer Länge aus-<lb/>bilden (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3694" xml:space="preserve">46), von denen einer zuweilen nach der Sonne <lb/>hin und der andere von der Sonne abgewandt ſich zeigt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3695" xml:space="preserve">Ferner hat man in Kometen eine Art Aufflackern, ein Wallen <lb/>des Lichtes, ein Strahlenſchießen bemerkt, das im Augenblick <lb/>viele tauſend Meilen weit geht und die ganze Geſtalt des <lb/>Kometen höchſt veränderlich zeigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3696" xml:space="preserve">Desgleichen hat man beob-<lb/>achtet, daß periodiſch wiederkehrende Kometen von langer Um-<lb/>laufszeit, wie der Halleyſche, der in fünfundſiebzig Jahren <lb/>ſeine Bahn vollendet und der zuletzt im Jahre 1835 erſchien,
<pb o="85" file="289" n="289"/>
bei ihrem Wiedererſcheinen kleiner geworden ſind, als ſie zuvor <lb/>erſchienen ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s3697" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3698" xml:space="preserve">Dieſe Umſtände, zu denen noch andere hinzukommen, haben <lb/>viele veranlaßt anzunehmen, daß die Kometen aus dem Stoffe <lb/>entſtehen, den man den Urſtoff der Weltkörper nennt, der ſich <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-289-01a" xlink:href="fig-289-01"/>
aber unter Umſtänden ver-<lb/>dichten, und dabei flüſſig-<lb/>feurig, und deſſen Oberfläche <lb/>ſodann durch Erkalten hart <lb/>werden und eine kalte Schale <lb/>erhalten kann, gleich der, <lb/>welche die Erde jetzt hat. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3699" xml:space="preserve">Von dieſer Vorausſetzung <lb/>ausgehend, haben daher viele <lb/>in den Veränderungen der <lb/>Kometen die Zeichen eines <lb/>Dichterwerdens, alſo den <lb/>Anfang eines Entſtehens von <lb/>feſten Himmelskörpern, viele <lb/>wieder gerade ein Zeichen <lb/>der Auflöſung von Himmels-<lb/>körpern darin geſehen, ſo daß <lb/>die Kometen zumeiſt die <lb/>Gegenſtände wurden, mit <lb/>denen die Phantaſie ihr viel-<lb/>geſtaltiges Spiel am leich-<lb/>teſten treiben konnte.</s>
  <s xml:id="echoid-s3700" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div135" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-289-01" xlink:href="fig-289-01a">
<caption xml:id="echoid-caption53" xml:space="preserve">Fig. 43. <lb/>Komet.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3701" xml:space="preserve">Nach den neueren Forſchungen iſt es durchaus wahr-<lb/>ſcheinlich, daß die Kometen aus Haufen kleiner Himmels-<lb/>körperchen zuſammengeſetzt ſind, die ſich in beſtimmten Bahnen <lb/>um die Sonne bewegen und durch die Anziehung der Sonne <lb/>und der Planeten, denen ſie nahe kommen, noch mehr zerſtreut <lb/>und aufgelöſt werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3702" xml:space="preserve">Ausführliches über dieſe Entdeckungen
<pb o="86" file="290" n="290"/>
werden wir dem Leſer im zwanzigſten Teile unſerer Volks-<lb/>bücher mitteilen, jetzt wollen wir nur drei Erſcheinungen an-<lb/>führen, die wirklich die Möglichkeit teils einer Auflöſung von <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-290-01a" xlink:href="fig-290-01"/>
Himmelskörpern, teils einer Veränderung ihres ganzen Weſens <lb/>wahrſcheinlich machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3703" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div136" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-290-01" xlink:href="fig-290-01a">
<caption xml:id="echoid-caption54" xml:space="preserve">Fig. 44. <lb/>Schweifbildung eines Kometen.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3704" xml:space="preserve">Die eine dieſer Thatſachen iſt, daß ein Komet, deſſen
<pb o="87" file="291" n="291"/>
Bahn der frühere Direktor der Berliner Sternwarte, Encke <lb/>(1791—1865), berechnet hat und der deshalb auch der Enckeſche <lb/>Komet genannt wird, erweislich mit jedem Umlauf um die <lb/>Sonne dieſer näher rückt, ſo daß ſeine Bahn eine Art Spirale <lb/>bildet, die endlich bis in die Sonne hineinführen muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s3705" xml:space="preserve">Der <lb/>Grund dieſer Erſcheinung ſei welcher er wolle, ſo ſteht jeden-<lb/>falls ſo viel feſt, daß dieſer Komet langſam ſeinem Untergange <lb/>entgegen geht, indem er dereinſt in die Sonne ſtürzen wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s3706" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3707" xml:space="preserve">Die zweite Thatſache iſt, daß im Jahre 1770 ein großer <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-291-01a" xlink:href="fig-291-01"/>
Komet dem Planeten Jupiter ſo nahe kam, daß die An-<lb/>ziehungskraft Jupiters den Kometen vollſtändig von ſeiner <lb/>Bahn ablenkte und ihm eine ganz andere Bahn gab, die er <lb/>bis dahin nicht hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s3708" xml:space="preserve">Nachdem der Komet in ſeiner neuen <lb/>Bahn zweimal um die Sonne gelaufen war, kam er dem <lb/>Jupiter wieder zu nahe und erlitt durch deſſen Anziehungs-<lb/>kraft wieder eine ſolche Ablenkung von der neuen Bahn, daß <lb/>er dieſe wiederum verlaſſen und fortan in einer ganz anderen <lb/>Bahn von ganz anderer Form die Sonne umkreiſen mußte. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3709" xml:space="preserve">Da aber dieſe Bahn eine ſo große Kurve bildet, daß der Komet
<pb o="88" file="292" n="292"/>
tauſende von Jahren braucht, um einmal ganz um die Sonne <lb/>herumzulaufen, ſo iſt er unſerem Blick jetzt vollſtändig ent-<lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-292-01a" xlink:href="fig-292-01"/>
ſchwunden; </s>
  <s xml:id="echoid-s3710" xml:space="preserve">die Aſtronomen nennen ihn “Lexell’s verlorenen <lb/>Kometen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3711" xml:space="preserve">”</s>
</p>
<div xml:id="echoid-div137" type="float" level="2" n="3">
<figure xlink:label="fig-291-01" xlink:href="fig-291-01a">
<caption xml:id="echoid-caption55" xml:space="preserve">Fig. 45. <lb/>Kerne (Köpfe) von Kometen.</caption>
</figure>
<figure xlink:label="fig-292-01" xlink:href="fig-292-01a">
<caption xml:id="echoid-caption56" xml:space="preserve">Fig. 46. <lb/>Der Komet vom Jahre 1843.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3712" xml:space="preserve">Die dritte Thatſache iſt höchſt wunderbarer Art und hat
<pb o="89" file="293" n="293"/>
ſich, man möchte ſagen, faſt unter den Augen der Aſtronomen <lb/>begeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3713" xml:space="preserve">Im Jahre 1845 war der 1826 entdeckte Bielaſche <lb/>Komet, der immer in circa ſechs Jahren einmal um die Sonne <lb/>läuft, ſichtbar. </s>
  <s xml:id="echoid-s3714" xml:space="preserve">Der amerikaniſche Aſtronom Maury in</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3715" xml:space="preserve">Waſhington machte <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-293-01a" xlink:href="fig-293-01"/>
nun am 29. </s>
  <s xml:id="echoid-s3716" xml:space="preserve">Dezember <lb/>1845 plötzlich die Ent-<lb/>deckung, daß der Komet <lb/>dentlich zwei Kerne <lb/>zeige, daß dieſe ſich <lb/>von einander trennten <lb/>und alſo ans einem <lb/>Kometen ſich zwei Ko-<lb/>meten zu bilden ſchie-<lb/>nen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3717" xml:space="preserve">Anderweitige Be-<lb/>obachtungen, die bis <lb/>zum März 1846 fort-<lb/>geſetzt werden konnten, <lb/>beſtätigten nicht nur</s>
</p>
<div xml:id="echoid-div138" type="float" level="2" n="4">
<figure xlink:label="fig-293-01" xlink:href="fig-293-01a">
<caption xml:id="echoid-caption57" xml:space="preserve">Fig. 47.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3718" xml:space="preserve">die Wahrnehmung, <lb/>ſondern ergaben ganz</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3719" xml:space="preserve">unzweifelhaft, daß <lb/>wirklich eine Teilung <lb/>eines Himmelskörpers <lb/>dort ſtattfinde. </s>
  <s xml:id="echoid-s3720" xml:space="preserve">Mit <lb/>der größten Spannung <lb/>harrten die Beobachter <lb/>auf das Jahr 1852, wo <lb/>dieſes Naturwunder wieder ſichtbar ſein ſollte. </s>
  <s xml:id="echoid-s3721" xml:space="preserve">Allein man <lb/>wußte, daß die Stellung des Kometen für dieſes Mal der <lb/>Beobachtung ſehr ungünſtig ſein würde und mußte es der an-<lb/>geſtrengteſten Sorgfalt überlaſſen, hier noch Beobachtungen <lb/>anzuſtellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3722" xml:space="preserve">Nur auf zwei Sternwarten, zu Rom und zu
<pb o="90" file="294" n="294"/>
Pulkowa, gelang es, des Kometen in der Morgendämmerung <lb/>anſichtig zu werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s3723" xml:space="preserve">aber dieſe Beobachtungen genügten, um <lb/>zu beweiſen, daß die Teilung in der Zwiſchenzeit weiter vor <lb/>ſich gegangen und wirklich ein Kometenpaar ſtatt eines ein-<lb/>zelnen nunmehr die Rundreiſe um die Sonne macht.</s>
  <s xml:id="echoid-s3724" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3725" xml:space="preserve">Ja, die Teilung des Kometen machte noch weitere Fort-<lb/>ſchritte, denn nach dem Jahre 1852 gelang es nicht mehr, den <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-294-01a" xlink:href="fig-294-01"/>
Kometen bei ſeiner noch mehrfach ernenten Wiederkehr auſzu-<lb/>finden, trotzdem man ganz genau wußte, wo und wann man <lb/>ihn jederzeit zu ſuchen hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s3726" xml:space="preserve">Dafür aber bereitete er den <lb/>Aſtronomen und nicht minder allen anderen Menſchenkindern <lb/>einen Überraſchung allermerkwürdigſter Art. </s>
  <s xml:id="echoid-s3727" xml:space="preserve">Am 27. </s>
  <s xml:id="echoid-s3728" xml:space="preserve">No-<lb/>vember 1872 nämlich fand auf der ganzen Erde ein allge-<lb/>meiner, ſtundenlanger Sternſchnuppenfall von einer Pracht <lb/>und Schönheit ſtatt, wie er zu den größten Seltenheiten gehört.</s>
  <s xml:id="echoid-s3729" xml:space="preserve">
<pb o="91" file="295" n="295"/>
Dasſelbe Schauſpiel wiederholte ſich am gleichen Tage des <lb/>Jahres 1885. </s>
  <s xml:id="echoid-s3730" xml:space="preserve">Die anfangs ſehr überraſchten Aſtronomen <lb/>hatten aber bald den Grund dieſes Naturwunders erkannt, und <lb/>heut wiſſen wir ganz genau, daß alle jene Sternſchnuppen <lb/>(Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3731" xml:space="preserve">48) und Meteore nur winzig kleine Bruchteile des einſtigen <lb/>Bielaſchen Kometen waren, die auf ihrer Bahn um die Sonne <lb/>mit der Erde in Kolliſion gerieten, ſich durch die Reibung in <lb/>unſerer Atmoſphäre zur Feuerglut erhitzten und nun als prächtige <lb/>Meteore und Sternſchnuppen in der Atmoſphäre verbrannten. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3732" xml:space="preserve">Das ſeit Jahrhunderten gefürchtete Unglück, der Zuſammenſtoß <lb/>der Erde mit einem Kometen, hatte ſich alſo wirklich ereignet <lb/>— und hatte ſich, wie man nachher merkte, ſchon unzählige <lb/>Male zuvor ereiguet — hatte aber nicht den vermuteten Welt-<lb/>untergang, ſondern nur ein wunderbares Naturſchauſpiel zur <lb/>Folge, eins der ſchönſten und erhabenſten, die man erleben <lb/>konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s3733" xml:space="preserve">Wir können unſeren Leſern die erfreuliche Mitteilung <lb/>machen, daß wir ſchon in alleruächſter Zeit, am 27. </s>
  <s xml:id="echoid-s3734" xml:space="preserve">November <lb/>1898, wieder mit dem Bielaſchen Kometen und am 13. </s>
  <s xml:id="echoid-s3735" xml:space="preserve">No-<lb/>vember 1899 mit einem noch größeren, dem Enckeſchen Kometen, <lb/>zuſammenſtoßen werden, und wir wollen wünſchen, daß es <lb/>uns vergönnt ſein möge, das herrliche Schauſpiel dieſer Zu-<lb/>ſammenſtöße bei recht klarem Himmel in vollſter Schönheit <lb/>bewunderu zu können.</s>
  <s xml:id="echoid-s3736" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div139" type="float" level="2" n="5">
<figure xlink:label="fig-294-01" xlink:href="fig-294-01a">
<caption xml:id="echoid-caption58" xml:space="preserve">Fig. 48. <lb/>Sternſchnuppenfall.</caption>
</figure>
</div>
</div>
<div xml:id="echoid-div141" type="section" level="1" n="96">
<head xml:id="echoid-head109" xml:space="preserve"><emph style="bf">XX. Das Entſtehen und Vergehen der Fixſterne.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3737" xml:space="preserve">Das Entſtehen und Vergehen von Himmelskörpern hat <lb/>man durch Beiſpiele auch aus der unendlichen Zahl der Fix-<lb/>ſterne ſchon mit noch günſtigerem Erfolge zu beweiſen geſucht.</s>
  <s xml:id="echoid-s3738" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3739" xml:space="preserve">Freilich ſenden die Fixſterne nur ihr Licht zu uns, ohne <lb/>ſonſt über ihre Natur und ihr Daſein etwas zu verraten. </s>
  <s xml:id="echoid-s3740" xml:space="preserve">Es <lb/>iſt ſehr leicht möglich, daß ein Fixſtern nur für unſer Auge
<pb o="92" file="296" n="296"/>
verſchwindet, wenn er aufhört, Licht auszuſtrömen, ohne daß <lb/>er wirklich aufhört zu exiſtieren, ohne daß er ſich auflöſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3741" xml:space="preserve">Man <lb/>hat ſogar in neuerer Zeit ſicher nachgewieſen, daß es dunkle <lb/>Himmelskörper giebt, die wir niemals ſehen, und es iſt auch <lb/>nicht zweifelhaft, daß ein Fixſtern aus dem leuchtenden Zu-<lb/>ſtande allmählich in einen nicht leuchtenden übergeht, ohne des-<lb/>halb wirklich ſeinen Untergang dadurch zu finden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3742" xml:space="preserve">— Indeſſen <lb/>ſind Beiſpiele derart immerhin ein Beweis einer außerordent-<lb/>lichen Veränderlichkeit in der Natur einzelner Himmelskörper.</s>
  <s xml:id="echoid-s3743" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3744" xml:space="preserve">Am Abend des 11. </s>
  <s xml:id="echoid-s3745" xml:space="preserve">November 1572 wurde <emph style="sp">Tycho Brahe</emph> <lb/>(1546—1601) durch einen Volksauflauf in Prag darauf auf-<lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-296-01a" xlink:href="fig-296-01"/>
merkſam gemacht, daß am Himmel ein nie geſehener, ſehr hell-<lb/>leuchtender Stern erſchienen ſei. </s>
  <s xml:id="echoid-s3746" xml:space="preserve">In der That war dem ſo. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3747" xml:space="preserve">Das Licht dieſes Sternes, der in dem allbekannten, W-förmigen <lb/>Sternbild der Caſſiopeja (in Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3748" xml:space="preserve">49 rechts) ſtand, übertraf <lb/>alle anderen Sterne und war ſelbſt glänzender als das der <lb/>Venus. </s>
  <s xml:id="echoid-s3749" xml:space="preserve">Man konnte ihn, da er heller wurde, endlich am <lb/>Tage und Nachts ſelbſt bei leicht bewölktem Himmel ſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3750" xml:space="preserve"><lb/>Der Stern blieb an ſeiner Stelle und war volle zwei Jahre <lb/>ſichtbar, aber ſchon im Jahre 1573 nahm ſein Licht allmählich <lb/>ab, und er verſchwand endlich im Jahre 1574 vollſtändig und <lb/>iſt niemals wieder, ſelbſt nicht durch die ſtärkſten Fernröhre, <lb/>geſehen worden.</s>
  <s xml:id="echoid-s3751" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div141" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-296-01" xlink:href="fig-296-01a">
<caption xml:id="echoid-caption59" xml:space="preserve">Fig. 49.</caption>
</figure>
</div>
<pb o="93" file="297" n="297"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3752" xml:space="preserve">Dieſem außerordentlichen, einzig daſtehenden Falle reiht <lb/>ſich eine ſehr große Zahl anderer von minderer Auffälligkeit <lb/>an, wo Sterne nach und nach an Licht zunahmen und dann <lb/>wieder ihren Glanz verloren und teils gar nicht mehr, teils <lb/>nur als unbedeutende, ſchwache Sterne geſehen wurden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3753" xml:space="preserve">Ein <lb/>Stern dieſer Art muß es auch geweſen ſein, der zur Zeit von <lb/>Chriſti Geburt die Welt in Staunen ſetzte und deſſen Er-<lb/>ſcheinen in die Sage von den drei Weiſen aus dem Morgen-<lb/>lande verwebt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3754" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3755" xml:space="preserve">Solche Thatſachen laſſen freilich auf großartige, vor <lb/>unſern Augen vorgehende, ungeheure Veränderungen im Daſein <lb/>der Himmelskörper ſchließen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3756" xml:space="preserve">Bei vielen Erſcheinungen dieſer <lb/>Art hat man Grund zu vermuten, daß dieſes Hellwerden und <lb/>Verdunkeln der Sterne von Zeit zu Zeit in ganz beſtimmten <lb/>Perioden wiederkehrt, und Urſachen hat, welche in der Natur <lb/>dieſes Sternes begründet ſind, ohne daß er ſelber in ſeinem <lb/>Daſein irgendwie neugeſchaffen oder vernichtet wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s3757" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3758" xml:space="preserve">Man hat nämlich in neuerer Zeit eine große Reihe von <lb/>Fixſternen gefunden, die zu beſtimmter Zeit heller zu leuchten <lb/>anfangen, ihren höchſten Glanz ſodann erreichen und wieder <lb/>nach beſtimmter — oft ſehr kurzer — Zeit an Glanz abnehmen, <lb/>um wiederum nach Verlauf einer gewiſſen Periode an Glanz <lb/>zuzunehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3759" xml:space="preserve">Der bekannteſte dieſer Sterne iſt der Stern <lb/>Algol im Schwan. </s>
  <s xml:id="echoid-s3760" xml:space="preserve">Die Lichtveränderung dieſer Sterne iſt <lb/>alſo periodiſch und die Erſcheinungen kehren an ihnen zu <lb/>genau beſtimmter Zeit regelmäßig wieder. </s>
  <s xml:id="echoid-s3761" xml:space="preserve">Dieſe Erſcheinung <lb/>läßt ſich leicht dadurch erklären, daß der betreffende Stern von <lb/>einem anderen dunkeln Himmelskörper, vielleicht einem großen <lb/>Planeten, umkreiſt wird, der von Zeit zu Zeit vor den anderen <lb/>Stern tritt und ſo einen Teil ſeines Lichtes auffängt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3762" xml:space="preserve">Bei <lb/>anderen Sternen, die nur einem einmaligen, dafür aber deſto <lb/>intenſiveren Lichtwechſel unterlegen ſind, vor allem auch bei <lb/>dem Braheſchen Stern, hat man aber vollen Grund zu der
<pb o="94" file="298" n="298"/>
Annahme, daß ihr Aufflammen bedingt wurde durch den <lb/>Zuſammenſtoß zweier großer Himmelskörper, wodurch eine <lb/>ungeheure Gluthitze entſtehen und alles vielleicht vorhandene <lb/>organiſche Leben auf den Sternen in einer Minute vernichtet <lb/>werden mußte. </s>
  <s xml:id="echoid-s3763" xml:space="preserve">So geben uns alſo dieſe neu aufleuchtenden <lb/>Sterne Kunde von Kataſtrophen im Univerſum, welche ſich <lb/>ſchon vor Hunderten von Jahren ereigneten und ungeheurer <lb/>waren, als der menſchliche Geiſt ſie ſich auszudenken vermag.</s>
  <s xml:id="echoid-s3764" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3765" xml:space="preserve">Wir können uns aber zur Erörterung unſerer Frage, ob <lb/>am Himmel ſich Spuren des Entſtehens und Vergehens von <lb/>Himmelskörpern zeigen, auch noch zu andern Körpern unter <lb/>den Fixſternen wenden.</s>
  <s xml:id="echoid-s3766" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div143" type="section" level="1" n="97">
<head xml:id="echoid-head110" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXI. Nebelflecke.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3767" xml:space="preserve">Unter den Fixſternen ſieht man Himmelskörper, die ſchon <lb/>dem bloßen Auge nicht wie helleuchtende Sterne, ſondern wie <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-298-01a" xlink:href="fig-298-01"/>
in einem matten Schimmer glänzend erſcheinen, ſo daß man ſie <lb/>eher helle Flecke als wirkliche Sterne nennen mag (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3768" xml:space="preserve">50—52). <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3769" xml:space="preserve">In der That werden ſie “Nebelflecke” genannt, und ſie bieten
<pb o="95" file="299" n="299"/>
dem Auge oft einen prachtvollen Anblick, wenn man ſie in <lb/>ſtarker Vergrößerung ſieht.</s>
  <s xml:id="echoid-s3770" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div143" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-298-01" xlink:href="fig-298-01a">
<caption xml:id="echoid-caption60" xml:space="preserve">Fig. 50. <lb/>Einfachſte Formen der Nebelflecke. (Letzte Stadien der Verdichtung.)</caption>
</figure>
</div>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption61" xml:space="preserve">Fig. 51. <lb/>Einfachſte Form der Nebelflecke. (Letzte Stadien der Verdichtung.)</caption>
</figure>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3771" xml:space="preserve">Obwohl nun ein großer Teil dieſer Nebelflecke, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3772" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s3773" xml:space="preserve">das <lb/>berühmte Sternbild der Plejaden, bei ſtarker Vergrößerung
<pb o="96" file="300" n="300"/>
ſich als Sternenhaufen zu erkennen giebt, das heißt als An-<lb/>häufung einer ungeheuer großen Anzahl von Sternen (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3774" xml:space="preserve">53), <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-300-01a" xlink:href="fig-300-01"/>
die man durch Fern-<lb/>röhre als von ein-<lb/>ander geſondert er-<lb/>kennt, hat man den-<lb/>noch ähnliche Nebel-<lb/>flecke, die ſelbſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3775" xml:space="preserve">bei <lb/>den ſtärkſten Ver-<lb/>größerungen nicht <lb/>als Sternenhaufen <lb/>erſchienen ſind, ſon-<lb/>dern ihr nebliges <lb/>Anſehen behielten, <lb/>für wirkliche Nebel-<lb/>maſſen erklärt und <lb/>in dieſen Nebeln den <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-300-02a" xlink:href="fig-300-02"/>
<pb o="97" file="301" n="301"/>
Urſtoff werdender Welten erblickt, ſo daß wir im Himmels-<lb/>raum wirklich imſtande wären, die Weltbildung in ihren ver-<lb/>ſchiedenſten Stadien zu belauſchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3776" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div144" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-300-01" xlink:href="fig-300-01a">
<caption xml:id="echoid-caption62" xml:space="preserve">Fig. 52. Einfachſte Form der Nebelflecke. <lb/>(Vor dem letzten Stadium der Verdichtung.)</caption>
</figure>
<figure xlink:label="fig-300-02" xlink:href="fig-300-02a">
<caption xml:id="echoid-caption63" xml:space="preserve">Fig. 53. Sternenhaufen.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3777" xml:space="preserve">Schon längſt kannte man eine Reihe von Himmels-<lb/>erſcheinungen, bei denen die Annahme weltbildender Nebel <lb/>wohl berechtigt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3778" xml:space="preserve">Hierzu gehören die “planetariſchen Nebel”. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3779" xml:space="preserve">Es ſind dies Flecke, die in ſchwachem Schimmer leuchten und <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-301-01a" xlink:href="fig-301-01"/>
in den verſchiedenartigſten Formen vorkommen, indem ein Teil <lb/>von ihnen rund, ein Teil länglich, ſtreifenartig, und ein Teil <lb/>vollkommen unregelmäßig erſcheint (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3780" xml:space="preserve">50—52). </s>
  <s xml:id="echoid-s3781" xml:space="preserve">In dieſen <lb/>Gebilden zeigten ſich Verſchiedenheiten, die am einfachſten <lb/>als Verdichtungen der Nebelmaſſe aufgefaßt werden können. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3782" xml:space="preserve">Die runden Nebel laſſen nämlich deutlich eine hellere Mitte <lb/>(K in Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3783" xml:space="preserve">56, wo ſich zwei Kerne bilden) und einen dunk-<lb/>leren, verſchwommenen Rand erkennen, dort iſt alſo die</s>
</p>
<div xml:id="echoid-div145" type="float" level="2" n="3">
<figure xlink:label="fig-301-01" xlink:href="fig-301-01a">
<caption xml:id="echoid-caption64" xml:space="preserve">Fig. 54.<lb/>Spiraliſcher Nebel im Sternbild der “Jagdhunde”.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3784" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s3785" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s3786" xml:space="preserve">Volksbücher VIII.</s>
  <s xml:id="echoid-s3787" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="98" file="302" n="302"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3788" xml:space="preserve">Maſſe enger an einander getreten, hier noch loſer mit ein-<lb/>ander verbunden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3789" xml:space="preserve">Sie werden am ungezwungenſten als die <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-302-01a" xlink:href="fig-302-01"/>
erſten Epochen der Bildung eines Himmelskörpers aufgefaßt, <lb/>für deren weitere Entwickelung die Erſcheinungen der Fixſterne <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-302-02a" xlink:href="fig-302-02"/>
die ſicherſten Beweiſe liefern.</s>
  <s xml:id="echoid-s3790" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div146" type="float" level="2" n="4">
<figure xlink:label="fig-302-01" xlink:href="fig-302-01a">
<caption xml:id="echoid-caption65" xml:space="preserve">Fig. 55. <lb/>Nebelflecke, aus denen ſich zwei Himmelskörper bilden. <lb/>(Siehe auch im Nebel in den “Jagdhunden” Fig. 54 den Körper links.)</caption>
</figure>
<figure xlink:label="fig-302-02" xlink:href="fig-302-02a">
<caption xml:id="echoid-caption66" xml:space="preserve">Fig. 56.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables8" xml:space="preserve">a k c m β K d f b g</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3791" xml:space="preserve">Wir finden ſomit in den <lb/>unendlichen Himmelsräumen <lb/>und ſeinen Millionen von <lb/>Welten Beiſpiele für die Ent-<lb/>wickelung von Himmelskörpern, <lb/>wie wir ſie in der Geſchichte <lb/>der Entſtehung der Erde, aus <lb/>der Betrachtung der Erde <lb/>ſelbſt und ihres Baues für <lb/>dieſe angenommen haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s3792" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="99" file="303" n="303"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3793" xml:space="preserve">Und hiermit wollen wir vorerſt unſer Thema beſchließen <lb/>und zu einem andern Gegenſtand der Naturwiſſenſchaft über-<lb/>gehen, in der Hoffnung, daß ſpätere Zeiten zuverläſſigere <lb/>Reſultate über das Weſen und das Leben der Erde geben <lb/>werden, als es bis jetzt der Fall iſt, wo ſich dieſer Zweig der <lb/>Wiſſenſchaft erſt noch im Beginn ſeiner Entſtehung befindet.</s>
  <s xml:id="echoid-s3794" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb file="304" n="304"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div148" type="section" level="1" n="98">
<head xml:id="echoid-head111" xml:space="preserve"><emph style="bf">Von der Umdrehung der Grde.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head112" xml:space="preserve"><emph style="bf">I. Die Uhr.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3795" xml:space="preserve">Unzählige Leute haben eine Uhr in der Taſche oder an <lb/>der Wand oder über dem Sopha oder auf dem Nipptiſch <lb/>oder gar an allen Orten zugleich, und wiſſen trotz alledem <lb/>nicht, was ſie da eigentlich beſitzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3796" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3797" xml:space="preserve">Wie wenige ahnen was davon, daß ſie an der Uhr nichts <lb/>anderes als einen halben Himmelglobus haben! Da zieht <lb/>jemand die Uhr aus der Taſche und ruft aus: </s>
  <s xml:id="echoid-s3798" xml:space="preserve">“Ei, es iſt <lb/>ſchon Mittag!” — Was hat er denn im Grunde genommen <lb/>damit geſagt? </s>
  <s xml:id="echoid-s3799" xml:space="preserve">Etwa daß er Appetit hat zum Mittagbrot? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3800" xml:space="preserve">Da hätte er beſſer ſeinen Magen ſtatt ſeine Uhr danach fragen <lb/>können. </s>
  <s xml:id="echoid-s3801" xml:space="preserve">Er hat in Wahrheit nichts damit geſagt, als was er <lb/>vielleicht gar nicht entfernt im Sinne hatte, oder was er gar <lb/>nicht einmal verſteht, wenn man es ihm ſagt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3802" xml:space="preserve">Er hat nichts <lb/>damit geſagt, als: </s>
  <s xml:id="echoid-s3803" xml:space="preserve">Ei, die Sonne hat für heute den höchſten <lb/>Punkt am Himmel ſchon überſchritten!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3804" xml:space="preserve">Bequemer kann man es wirklich dem Menſchen nicht mehr <lb/>machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3805" xml:space="preserve">Er hat im eigentlichſten Sinne des Wortes ein Stück <lb/>Himmel und Sonne und Erde in der Weſtentaſche, und er <lb/>braucht nur einen Blick auf das Ding zu werfen, das man <lb/>Uhr nennt, um ſich über andere hohe und wichtige Dinge zu <lb/>unterrichten. </s>
  <s xml:id="echoid-s3806" xml:space="preserve">Ja, Vielen iſt dies noch nicht einmal bequem <lb/>genug. </s>
  <s xml:id="echoid-s3807" xml:space="preserve">Sie halten ſich Repetir-Uhren, und wenn ſo eine Uhr <lb/>beſcheiden ſich ſelber Schläge verſetzt, ſo ſagt ſie damit eigentlich
<pb o="101" file="305" n="305"/>
nichts als: </s>
  <s xml:id="echoid-s3808" xml:space="preserve">Entſchuldigen Sie, mein Herr, ich ſchlage mich nur, <lb/>um Ihnen unterthänigſt anzuzeigen, wo ſich draußen am Himmel <lb/>die Sonne in dieſem Augenblick befindet.</s>
  <s xml:id="echoid-s3809" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3810" xml:space="preserve">Allein das geht einmal ſo. </s>
  <s xml:id="echoid-s3811" xml:space="preserve">Wenn wir die Dinge recht <lb/>bequem haben, denken wir gar nicht mehr daran, was wir an <lb/>ihnen haben!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3812" xml:space="preserve">Als die alten Griechen ſich nicht anders Feuer zu ver-<lb/>ſchaffen wußten wie durch unendliche Mühen und es ſich er-<lb/>halten mußten durch fortglimmende Kohlen, zündeten ſie heilige, <lb/>ewige Feuer in ihren Göttertempeln an und bildeten ſich eine <lb/>Fabel davon, daß ein menſchenfreundlicher Gott das Feuer <lb/>einmal vom Himmel geſtohlen habe, um es den unglücklichen <lb/>Menſchen zu bringen, worüber die anderen Götter ſo erboſt <lb/>wurden, daß ſie dieſen Volksfreund lebendig an einen Felſen <lb/>annagelten. </s>
  <s xml:id="echoid-s3813" xml:space="preserve">— Jetzt dagegen, wo wir uns von jedem vor-<lb/>übergehenden Fremden Feuer ausbitten können, benutzen wir <lb/>gedankenlos zahlloſe Zündhölzchen und ſind imſtande die <lb/>Bettelkinder, die zu ſtark an unſerer Klingel ziehen, um uns <lb/>Feuerzeug zum Verkauf anzubieten, wie eine Art Enkelkinder <lb/>jenes volksfreundlichen Märtyrers, wenn auch nicht an Felſen <lb/>anzuſchmieden, ſo doch mindeſtens die Treppe hinunter zu <lb/>komplimentieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s3814" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3815" xml:space="preserve">Aber wir wollten ja von Uhren ſprechen und es iſt wahr, <lb/>es verdient die Uhr mindeſtens gekannt zu werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3816" xml:space="preserve">Denn ſie <lb/>macht ihre Sache noch beſſer als der Himmel. </s>
  <s xml:id="echoid-s3817" xml:space="preserve">Dieſer zeigt <lb/>uns höchſtens am Tage und nur, wenn er nicht in übler Laune <lb/>ſich umwölkt hat, wo ſich die Sonne befindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s3818" xml:space="preserve">Die Uhr aber <lb/>kümmert ſich, wenn ſie gut iſt, ſo wenig um das Wetter, als <lb/>um das Licht, und wenn wir in heiterer Abendgeſellſchaft aus-<lb/>rufen: </s>
  <s xml:id="echoid-s3819" xml:space="preserve">“Mein Gott, es iſt ſchon zwölf Uhr,” ſo ſagen wir <lb/>damit nichts als: </s>
  <s xml:id="echoid-s3820" xml:space="preserve">Meine Uhr teilt mir eben mit: </s>
  <s xml:id="echoid-s3821" xml:space="preserve">die Sonne <lb/>befindet ſich gegenwärtig am tiefſten Punkt unter unſerem <lb/>Horizont und es wird nun noch ſo lange dauern, ehe ſie
<pb o="102" file="306" n="306"/>
wieder über unſeren Horizont kommt, als von Sonnenuntergang <lb/>bis jetzt Zeit verfloſſen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3822" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3823" xml:space="preserve">Die Uhr iſt alſo in Wirklichkeit ein aſtronomiſches In-<lb/>ſtrument, und wenn wir im bürgerlichen Leben nicht gut ohne <lb/>Uhr mehr fertig werden können, ſo iſt es eigentlich wahr, daß <lb/>wir ohne Aſtronomie nicht fertig würden.</s>
  <s xml:id="echoid-s3824" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3825" xml:space="preserve">Darum ſollten wir etwas mehr Reſpekt vor den Uhren <lb/>haben und noch mehr vor der Aſtronomie, denn ſie iſt wahr <lb/>und wahrhaftig der Stolz der menſchlichen Wiſſenſchaft, und <lb/>ohne ſie tappten wir in geiſtiger und ſinnlicher Finſternis <lb/>herum.</s>
  <s xml:id="echoid-s3826" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3827" xml:space="preserve">Die Uhr iſt ein Zeit-Meſſer. </s>
  <s xml:id="echoid-s3828" xml:space="preserve">Da man jedoch Zeit nicht <lb/>meſſen kann nach der Elle, ſo mißt man ſie an gleichmäßigen <lb/>Bewegungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3829" xml:space="preserve">Daher iſt eine Uhr nur gut, wenn ſie ſich be-<lb/>wegt, das heißt, wenn ſie geht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3830" xml:space="preserve">Da man es aber einer Uhr <lb/>nicht immer anſehen kann, ob ſie geht, ſo hat ſie noch eine <lb/>ganz beſondere tröſtliche Sprache erlernt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3831" xml:space="preserve">Sie ſagt, ſo oft <lb/>wir’s hören wollen, ihr Tick-tack her, das heißt in der Uhr-<lb/>Sprache ſo viel als: </s>
  <s xml:id="echoid-s3832" xml:space="preserve">“Sei unbeſorgt, ich bin im beſten Gange.</s>
  <s xml:id="echoid-s3833" xml:space="preserve">” <lb/>Und wirklich, wer auf ihr Tick-tack gut eingeübt iſt, der hört’s <lb/>an dieſer Sprache ſo gut ab, wie ſich die Uhr befindet, wie <lb/>man es einem Menſchen an der Sprache abhört, ob er ſich <lb/>wohl fühlt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3834" xml:space="preserve">Das Tick-tack iſt eine Art Puls der Uhr.</s>
  <s xml:id="echoid-s3835" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3836" xml:space="preserve">Die Uhr iſt in Wahrheit ein Abbild des Sonnenlaufes <lb/>oder richtiger der Umdrehung der Erde um ihre Axe. </s>
  <s xml:id="echoid-s3837" xml:space="preserve">Es <lb/>findet nur der eine Unterſchied ſtatt, daß die bürgerlichen <lb/>Uhren gewöhnlich ſo eingerichtet ſind, daß ſie zweimal ihren <lb/>Umlauf vollenden, während die Erde einen Umlauf macht.</s>
  <s xml:id="echoid-s3838" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3839" xml:space="preserve">Man hat nämlich ſchon vor ſehr alten Zeiten den vollen <lb/>Tag, das heißt z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3840" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s3841" xml:space="preserve">die Zeit von einem Mittag zum andern <lb/>in vier und zwanzig Teile eingeteilt, die man Stunden nennt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3842" xml:space="preserve">Man ſagt daher mit Recht: </s>
  <s xml:id="echoid-s3843" xml:space="preserve">die Erde dreht ſich in 24 Stunden <lb/>einmal um die Axe; </s>
  <s xml:id="echoid-s3844" xml:space="preserve">die bürgerlichen Uhren haben aber ein
<pb o="103" file="307" n="307"/>
Zifferblatt, worauf nur 12 Stunden verzeichnet ſind, und ſie <lb/>ſind innerlich ſo eingerichtet, daß der Stundenzeiger zweimal <lb/>in 24 Stunden ſeinen Umlauf vollendet.</s>
  <s xml:id="echoid-s3845" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3846" xml:space="preserve">Die Erde macht ihre Umdrehung in jedem Tage voll-<lb/>kommen gleichmäßig, und es iſt eine Thatſache, die durch die <lb/>Wiſſenſchaft begründet iſt, daß ſie ſich ſeit Jahrtauſenden nicht <lb/>merklich ſchneller oder langſamer um ihre Axe gedreht hat. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3847" xml:space="preserve">Wenn daher jeder Punkt auf der Erde einen Kreis in <lb/>24 Stunden beſchreibt, ſo geſchieht es ſo, daß in jeder Se-<lb/>kunde ein gleich großes Stück dieſes Kreiſes durchlaufen wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3848" xml:space="preserve"><lb/>Das heißt, die Erde geht gleichmäßig.</s>
  <s xml:id="echoid-s3849" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3850" xml:space="preserve">Eine Uhr muß daher auch, wenn ſie gut ſein ſoll, gleich-<lb/>mäßig gehen, das heißt, ſie darf nicht eine Stunde ſchneller <lb/>gehen als die andere.</s>
  <s xml:id="echoid-s3851" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3852" xml:space="preserve">Wie aber wird ſolch ein Werk in Gang gebracht und ſo <lb/>zur Gleichmäßigkeit geregelt?</s>
  <s xml:id="echoid-s3853" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3854" xml:space="preserve">Wenn wir das wiſſen wollen, müſſen wir in das Innere <lb/>einer Uhr hineinblicken. </s>
  <s xml:id="echoid-s3855" xml:space="preserve">Wir wollen uns deshalb zuerſt eine <lb/>Wanduhr, die durch ein Gewicht in Gang gehalten, und dann <lb/>eine Taſchenuhr, die durch eine Federkraft getrieben wird, an-<lb/>ſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3856" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3857" xml:space="preserve">Wie man durch ein Gewicht ein Räderwerk in Gang <lb/>bringen kann, iſt ſehr leicht einzuſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3858" xml:space="preserve">Man legt eine <lb/>Schnur um die Axe eines aufgehängten Rades und hängt <lb/>an das eine Ende der Schnur ein ſchweres Gewicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3859" xml:space="preserve">Die <lb/>Erde, die das Gewicht anzieht, zieht die Schnur, und wenn <lb/>die Axe nicht ſo glatt iſt, daß die Schnur abrutſcht, ſo wird <lb/>ein Zug nach einer Seite der Axe ausgeübt, wodurch das <lb/>Rad in Drehung verſetzt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3860" xml:space="preserve">Iſt nun das Rad mit anderen <lb/>Rädern ſo in Verbindung geſetzt, daß es ein ganzes Uhrwerk <lb/>treibt, ſo iſt leicht einzuſehen, daß man auch Zeiger in Be-<lb/>wegung ſetzen kann, die man an den verlängerten Axen der <lb/>Räder anbringt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3861" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="104" file="308" n="308"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3862" xml:space="preserve">Allein hierdurch wird man nur auf kurze Zeit eine Dre-<lb/>hung der Räder und einen Umlauf der Zeiger bewirken können; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3863" xml:space="preserve">zu einem regelmäßigen, andauernden Gang iſt noch viel <lb/>anderes nötig.</s>
  <s xml:id="echoid-s3864" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3865" xml:space="preserve">Es iſt ſchon an ſich ſinnreich, wenn der Menſch die Kraft <lb/>der Erde, die Anziehungskraft, benutzt, um eine Bewegung <lb/>hervorzubringen; </s>
  <s xml:id="echoid-s3866" xml:space="preserve">doch dies allein wird nicht viel helfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3867" xml:space="preserve">Eine <lb/>Uhr, nur durch ein Gewicht in Bewegung geſetzt, wird kaum <lb/>zehn Minuten in Gang bleiben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3868" xml:space="preserve">Das Gewicht wird auch das <lb/>Räderwerk in immer ſchnelleren Gang hineinbringen, und es <lb/>wird ſelbſt für eine ſo kurze Zeit ein ſchlechter Zeitmeſſer ſein, <lb/>da der Gang nicht gleichmäßig iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3869" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3870" xml:space="preserve">Es hat daher noch eine zweite Verwendung der Erdkraft <lb/>benutzt werden müſſen, um die Wirkung der erſten Kraft zu <lb/>hemmen und außerdem zu regeln; </s>
  <s xml:id="echoid-s3871" xml:space="preserve">und um dies zu thun, iſt <lb/>ein Inſtrument erfunden worden, das eben ſo ſinnreich und <lb/>wichtig, wie auch einfach iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3872" xml:space="preserve">Dies Inſtrument iſt das Pendel.</s>
  <s xml:id="echoid-s3873" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div149" type="section" level="1" n="99">
<head xml:id="echoid-head113" xml:space="preserve"><emph style="bf">II. Das Pendel.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3874" xml:space="preserve">Ein Pendel iſt ein ungemein einfaches Inſtrument; </s>
  <s xml:id="echoid-s3875" xml:space="preserve">aber <lb/>ſo einfach es iſt, ſo ſinnreich wird es benutzt und ſo wichtige <lb/>Dienſte hat es bereits der Menſchheit geleiſtet. </s>
  <s xml:id="echoid-s3876" xml:space="preserve">Ein Pendel <lb/>kann man ſich am leichteſten anfertigen, wenn man einen Faden <lb/>an einem Ende aufhängt und am anderen Ende mit einem be-<lb/>liebigen Gewicht belaſtet (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3877" xml:space="preserve">57). </s>
  <s xml:id="echoid-s3878" xml:space="preserve">Schon ſolch’ ein Inſtrument, <lb/>das nur wie zum Kinderſpiel eingerichtet erſcheint, iſt imſtande, <lb/>den ſinnenden Menſchen die wichtigſten Dinge zu zeigen und <lb/>zu lehren. </s>
  <s xml:id="echoid-s3879" xml:space="preserve">Wenn nämlich Faden und Gewicht ruhig hängen, <lb/>ohne ſich hin und her zu bewegen, ſo wird durch die An-<lb/>ziehungskraft der Erde der Faden eine Linie bilden, die genau <lb/>nach dem Mittelpunkt der Erde gerichtet iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3880" xml:space="preserve">Durch nichts in
<pb o="105" file="309" n="309"/>
der Welt würden wir die Lage dieſes Mittelpunktes oder rich-<lb/>tiger des Schwerpunktes der Erde mit gleicher Sicherheit er-<lb/>mitteln können, als mit ſolchem Faden und Gewicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3881" xml:space="preserve">Bringen <lb/>wir es aber auch nur ein wenig aus ſeiner Ruhe, das heißt, <lb/>lenkt man das Gewicht mit dem Faden nach rechts oder links <lb/>hin ab, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3882" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s3883" xml:space="preserve">an unſerer Figur nach 1, und überläßt es dann <lb/>ſich ſelbſt, ſo gerät es bekanntlich in Schwingungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3884" xml:space="preserve">Es läuft <lb/>zuerſt, von der Erde angezogen, zurück nach ſeiner Ruhelage@ <lb/>nach 2; </s>
  <s xml:id="echoid-s3885" xml:space="preserve">allein hier angelangt, kann <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-309-01a" xlink:href="fig-309-01"/>
es nicht inne halten und läuft auf der <lb/>entgegengeſetzten Seite weiter (Geſetz <lb/>der Trägheit). </s>
  <s xml:id="echoid-s3886" xml:space="preserve">Auf dieſem Wege <lb/>nach 3, wo es ſich von der Erde ent-<lb/>fernt, wird es in jedem Augenblick in <lb/>ſeinem Lauf geſtört durch die An-<lb/>ziehung der Erde, bis, endlich in 3 <lb/>angelangt, es im Lauf inne hält. </s>
  <s xml:id="echoid-s3887" xml:space="preserve">In <lb/>dieſer Lage aber kann es auch nicht <lb/>ruhen, denn es wird von der An-<lb/>ziehungskraft der Erde wieder nach 2 <lb/>hingezogen; </s>
  <s xml:id="echoid-s3888" xml:space="preserve">allein es gelangt wiederum <lb/>in 2 mit einer Geſchwindigkeit an, die <lb/>ihm nicht geſtattet inne zu halten, und es läuft wieder hin nach 1. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3889" xml:space="preserve">Das heißt, es ſchwingt hin und her, und es würde nie, nicht <lb/>in Tauſenden von Jahren aufhören, ganz ſo hin und her zu <lb/>ſchwingen, wenn es nicht durch die Reibung an der Luft, durch <lb/>welche es ſich bewegt, wie durch die Reibung des Fadens oben <lb/>am Aufhängepunkt fortwährend in ſeiner Bewegungskraft ge-<lb/>ſchwächt würde. </s>
  <s xml:id="echoid-s3890" xml:space="preserve">Nur dieſes, nur die Reibung bewirkt nach <lb/>und nach eine immer ſchwächere Bewegung des Pendels, bis <lb/>es endlich ganz zur Ruhe kommt und wieder in 2 ſtille ſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s3891" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div149" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-309-01" xlink:href="fig-309-01a">
<caption xml:id="echoid-caption67" xml:space="preserve">Fig. 57. <lb/>Das Pendel.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables9" xml:space="preserve">1 3 2</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3892" xml:space="preserve">Wir können hier unmöglich die Wichtigkeit dieſes ſo ein-<lb/>fachen Inſtrumentes ausführlich erörtern; </s>
  <s xml:id="echoid-s3893" xml:space="preserve">wir wollen jedoch
<pb o="106" file="310" n="310"/>
nur einige weſentliche Punkte aufzählen, über welche das Pendel <lb/>die Menſchheit belehrt hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s3894" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3895" xml:space="preserve">Das Pendel belehrte die Menſchheit über die Natur der <lb/>Beharrlichkeit der Bewegung, ferner über die Natur des Falles, <lb/>ſodann über die Natur der Anziehungskraft der Erde, endlich <lb/>über die Abplattung der Erde an ihren Polen und außerdem <lb/>über noch unendlich viele Naturgeſetze. </s>
  <s xml:id="echoid-s3896" xml:space="preserve">Ja, erſt im Jahre <lb/>1850 hat eine ſinnreiche Anwendung der Pendelſchwingungen <lb/>den Pariſer Gelehrten <emph style="sp">Foucault</emph> auf den glücklichen Ge-<lb/>danken gebracht, die Umdrehung der Erde um ihre Axe durch <lb/>einen wirklichen Verſuch zu beweiſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3897" xml:space="preserve">So hat denn, nachdem <lb/>bereits vor vier Jahrhunderten Kopernicus lehrte, daß ſich die <lb/>Erde um ihre Achſe drehe, und nachdem unzählige Gelehrte <lb/>hierfür augenſcheinliche Beweiſe ſuchten, gerade das ſo einfache <lb/>Pendel dieſe Aufgabe vollſtändig erfüllt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3898" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3899" xml:space="preserve">Das Pendel aber iſt es auch, welches der Uhr ihre <lb/>Sicherheit als Zeitmeſſer giebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3900" xml:space="preserve">Was man auch bisher an <lb/>Feinheit und Fertigkeit in der Herſtellung der Taſchen-Uhren <lb/>für Fortſchritte gemacht hat, man hat nie und wird nie eine <lb/>beſſere Uhr als die Pendeluhr hervorbringen, weshalb denn <lb/>auch die Hauptuhren auf allen Sternwarten einzig und allein <lb/>Pendeluhren ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s3901" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3902" xml:space="preserve">Wir haben oben geſehen, daß es ein leichtes iſt, ein Trieb-<lb/>werk durch ein Gewicht in Bewegung zu ſetzen, allein dieſe <lb/>Bewegung dauernd zu machen und zu regulieren, und ſie als <lb/>Zeitmeſſer, als Uhr zu gebrauchen, dazu iſt das Pendel ver-<lb/>wendet worden.</s>
  <s xml:id="echoid-s3903" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3904" xml:space="preserve">Um zu zeigen, wie dieſes wirkt, bitten wir den Leſer den <lb/>Blick auf folgende Figur 58 zu richten.</s>
  <s xml:id="echoid-s3905" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3906" xml:space="preserve">Wir ſehen hier ein Rad, das in ſeiner Achſe drehbar, <lb/>und an welchem ein Faden mit einem Gewicht b derart be-<lb/>feſtigt iſt, daß es das Rad in eine Umdrehung verſetzen würde. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3907" xml:space="preserve">Allein wenn wir uns ſolch ein Rad in der Stube anbringen
<pb o="107" file="311" n="311"/>
würden, ſo würde es ſofort abgelaufen ſein, ſobald das Gewicht <lb/>den Fußboden der Stube erreicht, und das würde ſehr ſchnell <lb/>geſchehen, ſo daß das Rad keine zwei Minuten im Gange bliebe. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3908" xml:space="preserve">In Verbindung aber mit dem Pendel c ſtellt ſich die Sache <lb/>ganz anders heraus.</s>
  <s xml:id="echoid-s3909" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3910" xml:space="preserve">Das Pendel iſt nicht aus einem biegſamen Faden, ſondern <lb/>aus einer Stange von Stahl gebildet, an <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-311-01a" xlink:href="fig-311-01"/>
deſſen unterem Ende ein Gewicht ange-<lb/>bracht iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3911" xml:space="preserve">Oben aber über dem Rad in d, <lb/>wo das Pendel ſeinen Drehpunkt hat, iſt <lb/>eine Art Sattel e f angebracht, der auf <lb/>dem Rade gewiſſermaßen reitet.</s>
  <s xml:id="echoid-s3912" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div150" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-311-01" xlink:href="fig-311-01a">
<caption xml:id="echoid-caption68" xml:space="preserve">Fig. 58. <lb/>Schema einer Pendeluhr.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables10" xml:space="preserve">d f e a c b</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3913" xml:space="preserve">Dieſer Sattel und das Rad ſind zu <lb/>ihrem Zweck ganz beſonders eingerichtet.</s>
  <s xml:id="echoid-s3914" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3915" xml:space="preserve">Das Rad hat nicht wie die andern <lb/>Uhrräder einen Kranz gerader Zähne, <lb/>ſondern ſeine Zähne ſind, wie man in der <lb/>Zeichnung ſieht, ſchief geſtellt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3916" xml:space="preserve">In dieſe <lb/>ſchief gelegenen Zähne des Rades paſſen <lb/>nun die Ecken des Sattels ſo hinein, ſo daß <lb/>das Rad ſich nicht drehen kann, wenn das <lb/>Pendel ruhig herabhängt, ſobald es aber <lb/>nach der einen Seite ſchwingt, ſo hebt ſich <lb/>immer auch zugleich die Sattelſpitze auf <lb/>dieſer Seite; </s>
  <s xml:id="echoid-s3917" xml:space="preserve">wenn nun das Pendel den <lb/>höchſten Punkt ſeiner Schwingung erreicht hat und nach der <lb/>andern Seite zu ſchwingen beginnt, beginnt ſich auch die <lb/>andere Sattelſpitze zu heben, dadurch vermag das Rad dem <lb/>Zuge des Gewichtes ein wenig zu folgen, und es dreht ſich <lb/>ein klein wenig, ſo daß, wenn die erſte Sattelſpitze wieder in <lb/>das Rad eingreift, es nicht mehr zwiſchen dieſelben zwei Zähne <lb/>des Rades eingreifen kann, wo es früher eingriff, ſondern in <lb/>den nächſten Zwiſchenraum. </s>
  <s xml:id="echoid-s3918" xml:space="preserve">Hierdurch iſt das Gewicht im-
<pb o="108" file="312" n="312"/>
ſtande bei jeder vollen Schwingung des Pendels das Rad um <lb/>einen Zahn weiter zu drehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s3919" xml:space="preserve">aber auch nicht mehr als um <lb/>einen Zahn.</s>
  <s xml:id="echoid-s3920" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3921" xml:space="preserve">Es iſt gewiſſermaßen ſo, als ob das Pendel oben am Sattel <lb/>zwei Finger hätte, welche abwechſelnd das Rad berühren und <lb/>aufhalten, aber ihm zwiſchen einer und der andern Berührung <lb/>Zeit laſſen, ſich um ein Zahnrad weiter zu bewegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3922" xml:space="preserve">Wenn <lb/>man ſich die vorhergehende Zeichnung etwas lebhaft vorſtellt <lb/>und ſich dabei das Pendel in Bewegung denkt, ſo wird man <lb/>leicht einſehen, wie das Pendel den Lauf des Rades zeitweiſe <lb/>hemmt und wieder auf einen Moment frei läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3923" xml:space="preserve">Man wird <lb/>aber auch zugleich ſehen, daß das Rad in ſeinem Beſtreben <lb/>ſich zu drehen jedesmal, wenn das Pendel nach links ſo ſteht, <lb/>wie es in der Zeichnung zu ſehen iſt, die Sattelſpitze rechts <lb/>nach oben drückt und ihr alſo einen kleinen Schwung giebt, <lb/>der auf das Pendel wirkt und ſeine Schwingungen fördert.</s>
  <s xml:id="echoid-s3924" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3925" xml:space="preserve">Die Dienſte, die ſich Rad und Pendel leiſten, ſind daher <lb/>gegenſeitig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3926" xml:space="preserve">Das Pendel hemmt den zu ſchnellen Lauf des <lb/>Rades und zwingt es, ſich in der Zeit einer Schwingung nur <lb/>immer um einen Zahn weiter zu bewegen: </s>
  <s xml:id="echoid-s3927" xml:space="preserve">das Rad dagegen <lb/>verſetzt dem Pendel immer einen kleinen Stoß und macht, daß <lb/>die Reibung nicht die Schwingungen des Pendels aufhebe. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3928" xml:space="preserve">Das Rad unterhält alſo die fortwährende Pendelſchwingung.</s>
  <s xml:id="echoid-s3929" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3930" xml:space="preserve">Wir ſehen alſo, wie ein Pendel den Gang der Uhr ver-<lb/>langſamen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s3931" xml:space="preserve">Wenn eine Uhr nur hoch aufgehängt wird, <lb/>ſo kann man Schnur, Gewicht und Räder ſo einrichten, daß <lb/>man ſie beliebig nur alle Tage, alle acht oder alle vierzehn <lb/>Tage aufzuziehen braucht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3932" xml:space="preserve">Was nun aber die Regelmäßigkeit <lb/>des Ganges betrifft, ſo iſt nichts in der Welt geeigneter dieſe <lb/>herzuſtellen, als das Pendel.</s>
  <s xml:id="echoid-s3933" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3934" xml:space="preserve">Ein Pendel iſt nämlich darum ein ſo merkwürdiges In-<lb/>ſtrument, weil die Dauer ſeiner einmaligen Schwingung nicht <lb/>von dem Stoß abhängt, den man ihm verſetzt, ſondern von
<pb o="109" file="313" n="313"/>
der Länge des Fadens oder der Stange, von der es gebildet <lb/>wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3935" xml:space="preserve">Man kann einem Pendel einen ſtarken Stoß verſetzen, <lb/>ſo wird es einen großen Bogen in ſeiner Schwingung machen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3936" xml:space="preserve">man kann ihm einen ſehr ſchwachen Stoß verſetzen, und es <lb/>wird dann nur in einem kleinen Bogen ſchwingen; </s>
  <s xml:id="echoid-s3937" xml:space="preserve">aber ſieht <lb/>man genau, wie viel Zeit es braucht, um eine Schwingung zu <lb/>vollenden, ſo wird man finden, daß es zum großen wie zum <lb/>kleinen Bogen ganz gleiche Zeit braucht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3938" xml:space="preserve">Ein Pendel von <lb/>etwas über drei Fuß Länge ſchwingt in einer Stunde 3600 mal <lb/>hin und zurück, der Bogen mag groß oder klein ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s3939" xml:space="preserve">Das <lb/>heißt, ein Pendel braucht zur Vollendung einer Schwingung <lb/>genau ebenſoviel Zeit wie zur andern.</s>
  <s xml:id="echoid-s3940" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3941" xml:space="preserve">Da nun das Rad ſich bei jeder Schwingung nur um <lb/>einen Zahn weiter drehen kann, die Schwingung ſelbſt genau in <lb/>einer beſtimmten Zeit erfolgt, ſo wird hiernach die Drehung <lb/>des Rades ſehr regelmäßig und dadurch wird der Gang der <lb/>Uhr ein gleichmäßiger, und es gelingt bei guter Einrichtung <lb/>ihn ſo genau zu machen, daß es der beſte Zeitmeſſer wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s3942" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3943" xml:space="preserve">Freilich hört die Regelmäßigkeit des Ganges auf, ſobald <lb/>die Länge des Pendels ſich ändert. </s>
  <s xml:id="echoid-s3944" xml:space="preserve">Rechnung und Erfahrung <lb/>ſtimmen genau darin überein, daß, je kleiner ein Pendel iſt, <lb/>deſto ſchneller vollendet es ſeine Schwingung, je größer, deſto <lb/>langſamer macht es dieſelbe. </s>
  <s xml:id="echoid-s3945" xml:space="preserve">Da nun die Wärme die Eigen-<lb/>ſchaft hat, alle Gegenſtände auszudehnen, und die Kälte die <lb/>Eigenſchaft beſitzt, ſie zuſammenzuziehen, ſo dehnen ſich die <lb/>Pendel im Sommer aus, und die Uhren gehen daher langſamer, <lb/>im Winter ziehen ſich die Pendel zuſammen, werden kürzer <lb/>und gehen deshalb zu geſchwind. </s>
  <s xml:id="echoid-s3946" xml:space="preserve">Man hat daher eine ſinn-<lb/>reiche Vorrichtung getroffen, die dieſem Übelſtand abhilft. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3947" xml:space="preserve">Bei unſeren gewöhnlichen Wanduhren jedoch muß man in der <lb/>That das Gewicht am Pendel im Sommer ein wenig in die <lb/>Höhe und im Winter etwas nach unten ſchrauben, wodurch <lb/>man den Gang beliebig beſchleunigt oder verzögert.</s>
  <s xml:id="echoid-s3948" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="110" file="314" n="314"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3949" xml:space="preserve">Wie ſichs von ſelbſt verſteht, kann es uns hier nur darum <lb/>zu thun ſein, das Prinzip, worauf die Uhren beruhen, ver-<lb/>ſtändlich zu machen und dies iſt hier geſchehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3950" xml:space="preserve">Die innere <lb/>Einrichtung der Uhren, wie nämlich ein Rad ins andere ein-<lb/>greift bis zu den Rädern, die Stunden-, Minuten- und auch <lb/>Sekunden-Zeiger treiben, läßt ſich im einzelnen nur in einer <lb/>ausführlichen Beſchreibung deutlich machen, zu der uns hier <lb/>der Raum mangelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3951" xml:space="preserve">Für jetzt mag es uns genügen, die be-<lb/>wegende und die regelnde Kraft, alſo die Hauptſachen näher <lb/>dargeſtellt zu haben, die wir für die Wanduhren im Gewicht, <lb/>als der bewegenden, und im Pendel als die regelnde Kraft <lb/>erkennen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3952" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div152" type="section" level="1" n="100">
<head xml:id="echoid-head114" xml:space="preserve"><emph style="bf">III. Die Taſchenuhren.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3953" xml:space="preserve">Bei den Taſchenuhren läßt ſich weder Gewicht noch Pendel <lb/>anbringen, man hat daher eine andere bewegende und eine <lb/>andere regelnde Kraft benutzen müſſen, um gleichmäßigen Gang <lb/>hervorzubringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3954" xml:space="preserve">Zu beiden hat man die Federkraft verwendet.</s>
  <s xml:id="echoid-s3955" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3956" xml:space="preserve">In einem hohlen, runden Kaſten, den man die Trommel <lb/>nennt, weil er wie eine flache, breite Trommel ausſieht, be-<lb/>findet ſich in der inneren Höhlung ein langer, ſehr dünner <lb/>Streifen vom feinſten, elaſtiſchen Stahl. </s>
  <s xml:id="echoid-s3957" xml:space="preserve">Dieſer Stahlſtreifen <lb/>iſt an einem Ende an einem ſtählernen Stabe befeſtigt, der <lb/>aufrecht in der Trommel ſteht, während der übrige Teil des <lb/>Stahlſtreifens rings um den Stab in die Höhlung der Trommel <lb/>hineingezwängt iſt, wo er eine Spirale bildet.</s>
  <s xml:id="echoid-s3958" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3959" xml:space="preserve">Es läßt ſich leicht einſehen, daß dieſe Spirale, ſobald ſie <lb/>kann, ſich möglichſt weit ausdehnt, da es die Eigenſchaft <lb/>elaſtiſcher Körper iſt, zwar dem Druck, der auf ſie ausgeübt <lb/>wird, nachzugeben, aber ſofort wieder die frühere Lage und <lb/>Geſtalt anzunehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3960" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="111" file="315" n="315"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3961" xml:space="preserve">Wird nun der Stahlſtab, oder richtiger die Feder, die <lb/>ohnehin ſchon gewaltſam in die Trommel eingeſperrt iſt, noch <lb/>ſtärker dadurch gebogen, daß man ſie eng um den Zapfen <lb/>umlegt; </s>
  <s xml:id="echoid-s3962" xml:space="preserve">ſo wird ſie ſich mit großer Kraft auszudehnen ſtreben; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3963" xml:space="preserve">und dieſe Kraft wird bei der Taſchenuhr auf folgende Weiſe <lb/>benutzt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3964" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3965" xml:space="preserve">Mau ſetzt einen Schlüſſel, den gewöhnlichen Uhrſchlüſſel, <lb/>auf den Zapfen und dreht den Zapfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3966" xml:space="preserve">Dadurch zwingt man <lb/>die Feder, ſich um den Zapfen eng aufzuwickeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s3967" xml:space="preserve">Es verſteht <lb/>ſich von ſelbſt, daß ſofort, wenn man den Schlüſſel fortnimmt, <lb/>die Feder den Zapfen entweder wieder zurückdrehen würde, <lb/>oder ſie würde die ganze Trommel, an welcher ihr zweites <lb/>Ende befeſtigt iſt, ſo lange drehen, bis die Feder wieder an <lb/>den Wänden der Trommel anliegt und ihre enge Lage um den <lb/>Zapfen herum aufgehört hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s3968" xml:space="preserve">Nun iſt der Zapfen ſo befeſtigt, <lb/>daß er zwar durch den Uhrſchlüſſel rechts gedreht, aber niemals <lb/>zurückgedreht werden kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s3969" xml:space="preserve">Die Feder wird alſo, wenn man <lb/>ſie durch den Uhrſchlüſſel um den Zapfen eng herumgelegt hat, <lb/>was man das Aufziehen nennt, nur die Trommel umdrehen <lb/>können. </s>
  <s xml:id="echoid-s3970" xml:space="preserve">Dieſe Trommel aber iſt von außen entweder mit <lb/>einer Kette umwunden, wie bei den alten Uhren, oder ſie hat <lb/>einen gezahnten Rand unten. </s>
  <s xml:id="echoid-s3971" xml:space="preserve">Die Trommel, die ſich nun <lb/>drehen muß, wird alſo entweder durch die Kette oder durch <lb/>ihren Rand andere Räder in Bewegung verſetzen können, <lb/>welche ſo eingerichtet werden, daß ſie beliebige Zeiger treiben.</s>
  <s xml:id="echoid-s3972" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3973" xml:space="preserve">Allein es iſt leicht begreiflich, daß ſolch ein Werk ſehr <lb/>ſchnell ablaufen wird, denn die Kraft der geſpannten und ein-<lb/>gezwängten Feder wird alle Räder mit großer Schnelligkeit <lb/>bewegen, und es wird nur das eintreten, was wohl jeder ſchon <lb/>öfter erlebt hat, die Uhr wird nicht gehen, ſondern, wie man <lb/>ſich auszudrücken pflegt: </s>
  <s xml:id="echoid-s3974" xml:space="preserve">ſie wird abſchnurren.</s>
  <s xml:id="echoid-s3975" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3976" xml:space="preserve">Es mußte daher auch hier ganz wie bei der Gewichtsuhr <lb/>eine Hemmungsvorrichtung erfunden werden, welche die Stelle
<pb o="112" file="316" n="316"/>
des Pendels vertritt, und zu dieſem Zweck dient die “Spindel” <lb/>oder die “Unruh”.</s>
  <s xml:id="echoid-s3977" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3978" xml:space="preserve">Die Spindel oder die Uuruh liegt in den gewöhnlichen <lb/>Taſchenuhren ziemlich offen und wird wohl von jedem ge-<lb/>kannt ſein als das Rad, das ſich nicht nach einer Richtung <lb/>dreht, ſondern hin und her ſchwingt und das Tick-Tack der <lb/>Uhr veranlaßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3979" xml:space="preserve">Einrichtung und Zweck desſelben ſind folgende.</s>
  <s xml:id="echoid-s3980" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3981" xml:space="preserve">Das Rad dreht ſich um eine Achſe, die hinunter in das <lb/>Werk der Uhr geht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3982" xml:space="preserve">Hier beſindet ſich mit dem Werk in <lb/>Verbindung ein kleines Rad, das ſchieſe Zähne hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s3983" xml:space="preserve">Dieſe <lb/>Zähne geben nun der Achſe ganz eigentümliche Stöße. </s>
  <s xml:id="echoid-s3984" xml:space="preserve">Die <lb/>Achſe hat nämlich zwei hervorragende Zapfen, die jedoch nicht <lb/>nach einer Richtung hinzeigen, ſondern von denen der oberſte <lb/>nach einer andern Gegend hinzeigt als der unterſte. </s>
  <s xml:id="echoid-s3985" xml:space="preserve">Das <lb/>kleine Rad, das man das Steigrad nennt, wird nun von der <lb/>Uhr getrieben und trifft bald mit dem oberen Zahn auf den <lb/>oberen Zapfen, wodurch das Spindelrad zu einer Drehung <lb/>bewegt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3986" xml:space="preserve">Alsbald aber kommt durch dieſe Drehung der <lb/>untere Zapfen mit einem unteren Zahn des Steigrades in <lb/>Berührung; </s>
  <s xml:id="echoid-s3987" xml:space="preserve">dadurch erhält der Zapfen einen Stoß, durch <lb/>welchen das Spindelrad gerade nach der entgegengeſetzten <lb/>Seite gedreht wird, als vorher. </s>
  <s xml:id="echoid-s3988" xml:space="preserve">So ſtößt denn das Steigrad <lb/>mit jedem oberen Zahn das Spindelrad hin und mit jedem <lb/>unteren Zahn das Rad her. </s>
  <s xml:id="echoid-s3989" xml:space="preserve">Durch dieſe Stöße wird das <lb/>Steigrad ſelber in ſeinem Lauf fortwährend gehemmt und <lb/>kann nicht früher um einen Zahn weiter kommen, bevor nicht <lb/>das Spindelrad hin und her geſprungen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3990" xml:space="preserve">Dadurch iſt die <lb/>ganze Uhr gezwungen, außerordentlich langſam zu gehen, ſo <lb/>daß ſie gewöhnlich auf faſt 36 Stunden in Gang erhalten <lb/>werden kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s3991" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3992" xml:space="preserve">Allein dieſe Hemmung würde immer noch nicht ausreichen, <lb/>den Gang der Uhr regelmäßig zu machen, wenn nicht das <lb/>Hin- und Herſchwingen des Spindelrades reguliert würde, ſo
<pb o="113" file="317" n="317"/>
daß es immer gleichviel Zeit braucht für die jedesmalige <lb/>Schwingung. </s>
  <s xml:id="echoid-s3993" xml:space="preserve">Und dieſes Regulieren wird durch eine feine <lb/>Spirale bewerkſtelligt, welche man wie ein gekrümmtes, feines <lb/>Haar in der Unruh jeder Uhr ſieht, wie es ſich bald etwas <lb/>auf- bald etwas zurückwickelt während des Hin- und Her-<lb/>ſchwingens der Spindel. </s>
  <s xml:id="echoid-s3994" xml:space="preserve">Dieſe Spirale iſt von einem feinen <lb/>Streifchen Stahl gebildet, welches ſehr elaſtiſch iſt, und das, <lb/>je nachdem es länger oder kürzer iſt, die Schwingung verzögert <lb/>oder beſchleunigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3995" xml:space="preserve">Indem nun neben der Unruh eine Stell-<lb/>ſcheibe angebracht iſt, durch welche man beliebig dieſe Spirale <lb/>verkürzen oder verlängern kann, kann man durch dieſe Stell-<lb/>ſcheibe den Gang der Uhr beſchleunigen oder verzögern, alſo <lb/>den Gang der Uhr regulieren, ganz ſo wie man es mit dem <lb/>Verlängern oder Verkürzen des Pendels vermag.</s>
  <s xml:id="echoid-s3996" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3997" xml:space="preserve">Dies iſt nun das Prinzip der Uhren, und es beſteht, um <lb/>es in Kürze zu ſagen, darin, daß auf der einen Seite eine <lb/>treibende Kraft, auf der andern eine von Zeit zu Zeit hem-<lb/>mende und regulierende Kraft da iſt, die der erſten Kraft <lb/>entgegen wirkt, und beide zuſammen bringen eine gleichmäßige <lb/>Bewegung hervor, durch welche der Menſch das unfaßbare <lb/>Ding Zeit meſſen kann, wie man ein Stück Zeug mit der <lb/>Elle mißt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3998" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3999" xml:space="preserve">Wir haben es ſchon oben geſagt, wer eine gute Uhr in <lb/>der Taſche hat, der hat eigentlich ein Stück Himmel und <lb/>Sonne in der Taſche. </s>
  <s xml:id="echoid-s4000" xml:space="preserve">Hätten wir nämlich nicht die Uhren, <lb/>ſo würden wir genötigt ſein, unſere Zeit nach dem Stand <lb/>der Sonne am Himmel zu meſſen, eine Schwierigkeit, die <lb/>namentlich in unſern Gegenden wegen der vielen trüben Tage <lb/>ſehr groß iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4001" xml:space="preserve">abgeſehen davon, daß es einer ſehr genauen <lb/>Meſſung bedarf, um aus dem Stand der Sonne mit Sicherheit <lb/>auf die Minute genau die Zeit zu treffen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4002" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4003" xml:space="preserve">Haben wir dem Leſer gezeigt, welch ein Aufwand von <lb/>geiſtiger Kraft nötig war, um eine Uhr zu konſtruieren, welche</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4004" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s4005" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s4006" xml:space="preserve">Volksbücher VIII.</s>
  <s xml:id="echoid-s4007" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="114" file="318" n="318"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4008" xml:space="preserve">uns jeder Zeit angiebt, wieweit ſich unſere Erde in ihrer <lb/>Umdrehung vom Mittagspunkt entfernt hat, ſo wollen wir ihn <lb/>nun auch einweihen in die tiefere Geiſtesarbeit, durch welche <lb/>die Wiſſenſchaft dieſe Umdrehung ſelbſt geprüft, und die den <lb/>Namen des franzöſiſchen Aſtronomen <emph style="sp">Delaunay</emph> (1816—1872) <lb/>mit unſterblichem Ruhme bedeckt hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s4009" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div153" type="section" level="1" n="101">
<head xml:id="echoid-head115" xml:space="preserve"><emph style="bf">IV. Rotiert die Erde gleichmäßig?</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4010" xml:space="preserve">Um dem verwickelt ſcheinenden Thema der Aſtronomie, <lb/>das wir hiermit zu behandeln haben, die leichteſte Seite ab-<lb/>zugewinnen, wollen wir mit einem Beiſpiel aus dem ge-<lb/>wöhnlichen Leben beginnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4011" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4012" xml:space="preserve">Ein Reiter, der häufig über eine wegloſe Steppe von einer <lb/>Stadt zur andern dahineilt, wird nach und nach zur richtigen <lb/>Abſchätzung des zurückgelegten Weges gelangen, auch wenn er <lb/>keine Gelegenheit hat, die Länge der durcheilten Strecke mit <lb/>Hilfe eines Meß-Inſtrumentes genau feſtzuſtellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4013" xml:space="preserve">Es läßt <lb/>ſich leicht einſehen, daß es zwei Dinge ſind, welche ſein Urteil <lb/>leiten; </s>
  <s xml:id="echoid-s4014" xml:space="preserve">erſtens die Schnelligkeit ſeines Pferdes und zweitens <lb/>ſeine Uhr. </s>
  <s xml:id="echoid-s4015" xml:space="preserve">Vorausgeſetzt, daß er den Lauf ſeines Tieres <lb/>genau zu regeln weiß und ſeine Uhr richtig geht, wird ſein <lb/>Urteil über die Länge des Weges auch nahezu ein richtiges <lb/>und ſicheres ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s4016" xml:space="preserve">In ſolchem Falle wird er ſeine Abſchätzung <lb/>darauf gründen, daß er jedesmal nach zurückgelegter Strecke <lb/>den Lauf des Pferdes mit dem Laufe des Zeigers ſeiner Uhr <lb/>vergleicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4017" xml:space="preserve">Er urteilt hiernach über den Raum durch eine genaue <lb/>Kontrolle der zurückgelegten Zeit.</s>
  <s xml:id="echoid-s4018" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4019" xml:space="preserve">Anders wird es ſich verhalten, wenn entweder ſein Pferd <lb/>nicht regelmäßig rennt oder ſeine Uhr nicht richtig geht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4020" xml:space="preserve">Sein <lb/>Urteil wird in jedem der beiden Fälle ſehr unſicher werden, <lb/>und noch unſicherer, wenn Beides zugleich der Fall iſt, wenn
<pb o="115" file="319" n="319"/>
er ein unbekanntes Pferd reitet und eine fremde Uhr in der <lb/>Taſche hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s4021" xml:space="preserve">Der Zweifel über die Schnelligkeit ſeines Pferdes <lb/>und den Gang der Uhr wird ihm einen Schluß über den zurück-<lb/>gelegten Raum gar nicht mehr geſtatten.</s>
  <s xml:id="echoid-s4022" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4023" xml:space="preserve">Die Aſtronomie, welche ſich mit der genauen Kenntnis der <lb/>Bewegungen der Himmelsgeſtirne befaßt, befindet ſich bei <lb/>gründlicher Löſung ihrer Aufgabe in einer gleichen Lage mit <lb/>unſerem Reiter. </s>
  <s xml:id="echoid-s4024" xml:space="preserve">Bewegungen ſind ja eben nichts anderes als <lb/>Ortsveränderungen unter gewiſſen Geſchwindigkeiten, oder ex-<lb/>acter ausgedrückt: </s>
  <s xml:id="echoid-s4025" xml:space="preserve">das Verhältnis zwiſchen einem zurückgelegten <lb/>Raume zu einer zurückgelegten Zeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s4026" xml:space="preserve">Sollen Bewegungen ge-<lb/>meſſen, ſollen Himmelserſcheinungen vergangener Zeiten nach-<lb/>gerechnet oder künftiger Zeiten vorausberechnet werden, ſo gilt <lb/>es die Geſchwindigkeit der Himmelsrenner genau nach zurück-<lb/>gelegten Zeiten zu erkennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4027" xml:space="preserve">Da wird man wohl zugeben, daß <lb/>der Aſtronom, der den Rundlauf eines Sternes mit ſeinem <lb/>geiſtigen Ritte begleitet, entweder der vollſten Regelmäßigkeit <lb/>des Renners ſicher ſein oder mindeſtens einen zuverläſſigen <lb/>Zeitmeſſer beſitzen muß, um deſſen Bewegungsgeſetz richtig zu <lb/>beurteilen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4028" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4029" xml:space="preserve">Was nun die Regelmäßigkeit irgend eines in Bewegung <lb/>begriffenen Himmelsgeſtirnes betrifft, ſo iſt dieſe notoriſch nicht <lb/>vorhanden. </s>
  <s xml:id="echoid-s4030" xml:space="preserve">Vor den Fixſternen, deren Eigenbewegungen erſt <lb/>in unſerem Jahrhundert beobachtet worden ſind, ſteht die <lb/>aſtronomiſche Wiſſenſchaft noch ſo ganz am Beginne ihrer <lb/>großen Aufgabe, daß wir ſie für unſeren Zweck völlig außer <lb/>acht laſſen müſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4031" xml:space="preserve">Die Bewegungen der Planeten, der Erde, <lb/>des Mondes und der anderen Trabanten ſind freilich, in <lb/>höherem Sinne betrachtet, “regelmäßig”, und zwar ſehr regel-<lb/>mäßig, das heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s4032" xml:space="preserve">dieſe Bewegungen gehen nach ganz be-<lb/>ſtimmten Regeln und Geſetzen vor ſich, mit deren Erforſchung <lb/>die Wiſſenſchaft unausgeſetzt beſchäftigt iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4033" xml:space="preserve">allein wenn man <lb/>unter “regelmäßig” eine Bewegung verſteht, wo in gleichen
<pb o="116" file="320" n="320"/>
Zeiten gleiche Räume zurückgelegt werden, ſo iſt dies bei keinem <lb/>einzigen Himmelskörper der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s4034" xml:space="preserve">Die Bahnen ſind nicht nur <lb/>keine Kreiſe, ſondern die Bewegungen in den elliptiſchen Bahnen <lb/>werden alle ſamt und ſonders durch gegenſeitige Anziehungen <lb/>der Geſtirne “geſtört”, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s4035" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s4036" xml:space="preserve">bald verlangſamt, bald beſchleunigt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4037" xml:space="preserve">Der Aſtronom hat hier Renner vor ſich, die einen unregel-<lb/>mäßigen Lauf durch den Weltraum machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4038" xml:space="preserve">Welchen dieſer <lb/>Renner er auch in Bezug auf ſeine Raumveränderungen genau <lb/>kennen lernen will, er bedarf eines erſten Erforderniſſes, eines <lb/>zuverläſſigen Zeitmeſſers oder, ſchlichter ausgedrückt, einer voll-<lb/>kommen richtig gehenden Uhr, welche die Bürgſchaft gewährt, <lb/>daß ſie vor Tauſenden von Jahren ebenſo exact richtig ge-<lb/>gangen iſt, wie ſie nach Jahrtauſenden immer noch richtig <lb/>gehen werde.</s>
  <s xml:id="echoid-s4039" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4040" xml:space="preserve">Wo aber giebt es ſolch ein Kunſtwerk?</s>
  <s xml:id="echoid-s4041" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4042" xml:space="preserve">Menſchenhände haben dergleichen nie angefertigt und wer-<lb/>den dergleichen nie verfertigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4043" xml:space="preserve">Kein Pendel-, kein Feder- und <lb/>kein Räderwerk vermag ſo unveränderlich hergeſtellt zu werden, <lb/>daß es auch nur für ein einziges Jahr die Bürgſchaft des völlig <lb/>regelmäßigen Ganges gewährt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4044" xml:space="preserve">Die Uhr des Aſtronomen be-<lb/>darf auch der unausgeſetzten Korrektur durch die Aſtronomie. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4045" xml:space="preserve">Die Umdrehung der Erde um ihre Axe iſt das eigentliche Ur-<lb/>Uhrwerk, nach welchem die Uhrmacher ſämtliche Uhrwerke in <lb/>Ordnung halten.</s>
  <s xml:id="echoid-s4046" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4047" xml:space="preserve">Geht denn aber dieſe Ur-Uhr richtig? </s>
  <s xml:id="echoid-s4048" xml:space="preserve">Haben wir eine <lb/>Bürgſchaft, daß die Umdrehung der Erde um ihre Axe ſich <lb/>nicht verändert hat oder noch verändert?</s>
  <s xml:id="echoid-s4049" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4050" xml:space="preserve">Der größte Gründer der Mechanik des Himmels, der un-<lb/>ſterbliche Forſcher <emph style="sp">Laplace</emph> (1749—1827), hat mit Recht auf <lb/>dieſe wahre Kardinalfrage der Zeit und der Zeiten außerordent-<lb/>liche Sorgfalt verwendet. </s>
  <s xml:id="echoid-s4051" xml:space="preserve">Er hat Himmelserſcheinungen aus <lb/>den Zeiten Hipparchs mit den neuen verglichen und iſt zu dem <lb/>Reſultate gelangt, daß mindeſtens ſeit zwei Jahrtauſenden die
<pb o="117" file="321" n="321"/>
Ur-Uhr in ihrem Gange gleich geblieben ſei. </s>
  <s xml:id="echoid-s4052" xml:space="preserve">Hiermit erhielt die <lb/>Wiſſenſchaft ihren regelrechten Zeitmeſſer, und nach dieſem ver-<lb/>mochte ſie bisher mit Zuverſicht die Geſchwindigkeiten der <lb/>Renner zu meſſen, welche den Raum des Himmels durcheilen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4053" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4054" xml:space="preserve">So ſtanden die Dinge bis auf unſere Tage, wo von einer <lb/>ganz anderen Seite her die wahre “Zeitfrage” eine neue Wen-<lb/>dung erhalten hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s4055" xml:space="preserve">Und dieſer wollen wir nunmehr zu folgen <lb/>ſuchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4056" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div154" type="section" level="1" n="102">
<head xml:id="echoid-head116" xml:space="preserve"><emph style="bf">V. Der Umlauf des Mondes.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4057" xml:space="preserve">Wir verlaſſen für einen Augenblick die Betrachtung der <lb/>Umdrehung der Erde um ihre Axe, welche die Uhr aller Uhr-<lb/>werke iſt, und wenden uns zu dem getreuen Himmelsbegleiter <lb/>unſerer Erde, dem guten Monde, der im ſtillen Einherwandern <lb/>einen wichtigen Poſten als untrüglicher Himmelskontrolleur zu <lb/>verſehen hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s4058" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4059" xml:space="preserve">Der Lauf des Mondes um die Erde iſt urſprünglich ein <lb/>ſo einfaches Phänomen, daß man wohl meinen könnte, es ſei <lb/>ſeine Bewegung nicht ſchwieriger zu berechnen, als der Rund-<lb/>lauf eines Zeigers an der Uhr. </s>
  <s xml:id="echoid-s4060" xml:space="preserve">Aber in Wirklichkeit gehört <lb/>die genaue Berechnung ſeiner Bahn zu den ſchwierigſten Auf-<lb/>gaben der Aſtronomie, und zwar zu den Aufgaben, an welchen <lb/>ſeit einem Jahrhunderte die feinſten Erforſcher der Himmels-<lb/>mechanik all ihren Scharfſinn aufgewendet haben, ohne ſie voll-<lb/>ſtändig zu löſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4061" xml:space="preserve">Sie laſſen — wie wir aus unſerem Thema <lb/>erſehen werden — den kommenden Forſchern noch reiche Aus-<lb/>beute auf dieſem Felde übrig.</s>
  <s xml:id="echoid-s4062" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4063" xml:space="preserve">Der Lauf des Mondes am Himmelsraum ſpielt für die <lb/>forſchende Aſtronomie eine Rolle ähnlich der des Pulſes unter <lb/>dem Fingerdruck des unterſuchenden Arztes.</s>
  <s xml:id="echoid-s4064" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4065" xml:space="preserve">Wie die Pulswelle nicht etwa bloß die Bewegung des
<pb o="118" file="322" n="322"/>
Blutes in der Hand des Patienten, ſondern die Thätigkeit des <lb/>Herzens, den wirkenden Impuls der Nerven, die Spannung <lb/>des Gefäßſyſtems, den Wärmegrad des geſamten Körpers, wie <lb/>den phyſikaliſchen und phyſiologiſchen Zuſtand des ganzen <lb/>Organismus verrät, ſo iſt der Lauf des Mondes für die for-<lb/>ſchende Aſtronomie nicht bloß ein Verkünder ſeines mechaniſchen <lb/>Verhältniſſes zur Erde, ſondern auch ein Hauptkontrolleur des <lb/>mechaniſchen Gleichgewichtes des ganzen Sonnenſyſtems.</s>
  <s xml:id="echoid-s4066" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4067" xml:space="preserve">Wohl ſprechen wir in der gewöhnlichen Betrachtung der <lb/>Aſtronomie von “Bahnen” der Himmelskörper, als ob ſolche <lb/>in Wirklichkeit exiſtierten und für immer erforſcht und feſt-<lb/>geſtellt wären; </s>
  <s xml:id="echoid-s4068" xml:space="preserve">allein in Wahrheit exiſtieren dieſe Bahnen <lb/>ebenſo wenig, wie die Bahn eines durch die Luft geſchleuderten <lb/>Steines exiſtiert. </s>
  <s xml:id="echoid-s4069" xml:space="preserve">Die Bahn eines Himmelskörpers iſt nichts <lb/>als der Weg, den er im Raume macht, infolge des Gleich-<lb/>gewichtes ſeiner Fluggeſchwindigkeit und der aller Anziehungen, <lb/>welche auf ihn wirken. </s>
  <s xml:id="echoid-s4070" xml:space="preserve">Ändern ſich die anziehenden Kräfte, <lb/>ſo ändert ſich die Bahn unausgeſetzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4071" xml:space="preserve">Iſt dieſe Änderung eine <lb/>dauernde, ſo wird die Bahn eines Himmelskörpers niemals <lb/>wieder ſo ausſehen, wie ſie früher ausgeſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4072" xml:space="preserve">Hat die Ände-<lb/>rung eine beſtimmte Epoche, ſo wird je nach der Dauer der-<lb/>ſelben auch die Bahn wiederum in ihre erſte Lage zurückkehren <lb/>und nach ferneren gleichen Epochen gleiche Erſcheinungen dar-<lb/>bieten.</s>
  <s xml:id="echoid-s4073" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4074" xml:space="preserve">Man bezeichnet in der Wiſſenſchaft jede Veränderung dieſer <lb/>Bahnen, welche infolge der verſchiedenen Nähe und Richtungen <lb/>der anziehenden Körper den Lauf eines Himmelskörpers ver-<lb/>ſtärkt oder ſchwächt, mit dem Namen “Störung”. </s>
  <s xml:id="echoid-s4075" xml:space="preserve">Nicht etwa <lb/>als ob in der Natur wirklich etwas Störendes vorginge, ſon-<lb/>dern bloß darum, weil es unſer bißchen Verſtand ſtört, wenn <lb/>wir eine Bahn nach den einfachſten Geſetzen berechnet haben <lb/>und nunmehr finden, daß ein Nachbarplanet durch ſein Vorüber-<lb/>wandern einen Strich durch unſere Rechnung macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4076" xml:space="preserve">Nun aber
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wandern die Planeten ſamt und ſonders immer fort durch den <lb/>Raum, und Nachbarn ſind ſie alle, wenngleich ſie Millionen <lb/>Meilen von einander entfernt ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s4077" xml:space="preserve">Jeder Planet ſtört in <lb/>dieſem Sinne alle anderen und wird in gleicher Weiſe von <lb/>ihnen geſtört. </s>
  <s xml:id="echoid-s4078" xml:space="preserve">Dieſe Störungen, der Krieg aller gegen alle, <lb/>wären für unſer ſchwaches Faſſungsvermögen eine wahre <lb/>Anarchie, welche alle Berechnungen unmöglich machte, wenn <lb/>ſie nicht in den aller-allermeiſten Fällen verſchwindend klein <lb/>für unſere Beobachtungen blieben. </s>
  <s xml:id="echoid-s4079" xml:space="preserve">Wir dürfen uns in dieſem <lb/>Sinne wegen unſeres ſchwachen Verſtandes mit der Schwäche <lb/>unſerer Beobachtungskunſt tröſten, die uns unendlich viel un-<lb/>lösbare Rätſel glücklicherweiſe unſichtbar macht.</s>
  <s xml:id="echoid-s4080" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4081" xml:space="preserve">Dieſer beſchämende Troſt gilt indeſſen nur in der Be-<lb/>rechnung des Laufes der Planeten. </s>
  <s xml:id="echoid-s4082" xml:space="preserve">Dieſe, die Planeten, ſind <lb/>von einander ſo entfernt, daß ihre gegenſeitigen Störungen in <lb/>den allermeiſten Fällen nur ſehr oberflächlich behandelt zu <lb/>werden brauchen, und ſie ſind auch von uns ſo entfernt, daß <lb/>wir nur die gröberen Einwirkungen merken. </s>
  <s xml:id="echoid-s4083" xml:space="preserve">Anders jedoch <lb/>verhält es ſich mit dem Lauf unſeres Mondes. </s>
  <s xml:id="echoid-s4084" xml:space="preserve">Der Mond iſt <lb/>der Erde nahe genug, um kleinere Beeinfluſſungen ſeines Laufes, <lb/>die wir Störungen nennen, merklich zu machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4085" xml:space="preserve">Außerdem iſt <lb/>ſeine Umlaufszeit ſo kurz, daß ſich anwachſende Störungen <lb/>nach und nach ſchnell verraten. </s>
  <s xml:id="echoid-s4086" xml:space="preserve">Endlich iſt die Reihe der <lb/>Jahre, durch welche der Mondlauf in verwichenen Zeiten be-<lb/>obachtet worden iſt, eine viel größere als die irgend eines <lb/>anderen Himmelskörpers. </s>
  <s xml:id="echoid-s4087" xml:space="preserve">Es liegen uns Beobachtungen an <lb/>Mond- und Sonnenfinſterniſſen aus faſt drei Jahrtauſenden <lb/>vor und verraten ſomit Erſcheinungen des Mondumlaufes in <lb/>einer Genauigkeit, wie ſie bei anderen Himmelskörpern nicht <lb/>exiſtiert.</s>
  <s xml:id="echoid-s4088" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4089" xml:space="preserve">Alles in Allem bewirkt nun, daß, wenn man die Bahn <lb/>des Mondes in ihrer einfachſten Geſtalt ſo betrachtet, wie ſie <lb/>wäre und bliebe, wenn im Weltraum nur die Erde und der
<pb o="120" file="324" n="324"/>
Mond exiſtierten, wenn man ferner alle Urſachen der Abweichung <lb/>von dieſer einfachſten Bahn als “Störungen” bezeichnete, die <lb/>Zahl der Störungen in die Hunderte wächſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4090" xml:space="preserve">Jede dieſer <lb/>Störungen bewirkt für ſich bald ein Beſchleunigen, bald ein <lb/>Zurückbleiben des Mondlaufes, bald ein Ausweichen von der <lb/>Bahn nach dieſer, bald nach jener Seite. </s>
  <s xml:id="echoid-s4091" xml:space="preserve">Eine jede ſolche <lb/>Störung und Abweichung fordert uns auf, ihre Urſachen zu er-<lb/>forſchen, ihre Größe zu beſtimmen und für die Folge in Rech-<lb/>nung zu bringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4092" xml:space="preserve">Die Ausarbeitung von Mondtafeln, oder <lb/>deutlicher ausgedrückt: </s>
  <s xml:id="echoid-s4093" xml:space="preserve">die Vorausberechnung des Mondlaufes <lb/>auf Jahrhunderte iſt eine Aufgabe, welche durchaus noch nicht <lb/>abgeſchloſſen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4094" xml:space="preserve">Sie beſchäftigt noch immer die exacteſten <lb/>Forſcher und Rechner und ſtellt in ihren Reſultaten immer <lb/>neue Rätſel auf, welche der Unterſuchung neue Gebiete eröffnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4095" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4096" xml:space="preserve">Der gründlichſte und genialſte Forſcher und Rechner auf <lb/>dieſem Gebiete war <emph style="sp">Hanſen</emph> in Gotha. </s>
  <s xml:id="echoid-s4097" xml:space="preserve">Seine Arbeiten in <lb/>dieſem Fache bilden gegenwärtig die Grundlage aller Berech-<lb/>nungen der Aſtronomen aller Länder.</s>
  <s xml:id="echoid-s4098" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4099" xml:space="preserve">Da hat denn gerade Hanſens Arbeit eine Frage angefacht, <lb/>welche man bisher als völlig gelöſt betrachtet hatte, und Anlaß <lb/>zu neuen Unterſuchungen gegeben, die wir nunmehr betrachten <lb/>wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4100" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div155" type="section" level="1" n="103">
<head xml:id="echoid-head117" xml:space="preserve"><emph style="bf">VI. Scheinbare Beſchleunigung des Mondes.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4101" xml:space="preserve">Aus Hanſens Berechnungen des Mondlaufes ergab ſich <lb/>das für alle Aſtronomen überraſchende Reſultat, daß unſer <lb/>guter Himmelsbegleiter ſeit dreitauſend Jahren in einem immer <lb/>ſchneller werdenden Tempo um die Mutter Erde läuft. </s>
  <s xml:id="echoid-s4102" xml:space="preserve">Ein <lb/>Mond-Monat, ein voller Umlauf dieſes Himmelskörpers im <lb/>jetzigen Zeitalter, iſt kleiner, als er vor drei Jahrtauſenden ge-<lb/>weſen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4103" xml:space="preserve">Der Mond, anſtatt mit dem Alter zu ermüden und
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langſamer einherzuwandern, iſt flinker geworden; </s>
  <s xml:id="echoid-s4104" xml:space="preserve">und die Zu-<lb/>nahme dieſer Geſchwindigkeit ſeines Laufes hat noch gar nicht <lb/>aufgehört, ſondern wächſt regelrecht immer mehr. </s>
  <s xml:id="echoid-s4105" xml:space="preserve">Die Be-<lb/>ſchleunigung rührt alſo nicht von einer vorübergehenden Ein-<lb/>wirkung her, die ſich dann etwa in ihr Gegenteil verwandelt, <lb/>ſondern iſt die Folge einer unbekannten Urſache, die fort und <lb/>fort weiterwirkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4106" xml:space="preserve">Hiernach müßte dann auch eine Zeit kommen, <lb/>wo “der gute Mond, der ſo ſtille geht”, mit raſender Ge-<lb/>ſchwindigkeit durch den Himmelsraum ſtürmt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4107" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4108" xml:space="preserve">Freilich liegt dieſe Zeit ſehr, ſehr weit hinaus in die fernſte <lb/>Zukunft kommender Jahr-Millionen oder — um uns einer mo-<lb/>derneren Ausdruckſweiſe auch in der Wiſſenſchaft zu bedienen — <lb/>der Jahr-Milliarden. </s>
  <s xml:id="echoid-s4109" xml:space="preserve"><anchor type="note" xlink:href="" symbol="*)"/> Es beträgt nämlich dieſe berechnete
Beſchleunigung ſeit der erſten gut beobachteten Sonnenfinſternis <lb/>vor dritthalbtauſend Jahren Alles in Allem circa acht Stunden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4110" xml:space="preserve">Da der Mond in dieſen dritthalbtauſend Jahren an dreißig-<lb/>tauſendmal um die Erde herumgelaufen iſt, ſo macht ſeine Be-<lb/>ſchleunigung auf einen einzigen Umlauf durchſchnittlich kaum <lb/>eine Sekunde aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s4111" xml:space="preserve">Die Verliebten, die einzigen Weſen, welche <lb/>ſich — außer den Aſtronomen — noch immer ſehr für den <lb/>guten Mond intereſſieren, werden daher noch gar viele Jahr-<lb/>tauſende zu dem lieben Himmelsgeſtirne ſeufzend aufblicken <lb/>können, ohne etwas von ſeiner ſtets wachſenden Laufkraft zu <lb/>merken. </s>
  <s xml:id="echoid-s4112" xml:space="preserve">Aber unter den Aſtronomen, die ſehr proſaiſch die <lb/>Himmelskontrolle führen und um eine Sekunde Verfrühung <lb/>oder Verſpätung einer Erſcheinung ganze Jahrzehnte des Nach-<lb/>denkens nicht ſcheuen, um die geheime Urſache zu ermitteln — <lb/>unter den Aſtronomen machten Hanſens Berechnungen ganz <lb/>ungemeines Auſſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4113" xml:space="preserve">Ein beſchleunigter Umlauf, und gar ein <lb/>dauernd beſchleunigter Umlauf eines Himmelskörpers kann nur <lb/>von einer fortdauernd wirkenden, und alſo mit der Zeit <lb/>
<anchor type="note" xlink:label="note-325-01a" xlink:href="note-325-01"/>
<pb o="122" file="326" n="326"/>
wachſenden Urſache herrühren. </s>
  <s xml:id="echoid-s4114" xml:space="preserve">Dieſe aufzufinden, iſt eine <lb/>Herausforderung, der ſich kein Denker und kein Rechner ent-<lb/>ziehen mag.</s>
  <s xml:id="echoid-s4115" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div155" type="float" level="2" n="1">
<note symbol="*" position="foot" xlink:label="note-325-01" xlink:href="note-325-01a" xml:space="preserve"> Eine Milliarde iſt gleich 1000 Millionen.</note>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4116" xml:space="preserve">Es giebt nun freilich einige Thatſachen, welche einen An-<lb/>halt zur Löſung des Rätſels darbieten. </s>
  <s xml:id="echoid-s4117" xml:space="preserve">Wenn der Mond <lb/>ſeinen Umlauf beſchleunigt, ſo kann es daher rühren, daß die <lb/>Anziehungskraft der Erde ſich verſtärkt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s4118" xml:space="preserve">Da dieſe An-<lb/>ziehungskraft von der Maſſe der Erde abhängt, ſo wäre dies <lb/>gleichbedeutend mit der Vorausſetzung, daß die Erde an Maſſe <lb/>zugenommen habe. </s>
  <s xml:id="echoid-s4119" xml:space="preserve">Dergleichen iſt aber ſehr wohl denkbar, <lb/>ſeitdem man weiß, daß die Meteormaſſen, welche man auf-<lb/>findet, aus den Himmelsräumen herſtammen, wo ſie herum-<lb/>ſchwärmen, bis ſie in die Atmoſphäre der Erde geraten und, <lb/>gehemmt in ihrem Laufe, unter Donner und Flammen auf die <lb/>Erde niederſtürzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4120" xml:space="preserve">Ein Wachſen der Erdmaſſe iſt demnach <lb/>nicht in Abrede zu ſtellen, und hiernach iſt eine verſtärkte An-<lb/>ziehungskraft und eine Beſchleunigung des Mondlaufes, als <lb/>Folge, nicht zu beſtreiten. </s>
  <s xml:id="echoid-s4121" xml:space="preserve">Allein wenn man bedenkt, daß ſelbſt <lb/>die allermächtigſten Meteormaſſen, die man aufgefunden hat, <lb/>ganz und gar verſchwindend klein ſind gegen die Erdmaſſe, <lb/>daß ferner von einem regelmäßigen und fortdauernden Falle <lb/>ſolcher mächtigen Meteormaſſen gar nicht die Rede ſein kann, <lb/>während die Beſchleunigung des Mondlaufes regelmäßig wächſt <lb/>und auf einer dauernd fortwirkenden Urſache beruhen muß, ſo <lb/>könnte man dieſer Erklärung des Rätſels keinen wiſſenſchaft-<lb/>lichen Wert beimeſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4122" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4123" xml:space="preserve">Da trat denn <emph style="sp">Delaunay</emph> im Jahre 1865 mit einer Theorie <lb/>auf, durch welche das unlösbare Phänomen der Mondbeſchleu-<lb/>nigung auf ein ganz anderes Gebiet der Naturgeſetze hinüber-<lb/>getragen wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s4124" xml:space="preserve">Nach dieſer ſcharſſinnig erdachten Theorie iſt <lb/>die Beſchleunigung des Mondlaufes nicht eine wirkliche That-<lb/>ſache, ſondern nur ein bloßer Schein, welchem eine ganz
<pb o="123" file="327" n="327"/>
andere, zwar überraſchende, aber durchaus erklärbare Urſache <lb/>zu Grunde liegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4125" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4126" xml:space="preserve">Dieſe Theorie lautet: </s>
  <s xml:id="echoid-s4127" xml:space="preserve">“Nicht die Umlaufsgeſchwindigkeit <lb/>des Mondes iſt fortdauernd im Wachſen, ſondern die Um-<lb/>drehungszeit der Erde um ihre Axe verlangſamt ſich fort-<lb/>dauernd.</s>
  <s xml:id="echoid-s4128" xml:space="preserve">”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4129" xml:space="preserve">Um den Zuſammenhang zwiſchen der Laufgeſchwindigkeit <lb/>des Mondes und der Umdrehungszeit der Erde richtig zu <lb/>faſſen, brauchen wir uns nur an unſeren Reiter zu erinnern, <lb/>der die Laufgeſchwindigkeit ſeines Pferdes im Raum am Zeiger <lb/>ſeiner Uhr, nach der Zeit, abſchätzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4130" xml:space="preserve">Wir wiſſen, daß, wenn <lb/>ſeine Uhr zu ſchnell geht, ſein Pferd ihm langſam zu gehen <lb/>ſcheint, und umgekehrt, wenn ſeine Uhr zu langſam geht, ſein <lb/>Pferd ihm ſchnellfüßiger erſcheinen wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s4131" xml:space="preserve">Delaunays Theorie <lb/>lautet alſo, dem Beiſpiele entſprechend, dahin: </s>
  <s xml:id="echoid-s4132" xml:space="preserve">Ihr braven <lb/>Aſtronomen meint, aus Hanſens Berechnungen zu ſchließen, <lb/>daß der Mond ſich ſeit dritthalbtauſend Jahren einen ſchnelleren <lb/>Gang angewöhnt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s4133" xml:space="preserve">Das iſt ein Irrtum! Der Mond geht <lb/>nicht ſchneller und nicht langſamer als ehedem. </s>
  <s xml:id="echoid-s4134" xml:space="preserve">Er ſcheint nur <lb/>jetzt früher ſeinen Umlauf zu vollenden, weil eure Uhr nach-<lb/>geht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4135" xml:space="preserve">Die Umdrehung der Erde um ihre Axe, welche unſer <lb/>Zeitmeſſer, unſere Ur-Uhr iſt, verlangſamt ſich nach und nach, <lb/>ohne daß wir es merken. </s>
  <s xml:id="echoid-s4136" xml:space="preserve">Unſere Tage, Stunden, Minuten, <lb/>Sekunden werden länger, deshalb ſcheint uns der Mond-<lb/>Monat kürzer geworden zu ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s4137" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div157" type="section" level="1" n="104">
<head xml:id="echoid-head118" xml:space="preserve"><emph style="bf">VII. Wie der Mond unſere Tage länger macht.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4138" xml:space="preserve">So überraſchend Delaunays Behauptung anfangs war, ſo <lb/>bald überzeugte man ſich doch, daß der Grundgedanke bereits <lb/>von dem großen Aſtronomen und Rechner <emph style="sp">Laplace</emph> vor hundert <lb/>Jahren angedeutet worden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4139" xml:space="preserve">Laplace hat in ſeiner “Mechanik
<pb o="124" file="328" n="328"/>
des Himmels” die Frage aufgeworfen, ob wir Menſchenkinder <lb/>überhaupt imſtande ſeien, die Zeit zu meſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4140" xml:space="preserve">Wenn wir dies <lb/>nach Tagen, Stunden, Minuten und Sekunden thun, ſo ge-<lb/>ſchieht es doch immer nur in der Vorausſetzung, daß die Erde <lb/>in ihrer Umdrehungs-Geſchwindigkeit ſich ſtets gleich bleibe. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4141" xml:space="preserve">Welche Bürgſchaft aber haben wir, daß dem ſo ſei? </s>
  <s xml:id="echoid-s4142" xml:space="preserve">Um dieſe <lb/>Frage zu beantworten, hat Laplace auch die Sonnenfinſterniſſe <lb/>im Altertum einer Berechnung unterworfen und fand ſie ſo <lb/>weit ſtimmend, daß er die Behauptung aufſtellte, es habe <lb/>ſich die Tageslänge nicht verändert. </s>
  <s xml:id="echoid-s4143" xml:space="preserve">Seine Berechnung indeſſen <lb/>war nicht ſo vollſtändig wie die von Hanſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s4144" xml:space="preserve">hätte Laplace <lb/>die Differenz von acht Stunden herausgefunden, wie Hanſen, <lb/>ſo hätte er ganz gewiß nicht die Gleichmäßigkeit der Tages-<lb/>länge behauptet. </s>
  <s xml:id="echoid-s4145" xml:space="preserve">Er hätte nicht bloß die Grundgedanken De-<lb/>launays ſeiner Erwägung unterzogen, ſondern vielleicht auch <lb/>gar die wahre Urſache dieſer überraſchenden Erſcheinung heraus-<lb/>gefunden.</s>
  <s xml:id="echoid-s4146" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4147" xml:space="preserve">Wo aber liegt die wahre Urſache? </s>
  <s xml:id="echoid-s4148" xml:space="preserve">Weshalb verlangſam@ <lb/>ſich die Umdrehung der Erde?</s>
  <s xml:id="echoid-s4149" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4150" xml:space="preserve"><emph style="sp">Delaunay</emph> giebt hierüber einen ſehr zutreffenden Auf-<lb/>ſchluß; </s>
  <s xml:id="echoid-s4151" xml:space="preserve">aber auch in dieſem Punkte trifft man auf die über-<lb/>raſchende Wahrnehmung, die man bei allen großen, höheren <lb/>Gedanken macht, daß die Wahrheit bereits ſeit längerer Zeit <lb/>anderweitig angedeutet, ja ſogar direkt ausgeſprochen worden <lb/>iſt, aber ſo lange unbeachtet blieb, bis ſie von einem fach-<lb/>männiſchen Denker ſelbſtändig aufgefunden und in Zuſammen-<lb/>hang mit dem ganzen Bereich der Wiſſenſchaft gebracht wurde.</s>
  <s xml:id="echoid-s4152" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4153" xml:space="preserve">Es war im Jahre 1842, als ein deutſcher Arzt, <lb/><emph style="sp">Robert Mayer</emph> in Heilbronn, einen großen Grundgedanken <lb/>der Phyſik ausſprach, der nach und nach zum Gemeingut <lb/>der Wiſſenſchaft und zur Quelle weſentlicher Fortſchritte der-<lb/>ſelben wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s4154" xml:space="preserve">Man nennt dieſen Grundgedanken “das Geſetz <lb/>von der Erhaltung der Energie” und verſteht darunter
<pb o="125" file="329" n="329"/>
die merkwürdige und durch alle Forſchungen immer aufs neue <lb/>beſtätigte Wahrheit, daß in der Natur nirgends eine Kraft ge-<lb/>ſchaffen oder vertilgt wird, ſondern immer nur in einer Um-<lb/>wandlung ihrer Erſcheinungen begriffen iſt (ſiehe “Einleitung”).</s>
  <s xml:id="echoid-s4155" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4156" xml:space="preserve">Dieſes von Mayer entdeckte Geſetz wurde namentlich von <lb/>engliſchen Phyſikern weiter durchforſcht und hat auf vorzüg-<lb/>liche Ermittlungen und Erklärungen im Bereiche der Wiſſen-<lb/>ſchaft geführt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4157" xml:space="preserve">Im Jahre 1847 entdeckte auch <emph style="sp">Helmholtz</emph> un-<lb/>abhängig von Mayer dasſelbe Geſetz und wies hin auf den ge-<lb/>waltigen Einfluß dieſes Geſetzes im ganzen Bereiche der Natur. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4158" xml:space="preserve">Bei dieſer Gelegenheit ſprach Helmholtz den Gedanken aus, <lb/>daß die Wirkung des Mondes auf die Gewäſſer der Erde, <lb/>welche ſich als Ebbe und Flut äußert, von einem ſtörenden <lb/>Einfluſſe auf die Umdrehungszeit der Erde um ihre Axe ſein <lb/>und die Geſchwindigkeit der Umdrehung nach und nach ver-<lb/>mindern müſſe.</s>
  <s xml:id="echoid-s4159" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4160" xml:space="preserve">Die Aſtronomie hat von dieſer Behauptung lange Zeit <lb/>keine Notiz genommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4161" xml:space="preserve">Die Laplace’ſche Behauptung, daß die <lb/>Erdumdrehung ſich gleichgeblieben ſei ſeit Jahrtauſenden, wurde <lb/>wie ein unumſtößliches Axiom betrachtet. </s>
  <s xml:id="echoid-s4162" xml:space="preserve">Erſt im Jahre 1865 <lb/>kam <emph style="sp">Delaunay</emph> — wahrſcheinlich ohne zu wiſſen, daß ſie be-<lb/>reits von deutſchen Denkern ausgeſprochen wurde — auf die-<lb/>ſelbe zurück und erklärte damit, wie bereits erwähnt, die rätſel-<lb/>hafte Beſchleunigung des Mondlaufes.</s>
  <s xml:id="echoid-s4163" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4164" xml:space="preserve">Was Helmholtz nur vorübergehend behauptete, führt De-<lb/>launays Arbeit in umfaſſender Berechnung aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s4165" xml:space="preserve">Der Mond <lb/>verurſacht durch ſeine Anziehungskraft Flutwellen von gewal-<lb/>tigen Maſſen in unſeren Weltmeeren. </s>
  <s xml:id="echoid-s4166" xml:space="preserve">Wenn die Erde ſich <lb/>ſamt ihren Gewäſſern um die Axe dreht, ſind es immer neue <lb/>und wieder neue Flutmaſſen, welche ſich erheben und aufſtauen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4167" xml:space="preserve">Wo ſie an Ufer treffen, überfluten ſie dieſelben mit gewaltiger <lb/>Kraft und drängen Ströme zurück landeinwärts, die ins Meer <lb/>ſließen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4168" xml:space="preserve">Da dieſe Flutwellen in entgegengeſetzter Richtung der
<pb o="126" file="330" n="330"/>
Erdumdrehung ſich aufſtauen und an die Ufer und alle ihre <lb/>Flußmündungen anprallen, ſo kann die Kraft nicht unwirkſam <lb/>bleiben. </s>
  <s xml:id="echoid-s4169" xml:space="preserve">Die Umdrehung der Erde erleidet hier einen Wider-<lb/>ſtand, und bei der immer und ewig fortdauernden Wirkung <lb/>derſelben muß ſich auch fortdauernd die Umdrehungszeit der <lb/>Erde verlangſamen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4170" xml:space="preserve">Dies iſt die Urſache, daß das Haupt-<lb/>Uhrwerk der Aſtronomie einen langſameren Gang annimmt <lb/>und den Schein hervorruft, als ob die Geſtirne, und nament-<lb/>lich der Mond, einen ſchnelleren Lauf als früher innehalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s4171" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4172" xml:space="preserve">Nach Delaunays Berechnungen iſt der Tag, das heißt die <lb/>volle Umdrehungszeit der Erde, gegenwärtig länger als vor <lb/>dritthalbtauſend Jahren. </s>
  <s xml:id="echoid-s4173" xml:space="preserve">Der Unterſchied beträgt freilich nur <lb/>den fünfzigtauſendſten Teil einer Sekunde, und das iſt ein <lb/>Minimum, für welches wir nicht die leiſeſte Empfindung haben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4174" xml:space="preserve">Auch aſtronomiſch würde ſolch eine Verzögerung unentdeckt <lb/>bleiben, wenn ſich nicht die Wirkung fortdauernd erneuerte <lb/>und ſomit tagtäglich ſteigerte, und wenn man nicht Himmels-<lb/>erſcheinungen mit in Rechnung ziehen könnte, welche vor Jahr-<lb/>tauſenden ſtattgefunden haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s4175" xml:space="preserve">Dieſe im einzelnen ganz un-<lb/>merkliche Verzögerung der Erdumdrehung hat ſich nun in <lb/>einem ſich ſtets verſtärkenden Grade durch dritthalbtauſend <lb/>Jahre angeſammelt und beträgt nunmehr in Summa circa die <lb/>acht Stunden, welche man nach <emph style="sp">Hanſen</emph> der verſtärkten Lauf-<lb/>geſchwindigkeit des Mondes auf Rechnung geſetzt hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s4176" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4177" xml:space="preserve">Delaunays Rechnungen ſind noch immer der Gegenſtand <lb/>näherer Unterſuchungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4178" xml:space="preserve">Es hat der Tod den kühnen Denker <lb/>ereilt, ehe noch die Forſchung das erſte Stadium ihrer Er-<lb/>örterungen durchgemacht hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s4179" xml:space="preserve">Aber wer gleich ihm ſo tief in <lb/>die Vergangenheit und ſo weit in die Zukunft hinaus den <lb/>Blick gerichtet, der mißt das Menſchenleben nicht nach ſeiner <lb/>Dauer, ſondern wiegt es nach dem Gewichte der unſterblichen <lb/>Denkerkraft, die neue Geiſtesoffenbarungen anregt und aufſchließt, <lb/>welche in der Ewigkeit und Unendlichkeit der Zeiten wurzeln.</s>
  <s xml:id="echoid-s4180" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="127" file="331" n="331"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4181" xml:space="preserve">Die Umdrehungszeit der Erde wächſt, das iſt ſicher! Wie <lb/>lang wird die letzte ſein, wie kurz war die erſte?</s>
  <s xml:id="echoid-s4182" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4183" xml:space="preserve">Von letzten und erſten Naturerſcheinungen zu erzählen, <lb/>das überläßt die Wiſſenſchaft gerne der Glaubensphantaſie der <lb/>Träumer, die über Zeit und Raum ihren gefügigen Speku-<lb/>lationen folgen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4184" xml:space="preserve">So weit man indeſſen unſer bisheriges Wiſſen <lb/>als Leitſtern in dunkle Zeitläufte benützen mag, läßt ſich über <lb/>ſolche Fragen nur Folgendes ausſagen:</s>
  <s xml:id="echoid-s4185" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4186" xml:space="preserve">Es iſt eine erwieſene Thatſache, daß ein Himmelskörper, <lb/>der ſich um ſeine Axe bewegt, ſeine Umdrehungsgeſchwindigkeit <lb/>beſchleunigt, wenn er ſich zuſammenzieht und kleiner im Um-<lb/>fange wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s4187" xml:space="preserve">Es iſt ferner eine wohlverbürgte Theorie, daß <lb/>die Erde einſt einen viel größeren Umfang hatte als jetzt, und <lb/>es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß ſie an Eigenwärme ihres Innern <lb/>verliert, und ſomit auch nach und nach ſich verdichtet und an <lb/>Umfang fortdauernd abnimmt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4188" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4189" xml:space="preserve">Wenn ſich infolge der Flutungskraft des Mondes der <lb/>Tag verlängert, ſo läßt ſich vermuten, daß infolge der Zu-<lb/>ſammenziehung des Erdballs der Tag ſich wiederum auch ver-<lb/>kürzt und ſich ein Gleichgewicht der beiden Wirkungen wohl <lb/>einmal einſtellen muß.</s>
  <s xml:id="echoid-s4190" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4191" xml:space="preserve">Dies möge denen zum Troſte geſagt ſein, die in ihren <lb/>Sorgen um die Mutter Erde und ihre Bewohner gern über <lb/>Jahr-Millionen hinausſchweifen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4192" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb file="332" n="332"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div158" type="section" level="1" n="105">
<head xml:id="echoid-head119" xml:space="preserve"><emph style="bf">Von der Geſchwindigkeit des Lichtes.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head120" xml:space="preserve"><emph style="bf">I. Vom Licht.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4193" xml:space="preserve">Das Licht bewegt ſich vierzigtauſend Meilen in einer <lb/>Sekunde!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4194" xml:space="preserve">Dieſe Wahrheit, dieſes Ergebnis ganz getreuer Forſchung <lb/>hört man oft genug ausſprechen, lieſt man oft genug in <lb/>Schriften und ſieht man oft genug als Beweis der unendlichen <lb/>Schnelligkeit angeführt, mit welcher Kräfte der Natur den <lb/>Raum durcheilen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4195" xml:space="preserve">— Man muß geſtehen: </s>
  <s xml:id="echoid-s4196" xml:space="preserve">dieſen Ausſpruch <lb/>kennt wohl jeder Gebildete und Ungebildete, jeder ſogenannte <lb/>Gelehrte und Ungelehrte; </s>
  <s xml:id="echoid-s4197" xml:space="preserve">ja jedermann hat wohl an dieſe <lb/>Wahrheit ſo manche erbauliche und erhebende, dichteriſche oder <lb/>religiöſe Betrachtung angeknüpft.</s>
  <s xml:id="echoid-s4198" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4199" xml:space="preserve">Wie aber ſteht es mit dem Beweis für dieſe Wahrheit? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4200" xml:space="preserve">Iſt es auch nur dem Hundertſten von all’ denen, die von der <lb/>Geſchwindigkeit des Lichtes ſprechen, klar geworden, wie und <lb/>auf welchem Wege man zu der Erkenntnis gelangt iſt?</s>
  <s xml:id="echoid-s4201" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4202" xml:space="preserve">Wir glauben aus eigener Erfahrung verſichern zu können, <lb/>daß es im Publikum um die feſte und ſichere Überzeugung <lb/>von dieſer Wahrheit recht ſchlimm ſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4203" xml:space="preserve">Es ſteht ſchon darum <lb/>ſchlimm damit, weil dieſe Wahrheit eine allgemein bekannte <lb/>Wahrheit iſt und ſie deshalb wie eine vollgiltige Münze zirku-<lb/>liert, von der viele ſich ſchämen, ihr zu mißtrauen und ihr <lb/>Gepräge zu unterſuchen und zu erforſchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4204" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4205" xml:space="preserve">Wir wollen daher in wenigen Abſchnitten von dieſer <lb/>Wahrheit und dem Wege, wie man dahinter gekommen iſt, <lb/>ſprechen, und hoffen, hieran einige Betrachtungen zu knüpfen, <lb/>welche ſelbſt denen nicht überflüſſig erſcheinen werden, die von
<pb o="129" file="333" n="333"/>
dieſer Wahrheit die richtige Anſchauung ſamt ihren vollen Be-<lb/>weiſen beſitzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4206" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4207" xml:space="preserve">Das Licht bewegt ſich vierzigtauſend Meilen in jeder <lb/>Sekunde!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4208" xml:space="preserve">Das heißt, deutlicher ausgedrückt, wie folgt:</s>
  <s xml:id="echoid-s4209" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4210" xml:space="preserve">Jedes Licht kann von der Ferne aus geſehen werden; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4211" xml:space="preserve">aber man ſieht das Licht nicht ſofort in demſelben Augen-<lb/>blicke, wie es entſteht, in allen Entfernungen, ſondern es <lb/>dauert eine Zeit, bis, ſo zu ſagen, das Licht nach den Ent-<lb/>fernungen ſeine Strahlen hinſendet. </s>
  <s xml:id="echoid-s4212" xml:space="preserve">Fragt man nun: </s>
  <s xml:id="echoid-s4213" xml:space="preserve">wie <lb/>ſchnell läuft denn der Sendbote des Lichtes, wie ſchnell läuft <lb/>der Strahl? </s>
  <s xml:id="echoid-s4214" xml:space="preserve">ſo iſt eben die richtige Antwort darauf, daß der <lb/>Strahl in jeder Sekunde vierzigtauſend Meilen läuft.</s>
  <s xml:id="echoid-s4215" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4216" xml:space="preserve">Woher weiß man das? </s>
  <s xml:id="echoid-s4217" xml:space="preserve">Wer hat dieſe Strecke und dieſen <lb/>Lauf ausgemeſſen?</s>
  <s xml:id="echoid-s4218" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4219" xml:space="preserve">Hierauf iſt die Antwort, wenn man ſich nicht mit einer <lb/>oberflächlichen Redensart begnügen will, nicht ſo ganz und gar <lb/>leicht, ſondern man muß hierzu ſich erſt einen Begriff von dem <lb/>Sehen unſeres Auges machen und ſich über die Art, wie wir <lb/>ferne Gegenſtände wahrnehmen, mindeſtens eine allgemeine <lb/>Vorſtellung verſchaffen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4220" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4221" xml:space="preserve">Durch die Gewohnheit verleitet, glaubt man im allge-<lb/>meinen, als ob unſer Auge imſtande wäre, den Blick in die <lb/>Ferne zu richten, als wäre es gewiſſermaßen eine Kraft, eine <lb/>Gabe des Auges, welche nach entfernten Gegenſtänden hin-<lb/>dringt und dieſelben dort wahrnimmt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4222" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4223" xml:space="preserve">Dies iſt aber ein Irrtum.</s>
  <s xml:id="echoid-s4224" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4225" xml:space="preserve">Unſer Auge beſitzt keine Kraft, welche nach außen wirkt, <lb/>ſondern es empfindet nur den Eindruck der Lichtſtrahlen, welche <lb/>entfernte Gegenſtände nach allen Richtungen hin ausſtreuen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4226" xml:space="preserve">Es iſt nicht eine Kraft des Auges, des Blickes, welche hinauf-<lb/>dringt in die Räume des Himmels, um bis zu den Sternen <lb/>zu gelangen und dieſelben wahrzunehmen, ſondern die Sterne</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4227" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s4228" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s4229" xml:space="preserve">Volksbücher VIII.</s>
  <s xml:id="echoid-s4230" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="130" file="334" n="334"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4231" xml:space="preserve">ſind es, welche die Strahlen ihres Lichtes herabſenden, gleich-<lb/>giltig, ob wir das Auge aufthun, um ſie zu empfangen oder <lb/>nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4232" xml:space="preserve">Dieſe Strahlen, die unausgeſetzt ausſtrömen, gehen <lb/>völlig ſpurlos an uns verloren, wenn ſie nicht in gewiſſer <lb/>Richtung ins Auge fallen; </s>
  <s xml:id="echoid-s4233" xml:space="preserve">nur wenn wir das Auge ſo ge-<lb/>richtet halten, daß dieſe Strahlen durch dasſelbe gehen, nur <lb/>dann empfinden wir die Strahlen und bekommen, durch Er-<lb/>fahrungen belehrt, Kenntnis davon, daß außer uns Dinge <lb/>ſind, welche dieſe Empfindung in uns anregen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4234" xml:space="preserve">Dieſes <lb/>Empfinden der Lichtſtrahlen ferner Gegenſtände mit unſerm <lb/>Auge nennen wir das Sehen der Gegenſtände, obgleich <lb/>wir weder mit dem Auge zu den Gegenſtänden noch die <lb/>Gegenſtände ſelber zum Auge kommen, ſondern es nur eine <lb/>Empfindung iſt, die von dem Licht der fernen Gegenſtände ver-<lb/>anlaßt und von unſerem Auge aufgenommen wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s4235" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div159" type="section" level="1" n="106">
<head xml:id="echoid-head121" xml:space="preserve"><emph style="bf">II. Der Poſtenlauf des Lichtes.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4236" xml:space="preserve">Die Thatſache, daß nicht unſer Auge in die Fernen hinein-<lb/>dringt, ſondern nur von der Ferne her einen Eindruck empfängt <lb/>und empfindet, den wir Licht nennen, dieſe Thatſache muß <lb/>man vor allem feſthalten, um einzuſehen, woher es kommt, <lb/>daß wir z. </s>
  <s xml:id="echoid-s4237" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s4238" xml:space="preserve">ſofort Sterne ſehen, wenn wir die geſchloſſenen <lb/>Augen öffnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4239" xml:space="preserve">Wäre es eine Kraft unſeres Auges, die in <lb/>die Ferne dringt zu den geſehenen Gegenſtänden, ſo würde es <lb/>jedenfalls einer Zeit bedürfen, bevor dieſe Kraft hinauf zu den <lb/>Sternen dringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4240" xml:space="preserve">Da dies nicht der Fall iſt, da wir nahe und <lb/>ferne Gegenſtände in Einem Blick wahrnehmen, ſo kann dies, <lb/>wie es in Wahrheit iſt, nur daher rühren, daß die Lichtſtrahlen <lb/>aller Gegenſtände bereits bis zu uns und auch zu unſerm <lb/>Auge gedrungen ſind, und wir alſo das Auge nur zu öffnen <lb/>brauchen, um ſofort den Eindruck des Lichtes zu empfangen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4241" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="131" file="335" n="335"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4242" xml:space="preserve">Sind es aber wirklich uicht die Gegenſtände ſelber, die <lb/>wir ſehen, ſondern ſind es nur die Boten der Gegenſtände, <lb/>die Lichtſtrahlen, welche von den Gegenſtänden ausgegangen <lb/>ſind, und die unſer Auge treffen, ſo iſt der Fall ſehr gut <lb/>denkbar, daß wir etwas ſehen, was in Wirklichkeit ſchon zu <lb/>exiſtieren aufgehört hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s4243" xml:space="preserve">Wenn wir z. </s>
  <s xml:id="echoid-s4244" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s4245" xml:space="preserve">einen Blitz ſehen, <lb/>der viele Meilen weit von uns in einem Augenblick entſteht <lb/>und vergeht, ſo geſchieht dies ebenfalls nur durch die Licht-<lb/>ſtrahlen, welche von dem Ort des Blitzes ausgehen und nach <lb/>allen Richtungen hin, alſo auch bis zu unſerem Auge dringen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4246" xml:space="preserve">Die Lichtſtrahlen, dieſe Boten des Blitzes, brauchen aber eine <lb/>gewiſſe Zeit, um mehrere Meilen weit hinzufliegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4247" xml:space="preserve">Wenn ſie <lb/>bei uns ankommen, kann alſo der Blitz am Orte ſeiner Ent-<lb/>ſtehung ſchon erloſchen ſein; </s>
  <s xml:id="echoid-s4248" xml:space="preserve">wir ſehen ihn alſo erſt zu einer <lb/>Zeit, wo er bereits vergangen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4249" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4250" xml:space="preserve">In Wahrheit iſt es nicht nur mit dem Blitz, ſondern mit <lb/>allen Dingen ſo, ſie mögen nahe oder entfernt ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s4251" xml:space="preserve">Wir ſehen <lb/>nicht die Gegenſtände ſelber, ſondern wir empfinden nur die <lb/>Lichtſtrahlen, die ſie uns ſenden; </s>
  <s xml:id="echoid-s4252" xml:space="preserve">wir ſehen nicht das, was <lb/>wirklich im jetzigen Augenblicke da iſt oder geſchieht, ſondern <lb/>nur das, was da war und geſchah, als die Lichtſtrahlen, welche <lb/>jetzt unſer Auge treffen, von den Dingen ausgingen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4253" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4254" xml:space="preserve">Wir ſehen in dieſem Sinne immer nur die Vergangenheit <lb/>und niemals die Gegenwart.</s>
  <s xml:id="echoid-s4255" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4256" xml:space="preserve">Macht man ſich mit dieſem Gedanken erſt vollkommen ver-<lb/>traut, — und das iſt eben gar nicht ſo leicht, wie das die-<lb/>jenigen meinen, die dies alles ſchon längſt wiſſen, ſo ſtellt ſich <lb/>freilich die Frage heraus: </s>
  <s xml:id="echoid-s4257" xml:space="preserve">Um wie viel ſpäter ſehen wir denn <lb/>eigentlich die Dinge, als ſie in Wirklichkeit ſind?</s>
  <s xml:id="echoid-s4258" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4259" xml:space="preserve">Ein Blitz, den wir ſehen, exiſtiert im Augenblick, wo ſein <lb/>Strahl bis zu uns ins Auge dringt, vielleicht gar nicht mehr. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4260" xml:space="preserve">Eine Wolke am Himmel, die fortwährend ihre Geſtalt und ihren <lb/>Ort verändert, wird von uns immer nur in einer Geſtalt und
<pb o="132" file="336" n="336"/>
an einem Orte geſehen, wie und wo ſie in Wahrheit vielleicht <lb/>gar nicht mehr iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4261" xml:space="preserve">Die Sonne, die am Himmel dahin wandert, <lb/>ſteht nie mehr genau an der Stelle, wo wir ſie ſehen, weil die <lb/>Lichtſtrahlen, die an unſer Auge gelangen, noch aus der Zeit <lb/>herrühren, wo ſie vor 8 Minuten von der Sonne ausgingen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4262" xml:space="preserve">In der Zwiſchenzeit, daß die Strahlen bis zu uns kamen, iſt <lb/>offenbar die Sonne ein Stück weiter gegangen, ohne daß wir <lb/>davon etwas merken können. </s>
  <s xml:id="echoid-s4263" xml:space="preserve">— Die noch weit, weit entfern-<lb/>teren Sterne, die Fixſterne, können möglicherweiſe ſchon lange <lb/>Zeit erloſchen ſein, während ihre Strahlen erſt zu uns kommen, <lb/>und wir erhalten das Licht, ihre Boten, vielleicht zu einer Zeit, <lb/>in der die Sterne ſelber gar nicht mehr vorhanden ſind, ähnlich, <lb/>wie wir zuweilen einen Brief von Freundeshand erhalten, der <lb/>während der Zeit des Poſtenlaufes geſtorben iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4264" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4265" xml:space="preserve">Wie lange aber dauert der Poſtenlauf des Lichtes? </s>
  <s xml:id="echoid-s4266" xml:space="preserve">Das <lb/>iſt die Frage. </s>
  <s xml:id="echoid-s4267" xml:space="preserve">— Und hierauf lautet die Antwort: </s>
  <s xml:id="echoid-s4268" xml:space="preserve">Der Licht-<lb/>ſtrahl iſt eine ungeheuer ſchnelle Poſt, ſie bringt die Nachricht <lb/>von vierzigtauſend Meilen her in einer einzigen Sekunde.</s>
  <s xml:id="echoid-s4269" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4270" xml:space="preserve">Wer ſich’s überdenkt, was eine Sekunde für eine gar kleine <lb/>Zeit und was vierzigtauſend Meilen für eine gar lange Strecke <lb/>iſt, der darf es niemandem verargen, wenn er mit Mißtrauen <lb/>dieſe Antwort aufnimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4271" xml:space="preserve">Ja, wir geſtehen offen, wer dieſe <lb/>Antwort gleichgültig und gläubig aufnimmt, ohne zu fragen: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4272" xml:space="preserve">Woher weiß man das? </s>
  <s xml:id="echoid-s4273" xml:space="preserve">dem trauen wir entweder wenig <lb/>Geiſt oder wenig Intereſſe für Natur-Wahrheiten zu, und <lb/>wir fürchten, daß er eben ſo leichtſinnig bereit ſein wird, dem <lb/>thörichtſten Aberglauben zu huldigen, wenn man ihm dieſen <lb/>nur mit dem ernſten Geſicht der Wahrhaftigkeit verſichert.</s>
  <s xml:id="echoid-s4274" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4275" xml:space="preserve">Darum aber wollen wir die Frage beantworten: </s>
  <s xml:id="echoid-s4276" xml:space="preserve">Woher <lb/>weiß man das? </s>
  <s xml:id="echoid-s4277" xml:space="preserve">Wer hat den Weg gemeſſen? </s>
  <s xml:id="echoid-s4278" xml:space="preserve">Wer iſt imſtande <lb/>geweſen, den Poſtenlauf des Lichtes zu kontrollieren? </s>
  <s xml:id="echoid-s4279" xml:space="preserve">— <lb/>Dieſe Antwort ſoll uns im nächſten Abſchnitt beſchäftigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4280" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="133" file="337" n="337"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div160" type="section" level="1" n="107">
<head xml:id="echoid-head122" xml:space="preserve"><emph style="bf">III. Was uns der Planet Jupiter angeht.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4281" xml:space="preserve">Um zu zeigen, wie es möglich iſt, die Geſchwindigkeit des <lb/>Lichtes zu meſſen, ſind wir genötigt, unſere Leſer wieder auf das <lb/>Gebiet der Naturwiſſenſchaft zu führen, das man das erhabenſte <lb/>nennt, obwohl das Erhabene nicht minder im unendlich <lb/>Kleinen, wie im unendlich Großen liegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4282" xml:space="preserve">Wir müſſen unſere <lb/>Leſer auf das Gebiet der Aſtronomie führen, wo man mit <lb/>Millionen von Meilen umgeht wie im gewöhnlichen Leben <lb/>mit Metern, und wo die Erſcheinungen mit ſolcher Genauig-<lb/>keit vorher berechnet werden können, daß ſchon eine Sekunde <lb/>kein kleiner, unmerklicher Zeitabſchnitt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4283" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4284" xml:space="preserve">Unter die Erſcheinungen des Himmels, die man mit größter <lb/>Genauigkeit berechnen kann und auch berechnet, gehören die <lb/>Mond- und Sonnenfinſterniſſe auf dem Planeten Jupiter.</s>
  <s xml:id="echoid-s4285" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4286" xml:space="preserve">Man ſollte kaum glauben. </s>
  <s xml:id="echoid-s4287" xml:space="preserve">daß uns das, was auf dem <lb/>Jupiter geſchieht, ſo viel angeht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4288" xml:space="preserve">Der Planet Jupiter iſt <lb/>circa 103 Millionen Meilen von der Sonne entfernt, und da <lb/>er ſich ebenſo im Kreiſe um die Sonne bewegt, wie die Erde, <lb/>welche gegen 20 Millionen Meilen von der Sonne entfernt <lb/>iſt, ſo kommt es, daß Jupiter zuweilen der Erde um 20 Mil-<lb/>lionen Meilen näher und zuweilen um 20 Millionen entfernter <lb/>iſt, als der Sonne. </s>
  <s xml:id="echoid-s4289" xml:space="preserve">Jedenfalls iſt die größte Nähe Jupiters <lb/>zur Erde immer noch eine Strecke von 83 Millionen Meilen, und <lb/>es läßt ſich gar nicht ſo leicht abſehen, was nur dabei her-<lb/>auskommt, ob wir die Sonnen- und Mondfinſterniſſe, die ſie <lb/>dort auf dem Jupiter haben, genau kennen oder nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4290" xml:space="preserve">— Eine <lb/>nähere Betrachtung indeſſen lehrt uns, daß uns das Ding doch <lb/>mehr angeht, ja, daß jene Finſterniſſe und deren genaue Vor-<lb/>ausberechnung für uns von größerem praktiſchen Nutzen ſind, <lb/>als die Kenntnis vieler unſerer eignen Sonnen- und Mond-<lb/>finſterniſſe.</s>
  <s xml:id="echoid-s4291" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4292" xml:space="preserve">Die größte Schwierigkeit der Schiffahrt beſteht nämlich
<pb o="134" file="338" n="338"/>
darin, daß der Seefahrer, wenn er nur Waſſer und Himmel <lb/>um ſich her ſieht, nicht wiſſen kann, wo er ſich befindet, und <lb/>mit Hilfe aller Land- und Waſſerkarten ſeinen Weg nicht fort-<lb/>zuſetzen imſtande iſt, ſobald ihm nicht die Aſtronomie zu Hilfe <lb/>kommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4293" xml:space="preserve">Wie ſichs von ſelbſt verſteht, muß der Kapitän zu <lb/>jeder Stunde genau wiſſen, wie weit er ſich im Norden oder <lb/>Süden, im Oſten oder im Weſten auf der Erdkugel befindet.</s>
  <s xml:id="echoid-s4294" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4295" xml:space="preserve">Was nun Norden oder Süden anbetrifft, da hat es der <lb/>Schiffskapitän ſehr leicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4296" xml:space="preserve">Er braucht nur die Höhe der Sonne <lb/>um Mittag, die Höhe einzelner Sterne des Nachts zu beob-<lb/>achten, um ſofort zu wiſſen, auf welchem Strich er ſich von <lb/>Nord oder Süd befindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s4297" xml:space="preserve">Die Sterne des Himmels ſtehen in <lb/>Bezug auf Norden und Süden feſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4298" xml:space="preserve">Der Sternenhimmel ſieht <lb/>im Norden anders aus als im Süden, und hieraus, aus dem <lb/>Anblick des Himmels, kann ſich der Führer des Schiffes recht <lb/>gut zurecht finden. </s>
  <s xml:id="echoid-s4299" xml:space="preserve">Aber was Oſt und Weſt betrifft, da iſt <lb/>er ſchlimm dran. </s>
  <s xml:id="echoid-s4300" xml:space="preserve">Die Erde nämlich dreht ſich in einem fort <lb/>von Weſten nach Oſten. </s>
  <s xml:id="echoid-s4301" xml:space="preserve">Alles, was im Oſten am Himmel zu <lb/>ſehen iſt, wird nach einigen Stunden auch im Weſten zu ſehen <lb/>ſein, wenn ſich die Erde erſt ſoweit gedreht haben wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s4302" xml:space="preserve">Der <lb/>Schiffsführer kann nun der geſcheiteſte Aſtronom ſein, er wird <lb/>trotzdem nicht wiſſen können, ob er ſich ſeit ſeiner Abfahrt aus <lb/>der Heimat nach Oſten oder nach Weſten bewegt hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s4303" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4304" xml:space="preserve">Aus dieſer Verlegenheit kann ihn nur Eins retten, und <lb/>das iſt, wenn ihm jemand genau ſagen kann, wie ſpät es <lb/>augenblicklich in der Heimat iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4305" xml:space="preserve">Blickt er z. </s>
  <s xml:id="echoid-s4306" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s4307" xml:space="preserve">auf ſeine Uhr <lb/>oder mißt er die Höhe der Sonne und ſieht, daß es gerade <lb/>Mittag iſt, ſo iſt er aus aller Verlegenheit, ſobald er nur weiß, <lb/>ob in dieſem Augenblick in ſeiner Heimat Vor- oder Nachmittag <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4308" xml:space="preserve">Iſt es in der Heimat noch vor dem Mittag, ſo weiß er, <lb/>daß die Heimat im Weſten liegt, er alſo nach Oſten gefahren iſt; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4309" xml:space="preserve">iſt es in der Heimat ſchon Nachmittag, ſo iſt es klar, daß ſie im <lb/>Oſten liegt und er alſo weſtlich gefahren ſein muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s4310" xml:space="preserve">— Hat nun
<pb o="135" file="339" n="339"/>
der Kapitän eine gute Schiffs-Uhr aus der Heimat mitgenommen, <lb/>die ihm jederzeit zeigt, was die Glocke in der Heimat ge-<lb/>ſchlagen hat, ſo kann er aus dem Unterſchiede dieſer Uhr und der <lb/>ſeinigen, die er täglich nach der Sonne ſtellt, ſehr genau wiſſen, <lb/>wie viel er öſtlich oder weſtlich von der Heimat entfernt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4311" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4312" xml:space="preserve">Was aber macht ein Schiffsführer, der monatelang auf <lb/>dem Meere iſt und die ganze Zeit alſo nicht imſtande war, <lb/>ſeine Heimats-Uhr zu regulieren, die unmöglich mehr genau <lb/>richtig gehen kann, weil Kälte und Wärme und Schiffs-Er-<lb/>ſchütterungen niemals ohne Einfluß auf den Gang derſelben <lb/>ſind? </s>
  <s xml:id="echoid-s4313" xml:space="preserve">Was macht er gar, wenn er einmal vergeſſen hat, die <lb/>Uhr aufzuziehen und dieſe ſtehen geblieben iſt? </s>
  <s xml:id="echoid-s4314" xml:space="preserve">Woher ſoll <lb/>er wiſſen, wie ſpät es in der Heimat iſt, und wie ſoll er ſich <lb/>auf dem Meere zurecht finden?</s>
  <s xml:id="echoid-s4315" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4316" xml:space="preserve">In dieſen und ähnlichen Fällen, die gar häufig vor-<lb/>kommen, hilft ihm, wie wir im nächſten Abſchnitt zeigen werden, <lb/>am leichteſten eine Mond- oder Sonnenfinſternis auf dem <lb/>Planeten Jupiter aus der Not. </s>
  <s xml:id="echoid-s4317" xml:space="preserve">—</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div161" type="section" level="1" n="108">
<head xml:id="echoid-head123" xml:space="preserve"><emph style="bf">IV. Wie die Geſchwindigkeit des Lichtes gemeſſen</emph> <lb/><emph style="bf">wurde.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4318" xml:space="preserve">Jupiter nämlich hat vier Monde, die ſich um ihn herum <lb/>im Kreiſe bewegen, und die ſchon mit einem guten Taſchen-<lb/>fernrohr geſehen werden können. </s>
  <s xml:id="echoid-s4319" xml:space="preserve">Von dieſen vier Monden <lb/>ſteht bald der eine oder der andere ſo, daß ſein Schatten auf <lb/>Jupiter fällt, oder es tritt der eine oder der andere in den <lb/>Schatten Jupiters ſo, daß er plötzlich unſichtbar wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s4320" xml:space="preserve">Schau-<lb/>ſpiele dieſer Art, die man alle ſehr bequem beobachten kann, <lb/>kommen im Jahre außerordentlich häufig vor; </s>
  <s xml:id="echoid-s4321" xml:space="preserve">und dieſe <lb/>Schauſpiele werden ganz genau jahrelang vorausberechnet und <lb/>in Büchern notiert, wann dieſe und jene Erſcheinung eintreffen
<pb o="136" file="340" n="340"/>
wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s4322" xml:space="preserve">— Der Schiffskapitän, der ſich ſolch ein Buch mit Vor-<lb/>ausberechnungen mit auf die Reiſe nimmt, findet in demſelben <lb/>genau Stunde, Minute und Sekunde angegeben, wann jedesmal <lb/>dergleichen am Himmel paſſiert, und zwar iſt die Zeit aufs <lb/>allergenaueſte nach dem Heimats-Ort berechnet.</s>
  <s xml:id="echoid-s4323" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4324" xml:space="preserve">Iſt nun die Heimats-Uhr des Schiffes abgelaufen oder <lb/>fürchtet der Seefahrer, daß ſie nicht genau richtig geht, ſo <lb/>braucht er nur ſein Fernrohr zur Hand zu nehmen und irgend <lb/>eine Finſternis auf dem Jupiter abzuwarten. </s>
  <s xml:id="echoid-s4325" xml:space="preserve">Sobald er dieſe <lb/>ſieht — und ſolche iſt immer ſehr leicht zu bemerken — ſchlägt <lb/>er ſein Buch nach und findet, wie ſpät es daheim in dieſem <lb/>Augenblick iſt, und ſomit iſt er imſtande, die ihm ſo notwendige <lb/>Heimats-Uhr in Ordnung zu bringen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4326" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4327" xml:space="preserve">Zwar giebt es noch einige Himmelserſcheinungen, die dem <lb/>Schiffsführer aus gleicher Verlegenheit helfen können, keine <lb/>jedoch iſt ſo leicht und einfach und genau, wie die Beobachtung <lb/>der Verfinſterungen auf dem Planeten Jupiter, und es wird <lb/>jedermann nunmehr einſehen, daß die Verfinſterungen uns <lb/>wohl etwas angehen und deren Berechnungen für uns vom <lb/>größten praktiſchen Nutzen ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s4328" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4329" xml:space="preserve">Wer dieſe Zeilen beim Genuß ſeines Kaffees oder Thees <lb/>lieſt, ohne viel an den Nutzen der Schiffahrt zu denken, der <lb/>möge wohl überlegen, daß ſein Lieblingsgetränk wahrſcheinlich <lb/>noch einmal ſo teuer ſein würde, wenn nicht die Fahrten auf <lb/>dem Meere durch die Verfinſterungen auf dem Jupiter leicht <lb/>zu regeln wären, und er wird zugeben müſſen, daß uns die <lb/>Aſtronomie ſelbſt dann ſehr zu Nutzen kommt, wenn wir, im <lb/>Trocknen ſitzend, ihrer am allerwenigſten gedenken.</s>
  <s xml:id="echoid-s4330" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4331" xml:space="preserve">Was aber hat das alles mit der Geſchwindigkeit des <lb/>Lichtes zu thun?</s>
  <s xml:id="echoid-s4332" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4333" xml:space="preserve">Das wollen wir ſogleich ſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4334" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4335" xml:space="preserve">Die Verfinſterungen der Jupitermonde waren recht eigentlich <lb/>die Urſache, hinter den Gedanken zu kommen, daß das Licht
<pb o="137" file="341" n="341"/>
eine Zeit braucht, um durch den Raum zu fliegen, und das <lb/>weitere Nachdenken brachte es heraus, wie ſchnell dieſer Flug <lb/>iſt oder wie weit das Licht in jeder Sekunde ſich fortbewegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4336" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4337" xml:space="preserve">Wie bereits geſagt, iſt es von großer praktiſcher Wichtigkeit, <lb/>die Verfinſterungen auf dem Planeten Jupiter recht genau auf <lb/>Minute und Sekunde zu berechnen, und hierzu war eine ge-<lb/>raume Zeit nötig, um die Umläufe und Verfinſterungen jedes <lb/>einzelnen der vier Monde recht genau zu beobachten.</s>
  <s xml:id="echoid-s4338" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4339" xml:space="preserve">Allein hierbei fand ſich ein merkwürdiger, für den erſten <lb/>Augenblick ſehr auffallender Umſtand.</s>
  <s xml:id="echoid-s4340" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4341" xml:space="preserve">Wir haben es bereits geſagt, daß der Planet Jupiter zu-<lb/>weilen der Erde 20 Millionen Meilen näher ſteht, als der <lb/>Sonne und zuweilen von der Erde 20 Millionen Meilen ent-<lb/>fernter iſt, als von der Sonne. </s>
  <s xml:id="echoid-s4342" xml:space="preserve">Kommt nämlich die Erde bei <lb/>ihrem Umlauf um die Sonne zwiſchen Jupiter und Sonne zu <lb/>ſtehen, ſo iſt ihr Jupiter um dieſe Strecke näher; </s>
  <s xml:id="echoid-s4343" xml:space="preserve">ungefähr <lb/>nach ſechs Monaten aber hat die Erde ihren halben Lauf <lb/>vollendet und ſteht dann auf der entgegengeſetzten Seite; </s>
  <s xml:id="echoid-s4344" xml:space="preserve">ſie iſt <lb/>alſo von Jupiter um 40 Millionen Meilen entfernter, als vor <lb/>einem halben Jahre. </s>
  <s xml:id="echoid-s4345" xml:space="preserve">— Nun aber zeigt ſich der Umſtand, daß <lb/>die einfache Vorausberechnung der Finſterniſſe auf Jupiter <lb/>niemals ſtimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4346" xml:space="preserve">Iſt nämlich der Jupiter der Erde am nächſten, <lb/>ſo kommt die Verfinſterung um acht Minuten zu früh; </s>
  <s xml:id="echoid-s4347" xml:space="preserve">iſt Jupiter <lb/>der Erde am entfernteſten, ſo tritt die berechnete Erſcheinung <lb/>um acht Minuten ſpäter, als die mittlere berechnete Zeit ein.</s>
  <s xml:id="echoid-s4348" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4349" xml:space="preserve">Dies hat man nicht einmal, ſondern an die hundert Male <lb/>beobachtet und den Grund davon auch ganz richtig heraus-<lb/>gefunden. </s>
  <s xml:id="echoid-s4350" xml:space="preserve">Er liegt darin, daß wenn wir Jupiter 20 Millionen <lb/>Meilen näher ſind, als in der mittleren Entfernung, das Licht <lb/>nicht nötig hat, dieſe 20 Millionen Meilen zu laufen, um die <lb/>Erſcheinung uns zu zeigen; </s>
  <s xml:id="echoid-s4351" xml:space="preserve">befindet ſich die Erde aber nach <lb/>ſechs Monaten 40 Millionen Meilen weiter ab vom Jupiter, <lb/>ſo ſehen wir die Finſternis erſt, wenn das Licht auch dieſe
<pb o="138" file="342" n="342"/>
Strecke durchlaufen hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s4352" xml:space="preserve">Hieraus aber ergiebt ſich mit Leichtig-<lb/>keit, daß das Licht 20 Millionen Meilen in acht Minuten <lb/>durchläuft, und das macht auf die Sekunde circa vierzig-<lb/>tauſend Meilen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4353" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4354" xml:space="preserve">Und dies Reſultat hat ſich aufs glänzendſte durch eine <lb/>andere erhabene Entdeckung beſtätigt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4355" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div162" type="section" level="1" n="109">
<head xml:id="echoid-head124" xml:space="preserve"><emph style="bf">V. Die weiteren Beſtätigungen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4356" xml:space="preserve">Es war im Jahre 1676, als der däniſche Naturforſcher <lb/>Olaw Römer die herrliche Entdeckung machte, daß die Ver-<lb/>zögerungen, welche ſich an den Verfinſterungen der Jupiter-<lb/>Monde zeigten, ſo oft die Erde ſich von dieſem Planeten ent-<lb/>fernte, nur daher rühren, daß das Licht, der Bote, der uns <lb/>von dem, was in der Ferne vorgeht, Beſcheid bringt, ſich durch <lb/>vergrößerte Entfernung verzögert, und alſo ſeine Botſchaft <lb/>ſpäter ausrichtet, als es in der Nähe der Fall wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s4357" xml:space="preserve">Derſelbe <lb/>geiſtvolle Aſtronom berechnete auch gleich die größer werdende <lb/>Entfernung und die ſtattgehabte Verzögerung des Lichts und <lb/>zeigte, daß ſich das Licht in jeder Sekunde an 40 000 Meilen <lb/>im Raum fortbewegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4358" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4359" xml:space="preserve">Wie es mit allen erhabenen Erfindungen und Entdeckungen <lb/>geht, ging es auch hier. </s>
  <s xml:id="echoid-s4360" xml:space="preserve">Es trat dieſer Entdeckung der große <lb/>Zweifel entgegen, ob denn überhaupt aus dem einen Beiſpiel <lb/>des Jupiters ein allgemeiner Schluß gezogen werden dürfe. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4361" xml:space="preserve">Es wäre möglich, daß jede Art von Licht, daß das Licht jedes <lb/>Sternes etwa eben ſo eine verſchiedene Geſchwindigkeit beſitze, <lb/>wie es eine verſchiedene Helligkeit der Farbe beſitzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4362" xml:space="preserve">Aus dem <lb/>einen Fall, aus dem, was in dem Mondſyſtem des Planeten <lb/>Jupiter vorgeht, und aus den Erſcheinungen, die ſich an <lb/>demſelben für uns zeigen, läßt ſich in der That nicht viel auf <lb/>die Natur des Lichtes ſchließen; </s>
  <s xml:id="echoid-s4363" xml:space="preserve">es wäre ja möglich, daß gerade
<pb o="139" file="343" n="343"/>
nur das Licht dieſes Planeten jene Geſchwindigkeit hätte, <lb/>während es bei anderem Lichte ganz anders iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4364" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4365" xml:space="preserve">Indeſſen folgte dem Zweifel, wie das immer bei größeren <lb/>Entdeckungen zu geſchehen pflegt, die Beobachtung neuer That-<lb/>ſachen, und es zeigte ſich bald eine Beſtätigung der Wahrheit, <lb/>die nicht leicht glänzender möglich iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4366" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4367" xml:space="preserve">Schon bei den Erſcheinungen, die ſich am Jupiter zeigen, <lb/>darf man nicht außer acht laſſen, daß es nicht Jupiters und <lb/>ſeiner Monde eigenes Licht iſt, welches wir überhaupt ſehen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4368" xml:space="preserve">Jupiter iſt ein an ſich dunkler Planet, der erſt von der Sonne <lb/>erleuchtet wird, und ſeinen Monden geht es ebenſo. </s>
  <s xml:id="echoid-s4369" xml:space="preserve">Gerade <lb/>daß die Verfinſterungen Jupiters und der Monde ſtattfinden, <lb/>ſo oft ſie ſich gegenſeitig das Sonnenlicht entziehen, gerade <lb/>das giebt an ſich ſchon den ſchlagendſten Beweis, daß wir <lb/>am Jupiterſyſtem die Natur des Sonnenlichts kennen lernen, <lb/>welches auf den Jupiter hingelangt und von dort erſt zurück-<lb/>geſtrahlt wird nach allen Richtungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4370" xml:space="preserve">Die gefundene Ge-<lb/>ſchwindigkeit des Lichtes iſt alſo eigentlich die des Sonnenlichts, <lb/>und da das ganze Sonnenſyſtem, da ſämtliche Planeten ſamt <lb/>ihren Monden vom Sonnenlicht erleuchtet werden und nur <lb/>durch dieſes für unſere Augen wahrnehmbar ſind, ſo hätte man <lb/>wohl das Recht, das, was beim Jupiter ſich zeigte, als ein <lb/>Geſetz anzuerkennen, das dem Sonnenlicht eigen iſt und alſo <lb/>im ganzen Sonnenſyſtem gilt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4371" xml:space="preserve">Indeſſen ließ ſich noch immer <lb/>der Einwand erheben, daß es vielleicht nur der Planet Jupiter <lb/>und ſeine Monde ſein könnten, die das Sonnenlicht in ſolcher <lb/>Geſchwindigkeit zurückſtrahlen, ohne daß es notwendig iſt, daß <lb/>ein gleiches allenthalben geſchieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4372" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4373" xml:space="preserve">Durch die Entdeckung der Monde des noch entfernteren <lb/>Planeten Saturn und durch die Berechnung und Beobachtung <lb/>der auch bei dieſen ſtattgehabten Verfinſterungen hat ſich aber <lb/>gezeigt, daß das, was für Jupiter gilt, auch für die übrigen <lb/>Planeten der Fall iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4374" xml:space="preserve">Auch dieſe Verfinſterungen verſpäten
<pb o="140" file="344" n="344"/>
ſich ſcheinbar, ſo oft die Erde ſich von dem Planeten entfernt; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4375" xml:space="preserve">und auch hier iſt die Verſpätung genau dieſelbe wie beim <lb/>Jupiter, ſo daß es klar iſt, daß die am Jupiter entdeckte Ge-<lb/>ſchwindigkeit des Lichtes nicht von beſonderer Eigenſchaft des <lb/>Jupiterſyſtems, ſondern von der Natur des Sonnenlichtes ab-<lb/>hängig iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4376" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4377" xml:space="preserve">Aber die Entdeckung ſollte nicht nur innerhalb des Sonnen-<lb/>ſyſtems, ſondern in die Unendlichkeit weit hinaus ihre Beſtätigung <lb/>finden und durch das ganze unendliche Bereich des Welt-<lb/>raumes bewahrheitet werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s4378" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4379" xml:space="preserve">Es ſteht durch eine glänzende Entdeckung des engliſchen <lb/>Aſtronomen Bradley feſt, daß nicht nur das Licht der Sonne <lb/>dieſe Geſchwindigkeit hat, ſondern daß das Licht ſämtlicher <lb/>Fixſterne ohne Ausnahme mit gleicher Geſchwindigkeit den <lb/>Raum durcheilt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4380" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4381" xml:space="preserve">Die Entdeckung Bradleys iſt unter dem Namen die Ab-<lb/>Irrung des Lichtes, “die Aberration”, in der Wiſſenſchaft <lb/>bekannt, und wir wollen es im nächſten Abſchnitt verſuchen, <lb/>dieſelbe, wenigſtens im allgemeinen, unſeren Leſern vorzuführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4382" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div163" type="section" level="1" n="110">
<head xml:id="echoid-head125" xml:space="preserve"><emph style="bf">VI. Die Entdeckung Bradleys.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4383" xml:space="preserve">Die herrliche Entdeckung Bradleys, die den Beweis führte, <lb/>daß es wirklich dem Menſchengeiſt gelungen iſt, ein Geſetz zu <lb/>erforſchen, welches nicht nur in dem großen Raum des Sonnen-<lb/>ſyſtems Geltung hat, ſondern auch weit in die Unendlichkeit <lb/>hinaus und über alle Räume hinweg, zu welchem ſich kaum <lb/>mehr die Phantaſie zu erheben vermag, — dieſe Entdeckung <lb/>Bradleys beruht auf folgendem Lehrſatz:</s>
  <s xml:id="echoid-s4384" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4385" xml:space="preserve">Die Geſchwindigkeit des Lichtes der Sterne durch den Welt-<lb/>raum, verbunden mit der Bewegung der Erde in ihrer Bahn, <lb/>bringt es zu Wege, daß wir die Sterne nicht an dem Orte
<pb o="141" file="345" n="345"/>
ſehen, wo ſie wirklich ſtehen, ſondern ein klein wenig nach der <lb/>Seite hin geſchoben, nach welcher hin ſich die Erde bewegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4386" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4387" xml:space="preserve">Um dieſen Zuſtand möglichſt einfach zu erklären, müſſen <lb/>wir uns an ein Beiſpiel halten, das im gewöhnlichen Leben <lb/>recht gut denkbar iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4388" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4389" xml:space="preserve">Stellen wir uns vor, daß ein mutwilliger Verbrecher eine <lb/>Kugel abſchießt auf einen im vollen Zug ihm vorüberfahrenden <lb/>Eiſenbahn-Wagen, und daß die Kugel ſtark genug iſt, durch <lb/>die beiden Wände des Wagens zu gehen, ſo daß ſie auf der <lb/>einen Seite in den Wagen eintritt und zur gegenüberſtehenden <lb/>Wand wieder hinausfliegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4390" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4391" xml:space="preserve">Es läßt ſich denken, daß man, um genau zu wiſſen, wie <lb/>es bei dieſer Miſſethat zugegangen iſt, den Wagen oder rich-<lb/>tiger die Löcher in beiden Wänden unterſuchen wird, und <lb/>wenn dies geſchieht, ſo findet man, daß die Kugel einen ganz <lb/>eigentümlichen Lauf durch den Wagen genommen hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s4392" xml:space="preserve">Nehmen <lb/>wir an, der Thäter habe ſein Gewehr ſo gerichtet gehabt, daß <lb/>der Schuß genau quer durch den Wagen hätte gehen müſſen, <lb/>ſo wird die Unterſuchung ergeben, daß dies durchaus nicht <lb/>der Fall iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4393" xml:space="preserve">Die beiden Löcher in den gegenüberſtehenden <lb/>Wänden werden nicht ſo gerichtet ſein, daß ſie ſich gegenüber-<lb/>ſtehen, ſondern das Loch, das die Kugel beim Eintritt in den <lb/>Wagen macht, wird ein wenig nach vorn, das Loch, das die <lb/>Kugel beim Austritt aus dem Wagen macht, wird ein wenig <lb/>weiter nach hinten liegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4394" xml:space="preserve">Wollte man eine Stange durch <lb/>beide Löcher ſtecken, ſo würde die Stange nicht, wie man er-<lb/>warten ſollte, in gerader Richtung mit den Bänken des Wagens, <lb/>ſondern ſie würde ſchräg zu liegen kommen, und jemand, der <lb/>dies ſieht, würde behaupten, der Schuß kann unmöglich gerade <lb/>gezielt geweſen, ſondern müſſe ſchräg von vorne hergekommen <lb/>ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s4395" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4396" xml:space="preserve">Und doch iſt der Schuß ganz gerade gerichtet geweſen und <lb/>die Kugel iſt auch ganz gerade, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s4397" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s4398" xml:space="preserve">ſenkrecht durch die Bahn
<pb o="142" file="346" n="346"/>
gelaufen, obgleich ſie durch den Wagen in ſchiefer Richtung <lb/>gelaufen zu ſein ſcheint.</s>
  <s xml:id="echoid-s4399" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4400" xml:space="preserve">Woher aber kommt das?</s>
  <s xml:id="echoid-s4401" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4402" xml:space="preserve">Ein wenig Nachdenken wird dies leicht erklärlich machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4403" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4404" xml:space="preserve">Der Wagen war im vollen Lauf begriffen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4405" xml:space="preserve">Als die Kugel <lb/>die erſte Wand durchbohrt hatte und nach der zweiten hinflog, <lb/>mußte ſie durch die Breite des Wagens ihren Weg nehmen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4406" xml:space="preserve">In der Zeit aber, daß die Kugel dieſen kleinen Weg von einer <lb/>Wand zur andern machte, lief der Wagen ein Stück vorwärts. </s>
  <s xml:id="echoid-s4407" xml:space="preserve"><lb/>Als die andere Wand wirklich von der Kugel durchſchoſſen <lb/>wurde, konnte dies nicht mehr an der Stelle ſtattfinden, wo <lb/>es der Fall geweſen wäre, wenn der Wagen ruhig geſtanden <lb/>hätte, ſondern es geſchah um ein ſo großes Stück hinter dieſer <lb/>Stelle, als der Wagen in der Zeit vorwärts lief.</s>
  <s xml:id="echoid-s4408" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4409" xml:space="preserve">Ganz dasſelbe aber findet bei dem Lichtſtrahl ſtatt, der von <lb/>irgend einem Sterne her auf die ſich fortbewegende Erde fällt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4410" xml:space="preserve">Denken wir uns einen Aſtronomen, der durch ein Fernrohr nach <lb/>einem Stern blickt, ſo befindet ſich der Aſtronom ſamt dem Fern-<lb/>rohr, durch das er blickt, und mit der Erde, auf der er und <lb/>ſein Inſtrument ſteht, im vollſten Lauf auf der Bahn um die <lb/>Sonne. </s>
  <s xml:id="echoid-s4411" xml:space="preserve">Der Lichtſtrahl braucht offenbar eine Zeit, um von dem <lb/>vorderen Glaſe des Fernrohrs bis zum hinteren Glaſe, wo das <lb/>Auge des Aſtronomen ruht, zu gelangen, während dieſer Zeit <lb/>aber geht die Erde ein Stück in ihrer Bahn vorwärts. </s>
  <s xml:id="echoid-s4412" xml:space="preserve">Der <lb/>Lichtſtrahl würde alſo das Fernrohr gleich unſerer Kugel ſchräg <lb/>durchſchießen, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s4413" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s4414" xml:space="preserve">der Stern würde nicht gerade durch die <lb/>Mittellinie des Fernrohrs gehen, wenn wirklich das Fernrohr <lb/>nach der Stelle gerichtet wäre, wo der Stern ſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4415" xml:space="preserve">Will aber <lb/>der Aſtronom den Stern in dieſer Mittellinie haben, ſo muß <lb/>er das Fernrohr ein wenig nach vorn richten, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s4416" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s4417" xml:space="preserve">dahin <lb/>neigen, wohin die Erde in ihrem Lauf ſich befindet, das heißt <lb/>aber nichts anderes, als: </s>
  <s xml:id="echoid-s4418" xml:space="preserve">der Stern iſt an einer Stelle am <lb/>Himmel ſichtbar, wo er in Wahrheit gar nicht ſteht! —</s>
</p>
<pb o="143" file="347" n="347"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4419" xml:space="preserve">Ganz aber wie es mit dem Fernrohr der Fall iſt, ganz <lb/>ſo iſt es mit dem bloßen Auge der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s4420" xml:space="preserve">Auch unſer Auge iſt <lb/>eine Art Fernrohr. </s>
  <s xml:id="echoid-s4421" xml:space="preserve">Der Lichtſtrahl eines Sternes, der ge-<lb/>ſehen werden ſoll, muß durch die Vorderwand des Auges ein-<lb/>treten, um bis zur Netzhaut zu gelangen, woſelbſt der Nerv <lb/>ſich ausbreitet, der das Licht empfindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s4422" xml:space="preserve">Aber ſelbſt zu dieſem <lb/>kleinen Stückchen Raum braucht das Licht, das ſo ſchnelle, un-<lb/>glaublich ſchnelle Licht eine Zeit, und während dieſer ſo ſehr <lb/>unglaublich kleinen Zeit iſt die Erde ein Stück vorwärts ge-<lb/>rückt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4423" xml:space="preserve">der Lichtſtrahl geht alſo auch hier ſchräg, und wir er-<lb/>halten den Eindruck desſelben von einer Stelle des Himmels <lb/>her, wo in Wahrheit gar kein Stern ſteht! —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4424" xml:space="preserve">Dieſe Erſcheinung nennt man die Aberration oder die Ab-<lb/>Irrung des Lichtes, und die Bedeutung dieſer höchſt merk-<lb/>würdigen Entdeckung wollen wir nunmehr in Kurzem unſeren <lb/>Leſern vorführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4425" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div164" type="section" level="1" n="111">
<head xml:id="echoid-head126" xml:space="preserve"><emph style="bf">VII. Wie Bradley die Ab-Irrung des Lichtes</emph> <lb/><emph style="bf">entdeckte.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4426" xml:space="preserve">Schon die Art und Weiſe, wie die Ab-Irrung des Lichtes <lb/>entdeckt wurde, iſt ebenſo merkwürdig wie intereſſant.</s>
  <s xml:id="echoid-s4427" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4428" xml:space="preserve">Wie in vielen Zweigen der Wiſſenſchaft ging es auch <lb/>hierbei, daß der Entdecker eigentlich etwas ganz anderes ſuchte <lb/>und bei dieſer Gelegenheit auf Erſcheinungen ſtieß, die ihm <lb/>als unerklärlich auffielen, und während das Geſuchte nicht ge-<lb/>funden werden konnte, gab das Suchen die Veranlaſſung zu <lb/>einer neuen, nicht vermuteten Entdeckung.</s>
  <s xml:id="echoid-s4429" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4430" xml:space="preserve">Bradley, der Entdecker der Aberration des Lichts, wollte <lb/>eigentlich die ſchon von allen Aſtronomen vergeblich angeſtellten <lb/>Beobachtungen wiederholen, um die Entfernung eines Fixſterns <lb/>von der Erde zu erforſchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4431" xml:space="preserve">Er wußte freilich, daß dieſe Ent-
<pb o="144" file="348" n="348"/>
fernung außerordentlich groß ſein müſſe, daß ſelbſt der nächſte <lb/>Fixſtern wohl millionenmal entfernter von uns ſein müſſe, als <lb/>die Sonne; </s>
  <s xml:id="echoid-s4432" xml:space="preserve">allein er hoffte dennoch durch getreue Beob-<lb/>achtungen eines Sternes während eines ganzen Jahres hinter <lb/>dies Geheimnis zu kommen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4433" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4434" xml:space="preserve">Er ſtellte ſich vor, wenn er ſein Fernrohr auf einen <lb/>Stern richten würde, der genau ſeitwärts von der Bahn liegt, <lb/>in welcher die Erde um die Sonne läuft, ſo müßte es ſich <lb/>doch wohl im Laufe des Jahres zeigen, daß der Stern ſchein-<lb/>bar ſeinen Ort verändere, und dies wäre ihm genügend ge-<lb/>weſen, um dadurch die Entfernung dieſes einen Sterns von <lb/>der Erde zu erkennen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4435" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4436" xml:space="preserve">Nach ſeiner Vorſtellung müßte der Stern zur Zeit, wo <lb/>die Erde demſelben nach rechts vorüberläuft, ein wenig auf-<lb/>wärts zu ſteigen ſcheinen; </s>
  <s xml:id="echoid-s4437" xml:space="preserve">zur Zeit, wo die Erde in ihrer <lb/>Bahn wieder zurück nach links läuft, müßte der Stern eine <lb/>ſcheinbare Bewegung nach rechts machen; </s>
  <s xml:id="echoid-s4438" xml:space="preserve">und wenn die Erde <lb/>ſich wieder in ihrer Bahn aufwärts bewegt, müßte der Stern <lb/>ſcheinbar eine Bewegung abwärts zeigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4439" xml:space="preserve">Bradley hoffte, daß <lb/>es ihm ſo gelingen würde, im Laufe eines Jahres, wo die <lb/>Erde einen großen Kreis um die Sonne beſchreibt, am Stern <lb/>einen entgegengeſetzten, kleinen, ſcheinbaren Kreislauf zu be-<lb/>merken, und aus dem Verhältnis des großen Kreiſes der Erde <lb/>zu dem kleinen, den der Stern ſcheinbar machen würde, wollte <lb/>er die Entfernung des Sternes von der Erde berechnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4440" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4441" xml:space="preserve">Sein Plan war vollkommen wiſſenſchaftlich richtig; </s>
  <s xml:id="echoid-s4442" xml:space="preserve">nur <lb/>war zur damaligen Zeit noch nicht das Fernrohr zu ſolchen <lb/>feinen Beobachtungen ausreichend genau gearbeitet, und es ge-<lb/>lang derſelbe Plan erſt in unſeren Zeiten dem großen Aſtro-<lb/>nomen Beſſel, deſſen Scharfſinn und Beobachtungsgabe noch <lb/>die Verbeſſerung des Fernrohrs zu Hilfe gekommen war.</s>
  <s xml:id="echoid-s4443" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4444" xml:space="preserve">Bradley ſah das, was er ſuchte, nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4445" xml:space="preserve">Der Stern machte <lb/>nicht jene Scheinbewegung, die er zu ſehen hoffte; </s>
  <s xml:id="echoid-s4446" xml:space="preserve">aber dafür
<pb o="145" file="349" n="349"/>
ſah er etwas anderes und zwar, daß der Stern nicht immer <lb/>an demſelben Orte zu ſtehen ſcheine, ſobald die Erde eine <lb/>andere Richtung in ihrem Laufe annahm. </s>
  <s xml:id="echoid-s4447" xml:space="preserve">Genaue, ſcharfe, <lb/>jahrelange Beobachtungen zeigten ihm, daß der Stern, ſtatt <lb/>zurückzuweichen, wenn die Erde ſich bei ihm vorüber bewegt, <lb/>ſich gerade umgekehrt nach vorwärts zu bewegen ſcheint, und <lb/>dieſe ſeinen Vermutungen faſt ganz entgegengeſetzten Erſchei-<lb/>nungen führten ihn auf den wahren Gedanken, den wir be-<lb/>reits angegeben haben, auf den Gedanken, daß der Lichtſtrahl <lb/>ſowohl in ſeinem Lauf durch das Fernrohr wie durch unſer <lb/>Auge wegen der gleichzeitig ſtattfindenden Bewegung der Erde <lb/>von ſeiner Richtung abweichend erſcheinen muß.</s>
  <s xml:id="echoid-s4448" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4449" xml:space="preserve">Was Bradley nur an dem einen Stern bemerkte, daß <lb/>nämlich ſein abirrender Strahl ihn uns an einer Stelle zeigt, <lb/>wo er in Wahrheit nicht ſteht, das hat ſich bei allen Sternen <lb/>beſtätigt gefunden, und aus dem Umſtand, daß dieſe Abirrung <lb/>des Lichtſtrahls an allen Fixſternen gleich groß iſt, iſt der <lb/>Beweis geführt, daß alles Licht, es möge herkommen, von <lb/>welchem Weltkörper es wolle, und herrühren, von welcher <lb/>Weltgegend es ſei, immer mit derſelben Geſchwindigkeit von <lb/>40 000 Meilen in der Sekunde ſich bewege.</s>
  <s xml:id="echoid-s4450" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4451" xml:space="preserve">Bedenken wir aber, daß es eben ſo kleine wie große, hell-<lb/>leuchtende wie ſchwachleuchtende Sterne giebt, ebenſo das Licht <lb/>der fernſten wie der nahen Sterne zu uns gelangt, und daß <lb/>trotzdem jeder Lichtſtrahl dem gleichen Geſetz unterworfen iſt <lb/>und alſo immer dieſelbe Geſchwindigkeit beſitzt, ſo haben wir <lb/>in dieſem Geſetz des Lichtes nicht nur ein ſolches, das durch <lb/>alle Räume des Weltalls gültig iſt, ſondern auch eins, das <lb/>für jede Art von Licht gilt, es ſei fern oder nah, es ſei groß <lb/>oder klein. </s>
  <s xml:id="echoid-s4452" xml:space="preserve">— Ja, die Wahrheit dieſes Geſetzes von der Ge-<lb/>ſchwindigkeit des Lichtes gilt auch für alles Licht irdiſcher <lb/>Flammen, für alle vergangenen Zeiten, denn wir werden ſo-<lb/>fort ſehen, daß man das Recht hat zu ſchließen, es ſei das</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4453" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s4454" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s4455" xml:space="preserve">Volksbücher VIII.</s>
  <s xml:id="echoid-s4456" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="146" file="350" n="350"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4457" xml:space="preserve">Licht vor Millionen von Jahren auch nicht anders und deſſen <lb/>Geſchwindigkeit dem jetzigen ganz gleich geweſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4458" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div165" type="section" level="1" n="112">
<head xml:id="echoid-head127" xml:space="preserve"><emph style="bf">VIII. Ein Blick in die Unendlichkeit.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4459" xml:space="preserve">Man darf die Behauptung aufſtellen, daß es erſt, ſeitdem <lb/>die Geſchwindigkeit des Lichtes erforſcht worden, dem Menſchen-<lb/>geiſt gelungen iſt, ſich einen großartigen Maßſtab für das Be-<lb/>greifen unendlicher Zeiten und unendlicher Räume zu ſchaffen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4460" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4461" xml:space="preserve">Eine Sekunde iſt eine ſo kleine Zeit, und 40 000 Meilen <lb/>ſind dagegen ein ſo ungeheurer Raum, daß hierzu eine Kühn-<lb/>heit des Gedankens gehört, dieſen ungeheuren Raum einer ſo <lb/>geringen Zeit gleich zu ſetzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4462" xml:space="preserve">Nun läßt es ſich zwar nicht <lb/>leugnen, daß die Philoſophen aller Zeiten mit dem Gedanken <lb/>der Unendlichkeit ſtets ein ſehr kühnes Spiel getrieben und daß <lb/>es an Vorſtellungen von unendlichen Zeiten und unendlichen <lb/>Räumen nicht gefehlt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s4463" xml:space="preserve">Allein es iſt ganz etwas anderes, <lb/>wenn Gedanken dieſer Art nur ein Ausfluß abſtrakter Ideen, <lb/>oder wenn ſie aus den Beobachtungen einer Welt der Wirk-<lb/>lichkeit entnommen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s4464" xml:space="preserve">Es iſt ganz etwas anderes, wenn <lb/>der menſchliche Geiſt ſich nur mit leeren Zahlen beſchäftigt und <lb/>unendliche Summen in Ziffern ausdrückt, als wenn er ſich ſagt, <lb/>daß in der wirklichen Welt eine Geſchwindigkeit vorhanden <lb/>und wirkſam iſt, von der ſich jeder überzeugen kann, daß in <lb/>dieſer Geſchwindigkeit eine kleine Sekunde einen für unſere <lb/>Begriffe unendlich großen Raum von 40 000 Meilen umfaßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4465" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4466" xml:space="preserve">In der That hat die Vorſtellungskraft der Menſchen durch <lb/>dieſe Entdeckung einen höheren Aufſchwung genommen und zu-<lb/>gleich eine feſtere Grundlage in der Wirklichkeit erhalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s4467" xml:space="preserve">Aus <lb/>der erkannten Geſchwindigkeit des Lichtes, im Verein mit der <lb/>weiter fortgeſchrittenen Forſchung, welcher es in neuerer Zeit <lb/>wirklich gelungen iſt, die Entfernung einiger Fixſterne zu
<pb o="147" file="351" n="351"/>
meſſen, erſchließen ſich dem menſchlichen Geiſt ſichere und feſte, <lb/>auf Natur-Wahrheiten gegründete Annahmen über das Weltall, <lb/>die ſonſt nur zu den leeren Phantaſien gehörten, mit welchen <lb/>man ein um ſo harmloſeres Spiel zu treiben imſtande iſt, je <lb/>weniger Naturwahrheit dahinter ſteckt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4468" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4469" xml:space="preserve">Was Bradley vergebens geſucht hatte, gelang nämlich in den <lb/>letzten Jahrzehnten mehrfach. </s>
  <s xml:id="echoid-s4470" xml:space="preserve">Der unſterbliche Aſtronom Beſſel <lb/>vermochte die Entfernung eines kleinen Sternes im Sternbild <lb/>des Schwans zu meſſen, welcher dem Auge keine beſondere <lb/>Merkwürdigkeit darbietet, der aber durch ſeine ſehr merklichen <lb/>Ortsveränderungen die Aufmerkſamkeit der Aſtronomen auf ſich <lb/>gezogen hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s4471" xml:space="preserve">Beſſels unvergleichlich genaue Meſſungen und <lb/>Beobachtungen entdeckten, daß wirklich an dieſem Stern die <lb/>jährliche ſcheinbare Bewegung zu merken iſt, welche durch den <lb/>Umlauf der Erde um die Sonne hervorgebracht wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s4472" xml:space="preserve">Der <lb/>Stern beſchreibt ſcheinbar einen äußerſt kleinen, der Umlaufs-<lb/>bahn der Erde entgegengeſetzten Kreis, und aus der genauen <lb/>Meſſung dieſes Kreiſes ergab ſich, daß der Stern in einer <lb/>Entfernung von etwa elf und ein halb Billionen<anchor type="note" xlink:href="" symbol="*)"/> Meilen von
der Sonne ſich befindet.</s>
  <s xml:id="echoid-s4473" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4474" xml:space="preserve">Eine Entfernung dieſer Art iſt für die menſchliche Vor-<lb/>ſtellungsgabe vollkommen unerfaßlich.</s>
  <s xml:id="echoid-s4475" xml:space="preserve">. Ein Dampfwagen, der <lb/>täglich 200 Meilen zurücklegt, würde nicht weniger als 160 Mil-<lb/>lionen Jahre brauchen, um zu dieſem Stern zu gelangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4476" xml:space="preserve">Nur <lb/>durch die Geſchwindigkeit des Lichts vermag man ſich einen <lb/>näheren Maßſtab für dieſe Entfernung zu verſchaffen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4477" xml:space="preserve">Das <lb/>Licht dieſes Sternes braucht eine Zeit von acht Jahren und <lb/>acht Monaten, um zu uns zu gelangen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4478" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4479" xml:space="preserve">Den Aſtronomen Struve und Argelander und anderen <lb/>ſind noch einige Meſſungen gelungen, aus welchen ſich die <lb/>Entfernungen anderer Fixſterne mit gleicher Sicherheit ergeben.</s>
  <s xml:id="echoid-s4480" xml:space="preserve"/>
</p>
<note symbol="*)" position="foot" xml:space="preserve">1 Billion iſt 1 Million mal 1 Million (1 000 000 000 000).</note>
<pb o="148" file="352" n="352"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4481" xml:space="preserve">Die Reſultate ſind denen Beſſels ähnlich, und man hat Ur-<lb/>ſache, die ungefähre Entfernung eines Fixſterns vom anderen <lb/>ſo anzunehmen, daß das Licht einen Zeitraum von mehreren <lb/>Jahren braucht, um von einem zum anderen zu gelangen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4482" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4483" xml:space="preserve">Iſt dem aber ſo, ſo iſt dem menſchlichen Geiſte ein ver-<lb/>ſtändlicherer Blick in die Unendlichkeit der Räume und ſomit <lb/>auch in die Unendlichkeit der Zeiten eröffnet.</s>
  <s xml:id="echoid-s4484" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4485" xml:space="preserve">Nehmen wir an, daß durchſchnittlich ein Fixſtern vom <lb/>anderen eben ſo entfernt iſt, wie die Sonne von dem Fixſtern <lb/>im Schwan, ſo iſt es klar, daß von zehn Sternen, die ſchein-<lb/>bar neben einander am Sternenhimmel ſtehen, einer zehnmal <lb/>entfernter von uns iſt, als der nächſte. </s>
  <s xml:id="echoid-s4486" xml:space="preserve">Sein Licht braucht <lb/>alſo ſiebenundachtzig Jahre, um zu uns zu gelangen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4487" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4488" xml:space="preserve">Nun aber giebt es Stellen am Himmel, wo das Fernrohr <lb/>Hunderte, ja ſogar Tauſende von Sternen in einer Richtung <lb/>ſtehend zeigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4489" xml:space="preserve">Unter dieſen Hunderten iſt ohne Zweifel einer, <lb/>der hundertmal weiter entfernt iſt, als der uns nächſte. </s>
  <s xml:id="echoid-s4490" xml:space="preserve">Sein <lb/>Licht braucht alſo faſt ein Jahrtauſend, um bis zu uns zu <lb/>kommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4491" xml:space="preserve">Wo man Tauſende beiſammen ſieht, iſt ohne Zweifel <lb/>auch ein Stern darunter, deſſen Licht, das jetzt in unſer Auge <lb/>fällt, bereits zehntauſend Jahre unterwegs iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4492" xml:space="preserve">Das Licht der <lb/>allbekannten “Milchſtraße” z. </s>
  <s xml:id="echoid-s4493" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s4494" xml:space="preserve">braucht ca. </s>
  <s xml:id="echoid-s4495" xml:space="preserve">2000 Jahre, um <lb/>zu uns zu gelangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4496" xml:space="preserve">— Beweiſt aber das Geſetz der Ab-<lb/>irrung des Lichtes, daß auch deſſen Licht dieſelbe Geſchwin-<lb/>digkeit hat, die wir am Lichte überhaupt beobachten, ſo ſehen <lb/>wir, daß wir hier in der erforſchten Geſchwindigkeit des <lb/>Lichtes ein Naturgeſetz haben, deſſen Wahrheit zurückgreift in <lb/>zehntauſend Jahre, in eine Zeit, von welcher unſere Voreltern <lb/>glaubten, daß da die Welt noch gar nicht geſchaffen geweſen ſei!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4497" xml:space="preserve">All’ das ſind jetzt nicht mehr Phantaſien, geiſtreiche Einfälle, <lb/>ſondern wirkliche, auf Naturwahrheiten gegründete Schlüſſe.</s>
  <s xml:id="echoid-s4498" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4499" xml:space="preserve">Druck von G. </s>
  <s xml:id="echoid-s4500" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph> in Berlin.</s>
  <s xml:id="echoid-s4501" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb file="353" n="353"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div166" type="section" level="1" n="113">
<head xml:id="echoid-head128" xml:space="preserve"><emph style="bf">Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher</emph> <lb/>von <lb/><emph style="bf">A. Bernſtein.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head129" xml:space="preserve"><emph style="bf">Fünfte, reich illuſtrierte Auflage.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head130" xml:space="preserve">Durchgeſehen und verbeſſert <lb/>von <lb/><emph style="bf">H. @otonié</emph> und <emph style="bf">R. Hennig.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head131" xml:space="preserve">Neunter Teil.</head>
  <figure>
    <image file="353-01" xlink:href="http://echo.mpiwg-berlin.mpg.de/zogilib?fn=/permanent/library/xxxxxxxx/figures/353-01"/>
  </figure>
</div>
<div xml:id="echoid-div167" type="section" level="1" n="114">
<head xml:id="echoid-head132" xml:space="preserve"><emph style="bf">Berſin.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head133" xml:space="preserve">Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.</head>
<pb file="354" n="354"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4502" xml:space="preserve">Das Recht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s4503" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb file="355" n="355"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div168" type="section" level="1" n="115">
<head xml:id="echoid-head134" xml:space="preserve"><emph style="bf">Inhaltsverzeichnis.</emph></head>
<note position="right" xml:space="preserve"> <lb/># # <emph style="bf">Seite</emph> <lb/>## <emph style="bf">Bon der Eniwickelung des tieriſchen Lebens.</emph> <lb/>I. # Vom Ei und vom Leben . . . . . . . . . . # 1 <lb/>II. # Von dem Studium der Entwickelung des Lebens . . . # 4 <lb/>III. # Die Brütung des Eies . . . . . . . . . . . # 8 <lb/>IV. # Was ſteckt eigentlich im Ei? . . . . . . . . . # 11 <lb/>V. # Beſehen wir uns das Ei . . . . . . . . . . # 14 <lb/>VI. # Wie die Rechnung genau ſtimmt . . . . . . . . # 18 <lb/>VII. # Wie ein Ei zur Welt kommt . . . . . . . . . # 21 <lb/>VIII. # Das Ei in der Bildungsanſtalt . . . . . . . . # 25 <lb/>IX. # Was man ſieht und was man nicht ſieht . . . . . # 28 <lb/>X. # Nach der Brütung von ſechs und von zwölf Stunden . # 35 <lb/>XI. # Inwiefern das Hühnchen durch die Art ſeiner Ent-<lb/># wickelung auf ſeine Ur-Vorfahren weiſt . . . . . # 38 <lb/>XII. # Wir ſehen etwas vom Hühnchen . . . . . . . . # 41 <lb/>XIII. # Das Hühnchen iſt einen Tag alt . . . . . . . . # 44 <lb/>XIV. # Ein Blick in die Hühnerfabrik . . . . . . . . . # 47 <lb/>XV. # Wie Einem Hören, Sehen und Denken vergehen kann . # 51 <lb/>XVI. # Ein Weſen von Kopf und Herz . . . . . . . . # 54 <lb/>XVII. # Das lebendige Drei-Blatt . . . . . . . . . . . # 57 <lb/>XVIII. # Wie viel das Hühnchen am dritten Tage zu thun hat . # 60 <lb/>XIX. # Drei neue Lebenstage . . . . . . . . . . . . # 63 <lb/>XX. # Wie das Hühnchen anfängt, Tauſchgeſchäfte zu machen . # 67 <lb/>XXI. # Das Rommiſſionsgeſchäft für ungeborene Weſen . . . # 70 <lb/>XXII. # Das Hühnchen wird ſeinen Eltern immer ähnlicher . . # 73 <lb/>XXIII. # Bis zum Auskriechen . . . . . . . . . . . . # 76 <lb/>XXIV. # Wie das Hühnchen ſich reiſefertig für das Leben macht . # 79 <lb/>XXV. # Ein gedankenſchwerer Abſchied vom Hühnchen . . . . # 82 <lb/></note>
<pb o="IV" file="356" n="356"/>
<note position="right" xml:space="preserve"> <lb/># # Seite <lb/>## <emph style="bf">Vom Hypnotismus.</emph> <lb/>I. # Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . # 86 <lb/>II. # Das Weſen der Suggeſtion . . . . . . . . . # 87 <lb/>III. # Von den “Wachſuggeſtionen” . . . . . . . . . # 89 <lb/>IV. # Eine Hinrichtung durch Suggeſtion . . . . . . . . # 92 <lb/>V. Die Suggeſtionen im gewöhnlichen Schlaf . . . . . # 93 <lb/>VI. # Das Nach@wandeln . . . . . . . . . . . . # 95 <lb/>VII. # Die Herbeiführung des hypnotiſchen Schlafes . . . . # 97 <lb/>VIII. # Die Erſcheinungen während des leichteren hypnotiſchen <lb/># # Schlafes . . . . . . . . . . . . . . . . # 100 <lb/>IX. # Die Erſcheinungen während des hypnotiſchen Tiefſchlafes # 102 <lb/>X. # Die ſogenannte Poſthypnoſe . . . . . . . . . # 109 <lb/>XI. # Vom verbrecheriſchen Mißbrauch des Hypnotismus . . # 113 <lb/>XII. Iſt die Hypnoſe nicht ſchädlich? . . . . . . . . # 117 <lb/>XIII. # Der Nutzen des Hypnotismus . . . . . . . . . # 120 <lb/></note>
<pb file="357" n="357"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div169" type="section" level="1" n="116">
<head xml:id="echoid-head135" xml:space="preserve"><emph style="bf">Von der Entwickelung des tieriſchen Lebens.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head136" xml:space="preserve"><emph style="bf">I. Vom Ei und vom Leben.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4504" xml:space="preserve">Wir wollen heute in dem Reiche der Naturwiſſenſchaft ein <lb/>für unſere Betrachtung neues Gebiet betreten: </s>
  <s xml:id="echoid-s4505" xml:space="preserve">müſſen aber mit <lb/>einem Ausſpruch beginnen, der alt, ſehr alt iſt, einem Aus-<lb/>ſpruch, der ſich ſchon bewährt hat, noch ehe ein menſchliches <lb/>Weſen auf der Erde lebte.</s>
  <s xml:id="echoid-s4506" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4507" xml:space="preserve">Der Ausſpruch heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s4508" xml:space="preserve">Die Vögel kriechen aus den Eiern <lb/>heraus.</s>
  <s xml:id="echoid-s4509" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4510" xml:space="preserve">Es iſt eine eigentümliche Art geboren zu werden als Ei; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4511" xml:space="preserve">Zur Welt zu kommen in einem völlig von allen Seiten ver-<lb/>ſchloſſenen Gefängnis. </s>
  <s xml:id="echoid-s4512" xml:space="preserve">Noch eigentümlicher iſt es, innerhalb <lb/>dieſes Gefängniſſes erſt geformt und — was man ſo nennt — <lb/>belebt zu werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s4513" xml:space="preserve">Am kurioſeſten aber iſt es, nicht früher die <lb/>weite Welt betreten zu können, bis man die Mauer des Ge-<lb/>fängniſſes ſelber durchbrochen hat, um ſo zu ſagen noch vor <lb/>dem erſten Schritt ins Leben ein ganz gehöriger Ausbrecher <lb/>werden zu müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4514" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4515" xml:space="preserve">Daß dem ſo iſt, weiß freilich alle Welt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4516" xml:space="preserve">Das aber iſt <lb/>nicht Allen bekannt, daß nicht nur Alles, was Federn hat, in <lb/>ſolcher Weiſe verurteilt iſt, zur Welt zu kommen, ſondern daß <lb/>alle Lebeweſen in ähnlicher Art ihren Ausflug in die Welt <lb/>machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4517" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4518" xml:space="preserve">Die Vögel bringen Eier zur Welt, aus welchen ſich junge <lb/>Vögel entwickeln; </s>
  <s xml:id="echoid-s4519" xml:space="preserve">aber darum ſind alle anderen Tiere und auch</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4520" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s4521" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s4522" xml:space="preserve">Volksbücher IX.</s>
  <s xml:id="echoid-s4523" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="2" file="358" n="358"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4524" xml:space="preserve">der Menſch, der ſich erhaben dünkt über die Tiere, doch nicht <lb/>beſſer daran; </s>
  <s xml:id="echoid-s4525" xml:space="preserve">denn alles Leben entwickelt ſich erſt in dem Ei. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4526" xml:space="preserve">Selbſt diejenigen Geſchöpfe, die lebendig zur Welt kommen, <lb/>haben im Schoß der Mutter in einem Ei ſich erſt gebildet und <lb/>genießen nur den einen Vorzug, in ungelegten Eiern entſtanden <lb/>zu ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s4527" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4528" xml:space="preserve">Viele Muttertiere bringen die Eier zur Welt, und geben <lb/>ihnen dann nichts mehr als Zeit und höchſtens Wärme, um <lb/>die Entwickelung der Jungen in den Eiern zu befördern; </s>
  <s xml:id="echoid-s4529" xml:space="preserve">alle <lb/>übrigen Muttertiere aber — und der Menſch macht keine Aus-<lb/>nahme — tragen die Jungen in Eihäute gehüllt mit ſich herum, <lb/>bis ſie im Mutterleibe lebendig und lebensfähig für die Welt <lb/>werden, und entledigen ſich dann ſowohl der Jungen wie auch <lb/>der Eihäute, in welchen dieſe gelegen haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s4530" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4531" xml:space="preserve">Vögel, Fiſche, Inſekten u. </s>
  <s xml:id="echoid-s4532" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s4533" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s4534" xml:space="preserve">werden in Eiern gebildet, <lb/>die vor ihnen zur Welt kommen; </s>
  <s xml:id="echoid-s4535" xml:space="preserve">die andern Tiere, die man <lb/>gewöhnlich Säugetiere nennt, bilden ſich in Eihäuten aus, die <lb/>nach ihnen aus dem Mutterleibe entfernt werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s4536" xml:space="preserve">Und wenn <lb/>die erſteren Tiere nicht früher ins freie Leben treten, bevor ſie <lb/>nicht die Wände ihres Kerkers durchbrochen haben, ſo unter-<lb/>ſcheiden ſich die Tiere letzterer Art nur dadurch von ihnen, daß <lb/>ſie durch einen doppelten Kerker durchbrechen müſſen, um an die <lb/>Luft zu kommen: </s>
  <s xml:id="echoid-s4537" xml:space="preserve">die Kerkerwand ihres Eies und die Pforte <lb/>des Mutterſchoßes.</s>
  <s xml:id="echoid-s4538" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4539" xml:space="preserve">“Alles Leben entwickelt ſich aus dem Ei!” Oder — wie <lb/>die heutige Naturforſchung genauer ſagt — “Alle lebenden <lb/>Weſen ſind in ihrem erſten Stadium nur eine Zelle geweſen, <lb/>die man bei den höheren Tieren als Eizelle bezeichnet.</s>
  <s xml:id="echoid-s4540" xml:space="preserve">” — <lb/>Dies iſt ein Lehrſatz, der zwar alt iſt, der aber in neuerer <lb/>Zeit erſt recht durch Forſchungen bewahrheitet worden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4541" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4542" xml:space="preserve">Im Ganzen und Großen hat man zwar ſchon ſeit langer <lb/>Zeit gewußt, daß jedes Tier erſt in einem Ei entſteht, welches <lb/>im Mutterſchoß des Leben erweckenden Momentes harrt, um
<pb o="3" file="359" n="359"/>
ſich zu entwickeln und ſpäter in die Welt hinauszutreten. </s>
  <s xml:id="echoid-s4543" xml:space="preserve">Von <lb/>ſelbſt verſtand es ſich alſo, daß kein Tier geſchaffen werden <lb/>konnte, ohne Eltern, ohne Mutter mindeſtens, in welcher die <lb/>Eier des jungen Tieres entſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4544" xml:space="preserve">Als jedoch die Infuſorien <lb/>entdeckt wurden, als man mit außerordentlichen Vergrößerungs-<lb/>gläſern ſah (ſiehe Teil VIII, S. </s>
  <s xml:id="echoid-s4545" xml:space="preserve">80), wie eine Unzahl von <lb/>Tierchen in einem wenig Waſſer entſteht, welches man auf <lb/>faulende Pflanzenreſte gegoſſen: </s>
  <s xml:id="echoid-s4546" xml:space="preserve">da glaubte man gefunden zu <lb/>haben, daß Tiere auch ohne Eier eines Muttertieres ins Daſein <lb/>treten könnten, und man wähnte <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-359-01a" xlink:href="fig-359-01"/>
ſogar hinter das Geheimnis der <lb/>erſten Entſtehung der belebten Tier-<lb/>welt gekommen zu ſein, von welcher <lb/>man annahm, daß ſie aus zer-<lb/>fallenen Pflanzenſtoffen hervorge-<lb/>krochen ſein könnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s4547" xml:space="preserve">Hierdurch aber <lb/>war der Lehrſatz, daß alles Leben <lb/>ſich im Ei entwickele oder ſich doch <lb/>ſtets nur in Anknüpfung an bereits <lb/>vorhandene Lebeweſen entwickele, <lb/>erſchüttert, denn die Infuſorien, ſo behauptete man, entſtänden <lb/>ohne Zuthun bereits vorhandener Infuſorien.</s>
  <s xml:id="echoid-s4548" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div169" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-359-01" xlink:href="fig-359-01a">
<caption xml:id="echoid-caption69" xml:space="preserve">Fig. 1. <lb/>Ein Infuſor in 3 verſchiedenen <lb/>Stadien der Teilung.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4549" xml:space="preserve">So ſchmeichelhaft dieſer Gedanke auch für die Infuſorien <lb/>und für die erſten lebenden Weſen auf der Welt und nament-<lb/>lich für diejenigen Gelehrten war, die hierdurch ſchon glaubten, <lb/>von den Geheimniſſen der erſten Schöpfung den Schleier hin-<lb/>weggehoben zu haben, ſo wenig bewährte ſich dies durch die <lb/>Beobachtung, da ſich die Infuſorien, indem ſie ſich der Quere <lb/>nach teilen und ſo zwei Individuen bilden (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s4550" xml:space="preserve">1), ebenfalls <lb/>fortpflanzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4551" xml:space="preserve">Bei dieſer Fortpflanzungsart degenerieren die <lb/>Individuen jedoch nach und nach, und es wird das gänzliche <lb/>Abſterben dadurch verhindert, daß die ſchädlichen, zum Tode <lb/>führenden Eigenheiten dadurch wieder ausgeglichen werden,
<pb o="4" file="360" n="360"/>
daß zwei Individuen teilweiſe miteinander verwachſen, ihre <lb/>Inhaltsbeſtandteile miteinander miſchen (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s4552" xml:space="preserve">2) und ſich dann <lb/>wieder voneinander trennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4553" xml:space="preserve">So vorbereitete Individuen <lb/>erzeugen durch die ſchon erwähnte Teilung dann wieder gut <lb/>lebensfähige Individuen-Reihen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4554" xml:space="preserve">Da aus einem Tier zwei, <lb/>aus dieſen beiden 4, aus dieſen 8, aus dieſen 16, dann 32, <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-360-01a" xlink:href="fig-360-01"/>
dann 64 u. </s>
  <s xml:id="echoid-s4555" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s4556" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s4557" xml:space="preserve">werden können, alſo die <lb/>Fortpflanzung außerordentlich ſchnell zu <lb/>hohen Individuen-Zahlen kommt, ſo iſt es <lb/>begreiflich, daß, wenn Waſſer über die <lb/>Pflanzen gegoſſen wird, es oft nur wenige <lb/>Stunden währt, um Millionen von Tierchen <lb/>entſtehen zu laſſen, die dann freilich wie <lb/>neue, elternloſe Geſchöpfe erſcheinen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4558" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div170" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-360-01" xlink:href="fig-360-01a">
<caption xml:id="echoid-caption70" xml:space="preserve">Fig. 2.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4559" xml:space="preserve">Durch dieſe Beobachtungen, welche ſich <lb/>bisher immer mehr beſtätigt haben, iſt der <lb/>Lehrſatz nunmehr feſtgeſtellt worden, daß <lb/>kein tieriſches Leben möglich ſei ohne deſſen <lb/>Entwickelung im Ei oder doch ohne Herkunft von bereits vor-<lb/>handenen Organismen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4560" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4561" xml:space="preserve">Wie aber entſteht das Leben im Ei?</s>
  <s xml:id="echoid-s4562" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4563" xml:space="preserve">Dieſe Frage iſt ſicherlich die wichtigſte Lebensfrage, und <lb/>wir wollen uns hier in ſchlichter Belehrung ein wenig von dem <lb/>Ei und dem Leben zu unterhalten ſuchen, von einem Thema, <lb/>das zu den bedeutſamſten im Bereich der Naturwiſſenſchaft <lb/>gehört.</s>
  <s xml:id="echoid-s4564" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div172" type="section" level="1" n="117">
<head xml:id="echoid-head137" xml:space="preserve"><emph style="bf">II. Von dem Studium der Entwickelung des Lebens.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4565" xml:space="preserve">Ein äußerſt wichtiger Teil der Wiſſenſchaft von den Lebe-<lb/>weſen, der Biologie, iſt die Lehre von der Entwickelung der <lb/>Lebeweſen, oder genauer, die Lehre darüber, wie ſich ein
<pb o="5" file="361" n="361"/>
lebendes Weſen aus dem Ei, jedenfalls von Anbeginn ſeiner <lb/>Entſtehung ab entwickelt, bis es ein Geſchöpf wird, das ſelb-<lb/>ſtändig ſein Leben in der großen Welt antritt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4566" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4567" xml:space="preserve">Die Unterſuchung und genaue Beobachtung der Eier, <lb/>welche außerhalb des mütterlichen Leibes lebendige Weſen in <lb/>ſich entwickeln, iſt ſchon mit großer Schwierigkeit verbunden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4568" xml:space="preserve">Größere Schwierigkeiten noch bietet die Entwickelung der <lb/>Tiere, die lebendig zur Welt kommen, die alſo ihr Werden <lb/>und Leben im Ei noch im verſchloſſenen Mutterleibe erhalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s4569" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4570" xml:space="preserve">Es iſt ſehr leicht, ſich Froſch-Laich zu verſchaffen, das ſind <lb/>die Eier der Fröſche, die in großer Zahl im Frühjahr in einer <lb/>ſchleimigen Maſſe auf jedem Sumpfwaſſer ſchwimmen, und <lb/>man braucht nicht viel Kunſt darauf zu verwenden, um die <lb/>jungen Fröſche daraus hervorgehen zu ſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4571" xml:space="preserve">Man braucht <lb/>den Laich nur in einem Glaſe Waſſer ruhig ſtehen zu laſſen <lb/>und kann das intereſſante Schauſpiel in ſeiner Stube genießen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4572" xml:space="preserve">Ja, wenn man nur ausharrt, kann man noch mehr ſehen, denn <lb/>man wird dann wahrnehmen, wie der junge Froſch eine Art <lb/>Fiſch mit Vorderfüßen (Kaulquappe) iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4573" xml:space="preserve">wie er aber, ſobald <lb/>er aus den Flegeltagen hinaus iſt, ſich vor den Augen des <lb/>Beobachters nach und nach verwandelt, wie der Schwanz des <lb/>jungen Froſches verdorrt, trotzdem er im Waſſer lebt, und ſich <lb/>neben dem Schwanz zwei Hinterbeine entwickeln, die noch mehr <lb/>als gehen, nämlich ganz gewaltige Sprünge machen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s4574" xml:space="preserve"><lb/>Unſere Figur 3 giebt eine Anſchauung von dieſer Entwickelung.</s>
  <s xml:id="echoid-s4575" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4576" xml:space="preserve">Die Eier von Fiſchen, der Rogen, die Eier von See-Igeln <lb/>und anderen Waſſertieren ſind ebenfalls ſehr leicht herbei-<lb/>zuſchaffen und im ganzen iſt es auch leicht, ſehr unterhaltende <lb/>Beobachtungen an der Entwickelung derſelben zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4577" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4578" xml:space="preserve">Allein diejenigen, die dies nicht als bloß intereſſante Unter-<lb/>haltung betrachten, ſondern ſich die Aufgabe ſtellen, die Ent-<lb/>wickelung des lebenden Weſens aus oder richtiger noch in dem <lb/>Ei zum ernſten Studium zu machen, die dürfen ſich nicht mit
<pb o="6" file="362" n="362"/>
leichten Blicken auf die Wunder der Natur begnügen, ſondern <lb/>müſſen mit unermüdlicher Sorgfalt und Ausdauer Schritt für <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-362-01a" xlink:href="fig-362-01"/>
Schritt die Entwickelung belauſchen und haben größere Mühe <lb/>mit einem kaum ſichtbaren, kleinen Fröſchchen, als mancher <lb/>Vater mit der Erziehung ſeiner leiblichen Kinder.</s>
  <s xml:id="echoid-s4579" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div172" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-362-01" xlink:href="fig-362-01a">
<caption xml:id="echoid-caption71" xml:space="preserve">Fig. 3.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables11" xml:space="preserve">1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12</variables>
</figure>
</div>
<pb o="7" file="363" n="363"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4580" xml:space="preserve">Wie aber fängt man es an, um die Entwickelung ſolcher <lb/>lebenden Weſen kennen zu lernen, die ihre Entwickelung in <lb/>einem vom Mutterleibe umſchloſſenen Ei vollbringen? </s>
  <s xml:id="echoid-s4581" xml:space="preserve">Der <lb/>Wiſſensdurſt der Naturforſcher hilft ſich freilich durch Töten <lb/>ſchwangerer Muttertiere, und nicht wenige Hunde, Kaninchen <lb/>und Schweine müſſen in den Tod gehen, um dem Menſchen <lb/>die Lehre von der Entwickelung der Lebeweſen enträtſeln zu <lb/>helfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4582" xml:space="preserve">Es mag dies grauſam ſein; </s>
  <s xml:id="echoid-s4583" xml:space="preserve">allein da Millionen <lb/>von Tieren einmal das Schickſal haben, den Appetit des <lb/>menſchlichen Magens zu ſtillen, ſo dürften diejenigen Tiere <lb/>noch zu beneiden ſein, die nur ſterben, um den Appetit des <lb/>menſchlichen Geiſtes, den Wiſſensdrang zu befriedigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4584" xml:space="preserve">— Es <lb/>reicht indeſſen ſelbſt die nicht kleine Zahl der Tiere, die in <lb/>ſolcher Weiſe unter den Händen der Naturforſcher ihr Leben <lb/>aushauchen, bei weitem nicht aus, um befriedigende Reſultate <lb/>verſprechen zu können, und man iſt bei der Erforſchung der <lb/>Entwickelung ſolcher Tiere, die lebendig zur Welt kommen, auf <lb/>die Vergleichung hingewieſen, welche ſich in den Erſcheinungen <lb/>derjenigen Tiere darbieten, deren Eier außerhalb des Mutter-<lb/>leibes ſich zu lebenden Weſen ausbilden.</s>
  <s xml:id="echoid-s4585" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4586" xml:space="preserve">Nennt man ſolche Eier die gelegten und die andern, die <lb/>nicht aus dem Mutterleibe treten, die ungelegten, ſo kann man <lb/>von der Wiſſenſchaft ſagen: </s>
  <s xml:id="echoid-s4587" xml:space="preserve">ſie beſchäftige ſich ſehr fleißig mit <lb/>gelegten Eiern, um ſich nicht ſo eifrig um die ungelegten Eier <lb/>kümmern zu müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4588" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4589" xml:space="preserve">Durch Vergleichung der Beobachtungen bei ſolchen gelegten <lb/>und anderen im Muttertier ſich entwickelnden Eiern hat ſich die <lb/>Wiſſenſchaft von der Entwickelung der lebenden Weſen erſt recht <lb/>Bahn gebrochen, wie man denn überhaupt durch Vergleichung <lb/>der körperlichen Beſchaffenheit der Tiere und ihres Lebens mit <lb/>der körperlichen Beſchaffenheit des Menſchen und ſeiner Lebens-<lb/>Thätigkeit erſt in neuerer Zeit imſtande geweſen iſt, viele
<pb o="8" file="364" n="364"/>
Aufſchlüſſe zu liefern, die einſt die Grundlage einer tüchtigen <lb/>wiſſenſchaftlichen Heilkunde bilden werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s4590" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4591" xml:space="preserve">Von allen Eiern jedoch, die in ſolcher Weiſe der wiſſen-<lb/>ſchaftlichen Beobachtung gedient haben, iſt keines ſo fleißig in <lb/>ſeiner Entwickelung ſtudiert worden, als das Hühner-Ei.</s>
  <s xml:id="echoid-s4592" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4593" xml:space="preserve">Und ſo wollen auch wir die Entwickelung eines Hühnchens <lb/>im Ei zum Gegenſtand unſerer Unterhaltung machen, und es <lb/>verſuchen, unſern Leſern ſo deutlich, als es bei einem ſo ſchwie-<lb/>rigen Thema möglich iſt, zu zeigen, ob und wo und wie im <lb/>Ei ein Hühnchen ſteckt, woraus es ſich entwickelt, wie es ſich <lb/>aufbaut, und auf welche Weiſe ein Ding, das nur geſchaffen <lb/>ſcheint, um Eierkuchen daraus zu machen, eigentlich den Beruf <lb/>hat, ein lebendiges Weſen zu werden und auch ein lebendiges <lb/>Weſen wird, wenn man ihm zwei Dinge gewährt, nämlich <lb/>37 Grad Wärme und einundzwanzig Tage Zeit.</s>
  <s xml:id="echoid-s4594" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4595" xml:space="preserve">Denn ſo kurios der Gedanke auch klingen mag, ſo iſt er <lb/>doch ganz und gar wahr und wahrhaftig: </s>
  <s xml:id="echoid-s4596" xml:space="preserve">Ein Hühner-Ei <lb/>nebſt 37 Grad Wärme und einundzwanzig Tagen Zeit iſt — <lb/>ein lebendiges Hühnchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4597" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div174" type="section" level="1" n="118">
<head xml:id="echoid-head138" xml:space="preserve"><emph style="bf">III. Die Brütung des Eies.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4598" xml:space="preserve">Was ein Hühner-Ei iſt, weiß jede Hausfrau oder glaubt <lb/>wenigſtens, es zu wiſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4599" xml:space="preserve">Was 37 Grad Wärme ſind, davon <lb/>kann man ſich leicht einen Begriff verſchaffen, wenn man ſich <lb/>den Finger in den Mund ſteckt, woſelbſt dieſer Grad von Wärme <lb/>herrſcht, und was einundzwanzig Tage beſagen, kann jeder in <lb/>genau drei Wochen beliebig kennen lernen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4600" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4601" xml:space="preserve">Obwohl nun jedes dieſer drei Dinge nicht die mindeſte <lb/>Ähnlichkeit mit einem lebenden Hühnchen hat, iſt dennoch nichts <lb/>weiter nötig, um ein lebendes Hühnchen herzuſtellen, als eben <lb/>einem Ei durch einundzwanzig Tage 37 Grad Wärme zuzuführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4602" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="9" file="365" n="365"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4603" xml:space="preserve">Schon im hohen Altertum wußten dies die Menſchen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4604" xml:space="preserve">Die Ägypter hatten ſchon die richtige Vorſtellung davon, daß <lb/>das Huhn, welches Eier ausbrütet, eben nichts thut, als daß <lb/>es demſelben die Wärme des eigenen Leibes verleiht, die un-<lb/>gefähr 37 Grad beträgt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4605" xml:space="preserve">Mit richtigem Blicke erkannten ſie, <lb/>daß man die Thätigkeit des Brüthuhnes bequem erſetzen kann <lb/>durch Brütöfen, in welchem man einundzwanzig Tage lang eine <lb/>Wärme von 37 Grad künſtlich unterhält.</s>
  <s xml:id="echoid-s4606" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4607" xml:space="preserve">In neuerer Zeit ſind die Brütöfen auch bei uns einge-<lb/>führt worden, und man hat bereits begonnen, ſolche Hühner-<lb/>Fabriken in großartigem Maßſtabe anzulegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4608" xml:space="preserve">Für wiſſen-<lb/>ſchaftliche Zwecke aber ſind gegenwärtig Brütmaſchinen von <lb/>beliebiger Größe zu haben, und ein Liebhaber ſolcher intereſ-<lb/>ſanten Verſuche kann für ein paar Thaler ſchon eine ſolche er-<lb/>ſtehen und ſelbſt in ſeiner Putzſtube das Vergnügen genießen, <lb/>ſich lebendige Hühnchen zu bereiten.</s>
  <s xml:id="echoid-s4609" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4610" xml:space="preserve">Eine Brütmaſchine iſt ſehr einfach eingerichtet; </s>
  <s xml:id="echoid-s4611" xml:space="preserve">wenn auch <lb/>nicht ſo einfach, wie die Einrichtung, die die Natur ſelbſt ver-<lb/>anſtaltet.</s>
  <s xml:id="echoid-s4612" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4613" xml:space="preserve">Die Brüthenne, — das wird wohl ſchon Jeder beobachtet <lb/>haben — baut ſich behufs der Brütung ein Neſt aus dürren <lb/>Zweigen, Strohhalmen und erdigen Beſtandteilen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4614" xml:space="preserve">Sie weiß <lb/>dies Material vortrefflich zu wählen, und nimmt nur ſolches <lb/>dazu, das, wenn es einmal erwärmt iſt, die Wärme hält, oder <lb/>wie man dies wiſſenſchaftlich ausdrückt: </s>
  <s xml:id="echoid-s4615" xml:space="preserve">das Huhn macht ſein <lb/>Neſt aus Materialien, die ſchlechte Wärme-Leiter ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s4616" xml:space="preserve">dazu <lb/>verſorgt die Natur die Brüthenne mit ganz beſonders reich-<lb/>haltigen Federn auf der ganzen unteren Hälfte ihres Leibes. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4617" xml:space="preserve">Liegen nun die Eier im Neſte, ſo ſtopft die Mutterhenne auch <lb/>wohl noch Federn zwiſchen und um dieſelben, um ſie noch <lb/>beſſer vor dem Erkalten zu ſchützen, ſetzt ſich darauf und deckt <lb/>mit ihrer Bruſt, ihrem Leib und ihren Flügeln die künftigen <lb/>Geſchlechter, die als Eier unter ihr ruhen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4618" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="10" file="366" n="366"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4619" xml:space="preserve">Freilich ſind die Eier, die am Rand liegen, nicht ſo gut <lb/>gegen das Erkalten geſchützt als die, die unter der Bruſt der <lb/>Henne in der Mitte des Neſtes ruhen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4620" xml:space="preserve">Allein das Huhn weiß <lb/>ſeine Sorgfalt ſehr gleichmäßig zu verteilen, und wenn die <lb/>Eier in der Mitte weiter in der Brütung vorgeſchritten ſind, <lb/>ſchiebt es dieſelben an den Rand und legt die bisher dort ge-<lb/>legenen in die wärmere Mitte.</s>
  <s xml:id="echoid-s4621" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4622" xml:space="preserve">Da all’ dies ohne viel Kopfzerbrechens geſchieht und der <lb/>Henne nicht ein bißchen Nachdenken koſtet, ſo ſteht es wohl feſt, <lb/>daß dies, wie Alles, was die Natur macht, höchſt natürlich, <lb/>das heißt höchſt einfach iſt, obgleich wir, die klugen Menſchen, <lb/>uns vergebens das bißchen Verſtand zerſinnen, um es heraus-<lb/>zukriegen, wie das Huhn zu all’ der Sorgfalt kommt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4623" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4624" xml:space="preserve">Ja, das Huhn verſteht ſich auch auf die Eier beſſer als <lb/>die klugen Menſchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4625" xml:space="preserve">Unbefruchtete Eier entwickeln keine <lb/>Hühnchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4626" xml:space="preserve">Mit all’ unſerm Scharfſinn und all’ unſern Be-<lb/>obachtungswerkzeugen und all’ unſern Mikroſkopen wiſſen wir’s <lb/>den Eiern nicht abzuſehen, ob aus ihnen ein lebendiges Tier-<lb/>chen hervorkommen wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s4627" xml:space="preserve">Das aber ſteht feſt, daß das Huhn <lb/>ſchon nach kurzer Brützeit dies ſehr wohl merkt, und die <lb/>lebensunfähigen Eier aus dem Neſte wirft oder das Neſt ver-<lb/>läßt, wenn ſich darin kein lebensfähiges Ei beſindet.</s>
  <s xml:id="echoid-s4628" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4629" xml:space="preserve">So einfach, ſo ganz ohne nachzudenken, man möchte ſagen <lb/>ſo ſimpel, iſt freilich das künſtliche Ausbrüten nicht, und es <lb/>bedurfte mannigfacher Verbeſſerungen, um ſogenannte einfache <lb/>Brütmaſchinen herzuſtellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4630" xml:space="preserve">Gleichwohl iſt deren Einrichtung <lb/>für den klugen Menſchen einfach genug.</s>
  <s xml:id="echoid-s4631" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4632" xml:space="preserve">Ein kleinerer Blechkaſten wird ſo in einen größern hinein-<lb/>geſtellt, daß rings um den kleinern ein mäßiger Raum bleibt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4633" xml:space="preserve">In dieſe Zwiſchenräume wird Waſſer hineingegoſſen und ein <lb/>Thermometer hineingeſtellt, und unter dem großen Blechkaſten <lb/>iſt eine Petroleum-Lampe angebracht, durch die man das Waſſer <lb/>immer in einer Wärme von 37 Grad erhalten kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s4634" xml:space="preserve">Dieſes
<pb o="11" file="367" n="367"/>
warme Waſſer erwärmt nun den in ihm ſtehenden kleinern <lb/>Kaſten, deſſen Raum nun einen gleichen Grad Wärme erhält, <lb/>und legt man dann auf den Boden dieſes kleinern Kaſtens ein <lb/>Stück Filz und auf dieſes eine Anzahl friſcher Eier, ſo braucht <lb/>man nur einundzwanzig Tage zu warten, und aus den Eiern <lb/>ſind — wenn ſie eben gut ſind — eben ſo viele Hühnchen ge-<lb/>worden.</s>
  <s xml:id="echoid-s4635" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4636" xml:space="preserve">Aber wie wird das?</s>
  <s xml:id="echoid-s4637" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4638" xml:space="preserve">Nun das werden wir nach einiger Vorbereitung ſchon <lb/>näher betrachten.</s>
  <s xml:id="echoid-s4639" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div175" type="section" level="1" n="119">
<head xml:id="echoid-head139" xml:space="preserve"><emph style="bf">IV. Was ſteckt eigentlich im Ei?</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4640" xml:space="preserve">Wenn die Erfahrung nicht den unumſtößlichen Beweis <lb/>lieferte, daß ſich aus einem Ding, wie ein Hühner-Ei iſt, ein <lb/>Hühnchen entwickelt, es würde der Verſtand der verſtändigſten <lb/>Menſchen nicht die leiſeſte Ahnung davon haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s4641" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4642" xml:space="preserve">Es hat eine Zeit gegeben, wo man ſich einbildete, daß in <lb/>einem Ei irgendwo an einer Stelle ein kleines, ſehr kleines, <lb/>unſeren Augen unſichtbares Hühnchen ſchlummere, welches eben <lb/>nur unter dem Einfluß von Wärme und Zeit zu wachſen und <lb/>aufzuwachen brauche, um ſichtbar zu leben. </s>
  <s xml:id="echoid-s4643" xml:space="preserve">In jener Zeit <lb/>machte man ſich auch von den Pflanzen eine ähnliche Vor-<lb/>ſtellung. </s>
  <s xml:id="echoid-s4644" xml:space="preserve">In einem Apfelkern, ſo ſagte man, ſtecke ein unſicht-<lb/>barer, unendlich kleiner Apfelbaum, der eingepflanzt zu einem <lb/>ſichtbaren, großen Baume heranwächſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4645" xml:space="preserve">und man glaubte in <lb/>ſolcher Weiſe das Rätſel des Wachstums erklärt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4646" xml:space="preserve">Ja, man <lb/>ging noch weiter. </s>
  <s xml:id="echoid-s4647" xml:space="preserve">Wenn in dem Apfelkern der künftige ganze <lb/>Baum ſtecke, ſo müſſen auch die künftigen Äpfel ſchon in ihm <lb/>vorhanden ſein, und da in jedem dieſer Äpfel wieder Äpfel-<lb/>kerne ſind, die ebenfalls ganze Bäume in ſich tragen, ſo ſei <lb/>eigentlich in jedem Apfelkernchen eine unendliche Reihe von
<pb o="12" file="368" n="368"/>
Baumgeſchlechtern eingeſchachtelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4648" xml:space="preserve">Man dehnte dieſe kurioſe <lb/>Vorſtellung auf alles in der Welt aus und ſah in jedem Ding, <lb/>das ſich entwickeln kann, immer eine Art Einſchachtelung, in <lb/>welcher die ganze Zukunft ſchlummerte. </s>
  <s xml:id="echoid-s4649" xml:space="preserve">Dieſe kurioſe Vor-<lb/>ſtellung wurde die <emph style="sp">Einſchachtelungstheorie</emph> genannt, die <lb/>nicht wenig Anhänger unter den Natur-Philoſophen zählte.</s>
  <s xml:id="echoid-s4650" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4651" xml:space="preserve">Allein eine richtigere Einſicht in die Zuſtände der Natur <lb/>hat philoſophiſche Weisheiten, oder richtiger: </s>
  <s xml:id="echoid-s4652" xml:space="preserve">Thorheiten dieſer <lb/>Art vollſtändig verwerfen gelehrt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4653" xml:space="preserve">Es iſt nicht ſo, wie ſich’s <lb/>die ehemalige Weisheit der Menſchen einbildete. </s>
  <s xml:id="echoid-s4654" xml:space="preserve">In einem <lb/>Apfelkern ſteckt kein kleiner, unſichtbarer Apfelbaum, ſondern <lb/>etwas anderes, was wir noch ſpäter näher kennen lernen <lb/>werden, und ebenſowenig ſteckt in einem Ei ein kleines Hühn-<lb/>chen, oder gar ein ganzes Hühnergeſchlecht, das bis ans Ende <lb/>der Welt reicht.</s>
  <s xml:id="echoid-s4655" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4656" xml:space="preserve">Wenn man ſich ein Ei mit bloßem Auge anſieht, ſo findet <lb/>man ſchon Merkwürdiges genug. </s>
  <s xml:id="echoid-s4657" xml:space="preserve">Durch Vergrößerungsgläſer <lb/>entdeckt man des Merkwürdigen noch mehr: </s>
  <s xml:id="echoid-s4658" xml:space="preserve">aber wir dürfen <lb/>verſichern, daß auch nicht einmal die Spur eines kleinen <lb/>Hühnchens darin zu finden iſt, ſondern nur ein “Keim”, der <lb/>die Fähigkeit hat, ſich zu einem Hühnchen zu entwickeln, ſo-<lb/>bald die Umſtände dieſe Entwickelung begünſtigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4659" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4660" xml:space="preserve">Freilich könnte man uns die Frage zurufen: </s>
  <s xml:id="echoid-s4661" xml:space="preserve">“Ein Keim? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4662" xml:space="preserve">Was iſt denn eigentlich ein Keim? </s>
  <s xml:id="echoid-s4663" xml:space="preserve">Gieb uns für dieſes Wort <lb/>einmal eine richtige, genaue Erklärung!”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4664" xml:space="preserve">Hierauf aber antworten wir: </s>
  <s xml:id="echoid-s4665" xml:space="preserve">Es kommt uns nicht auf ein <lb/>Wort und auf eine genaue Erklärung eines Wortes an; </s>
  <s xml:id="echoid-s4666" xml:space="preserve">ſondern <lb/>wir halten es unſererſeits für richtiger, durch die Darſtellung <lb/>thatſächlich zu zeigen, was man in der Wiſſenſchaft einen Keim <lb/>nennt, oder beſſer noch, das Ding, woran im Ei die eigent-<lb/>liche Bildung des Hühnchens vor ſich geht, und wollen gar <lb/>nicht böſe ſein, wenn man dann einen paſſenderen Namen für <lb/>dies Ding finden wollte.</s>
  <s xml:id="echoid-s4667" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="13" file="369" n="369"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4668" xml:space="preserve">Wir wollen daher ganz ohne zu philoſophieren auf die <lb/>Sache eingehen, denn aufrichtig geſtanden, in der Naturwiſſen-<lb/>ſchaft fängt die Philoſophie dort an, wo das Wiſſen aufhört, <lb/>und das iſt meiſthin gerade an der Grenze, wo die Unwiſſen-<lb/>heit beginnt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4669" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4670" xml:space="preserve">Sehen wir uns lieber ein Ei an, wie es auswendig und <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-369-01a" xlink:href="fig-369-01"/>
inwendig beſchaffen <lb/>iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4671" xml:space="preserve">wir werden <lb/>hieraus ſo manches</s>
</p>
<div xml:id="echoid-div175" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-369-01" xlink:href="fig-369-01a">
<caption xml:id="echoid-caption72" xml:space="preserve">Fig. 4. <lb/>Längsſchnitt durch ein Hühnerei. <lb/>e<emph style="ul">1</emph> = ſchleimiges, e<emph style="ul">2</emph> = wäſſeriges Eiweiß; l = Luft-<lb/>kammer; h = Hagelſchnüre; n = Nahrungsdotter; <lb/>b = Bildungsdotter; k = Keimfleck mit dem Zellkern.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables12" xml:space="preserve">k h l b e<emph style="ul">1</emph> n e<emph style="ul">2</emph></variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4672" xml:space="preserve">Eigentümliche <lb/>lernen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4673" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4674" xml:space="preserve">Ein Ei iſt be-<lb/>kanntlich länglich <lb/>gebaut, und hat ein <lb/>breiteres und ein</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4675" xml:space="preserve">ſpitzeres Ende <lb/>(Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s4676" xml:space="preserve">4). </s>
  <s xml:id="echoid-s4677" xml:space="preserve">Gar viele <lb/>werden ſchon die <lb/>Probe gemacht ha-<lb/>ben, daß, wenn <lb/>man die Zunge an <lb/>das ſpitze Ende <lb/>legt, man eine ge-<lb/>wiſſe Kälte des Eies ſpürt, während das breite Ende ſich mit <lb/>der Zunge verhältnismäßig warm anfühlt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4678" xml:space="preserve">Wenn man hier-<lb/>aus ſchließen wollte, daß das Ei am ſpitzen Ende kälter ſei, <lb/>als am breiten, ſo würde man irren. </s>
  <s xml:id="echoid-s4679" xml:space="preserve">Der Grund hiervon <lb/>iſt vielmehr folgender. </s>
  <s xml:id="echoid-s4680" xml:space="preserve">Am ſpitzen Ende liegt das Eiweiß e <lb/>dicht hinter der Schale. </s>
  <s xml:id="echoid-s4681" xml:space="preserve">Legt man nun die Zunge daran, <lb/>ſo giebt die Zunge Wärme ab an die Eiſchale, und die <lb/>Eiſchale giebt die Wärme an das Eiweiß. </s>
  <s xml:id="echoid-s4682" xml:space="preserve">Da hierdurch die <lb/>Zunge viel Wärme verliert, ſo entſteht in uns das Gefühl, <lb/>als ob die ſpitze Seite des Eies kalt wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s4683" xml:space="preserve">— Am breiten Ende
<pb o="14" file="370" n="370"/>
dagegen iſt zwiſchen der Eiſchale und dem Eiweiß ein mit Luft <lb/>gefüllter Raum, den man Luftraum (l) nennt, und den wohl <lb/>jedermann ſchon, wenn er harte Eier gegeſſen, bemerkt hat. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4684" xml:space="preserve">Hält man nun die Zunge an die breite Seite, ſo erwärmt ſich <lb/>die dünne Eiſchale ſehr ſchnell; </s>
  <s xml:id="echoid-s4685" xml:space="preserve">die dahinter liegende Luft aber <lb/>leitet die Wärme nicht fort, weil Luft ein ſehr ſchlechter <lb/>Wärme-Leiter iſt, die Eiſchale nimmt alſo ſehr bald die Wärme <lb/>der Zunge an und darum fühlt es ſich ſo an, als ob die breite <lb/>Seite wärmer wäre als die ſpitze.</s>
  <s xml:id="echoid-s4686" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4687" xml:space="preserve">Der Luftraum an der breiten Seite des Eies ſpielt aber <lb/>eine weſentliche Rolle, denn das Hühnchen wird, wie wir ſehen <lb/>werden, mit ſeinem Schnäbelchen an dem Luftraum liegen und <lb/>die dort befindliche Luft zuerſt einatmen, ja ſogar das erſte <lb/>Piepſen des Hühnchens geſchieht mit Hilfe dieſer Luft, denn es <lb/>iſt von gewiſſenhaften Beobachtern feſtgeſtellt, daß die Hühnchen, <lb/>noch in der verſchloſſenen Schale liegend, ſchon piepſen können.</s>
  <s xml:id="echoid-s4688" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4689" xml:space="preserve">Wenn wir hinzufügen, daß der an der breiten Seite des <lb/>Eies liegende Schnabel des Hühnchens den eigentlichen Bruch <lb/>der Schale macht, ſo wird man den Unterſchied der ſpitzen <lb/>und der breiten Seite des Eies wohl einſehen, denn die breite <lb/>Seite iſt für das Hühnchen gewiſſermaßen die Pforte, die aus <lb/>dem Gefängnis führt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4690" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4691" xml:space="preserve">Wir wollen uns aber das Ei noch genauer anſehen!</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div177" type="section" level="1" n="120">
<head xml:id="echoid-head140" xml:space="preserve"><emph style="bf">V. Beſehen wir uns das Ei.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4692" xml:space="preserve">Ein Ei hat, wie jedermann weiß, eine Kalkſchale um ſich. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4693" xml:space="preserve">Dieſe Kalkſchale hat allenthalben außerordentlich feine Löcher, <lb/>welche man Poren nennt, und durch dieſe Löcher kann die <lb/>Luft aus- und eintreten.</s>
  <s xml:id="echoid-s4694" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4695" xml:space="preserve">Daß in einem Ei Luft enthalten iſt, und zwar recht viel
<pb o="15" file="371" n="371"/>
Luft, das kann man am beſten beobachten, wenn man es in <lb/>ein hohes Glas Waſſer legt und das Glas unter die Glas-<lb/>glocke einer Luftpumpe ſetzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4696" xml:space="preserve">Sobald die Luft aus der Glas-<lb/>glocke aufgepumpt wird, tritt die Luft aus dem Ei heraus und <lb/>ſteigt in immer größer und größer werdenden Blaſen im Waſſer <lb/>auf, ſo daß es ausſieht, als ob das Waſſer im heftigſten <lb/>Kochen wäre.</s>
  <s xml:id="echoid-s4697" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4698" xml:space="preserve">Auch dieſe Luft im Ei ſpielt eine wichtige Rolle bei der <lb/>Entwickelung des Hühnchens. </s>
  <s xml:id="echoid-s4699" xml:space="preserve">Es ſteht feſt, daß Eier, welche <lb/>man luftdicht verkittet hatte, nicht zum Ausbrüten gebracht <lb/>werden konnten, trotzdem ſonſt alle Bedingungen erfüllt waren, <lb/>die zur Brütung nötig ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s4700" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4701" xml:space="preserve">Bricht man ein Stückchen von der Kalkſchale ab, ſo be-<lb/>merkt man eine Eihaut, und giebt man genau acht, ſo findet <lb/>man, daß dieſe Eihaut doppelt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4702" xml:space="preserve">Aus dem vorigen Ab-<lb/>ſchnitt wiſſen wir bereits, daß auf dem breiten Ende ein Luft-<lb/>raum vorhanden iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4703" xml:space="preserve">bricht man an der Stelle des Luftraumes <lb/>die Schale ein wenig ab, ſo ſieht man recht deutlich, daß es <lb/>zwei Häute zwiſchen dem Eiweiß und der Schale giebt, wovon <lb/>die eine Haut an der Schale ſitzt, während die andere das Ei-<lb/>weiß bedeckt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4704" xml:space="preserve">Der Luftraum alſo wird oben an dem breiten <lb/>Ende des Eies von den zwei Häuten gebildet, die ſich hier <lb/>trennen, während ſie ſonſt allenthalben dicht anliegen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4705" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4706" xml:space="preserve">Durchreißt man nun auch dieſe Häute, ſo kommt man auf <lb/>das Eiweiß. </s>
  <s xml:id="echoid-s4707" xml:space="preserve">Aber auch das Eiweiß, das wie eine einzige <lb/>gallertartige Schicht ausſieht, iſt keineswegs eine einzige gleiche <lb/>Maſſe, ſondern es beſteht aus einem feinen Fächerwerk, in <lb/>dem eine klare, dünne Flüſſigkeit eingeſchloſſen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4708" xml:space="preserve">Die Fächer <lb/>durchziehen den ganzen Raum zwiſchen der Kalkſchale und dem <lb/>Kern des Eies, den wir ſogleich näher kennen lernen werden; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4709" xml:space="preserve">in den einzelnen Fächern liegt das eigentliche, flüſſige Eiweiß.</s>
  <s xml:id="echoid-s4710" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4711" xml:space="preserve">Daher kommt es, daß beim Aufbrechen der Eier zuerſt <lb/>eine klare, dünnflüſſige Maſſe ausfließt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4712" xml:space="preserve">Es iſt dies reines
<pb o="16" file="372" n="372"/>
Eiweiß, das in den äußerſten Fächern eingeſchloſſen war. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4713" xml:space="preserve">Später wird das Eiweiß zäher, es zieht ſich nicht mehr in ſo <lb/>feine Fäden, wie die erſte Menge, weil nun ſchon viele Häute <lb/>von dem Fächerwerk im Eiweiß enthalten ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s4714" xml:space="preserve">Noch feſter iſt <lb/>die letzte Portion Eiweiß, welche ordentlich klumpenartig herab-<lb/>fällt, wenn die Hausfrauen abwechſelnd den Dotter und das <lb/>Eigelb aus einer halben Eiſchale in die andere halbe Eiſchale <lb/>werfen, um dasſelbe ganz vom Eiweiß zu trennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4715" xml:space="preserve">Mit dieſer <lb/>Menge wird nämlich das ganze häutige, am Dotter befeſtigte <lb/>Zellengerüſt des Eiweißes mit entfernt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4716" xml:space="preserve">Abgeſehen davon aber <lb/>iſt auch das Eiweiß ſelbſt in zwei Zonen geordnet, wie es <lb/>unſere Figur 4 andeutet; </s>
  <s xml:id="echoid-s4717" xml:space="preserve">als e<emph style="super"><emph style="ul">1</emph></emph> iſt die Zone des zäheren, <lb/>gummiartigen Eiweißes bezeichnet, als e<emph style="super"><emph style="ul">2</emph></emph> die mehr wäſſerige, <lb/>äußere Zone.</s>
  <s xml:id="echoid-s4718" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4719" xml:space="preserve">Obwohl die Hand der Hausfrau hierin oft geſchickter iſt <lb/>als die manches Naturforſchers, ſo gelingt ihnen das Kunſt-<lb/>ſtück doch nie vollkommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4720" xml:space="preserve">Es haftet nämlich eine Art dicker <lb/>gedrehter Eiweißfaden, die Innenhaut des Eiweißes, an zwei <lb/>Seiten an dem eigentlichen Kern des Eies, dem Dotter, feſt, <lb/>und dieſe Fäden, die am Dotter in zwei Knoten anliegen, <lb/>welche die Frauen “die Augen” nennen, müſſen erſt gewaltſam <lb/>von dem Dotter abgeriſſen werden, wenn man dasſelbe ganz <lb/>vom Eiweiß befreien will. </s>
  <s xml:id="echoid-s4721" xml:space="preserve">In unſerer Figur haben wir dieſe <lb/>Fäden mit h angegeben, da ſie unter dem Namen Hagelſchnüre <lb/>bekannt ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s4722" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4723" xml:space="preserve">Nehmen wir an, man hätte dieſe “Schnüre” entfernt, und <lb/>es läge jetzt der Dotter ganz zu unſerer Betrachtung vor uns, <lb/>ſo gewahren wir vor allem, daß auch der Dotter ſeine beſondere <lb/>Haut hat, die ſeinen Inhalt zuſammenhält, wenn man ihn be-<lb/>hutſam auf einen Teller legt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4724" xml:space="preserve">ſobald aber die Haut zerreißt, <lb/>ſo fließt der Dotter aus und zeigt ſich noch leichtflüſſiger als <lb/>der feſtere Teil des Eiweißes.</s>
  <s xml:id="echoid-s4725" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4726" xml:space="preserve">Legt man den Dotter ſo vor ſich hin, daß die zwei ſoge-
<pb o="17" file="373" n="373"/>
nannten “Augen”, die Eiweißknoten, zu beiden Seiten ſichtbar <lb/>ſind, ſo vermag man es, den Dotter mit Hilfe eines Löffels <lb/>in geſchickter Hand nach allen Seiten zu wenden, ſo daß man <lb/>ihn auch auf der Seite beſehen kann, mit welcher er auf dem <lb/>Teller aufliegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4727" xml:space="preserve">Dreht man ihn ſo nach allen Seiten hin, ſo <lb/>wird man bald gerade in der Mitte der Dotterkugel ein Fleck-<lb/>chen entdecken, ſo groß ungefähr wie ein plattgedrücktes Senfkorn.</s>
  <s xml:id="echoid-s4728" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4729" xml:space="preserve">Und dieſes Fleckchen, meine verehrten Leſer, wollen wir <lb/>uns vorerſt genau anſehen, denn gerade dieſer Flecken iſt es, <lb/>den man den <emph style="sp">Keimflecken, die Keimſcheibe</emph>, nennt, weshalb <lb/>wir ihn in der Abbildung 4 mit k vermerkt haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s4730" xml:space="preserve">Er iſt <lb/>ſo eigentlich das, was ſich höchſt merkwürdig umwandeln wird. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4731" xml:space="preserve">Er iſt es auch, der das ganze Ei zur Umwandlung mit ſich <lb/>zieht, und wenn man überhaupt ſagen kann, es ſtecke in einem <lb/>Ei ein Hühnchen, ſo muß man auch ſagen, das Hühnchen ſtecke <lb/>eigentlich in dieſem unſcheinbaren Fleckchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4732" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4733" xml:space="preserve">Wir werden im Verlauf unſerer Darſtellung noch recht <lb/>ausführlich auf dieſen Flecken zurückkommen müſſen, deshalb <lb/>wollen wir für jetzt den Flecken Flecken ſein laſſen und einmal <lb/>ſehen, ob am Ei noch etwas Merkwürdiges zu ſehen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4734" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4735" xml:space="preserve">Es wird wohl ſchon manchem unſerer Leſer paſſiert ſein, <lb/>daß, wenn er ein recht hart geſottenes Ei mit einem ſcharfen <lb/>Meſſer durchſchnitten, woran das Eigelb nicht anklebt, es ihm <lb/>ſo ſcheint, als ob er betrogen worden wäre, denn es kommt <lb/>ihm ſo vor, als ob in der Mitte des Dotters ein Stückchen <lb/>fehle. </s>
  <s xml:id="echoid-s4736" xml:space="preserve">Aber er iſt im Irrtum. </s>
  <s xml:id="echoid-s4737" xml:space="preserve">In jedem rechtſchaffenen Ei — <lb/>und die Natur iſt immer ſehr rechtſchaffen in dem, was ſie <lb/>macht — fehlt ſcheinbar ein wenig in der Mitte, oder richtiger, <lb/>befindet ſich eine kleine Höhle, und von dieſer Höhle aus führt <lb/>ein Kanal bis hin zu dem Keimfleck. </s>
  <s xml:id="echoid-s4738" xml:space="preserve">In dieſer Höhle befindet <lb/>ſich ein zähflüſſiger, weißlicher Dotter, der <emph style="sp">Bildungsdotter</emph> b, <lb/>während der umgebende gelbe Dotter der “<emph style="sp">Nahrungs-<lb/>dotter</emph>“ n iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4739" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4740" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s4741" xml:space="preserve">Bernſtein, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s4742" xml:space="preserve">Volfsbücher IX.</s>
  <s xml:id="echoid-s4743" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="18" file="374" n="374"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4744" xml:space="preserve">Das iſt es, was man von einem Ei ſo ungefähr mehr <lb/>oder weniger genau mit bloßem Auge ſehen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s4745" xml:space="preserve">Nimmt <lb/>man aber Vergrößerungsgläſer zu Hilfe, ſo gewahrt man noch <lb/>andere Dinge. </s>
  <s xml:id="echoid-s4746" xml:space="preserve">Von den wichtigſten, die zur Entwickelungs-<lb/>geſchichte des Hühnchens gehören, werden wir noch ſpäter <lb/>Einiges mitteilen; </s>
  <s xml:id="echoid-s4747" xml:space="preserve">jetzt wollen wir nur vom Ei berichten, daß <lb/>man mit dem Mikroſkop bemerken kann, wie der Dotter eigent-<lb/>lich eine breiartige Maſſe iſt, welche aus lauter ſehr kleinen <lb/>Körnchen beſteht, und zwiſchen dieſen Körnchen ſchwimmen <lb/>gelbliche Kügelchen und Fetttröpfchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4748" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4749" xml:space="preserve">Hiernach wiſſen wir ſo ungefähr, wie ein Ei ausſieht, <lb/>und können verſichern, daß es nicht die geringſte Ähnlichkeit <lb/>mit einem Hühnchen beſitzt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4750" xml:space="preserve">nunmehr aber müſſen wir uns <lb/>das Material anſehen, woraus das Ei gebaut iſt, denn wenn <lb/>ein Ei wirklich kein Hühnchen iſt, ſo enthält es doch ganz <lb/>ſicher die Bauſteine, woraus Hühner gemacht werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s4751" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div178" type="section" level="1" n="121">
<head xml:id="echoid-head141" xml:space="preserve"><emph style="bf">VI. Wie die Rechnung genau ſtimmt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4752" xml:space="preserve">Wenn wir auch im vorhergehenden Abſchnitt angegeben <lb/>haben, was man alles in und an dem Ei mit dem Auge ſehen <lb/>kann, ſo müſſen wir doch noch einen Schritt weiter gehen und <lb/>einmal betrachten, aus welchen Materialien ſolch ein Ei und <lb/>was man daran ſieht, geſchaffen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4753" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4754" xml:space="preserve">Aus dem Ei, das können uns unſere Leſer aufs Wort <lb/>glauben, wird ein Hühnchen werden, und das Hühnchen wird <lb/>ganz zuverläſſig Blut, Gehirn, Muskeln, Nerven, Knochen, <lb/>Schnabel, Nägel, Federn und noch eine ganze Maſſe Dinge <lb/>haben, die wir alle hier gar nicht aufführen mögen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4755" xml:space="preserve">Es <lb/>werden unſere Leſer nun ſicherlich einſehen, daß man ſich <lb/>vor allem die Überzeugung verſchaffen muß, ob in dem Ei,
<pb o="19" file="375" n="375"/>
dieſem noch ungebauten Hühnchen, auch alles Baumaterial <lb/>richtig vorhanden iſt für Alles, was das Hühnchen zu haben <lb/>braucht, denn es wäre ja wirklich ein Mißgeſchick, wenn wir <lb/>gerade das Unglück hätten, ein Ei vor uns zu haben, in <lb/>welchem das Baumaterial für eines der Augen oder für einen <lb/>Flügel, oder einen Fuß oder ſonſt irgend etwas, das dem <lb/>Hühnchen gebührt, fehlen ſollte!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4756" xml:space="preserve">Indeſſen wollen wir unſere Leſer nur von vornherein gleich <lb/>beruhigen und ihnen vorweg ſagen, daß die Rechnung ſtimmt, <lb/>daß ſie beſſer ſtimmt, als alle Baupläne aller Baumeiſter in der <lb/>Welt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4757" xml:space="preserve">Wenn das Ei das Rohmaterial iſt, woraus die Natur <lb/>das Hühnchen baut, ſo muß man ſagen, daß die Natur außer-<lb/>ordentlich pünktlich iſt, denn wenn das Hühnchen fertig iſt, <lb/>wird nicht ein Bischen daran fehlen und auch nicht ein <lb/>Krümelchen Ei überflüſſig ſein, es wird vielmehr nichts da <lb/>ſein, als Schale und Hühnchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4758" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4759" xml:space="preserve">Wo aber in aller Welt liegen denn im Ei die Nägel, <lb/>die Federn, die Knochen, der Schnabel, die Galle und der-<lb/>gleichen? </s>
  <s xml:id="echoid-s4760" xml:space="preserve">Es wird uns doch niemand einreden wollen, daß <lb/>man in einem Rühr-Ei eine Partie Federn oder gar bittere <lb/>Galle verſpeiſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4761" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4762" xml:space="preserve">Keineswegs! Rühr-Ei iſt Rühr-Ei und iſt mit Galle <lb/>und Federn durchaus nicht zu verwechſeln; </s>
  <s xml:id="echoid-s4763" xml:space="preserve">aber dennoch ſtimmt <lb/>die Rechnung. </s>
  <s xml:id="echoid-s4764" xml:space="preserve">Federn ſind freilich nicht im Ei, aber es iſt <lb/>das Baumaterial darin, woraus Federn werden und noch <lb/>viele andere Dinge, die zum Hühnchen gehören.</s>
  <s xml:id="echoid-s4765" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4766" xml:space="preserve">Darum alſo thun wir gut, uns von einem Chemiker be-<lb/>lehren zu laſſen, was an Baumaterialien in dem Ei vorhanden <lb/>iſt und vorhanden ſein muß, wenn wir nicht damit angeführt <lb/>ſein wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4767" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4768" xml:space="preserve">Schon das Eiweiß enthält ganz kurioſe Dinge, die man <lb/>gar nicht in ihm ſuchen ſollte; </s>
  <s xml:id="echoid-s4769" xml:space="preserve">aber die Chemie, die ganz <lb/>darauf verſeſſen iſt, alles zu unterſuchen und die Stoffe in
<pb o="20" file="376" n="376"/>
ihren Beſtandteilen herauszufinden, lehrt uns und überzeugt <lb/>jeden Ungläubigen durch die Thatſachen, daß im Eiweiß Fett <lb/>und Traubenzucker vorhanden iſt, und daß ein Teil des Ei-<lb/>weißes aus Natrium, aus Chlor-Kalium, aus gewöhnlichem <lb/>Kochſalz und aus Phosphorſäure in Verbindung mit mehreren <lb/>Erdarten beſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4770" xml:space="preserve">Aus dem Dotter vermag der Chemiker gar <lb/>noch wunderbarere Dinge herauszuziehen, denn außer den ge-<lb/>nannten Dingen, die im Eiweiß vorhanden ſind, iſt hier noch <lb/>ein Stoff, der Käſeſtoff heißt und wirklich derſelbe iſt, der das <lb/>Weſentlichſte im Käſe ausmacht; </s>
  <s xml:id="echoid-s4771" xml:space="preserve">ſodann beſitzt er ganz eigen-<lb/>tümliche Fettarten, die Margarin, Elain und Choleſterin heißen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4772" xml:space="preserve">ſodann iſt gar noch Schwefel und Eiſen, Kalk und anderes <lb/>darin, ſo daß man ſagen kann, daß ein Ei eine halbe chemiſche <lb/>Küche enthält.</s>
  <s xml:id="echoid-s4773" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4774" xml:space="preserve">Nimmt man aber alle dieſe Stoffe ſamt und ſonders zu-<lb/>ſammen, ſo bilden ſie doch nur den kleineren Teil des Eies <lb/>und zerlegt man ein ſolches chemiſch in ſeine Urſtoffe, ſo findet <lb/>man, daß es überwiegend aus Sauerſtoff, Stickſtoff, Waſſerſtoff <lb/>und Kohlenſtoff beſteht, aus dieſen vier Stoffen, aus welchen, <lb/>wie unſere Leſer ſchon wiſſen, ſo zu ſagen die ganze lebende <lb/>Welt hauptſächlich beſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s4775" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4776" xml:space="preserve">Wem dies etwas zu viel für ein einfaches Ei ſcheint, dem <lb/>wollen wir nochmals zur Beruhigung ſagen, daß die Rechnung <lb/>aufs Haar genau ſtimmt, denn das Ei iſt wahrhaftig nicht <lb/>geſchaffen zum Eierkuchen, wo man ihm die Portion Phosphor <lb/>oder Eiſen oder Schwefel oder Kalk ganz und gar erlaſſen <lb/>könnte; </s>
  <s xml:id="echoid-s4777" xml:space="preserve">es iſt wirklich geſchaffen, um ein Hühnchen zu werden, <lb/>und da ſind alle die Dinge nötig, ſehr nötig.</s>
  <s xml:id="echoid-s4778" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4779" xml:space="preserve">Im Gehirn jedes Menſchen findet ſich Schwefel und <lb/>namentlich Phosphor, und im Gehirn eines Hühnchens, ſelbſt <lb/>des neugeborenen Hühnchens, ebenfalls. </s>
  <s xml:id="echoid-s4780" xml:space="preserve">Wir dürfen ganz zu-<lb/>verläſſig annehmen, daß ſein Gehirn gar nicht zuſtande käme <lb/>ohne Schwefel, und es ſicherlich ſein Kikriki nicht in die Welt
<pb o="21" file="377" n="377"/>
hinauszurufen imſtande wäre, wenn es nicht die nötige Portion <lb/>Phosphor im Gehirn hätte.</s>
  <s xml:id="echoid-s4781" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4782" xml:space="preserve">Wenn wir des Abends weichgeſottene Eier zum Thee <lb/>genießen, ſo mag uns der Kalk in den Eiern ein ganz unnötiger <lb/>Luxusartikel erſcheinen: </s>
  <s xml:id="echoid-s4783" xml:space="preserve">wenn wir aber bedenken, daß unſere <lb/>Knochen ohne Kalk gar nicht exiſtieren würden, da ſie eben <lb/>aus phosphorſaurem Kalk beſtehen, ſo müſſen wir ſchon dem <lb/>Ei geſtatten, ſeine Portion Kalk für die Knochen des Hühnchens <lb/>zu beſitzen, das eigentlich aus dem Ei hervorgehen ſollte.</s>
  <s xml:id="echoid-s4784" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4785" xml:space="preserve">Wir könnten ohne Kochſalz nicht leben, und am zuver-<lb/>läſſigſten würden wir weder Haare noch Nägel ohne dieſes <lb/>Salz haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s4786" xml:space="preserve">wir müſſen es alſo auch dem Ei ſchon erlauben, <lb/>Kochſalz zu enthalten, da das junge Hühnchen, zumal wenn <lb/>es erſt in der Eierſchale entſteht, nicht wie wir zum Salz-<lb/>mäßchen greifen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s4787" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4788" xml:space="preserve">Und wie mit dieſen Dingen, die uns ſehr nebenſächlich <lb/>am Ei erſcheinen, iſt es mit allen übrigen der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s4789" xml:space="preserve">Sie <lb/>ſind fürs Hühnchen durchaus nicht nebenſächlich, ſondern <lb/>wichtige Hauptſachen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4790" xml:space="preserve">Denn mit einem Wort: </s>
  <s xml:id="echoid-s4791" xml:space="preserve">das Ei iſt das <lb/>Baumaterial für ein Hühnchen, und ein ſehr genau gemeſſenes, <lb/>höchſt pünktlich zugeteiltes Material, das alles enthält, was <lb/>das Hühnchen zum Bau ſeines Leibes braucht, und das ſo <lb/>eingerichtet iſt, daß, wie geſagt, die Rechnung ſtimmt, ganz <lb/>genau ſtimmt! und das hat zu allen Zeiten ſein Gutes, was <lb/>jedermann eingeſtehen wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s4792" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div179" type="section" level="1" n="122">
<head xml:id="echoid-head142" xml:space="preserve"><emph style="bf">VII. Wie ein Ei zur Welt kommt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4793" xml:space="preserve">Da, wie wir geſehen haben, die Rechnung ſtimmt und im <lb/>Ei richtig alles Baumaterial vorhanden iſt, das zu einem <lb/>Hühnchen gebraucht wird, ſo könnten wir gleich darauf los-<lb/>gehen und das Hühnchen anfangen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4794" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="22" file="378" n="378"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4795" xml:space="preserve">Aber man laſſe uns nur noch ein wenig Zeit!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4796" xml:space="preserve">Wenn wir mit dem Hühnchen erſt anfangen, dann müſſen <lb/>wir für immer vom Ei Abſchied nehmen; </s>
  <s xml:id="echoid-s4797" xml:space="preserve">denn mit dem Ei wird <lb/>es dann ſo zu ſagen von Stunde zu Stunde immer mehr alle. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4798" xml:space="preserve">Wir haben aber mit dem Ei noch ein Wörtchen zu reden, <lb/>und ehe wir es für ewig von dannen laſſen, müſſen wir denn <lb/>doch erſt wiſſen, woher es gekommen, und wie es zu all den <lb/>Dingen, die in ihm ſtecken, auf ehrliche Art gelangt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4799" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4800" xml:space="preserve">Zwar weiß ſchon jedes Kind nns zu ſagen, daß irgend <lb/>ein Huhn das Ei gelegt hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s4801" xml:space="preserve">und das iſt auch wirklich ganz <lb/>richtig. </s>
  <s xml:id="echoid-s4802" xml:space="preserve">Aber unſere Wißbegierde kann dieſe Antwort ſicherlich <lb/>nicht beruhigen, ſo lange wir nicht im Reinen darüber ſind, <lb/>wie und wo das Ei im Huhn entſtanden iſt, bis es gelegt <lb/>oder, ſo zu ſagen, geboren wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s4803" xml:space="preserve">— Wir beſchäftigen uns <lb/>oft genug mit ungelegten Eiern, wo gar nichts dabei heraus-<lb/>kommt: </s>
  <s xml:id="echoid-s4804" xml:space="preserve">wie will man uns verdenken, wenn wir jetzt, wo wir <lb/>im Begriff ſtehen, wirklich aus dem Ei was herauszubekommen, <lb/>ein wenig zurückblicken auf die Zeit, wo das Ei noch ungelegt <lb/>war?</s>
  <s xml:id="echoid-s4805" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4806" xml:space="preserve">Wir müſſen demnach zur Entſtehung des Eies zurück und <lb/>deshalb in das Inner@ des Mutterhauſes blicken, woſelbſt <lb/>das Ei ſein Daſein begann.</s>
  <s xml:id="echoid-s4807" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4808" xml:space="preserve">Jede Hausfrau, die öfter ein Huhn geöffnet hat, wird <lb/>ſchon bemerkt haben, daß das Huhn eine Art Baum im Leibe <lb/>hat, worauf Eidotter wachſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4809" xml:space="preserve">Dieſer Baum beſteht aus <lb/>einem eigentümlichen Gezweige, durch welches Nerven und <lb/>Blutgefäße ſich ſchlängeln, und woran eine ganze Maſſe kleiner <lb/>Eier wie Früchte hängen, die alle heranzureifen und ſich vom <lb/>Huhn zu entfernen beſtimmt ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s4810" xml:space="preserve">Ein jedes dieſer Eier oder <lb/>richtiger dieſer Dotterchen iſt während des Wachſens in der <lb/>Falte einer Haut eingeſchloſſen, die es umkleidet, und in dieſer <lb/>Haut liegend, — die nicht dem Dotter, ſondern dem Baum <lb/>oder richtiger dem Eierſtock angehört, worauf der Dotter wächſt,
<pb o="23" file="379" n="379"/>
— empfängt dasſelbe aus dem Blute des Huhnes all die <lb/>nötigen Baumaterialien, die das künftige Hühnchen brauchen <lb/>wird, bis es ſo genährt heranwächſt und richtiger, vollgültiger, <lb/>reifer Dotter wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s4811" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4812" xml:space="preserve">Sobald dies der Fall iſt, ſo reißt die Haut, worin der <lb/>Dotter eingebettet iſt, und er fällt heraus und würde in der <lb/>Leibeshöhle liegen bleiben, wenn nicht ein beſonderer Schlauch, <lb/>ein “Eileiter”, vorhanden wäre, der von der Gegend des Eier-<lb/>ſtockes bis in den unteren Darmteil des Huhnes führte.</s>
  <s xml:id="echoid-s4813" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4814" xml:space="preserve">Daher kommt es denn auch, daß man oft beim Öffnen eines <lb/>Huhnes einen häutigen Dotter, abgelöſt vom Eierſtock, vorfindet, <lb/>der ſich ganz und gar nicht von dem richtigen Dotter eines <lb/>Eies unterſcheidet, während noch eine ganze Maſſe kleinerer <lb/>und größerer Dotter am Eierſtocke hängen, die, wenn man ſie <lb/>abſchneidet, eine härtere Haut, als ſonſt ein Dotter, um ſich <lb/>haben, und die man, wenn ſie gebraten werden, ordentlich <lb/>abſchälen kann, bevor man ſie genießt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4815" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4816" xml:space="preserve">Der Eileiter ſowohl wie der Darm ſind nun ein eigen-<lb/>tümliches Gewebe, das aus fleiſchigen Längs- und Querfaſern <lb/>gebildet iſt, und das daher die Eigentümlichkeit hat, daß es <lb/>ſich ähnlich wie eine ſeidene Geldbörſe in die Länge und <lb/>in die Breite ausdehnen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s4817" xml:space="preserve">Man kann ſich von einem <lb/>Dotter, der im Eileiter ſteckt, ein ziemlich entſprechendes Bild <lb/>machen, wenn man eine Wallnuß in eine ſeidene, dehnbare <lb/>Geldbörſe ſchiebt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4818" xml:space="preserve">man wird dann ſehen, wie vor der Wall-<lb/>nuß und hinter ihr die Börſe ſich zuſammenzieht in dem-<lb/>ſelben Maße, wie die Wallnuß die Stelle, wo ſie liegt, aus-<lb/>dehnt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4819" xml:space="preserve">Denken wir uns, daß die Börſe das Kunſtſtück verſteht, <lb/>ſich immer vor der Wallnuß ein wenig zu dehnen und hinter <lb/>ihr ſich ein wenig zuſammenzuziehen, ſo wird die Wallnuß <lb/>eine langſame Wanderung durch die Börſe machen, ſo daß ſie <lb/>von dem einen Ende zum andern gelangt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4820" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4821" xml:space="preserve">Dieſes Kunſtſtück des Ausdehnens und Zuſammenziehens,
<pb o="24" file="380" n="380"/>
des Enger- und Weiterwerdens verſtehen nun mit Hilfe ihrer <lb/>Fleiſchfaſern alle Gedärme aller lebenden Weſen, und durch die-<lb/>ſelben ſind ſie imſtande, ihren Inhalt immer weiter abwärts <lb/>zu ſchieben. </s>
  <s xml:id="echoid-s4822" xml:space="preserve">Man nennt dieſe Art von Bewegung “die wurm-<lb/>förmige Bewegung” und kann dieſelbe an den Gedärmen friſch <lb/>getöteter Tiere noch beobachten. </s>
  <s xml:id="echoid-s4823" xml:space="preserve">Eine ſolche Bewegung nun <lb/>iſt es auch, die den Dotter vorwärts ſchiebt und ihn ſeinen <lb/>Weg bis in die Welt hinaus nehmen läßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4824" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4825" xml:space="preserve">Aber auf dieſem Wege paſſieren ihm ganz außer-<lb/>ordentliche Wunder.</s>
  <s xml:id="echoid-s4826" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4827" xml:space="preserve">Vor allem iſt es wunderbar, daß der Dotter nicht ge-<lb/>radeswegs geſchoben, ſondern daß er dabei zugleich fort-<lb/>während gedreht wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s4828" xml:space="preserve">Er dreht ſich derart, als wollte er <lb/>ſich eigentlich vorwärts ſchrauben. </s>
  <s xml:id="echoid-s4829" xml:space="preserve">Wie ein Pfropfenzieher in <lb/>den Kork immer tiefer hineinſpaziert, während er um ſeine Axe <lb/>gedreht wird, ähnlich ſo ſpaziert der Dotter ſich immer drehend <lb/>und ſchraubend weiter. </s>
  <s xml:id="echoid-s4830" xml:space="preserve">Wodurch dieſe Drehung veranlaßt <lb/>wird, iſt eins von den vielen Rätſeln der Natur. </s>
  <s xml:id="echoid-s4831" xml:space="preserve">Wir <lb/>Menſchen drehen uns in ähnlicher Weiſe bei der Geburt aus <lb/>dem Mutterſchoß und kommen in einer Art Schraubengang <lb/>auf dieſe wunderliche Welt, die wir berufen ſind, wenn die <lb/>Zeit gekommen, ſtarr und ſteif, ohne uns drehen und wenden <lb/>zu können, zu verlaſſen, um in den weiten, großen Mutterſchoß <lb/>aufgenommen zu werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s4832" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4833" xml:space="preserve">Zu dieſem Wunder der Drehung des Dotters geſellt ſich <lb/>noch ein zweites, das einigermaßen erklärlicher iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4834" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4835" xml:space="preserve">Von den Wänden des Kanals, durch welchen der Dotter <lb/>drehend vorwärts geſchoben wird, ſondert ſich ein Schleim ab, <lb/>der ſich an den Dotter legt, und dieſer Schleim iſt das Eiweiß. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4836" xml:space="preserve">Daher kommt es, daß an den Axen des ſich drehenden Dotters <lb/>das Eiweiß ſich wie ein Knoten anlegt, den die Hausfrauen <lb/>fälſchlich “die Augen” nennen, und daß an dieſem Knoten ſich <lb/>Eiweiß wie ein gedrehter Faden anlehnt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4837" xml:space="preserve">— Je weiter der Dotter
<pb o="25" file="381" n="381"/>
nun gedreht und geſchoben wird, deſto mehr und deſto flüſſigeres <lb/>Eiweiß legt ſich ihm an, bis er dann an eine Stelle kommt, <lb/>wo das Eiweiß fertig iſt und der Eileiter nun beginnt, eine <lb/>weniger zähe Flüſſigkeit abzuſondern, die gleichfalls das Ei <lb/>umkleidet und die Eihäute bildet. </s>
  <s xml:id="echoid-s4838" xml:space="preserve">Nach dieſen Abſonderungen <lb/>des Eileiters ſchwitzt derſelbe eine kalkhaltige Flüſſigkeit aus, <lb/>die die Eiſchale wird und wenn dieſe fertig iſt, iſt auch das <lb/>Ei ausgeſtattet, um dieſe wunderliche Welt zu betreten, und <lb/>es tritt in dieſelbe unter dem lauteſten Ruf des Mutterhuhnes, <lb/>das ihm wahrſcheinlich zum Geburtstag gratulieren ſoll! —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4839" xml:space="preserve">So kommt ein Ei zur Welt, wunderbarlich genug, um noch <lb/>wunderbarlicher ins Leben gerufen zu werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s4840" xml:space="preserve">—</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div180" type="section" level="1" n="123">
<head xml:id="echoid-head143" xml:space="preserve"><emph style="bf">VIII. Das Ei in der Bildungsanſtalt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4841" xml:space="preserve">Indem wir nun ein friſch gelegtes Hühner-Ei vor uns <lb/>haben und ſtillſchweigend vorausſetzen, daß es die hierzu not-<lb/>wendige Befruchtung im Mutterſchoße des Huhnes empfangen, <lb/>wollen wir daran gehen, dasſelbe in die Hühnerfabrik zu bringen <lb/>und es in eine Brütmaſchine in Penſion geben.</s>
  <s xml:id="echoid-s4842" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4843" xml:space="preserve">Es iſt indeſſen nicht ratſam, dasſelbe ganz allein darin zu <lb/>laſſen, weil erſtens die Portion von Wärme, die einmal in der <lb/>Brütmaſchine unterhalten werden muß, für eine größere Maſſe <lb/>gleichfalls ausreicht, und weil wir zweitens der Neugierde <lb/>ſchwerlich werden widerſtehen können, das Ei ſchon nach wenigen <lb/>Stunden herauszunehmen, aufzubrechen und nachzuſehen, was <lb/>mit ihm los iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4844" xml:space="preserve">und da man die Kunſt noch nicht erfunden <lb/>hat, ein aufgebrochenes Ei wieder ſo zu flicken, daß es ſich <lb/>weiter ausbrütet, ſo würden wir ſchwerlich an einem einzigen <lb/>Ei viel zu lernen imſtande ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s4845" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4846" xml:space="preserve">Man thut daher gut, circa vierzig Eier mit einem Male
<pb o="26" file="382" n="382"/>
einzulegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4847" xml:space="preserve">Hat man das gethan, ſo läßt man das Brüt-<lb/>geſchäft beginnen und nimmt nach 6 Stunden ein Ei heraus, <lb/>bricht es auf und ſieht, was es in dieſer Zeit gelernt hat. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4848" xml:space="preserve">Nach neuen 6 Stunden wiederholt man dies mit einem zweiten <lb/>Ei, das alſo ſchon 12 Stunden in der Bildungsanſtalt zuge-<lb/>bracht hat und merkt ſich die Fortſchritte, die es da gemacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4849" xml:space="preserve"><lb/>Sechs Stunden ſpäter beſieht man ſich ein drittes und nach <lb/>vollen vierundzwanzig Stunden ein viertes Ei. </s>
  <s xml:id="echoid-s4850" xml:space="preserve">So verfährt <lb/>man denn in den erſten drei Tagen, ſo daß man in dieſen an <lb/>zwölf Eier aufgebrochen und deren Umwandlung geſehen hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s4851" xml:space="preserve"><lb/>Und da in dieſen drei Tagen ſo ziemlich die Hauptſachen ſich <lb/>klar machen, ſo genügt es, die Fortſchritte der Entwickelung <lb/>fortan von Tag zu Tag zu beobachten und täglich nur ein Ei <lb/>aufzubrechen, bis endlich am einundzwanzigſten Tage das <lb/>Hühnchen im letzten Ei das Geſchäft des Aufbrechens der <lb/>Schale ſelber übernimmt und ins Leben hinauswandert, ganz <lb/>als ob es unter der Bruſt des Mutterhuhnes gelegen und nicht <lb/>fabrikationsmäßig in einer lebloſen Maſchine ſeine Ausbildung <lb/>genoſſen hätte.</s>
  <s xml:id="echoid-s4852" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4853" xml:space="preserve">Ähnlich wollen wir es auch machen, obgleich wir nicht <lb/>gedenken, die Geduld der Leſer ſo auf die Probe zu ſtellen <lb/>und ihnen vierzigmal das werdende Hühnchen vorzuführen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4854" xml:space="preserve">Die Hälfte ſolcher Vorführungen wäre auch ſchon zu viel, da <lb/>wir wiſſen, daß wir jedesmal, wenn wir die Ehre haben <lb/>werden, das ſehr jugendliche Hühnchen unſern geehrten Leſern <lb/>vorzuſtellen, eine ganze Maſſe von Erläuterungen werden auf-<lb/>führen müſſen, bevor der Leſer wird ſagen können, er freu<unsure/>e <lb/>ſich, deſſen nähere Bekanntſchaft gemacht zu haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s4855" xml:space="preserve">Aber ſehr <lb/>geduldig müſſen wir dennoch zu Werke gehen, denn wir ver-<lb/>ſichern, daß, wenn wir mit unſerem Gaſt ſo zu ſagen mit der <lb/>Thür ins Haus fallen, und etwa das, was das Hühnchen am <lb/>zweiten Tage der Brütung iſt, ohne Vorbereitung vor die <lb/>Augen unſerer Leſer bringen wollten, dieſe im vollſten Ernſte
<pb o="27" file="383" n="383"/>
ausrufen würden: </s>
  <s xml:id="echoid-s4856" xml:space="preserve">was wir hier ſehen, iſt weit eher ein Pan-<lb/>toffel als ein Hühnchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4857" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4858" xml:space="preserve">Darum wollen wir denn auch unſere Leſer auf die Be-<lb/>kanntſchaft, die ſie zu machen haben, vorbereiten, und dazu ge-<lb/>hört, daß wir uns vor Allem noch einmal das Ei und namentlich <lb/>den bereits vorgeführten Keimfleck betrachten, denn gerade hier <lb/>in dem Keimfleck, da liegt der Knoten.</s>
  <s xml:id="echoid-s4859" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4860" xml:space="preserve">Der Keimfleck liegt, wie wir bereits geſagt, mitten auf der <lb/>Oberfläche des Dotters und läßt ſich leicht genug an jedem <lb/>Ei auffinden, ſobald man den Dotter geſchickt zu drehen weiß, <lb/>ohne daß die Haut, die ihn umſchließt, zerreißt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4861" xml:space="preserve">Wenn man <lb/>den Dotter ſo vor ſich hinlegt, daß die beiden kleinen Eiweiß-<lb/>klümpchen ſamt den gedrehten Eiweißfäden zu beiden Seiten <lb/>des Dotters liegen, ſo findet man, daß der Flecken gleichweit <lb/>von ihnen entfernt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4862" xml:space="preserve">Denkt man ſich den Dotter in ſeiner <lb/>Kugelgeſtalt und ſtellt man ſich vor, daß die Eiweißklümpchen, <lb/>welche die Hausfrauen fälſchlich “die Augen” nennen, die Pole <lb/>dieſer Kugel ſind, ſo liegt der Keimfleck auf einem Punkte des <lb/>Äquators dieſer Dotterkugel.</s>
  <s xml:id="echoid-s4863" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4864" xml:space="preserve">Was aber iſt denn dieſer Keimfleck?</s>
  <s xml:id="echoid-s4865" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4866" xml:space="preserve">Der Keimfleck zeigt ſich bei genauer Beſichtigung nicht als <lb/>ein bloßer Fleck, ſondern als eine kleine, runde Scheibe, ſo groß <lb/>wie etwa ein plattgedrücktes Senfkörnchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4867" xml:space="preserve">Und dieſe Scheibe <lb/>liegt unter der Dotterhaut und ſchimmert durch dieſe hervor.</s>
  <s xml:id="echoid-s4868" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4869" xml:space="preserve">Da wir nun wiſſen, daß der Keimfleck eigentlich eine Keim-<lb/>Scheibe iſt, wollen wir ſie fortan mit dieſem Namen bezeichnen, <lb/>und ſo wollen wir denn ſagen: </s>
  <s xml:id="echoid-s4870" xml:space="preserve">die Keimſcheibe ruht auf dem <lb/>flüſſigen Dotter, und zwar an der Stelle, wo der Kanal hinab-<lb/>geht bis zum Mittelpunkt der ganzen Dotterkugel, woſelbſt ſich <lb/>eine kleine Höhle befindet, die “Bildungsdotter” enthält, welcher <lb/>auch den Kanal erfüllt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4871" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4872" xml:space="preserve">Die Keimſcheibe alſo iſt wie eine Art Deckel über einem <lb/>feinen Eingang, der zum Mittelpunkt des Dotters führt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4873" xml:space="preserve">Sie
<pb o="28" file="384" n="384"/>
ruht mit den Rändern auf dem Dotter, während die Dotter-<lb/>haut, die den Dotter im ganzen überzieht, auch über die Keim-<lb/>ſcheibe geht.</s>
  <s xml:id="echoid-s4874" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4875" xml:space="preserve">Die Veränderungen, die wir nun hauptſächlich ſehen <lb/>werden, gehen eben mit der Keimſcheibe vor; </s>
  <s xml:id="echoid-s4876" xml:space="preserve">denn das Hühn-<lb/>chen iſt, — ſo ſonderbar es auch klingt — nichts als die ver-<lb/>änderte, umgewandelte Keimſcheibe. </s>
  <s xml:id="echoid-s4877" xml:space="preserve">Das Ei ſowohl wie die <lb/>Dottermaſſe erleiden zwar Veränderungen, indem ſie ſich ver-<lb/>mindern und dünnflüſſiger werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s4878" xml:space="preserve">aber die Hauptumgeſtaltung <lb/>geht mit der Keimſcheibe vor, ſo daß wir in der Folge von <lb/>der Maſſe des Eiweißes und des D@tters ganz abſehen und <lb/>immer nur das kleine Scheibchen in ſeiner Entwicklung im Auge <lb/>haben werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s4879" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4880" xml:space="preserve">Die ganze Umwandlung aber, das merke man ſich wohl, <lb/>geht unter der Dotterhaut vor ſich, ſo daß man, wenn man ein <lb/>werdendes Hühnchen wirklich bloß vor ſich haben will, genötigt <lb/>iſt, die Dotterhaut zu zerſchneiden und das unter ihr liegende, <lb/>ſehr ſonderbare Weſen hervorzuziehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4881" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4882" xml:space="preserve">Nach dieſen vorbereitenden Bemerkungen müſſen wir noch <lb/>zeigen, was man mit ſcharfen Vergrößerungsgläſern an der <lb/>Keimſcheibe Bemerkenswertes geſehen hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s4883" xml:space="preserve">und das wollen wir <lb/>im nächſten Abſchnitt thun und der etwaigen Ungeduld eines <lb/>oder des anderen Leſers nur noch das eine ſagen, daß man <lb/>nicht etwa ein ganz kleines Hühnchen oder auch nur ein <lb/>Köpfchen eines Hühnchens, ja nicht einmal eine “Seele” eines <lb/>Hühuchens, ſondern ganz was Anderes geſehen hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s4884" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div181" type="section" level="1" n="124">
<head xml:id="echoid-head144" xml:space="preserve"><emph style="bf">IX. Was man ſieht und was man nicht ſieht.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4885" xml:space="preserve">Unterſucht man die Keimſcheibe und die Stelle, auf welcher <lb/>ſie liegt, mit einem Mikroſkop von zwei- bis vierhundertmaliger <lb/>Vergrößerung, ſo ſieht man in der That mehr als mit bloßem
<pb o="29" file="385" n="385"/>
Auge. </s>
  <s xml:id="echoid-s4886" xml:space="preserve">Kann man nun auch nicht ſagen, daß die wunderbaren <lb/>Vorgänge der künftigen Entwickelung dadurch ihre Erklärung <lb/>finden, ſo giebt das, was hier vor dem Beginn der Bebrütung <lb/>und ſchon wenige Stunden nachher geſehen wird, doch einigen <lb/>Anhalt zur näheren Einſicht in dieſes größte Rätſel der Natur, <lb/>das Rätſel des werdenden Lebens.</s>
  <s xml:id="echoid-s4887" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4888" xml:space="preserve">Mit großer Sorgfalt vermag man die kleine Keimſcheibe <lb/>abzuheben und dann gewahrt man, daß ſie nicht nur der Deckel <lb/>eines Kanals iſt, der zur Höhle im Mittelpunkt des Dotters <lb/>führt, ſondern daß an der Stelle, wo die Keimſcheibe aufliegt, <lb/>eine Art kleiner Grube ſich befindet, <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-385-01a" xlink:href="fig-385-01"/>
welche mit weißem, feinen Schleim aus-<lb/>gekleidet iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4889" xml:space="preserve">In dieſer Grube, im <lb/>Bildungsdotter ſchwimmend, ruht ein <lb/>kleiner, weißer Kern, der in unſerer <lb/>Figur 4 deutlich in die Keimſcheibe k <lb/>hingezeichnet worden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4890" xml:space="preserve">Man wird <lb/>ſich alſo ein richtiges Bild von dem <lb/>ganzen Dinge machen, wenn man ſich <lb/>vorſtellt, daß im Mittelpunkte des <lb/>Dotters ein kugeliger, mit weißlichem <lb/>Bildungsdotter erfüllter Raum iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4891" xml:space="preserve">von <lb/>dieſem Raum geht ein Kanal hinauf bis zur Oberfläche der <lb/>Dotterkugel. </s>
  <s xml:id="echoid-s4892" xml:space="preserve">Hier aber erweitert ſich der Kanal und bildet <lb/>eine Art Grübchen oder Becher, der, wie der Kanal, ebenfalls <lb/>Bildungsdotter enthält, in welchem — und zwar in dem Teil, <lb/>den wir als Keimſcheibe kennen lernten — ein Körnchen <lb/>ſchwimmt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4893" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div181" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-385-01" xlink:href="fig-385-01a">
<caption xml:id="echoid-caption73" xml:space="preserve">Fig. 5. <lb/>Ein ſtark vergrößertes <lb/>einzelliges Lebeweſen mit <lb/>Zellkern.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4894" xml:space="preserve"><emph style="sp">Die gelbe Dotterkugel</emph> n—b <emph style="sp">iſt eine große Zelle</emph>, <lb/>eine Rieſenzelle. </s>
  <s xml:id="echoid-s4895" xml:space="preserve">Schon in Teil I, S. </s>
  <s xml:id="echoid-s4896" xml:space="preserve">97 haben wir darauf <lb/>aufmerkſam gemacht, daß alle organiſchen Weſen, Tiere und <lb/>P@lanzen, aus lauter Kämmerchen, den “Zellen”, zuſammen-<lb/>geſetzt werden, die im lebenden Zuſtande eine ſchleimig-flüſſige
<pb o="30" file="386" n="386"/>
Subſtanz, das Plasma oder Protoplasma, enthalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s4897" xml:space="preserve">Die <lb/>einfachſten Lebeweſen beſtehen nur aus einer Zelle (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s4898" xml:space="preserve">5), die <lb/>einen Kern, den Zellkern, enthalten kann, der aus waſſer-<lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-386-01a" xlink:href="fig-386-01"/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-386-02a" xlink:href="fig-386-02"/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-386-03a" xlink:href="fig-386-03"/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-386-04a" xlink:href="fig-386-04"/>
ärmerem Protoplasma beſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4899" xml:space="preserve">Die höheren organiſchen Weſen, <lb/>wie die aus dem Hühnerei werdenden Hühnchen werden jedoch <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-386-05a" xlink:href="fig-386-05"/>
aus Tauſenden und Mil-<lb/>lionen kleiner Zellen zu-<lb/>ſammengeſetzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4900" xml:space="preserve">Wir mö-<lb/>gen die verſchiedenſten <lb/>Teile eines Organismus <lb/>unterm Mikroſkop be-<lb/>trachten; </s>
  <s xml:id="echoid-s4901" xml:space="preserve">wir mögen ein <lb/>Pröbchen aus dem Gehirn <lb/>(Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s4902" xml:space="preserve">6), aus einem Inſektenkörper (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s4903" xml:space="preserve">7), aus dem Herz-<lb/>muskel des Salamanders (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s4904" xml:space="preserve">8), aus der Kryſtalllinſe des
<pb o="31" file="387" n="387"/>
Maulwurfsauges (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s4905" xml:space="preserve">9), oder ein Stück Knochen (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s4906" xml:space="preserve">10), <lb/>kurz, ganz beliebige Teile der Organismen in Vergrößerung <lb/>unterſuchen: </s>
  <s xml:id="echoid-s4907" xml:space="preserve">immer und überall ſehen wir ſie aus Zellen <lb/>zuſammengeſetzt, welche ſich hinſichtlich der Verſchiedenartigkeit <lb/>der Aufgaben, die ſich dem Lebeweſen bieten, voneinander <lb/>unterſcheiden und daher in ihrer Form eine große Mannig-<lb/>faltigkeit aufweiſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4908" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div182" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-386-01" xlink:href="fig-386-01a">
<caption xml:id="echoid-caption74" xml:space="preserve">Fig. 6.</caption>
</figure>
<figure xlink:label="fig-386-02" xlink:href="fig-386-02a">
<caption xml:id="echoid-caption75" xml:space="preserve">Fig. 7.</caption>
</figure>
<figure xlink:label="fig-386-03" xlink:href="fig-386-03a">
<caption xml:id="echoid-caption76" xml:space="preserve">Fig. 8.</caption>
</figure>
<figure xlink:label="fig-386-04" xlink:href="fig-386-04a">
<caption xml:id="echoid-caption77" xml:space="preserve">Fig. 9.</caption>
</figure>
<figure xlink:label="fig-386-05" xlink:href="fig-386-05a">
<caption xml:id="echoid-caption78" xml:space="preserve">Fig. 10.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4909" xml:space="preserve">Jedes Lebeweſen ohne jede <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-387-01a" xlink:href="fig-387-01"/>
Ausnahme iſt aber urſprünglich <lb/>nur eine einzige Zelle geweſen, <lb/>die man als Eizelle bezeichnet, <lb/>und die durch Teilung (bei der <lb/>Eizelle ſpricht man von “Fur-<lb/>chung”) den vielzelligen Orga-<lb/>nismus bilden.</s>
  <s xml:id="echoid-s4910" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div183" type="float" level="2" n="3">
<figure xlink:label="fig-387-01" xlink:href="fig-387-01a">
<caption xml:id="echoid-caption79" xml:space="preserve">Fig. 11. <lb/>Ein ſtark vergrößertes, ganz kleines <lb/>Stückchen aus dem Eierſtock des <lb/>Maulwurfes.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4911" xml:space="preserve">Die Eizellen entſtehen, wie <lb/>ſchon geſagt, bei den höheren <lb/>Tieren in den Eierſtöcken; </s>
  <s xml:id="echoid-s4912" xml:space="preserve">von <lb/>den Zellen, die einen Eierſtock <lb/>zuſammenſetzen, vergrößern ſich <lb/>immerwährend einige, nehmen <lb/>an Umfang gegenüber den übri-<lb/>gen Zellen weſentlich zu, ſodaß <lb/>die letzteren die Umhüllung der <lb/>Eizelle bilden. </s>
  <s xml:id="echoid-s4913" xml:space="preserve">Dieſe Umhüllung <lb/>platzt endlich, um das Ei freizugeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s4914" xml:space="preserve">Unſere Figur 11 zeigt <lb/>ein Stückchen aus einem Eierſtock, das noch zwei ungleich reife <lb/>Eier, Eizellen, beherbergt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4915" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4916" xml:space="preserve">In den Hühnereiern iſt nun die ganze gelbe Dotterkugel <lb/>die Eizelle: </s>
  <s xml:id="echoid-s4917" xml:space="preserve">eine ausnahmsweiſe große Zelle, da gewöhnlich <lb/>die Eizellen mikroſkopiſch klein ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s4918" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4919" xml:space="preserve">Die Haut, die Zellhaut der Hühnereizelle iſt die Dotter-<lb/>haut, welche den gelben Nahrungsdotter umſchließt, der eben,
<pb o="32" file="388" n="388"/>
wie der Name ſagt, nur der Ernährung des Keimes dient, <lb/>alſo eine Speiſekammer iſt, die dem werdenden Hühnchen mit <lb/>auf den erſten, noch unfreien Lebensweg mitgegeben worden <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4920" xml:space="preserve">Aus dem als Keimſcheibe bezeichneten Teil des Bildungs-<lb/>dotters hingegen wird durch Zellteilung das Hühnchen ſelbſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4921" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4922" xml:space="preserve">Unterſucht man dieſe Keimſcheibe genauer, nachdem ſchon <lb/>einige Zellteilungen ſtattgefunden haben, ſo findet man, daß <lb/>ſie aus zwei übereinander liegenden Häutchen beſteht, die man <lb/>Keimblätter nennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4923" xml:space="preserve">Mit Vorſicht laſſen ſich die Blätter unter <lb/>das Mikroſkop bringen; </s>
  <s xml:id="echoid-s4924" xml:space="preserve">thut man dies, ſo zeigen ſich feine, <lb/>ſehr kleine Zellen, in deren Mitte man Zellkerne erkennen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s4925" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4926" xml:space="preserve">Das iſt vorerſt Alles, womit das Ei ausgeſtattet iſt, wenn <lb/>es in die Ausbildungsanſtalt, in die Brütmaſchine gebracht <lb/>wird; </s>
  <s xml:id="echoid-s4927" xml:space="preserve">und man wird geſtehen, daß dies ſehr wenig iſt, um <lb/>Aufſchluß über einen Vorgang zu geben, wie der, den wir <lb/>noch an dem Ei erleben werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s4928" xml:space="preserve">Gleichwohl iſt hierin eine <lb/>Andeutung gegeben, um ſich mindeſtens eine Vorſtellung über <lb/>den wunderbaren weiteren Verlauf einigermaßen bilden zu <lb/>können.</s>
  <s xml:id="echoid-s4929" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4930" xml:space="preserve">Wir werden nämlich in der ganzen weiteren Darſtellung <lb/>wahrnehmen, daß es wirklich nur die Blättchen der Keimſcheibe <lb/>ſind, welche zum lebenden Geſchöpfe werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s4931" xml:space="preserve">Sie, die Keim-<lb/>blätter, werden ſich verändern, ſie werden anſchwellen, ſie <lb/>werden wachſen, ſie werden ſich falten, ſich umſchlagen und <lb/>verſchiedenartig legen und dabei Organe in ſich und an ſich <lb/>und zwar immer durch weitere durch Teilung vor ſich gehende <lb/>Vermehrung der Zellen entwickeln, ſo lange, bis wirklich ein <lb/>ganzes lebendiges Hühnchen vor uns erſcheinen wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s4932" xml:space="preserve">Im <lb/>vollen Sinne des Wortes werden wir dann eingeſtehen müſſen: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4933" xml:space="preserve">ein Hühnchen iſt eine vollends entwickelte Keimſcheibe eines <lb/>Hühner-Eies. </s>
  <s xml:id="echoid-s4934" xml:space="preserve">Wir müſſen alſo von der Keimſcheibe ſagen, <lb/>daß ſie die unbegreifliche Fähigkeit habe, ſich zu verändern und <lb/>dadurch zum lebenden Weſen zu werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s4935" xml:space="preserve">Allein um dieſe Um-
<pb o="33" file="389" n="389"/>
wandlung machen zu können, iſt es nötig, daß ſie in ſich Stoffe <lb/>aufnehme, ähnlich wie ein Pflanzenkeim dies thut, aus dem ſich <lb/>ein Baum entwickelt, der Blätter, Blüten und Früchte trägt <lb/>und ſo eine höchſt merkwürdige Veränderung ſeines Weſens <lb/>erfährt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4936" xml:space="preserve">Und dieſer Stoff, den die Keimſcheibe an ſich zieht, <lb/>iſt eben das übrige Ei: </s>
  <s xml:id="echoid-s4937" xml:space="preserve">der Nahrungsdotter und auch das <lb/>Eiweiß.</s>
  <s xml:id="echoid-s4938" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4939" xml:space="preserve">In der That lehrt der Augenſchein, daß die Keimſcheibe <lb/>nach und nach den ganzen Stoff des Eies an ſich zieht und <lb/>gewiſſermaßen verſpeiſt und infolge dieſer Speiſe wächſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4940" xml:space="preserve">Un-<lb/>zweifelhaft ſpielt auch die Luft im Ei und die Luft außer-<lb/>halb des Eies, welche durch die feinen Löcher der Eiſchale <lb/>hinzugelangen kann, ihre wichtige Rolle mit. </s>
  <s xml:id="echoid-s4941" xml:space="preserve">Ein luftdicht <lb/>umſchloſſenes Ei brütet ebenſowenig aus wie ein Ei, von dem <lb/>auch nur ein kleiner Teil der Schale abgebrochen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4942" xml:space="preserve">— In-<lb/>wieweit noch andere Kräfte hier mitwirken, iſt freilich nicht <lb/>feſtzuſtellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4943" xml:space="preserve">Aus allem aber geht hervor, daß es die kleine <lb/>Keimſcheibe iſt, welche das Ei im Ganzen während der ein-<lb/>undzwanzig Tage aufſpeiſt und die verbrauchten Stoffe ſogar <lb/>auch ausſcheidet; </s>
  <s xml:id="echoid-s4944" xml:space="preserve">dafür aber wächſt, verändert und geſtaltet ſich <lb/>dieſe Keimſcheibe ſo lange um, bis ſie ein vollſtändiges <lb/>Hühnchen geworden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4945" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4946" xml:space="preserve">Freilich kann man das, was da vorgeht, oder richtiger, <lb/>während es vor ſich geht, nicht ſehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s4947" xml:space="preserve">die Unterſuchung kann <lb/>immer nur dahin geführt werden, um genau zu ermitteln, was <lb/>von Zeit zu Zeit bei jedem neu aufgebrochenen Ei bereits vor-<lb/>gegangen iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4948" xml:space="preserve">aber indem wir die Reſultate dieſer Unter-<lb/>ſuchung unſern Leſern kurz vorführen werden, wird man es <lb/>uns erlauben, auch einige Vermutungen auszuſprechen, die <lb/>freilich die ſtreng beobachtende Wiſſenſchaft nicht früher zu <lb/>geben wagt, bevor ſie nicht unumſtößliche Beweiſe für die-<lb/>ſelben hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s4949" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4950" xml:space="preserve">Wir werden jedoch die Entwickelung des Hühnchens im</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4951" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s4952" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s4953" xml:space="preserve">Volksbücher IX.</s>
  <s xml:id="echoid-s4954" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="34" file="390" n="390"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4955" xml:space="preserve">Ei beſſer verſtehen, wenn wir uns zunächſt das Weſentliche <lb/>der erſten Entwickelungsſtadien zwar ſchon mehrzelliger, aber <lb/>doch weniger hoch organiſierter Tiere als es das Hühnchen iſt, <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-390-01a" xlink:href="fig-390-01"/>
klar gemacht haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s4956" xml:space="preserve">Es <lb/>liegt dies daran, weil <lb/>die höheren Tiere von <lb/>der Eizelle bis zur Ge-<lb/>burt, alſo in ihrer Ent-<lb/>wickelung mehr oder <lb/>minder deutlich die For-<lb/>men und Bauarten der <lb/>niederen Tiere, von <lb/>denen ja die höheren <lb/>urſprünglich abſtammen, <lb/>wiederholen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4957" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div184" type="float" level="2" n="4">
<figure xlink:label="fig-390-01" xlink:href="fig-390-01a">
<caption xml:id="echoid-caption80" xml:space="preserve">Fig. 12.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4958" xml:space="preserve">So beginnt ja alſo <lb/>all und jedes Lebeweſen <lb/>mit einer einzigen Zelle, <lb/>der Eizelle, gewiſſer-<lb/>maßen als Erinnerung <lb/>an die einzelligen, älte-<lb/>ſten Vorfahren (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s4959" xml:space="preserve">12, <lb/>A und B). </s>
  <s xml:id="echoid-s4960" xml:space="preserve">Die Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s4961" xml:space="preserve">B <lb/>zeigt den Zellkern in der <lb/>Mitte, der ſich bald <lb/>wie die ganze Zelle in <lb/>zwei ſpaltet: </s>
  <s xml:id="echoid-s4962" xml:space="preserve">C.</s>
  <s xml:id="echoid-s4963" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4964" xml:space="preserve">Durch wiederholte <lb/>Teilung erhalten wir <lb/>ein vierzelliges Gebilde D, dann ein achtzelliges u. </s>
  <s xml:id="echoid-s4965" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s4966" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s4967" xml:space="preserve">, <lb/>ſchließlich eine maulbeerähnliche Kugel E und F, die durch <lb/>Auseinanderrücken der Zellen innen hohl wird, wie man bei <lb/>einem Querſchnitt G durch das Gebilde F deutlich ſieht; </s>
  <s xml:id="echoid-s4968" xml:space="preserve">es
<pb o="35" file="391" n="391"/>
iſt dies das Stadium, das man als das der Keimblaſe <lb/>(Blaſtula) bezeichnet.</s>
  <s xml:id="echoid-s4969" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4970" xml:space="preserve">Auf einer Seite ſtülpt ſich dieſe Keimblaſe ſo ein, wie <lb/>etwa ein nicht mehr prall mit Luft gefüllter Ball mit dem <lb/>Finger eingedrückt werden kann (H). </s>
  <s xml:id="echoid-s4971" xml:space="preserve">Drückt man die ganze Luft, <lb/>etwa nach Anſtechen des Ballons, heraus, ſo würden wir ein <lb/>Bild eines weiteren Stadiums enthalten, wie es die Bilder <lb/>K und I veranſchaulichen: </s>
  <s xml:id="echoid-s4972" xml:space="preserve">nämlich eine doppelwandige Glocke <lb/>mit weiter Öffnung. </s>
  <s xml:id="echoid-s4973" xml:space="preserve">Dieſes Stadium heißt das des “<emph style="sp">Hohl-<lb/>keims</emph>“ oder das der “<emph style="sp">Darmlarve</emph>“ oder “<emph style="sp">Gaſtrula</emph>.</s>
  <s xml:id="echoid-s4974" xml:space="preserve">”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4975" xml:space="preserve">Niedere Tiere, die die geſchilderten Stadien zeitlebens bei-<lb/>behalten, giebt es im Meere.</s>
  <s xml:id="echoid-s4976" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4977" xml:space="preserve">Bei dem Hohlkeim würde man ein äußeres und ein <lb/><emph style="sp">inneres “Keimblatt”</emph> unterſcheiden und auch die beiden bald <lb/>zur Anſchauung kommenden Blätter der Keintſcheibe des Hühner-<lb/>eies müſſen in Parallele mit den beiden Keimblättern des <lb/>Gaſtrula-Stadiums geſetzt werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s4978" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div186" type="section" level="1" n="125">
<head xml:id="echoid-head145" xml:space="preserve"><emph style="bf">X. Nach der Brütung von ſechs und von zwölf</emph> <lb/><emph style="bf">Stunden.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4979" xml:space="preserve">Nehmen wir alſo an, wir hätten eine Anzahl von Eiern <lb/>in die Brütmaſchine gebracht, woſelbſt ſie dem Einfluß einer <lb/>Wärme von 37 Grad ausgeſetzt ſind, ſo reichen doch ſchon <lb/>wenige Stunden hin, um weſentliche Veränderungen hervor-<lb/>zubringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4980" xml:space="preserve">Es iſt viel in dieſer kurzen Zeit vorgegangen, denn <lb/>wir ſehen, daß die Keimſcheibe ſchon den richtigen Anſatz ge-<lb/>macht hat, um ein Hühnchen werden zu wollen, und das iſt <lb/>gar nicht wenig, weil dies vorausſetzt, daß die kleine Keim-<lb/>ſcheibe dem ganzen Ei den Impuls gegeben haben muß, um <lb/>ihr und ihrer Beſtimmung dienſtbar zu ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s4981" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="36" file="392" n="392"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4982" xml:space="preserve">Freilich iſt das, was wir nach etwa ſechs Stunden Brü-<lb/>tung ſehen können, nicht ſehr auffallend; </s>
  <s xml:id="echoid-s4983" xml:space="preserve">aber es iſt doch immer <lb/>der Anfang gemacht, und bekanntlich iſt aller Anfang ſchwer.</s>
  <s xml:id="echoid-s4984" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4985" xml:space="preserve">Das Erſte, was man ſieht, iſt, daß die Keimſcheibe ge-<lb/>wachſen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4986" xml:space="preserve">Früher hat ſie nur wie ein Deckel auf dem <lb/>Grübchen aufgeſeſſen, das zum Kanal der Dotterhöhle führt, <lb/>jetzt hat ſie ſich’s bequemer gemacht; </s>
  <s xml:id="echoid-s4987" xml:space="preserve">ſie hat um ſich gegriffen <lb/>und ruht mit einem breiteren Rande auf dem Dotter. </s>
  <s xml:id="echoid-s4988" xml:space="preserve">Unter-<lb/>ſucht man indeſſen genauer, welcher Teil der Keimſcheibe ſo <lb/>zugenommen hat, ſo findet man, daß dies nur vom oberen <lb/>Blatte, dem äußeren Keimblatt, der Scheibe geſchehen iſt, <lb/>während das untere Blatt, das innere Keimblatt, an einer <lb/>anderen Art von Veränderung teilgenommen hat, die bedeutſam <lb/>genug iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4989" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4990" xml:space="preserve">Meiſt ſieht man nach ſechsſtündiger Brützeit, daß ſowohl <lb/>das obere wie das untere Blatt ſehr deutlich aus Zellen ge-<lb/>bildet ſind, das heißt alſo: </s>
  <s xml:id="echoid-s4991" xml:space="preserve">Bläschen von einer feinen Haut <lb/>gebildet, welche im Innern eine Flüſſigkeit und in der Mitte <lb/>einen kleinen Kern in ſich haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s4992" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4993" xml:space="preserve">So geringfügig dies dem Unkundigen erſcheinen mag, ſo <lb/>wichtig iſt dieſe Erſcheinung in den Augen jedes Kenners, <lb/>der dem Weſen und den Erſcheinungen des Lebens nachſpürt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4994" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4995" xml:space="preserve">Wir haben ja geſehen, daß die Zelle ein weſentliches <lb/>Merkzeichen, das Grundorgan des Pflanzen- und Tierlebens <lb/>iſt, während alles, was dem Geſteinreich angehört, alſo nicht <lb/>Pflanze oder Tier iſt, immer nur in Kryſtall-Form auftritt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4996" xml:space="preserve">Es iſt eine ebenſo wichtige wie intereſſante Entdeckung, daß <lb/>alle Produkte der Geſtein-, Erd- und Metallarten, mit einem <lb/>Wort, daß alle Dinge, die nicht von Pflanzen oder Tieren <lb/>abſtammen, in ihrer Form ſchon weſentlich verſchieden ſind <lb/>von Pflanzen- oder Tierſtoffen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4997" xml:space="preserve">Jene Dinge, die man die <lb/>lebloſen nennt, nehmen immer, ſobald ſie ſich zu feſten Körpern <lb/>geſtalten, die Kryſtall-Form an. </s>
  <s xml:id="echoid-s4998" xml:space="preserve">Anders jedoch iſt es mit den
<pb o="37" file="393" n="393"/>
Stoffen, die ein Leben in ſich tragen, wie Pflanze und Tier; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4999" xml:space="preserve">ſie beſtehen nie aus Kryſtallen, ſondern immer aus ſehr kleinen, <lb/>aneinandergefügten Zellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5000" xml:space="preserve">Kryſtalle ſind daher ein Merkmal <lb/>der lebloſen Materie, während die Zelle das Merkmal der <lb/>lebenden oder lebensfähigen Materie iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5001" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5002" xml:space="preserve">Die weitergehende Entwickelung des Eies zeigt ſich ſofort <lb/>ſchon, wie wir ſehen werden, bedeutender, wenn wir ein zweites <lb/>Ei erſt nach noch weiteren ſechs Stunden aus der Brütmaſchine <lb/>nehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5003" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5004" xml:space="preserve">Brechen wir dieſes Ei auf, ſo bemerken wir. </s>
  <s xml:id="echoid-s5005" xml:space="preserve">daß die Keim-<lb/>ſcheibe und zwar hauptſächlich das obere (äußere) Blatt derſelben <lb/>ſich noch weiter ausgedehnt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s5006" xml:space="preserve">Die Zellen haben ſich ver-<lb/>mehrt und ſind deutlicher als ſolche zu erkennen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5007" xml:space="preserve">hauptſächlich <lb/>Neues aber, das hier zur Erſcheinung kommt, iſt eine be-<lb/>deutende Veränderung des unteren (inneren) Keimblattes.</s>
  <s xml:id="echoid-s5008" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5009" xml:space="preserve">Das untere (innere) Keimblatt nämlich bildet Ausfaltungen <lb/>und wird zu drei Blättern, von denen das eine unter dem andern <lb/>liegt, ſo daß die Keimſcheibe jetzt aus vier übereinander-<lb/>liegenden Blättern beſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s5010" xml:space="preserve">Wir werden auch fortan, wenn wir <lb/>von den Blättern der Keimſcheibe ſprechen, das unterſte, die <lb/>beiden mittleren und das obere Blatt genau von einander zu <lb/>unterſcheiden haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s5011" xml:space="preserve">denn wir werden bald ſehen, daß <lb/>jedes der Blätter, oder richtiger der übereinander liegenden <lb/>Häutchen, welche jetzt ſchon einen recht breiten Deckel über dem <lb/>Eingang und dem Rand der Dotterhöhle bilden, eine beſondere <lb/>Beſtimmung hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s5012" xml:space="preserve">Jedes dieſer Blätter iſt eine Art Fabrik, <lb/>die den Stoff, der ihm zuſtrömt, in eigener Weiſe verarbeitet, <lb/>um daraus entſprechende Teile des Hühnchens zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5013" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5014" xml:space="preserve">Iſt denn aber vom Hühnchen noch gar nichts zu ſehen?</s>
  <s xml:id="echoid-s5015" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5016" xml:space="preserve">Nur Geduld, mein freundlicher Leſer, wir werden bald <lb/>etwas davon zu ſehen bekommen, was wir Menſchen, wenn <lb/>wir Hühnchen machen ſollten, ſchwerlich zuerſt machen würden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5017" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="38" file="394" n="394"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div187" type="section" level="1" n="126">
<head xml:id="echoid-head146" xml:space="preserve"><emph style="bf">XI. Inwiefern das Hühnchen durch die Art ſeiner</emph> <lb/><emph style="bf">Entwickelung auf ſeine Ur-Vorfahren weiſt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5018" xml:space="preserve">Du wirſt dich gefragt haben, lieber Leſer, wie denn das <lb/>im vorigen Abſchnitt Vorgebrachte mit der Entwickelung der <lb/>gelegentlich als Hohltiere bezeichneten Weſen zuſammenhängt, <lb/>der Tiere, deren Weſen wir Seite 34 beſchrieben haben, die <lb/>in ihrem Endſtadium ſo ausſehen, wie das Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s5019" xml:space="preserve">12 I ver-<lb/>anſchaulichte Gebilde.</s>
  <s xml:id="echoid-s5020" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5021" xml:space="preserve">Wir haben ſchon darauf aufmerkſam gemacht, daß die <lb/>höheren Tiere mehr oder minder vollſtändig in ihrer Ent-<lb/>wickelung die Formen derjenigen Tiere wiederholen, aus denen <lb/>ſie vor undenklichen Zeiten, im Laufe unzähliger Generationen <lb/>hervorgegangen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s5022" xml:space="preserve">Nicht nur das Hühnchen, ſondern über-<lb/>haupt die Wirbeltiere ſtimmen daher in den Vorgängen ihrer <lb/>Entwickelung eine große Strecke hindurch im weſentlichen <lb/>überein, und es iſt daher gleichgültig, ob wir die erſten <lb/>Entwickelungsſtadien an dem Keim des Hühnchens oder eines <lb/>Wirbeltieres uns klar machen, da es uns ja hier nicht auf <lb/>Beſonderheiten ankommt, ſondern auf die großen, intereſſanten <lb/>Beziehungen, die die Tiere in ihrer Entwickelung zeigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5023" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5024" xml:space="preserve">Aus dieſem Grunde wählen wir in unſerer Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s5025" xml:space="preserve">13 als <lb/>Beiſpiel aus dem Wirbeltierreiche ein ſolches, bei welchem ein <lb/>weit kleinerer Nahrungsdotter Dt vorhanden iſt als beim <lb/>Hühnchen, und zwar deshalb, weil die Figuren bei Benutzung <lb/>der Verhältniſſe, wie ſie das Hühnchen bietet, durch den über-<lb/>großen Platz, den der Nahrungsdotter einnimmt, entweder <lb/>in ihrem wichtigſten Teil, dem Keim, zu klein geraten wären, <lb/>oder aber bei genügender Größe viel zu viel Platz weg-<lb/>genommen hätten. </s>
  <s xml:id="echoid-s5026" xml:space="preserve">Die Stadien I bis VIII, welche unſer <lb/>Beiſpiel veranſchaulicht, ſind alle im Querſchnit@ durch den <lb/>Keim gedacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s5027" xml:space="preserve">In I haben wir das Hohlkeim- (das Gaſtrula-)
<pb o="39" file="395" n="395"/>
Stadium. </s>
  <s xml:id="echoid-s5028" xml:space="preserve">Es zeigt bei a das äußere, bei i das innere Keim-<lb/>blatt, der ganze Keim ſo durchſchnitten, daß oben die Öffnung <lb/>des Hohlkeimes, der <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-395-01a" xlink:href="fig-395-01"/>
“Urmund” zur An-<lb/>ſchauung gelangt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5029" xml:space="preserve">Dh <lb/>iſt die Ur-Darmhöhle, <lb/>aus der in der That <lb/>ſchließlich die Magen-<lb/>und Darm-Höhle des <lb/>fertigen Tieres wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s5030" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div187" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-395-01" xlink:href="fig-395-01a">
<caption xml:id="echoid-caption81" xml:space="preserve">Fig. 13.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables13" xml:space="preserve">a a i Dh. i Dh. I II Dt Dt a R L L a m m Ch Ch. i Dh. Dh. IV III Dt Dt R L a m o i Ch. Ch. V VI R a a m m m m Ch Ch m m VII VIII L L Dh. Dh.i i</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5031" xml:space="preserve">Schneiden wir den <lb/>Hohlkeim ſo durch, daß <lb/>der Schnitt ſeitlich vom <lb/>Urmund hindurchgeht, <lb/>ſo würden wir natür-<lb/>lich ein Bild erhalten, <lb/>wie es, abgeſehen von <lb/>den Hervorwölbungen <lb/>(Faltungen) des inneren <lb/>Keimblattes i, das Sta-<lb/>dium II zeigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5032" xml:space="preserve">Dieſes <lb/>ſpätere Stadium zeich-<lb/>net ſich alſo durch <lb/>drei nach oben hin ge-<lb/>wendete Ausſtülpungen <lb/>aus, die in der Längs-<lb/>richtung des ſich ſtreck-<lb/>enden Keimes verlau-<lb/>fen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5033" xml:space="preserve">Die beiden ſeit-<lb/>lichen Ausſtülpungen <lb/>werden bedeu@ende Falten m, wie es in III angegeben iſt, <lb/>Falten, die zwiſchen das äußere und innere Keimblatt ein-<lb/>dringen, während die in der Mittellinie des Keimes liegende
<pb o="40" file="396" n="396"/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-396-01a" xlink:href="fig-396-01"/>
Falte Ch ſich ſchließlich abſchnürt und eine <lb/>Röhre bildet (Stadium IV), die als Chorda <lb/>dorsalis, <emph style="sp">Rückenſaite</emph>, bekannt iſt und aus <lb/>der die Wirbelſäule hervorgeht. </s>
  <s xml:id="echoid-s5034" xml:space="preserve">Der am <lb/>niedrigſten organiſche Fiſch, den wir überhaupt <lb/>kennen, der daher auch erſt ſpät als zu den <lb/>Fiſchen gehörig erkannt worden iſt, der Lanzett-<lb/>fiſch (Amphioxus lanceolatus), der unſere <lb/>Nordſee bewohnt (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s5035" xml:space="preserve">14), kommt über die <lb/>Bildung der Chorda dorsalis nicht hinaus.</s>
  <s xml:id="echoid-s5036" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div188" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-396-01" xlink:href="fig-396-01a">
<caption xml:id="echoid-caption82" xml:space="preserve">Fig. 14. <lb/>Der Lanzettfiſch, 3 mal <lb/>vergrößert. a = Mund, <lb/>b = After, e = Magen.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables14" xml:space="preserve">a e b</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5037" xml:space="preserve">In demſelben Verlauf wie die Chorda <lb/>dorsalis, die noch nicht verknöcherte Ur-Wirbel-<lb/>ſäule, beginnt auch das äußere Keimblatt a <lb/>(Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s5038" xml:space="preserve">13) ſich einzufalten, aber in umgekehrter <lb/>Richtung, wie das das Stadium IV bei R zur <lb/>Anſchauung bringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5039" xml:space="preserve">Auch dieſe Falte wird zu <lb/>einer ſich abſchnürenden Röhre, aus der ſchließ-<lb/>lich das Rückenmark hervorgeht.</s>
  <s xml:id="echoid-s5040" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5041" xml:space="preserve">Die beiden ſeitlichen als m bezeichneten <lb/>Falten ſchnüren ſich ſchließlich auch ab, ſo-<lb/>daß dann ihr entwickelungsgeſchichtlicher Zu-<lb/>ſammenhang ebenfalls nicht mehr ſichtbar iſt: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5042" xml:space="preserve">Stadien V und VI. </s>
  <s xml:id="echoid-s5043" xml:space="preserve">Aus dieſen Falten, die <lb/>zwei mittlere Keimblätter bilden, geht im <lb/>weſentlichen das Muskelgewebe, das Fleiſch des <lb/>Tieres hervor.</s>
  <s xml:id="echoid-s5044" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5045" xml:space="preserve">Die beiden mittleren Keimblätter behalten <lb/>Lücken L zwiſchen ſich, aus denen die Leibes-<lb/>höhlen werden, und zwar durch eine Verſchie-<lb/>bung nach der Kopfſeite des Tieres hin, aus <lb/>der einen die Bruſthöhle, aus der andern die <lb/>Bauchhöhle.</s>
  <s xml:id="echoid-s5046" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5047" xml:space="preserve">Die mittleren Keimblätter bilden wiederum
<pb o="41" file="397" n="397"/>
durch Abſchnürung getrennte Teile in der Weiſe, wie es die <lb/>Stadien VII und VIII lehren, ſodaß wir nun vier in der <lb/>Längsrichtung des Tieres verlaufende Muskelröhren erhalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s5048" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5049" xml:space="preserve">An dem Stadium VIII erkennt nun ſogar der Laie un-<lb/>ſchwer den ſchematiſchen Querſchnitt eines Wirbeltieres.</s>
  <s xml:id="echoid-s5050" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5051" xml:space="preserve">Die Haut und das Rückenmark ſind aus dem äußeren <lb/>Keimblatt a hervorgegangen, ebenſo die zu dieſen gehörigen <lb/>Organe, wie vor allem die Sinnesorgane.</s>
  <s xml:id="echoid-s5052" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5053" xml:space="preserve">Alles andere wird durch Umgeſtaltung des inneren Keim-<lb/>blattes i gebildet.</s>
  <s xml:id="echoid-s5054" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5055" xml:space="preserve">Die ſeitwärts von der Rückenſeite Ch und dem Rücken-<lb/>mark R verlaufenden Fleiſchpartien m bilden das “Oberſchalen-<lb/>fleiſch”, die anderen, die Leibeshöhlen umgebenden Muskelteile <lb/>bilden u. </s>
  <s xml:id="echoid-s5056" xml:space="preserve">a.</s>
  <s xml:id="echoid-s5057" xml:space="preserve">, und zwar das äußere Blatt derſelben, die Bauch-<lb/>muskulatur, während das innere Blatt u. </s>
  <s xml:id="echoid-s5058" xml:space="preserve">a. </s>
  <s xml:id="echoid-s5059" xml:space="preserve">die Darmmus-<lb/>kulatur hervorbringt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5060" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5061" xml:space="preserve">Soweit ſind wir aber beim Hühnchen noch nicht, zu dem <lb/>wir nun zurückkehren können.</s>
  <s xml:id="echoid-s5062" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div190" type="section" level="1" n="127">
<head xml:id="echoid-head147" xml:space="preserve"><emph style="bf">XII. Wir ſehen etwas vom Hühnchen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5063" xml:space="preserve">Bis über die Mitte des erſten Brüttages hat ſich noch <lb/>immer kein beſtimmter Leibesteil des Hühnchens gebildet. </s>
  <s xml:id="echoid-s5064" xml:space="preserve">Die <lb/>übereinander liegenden Blätter der Keimſcheibe, die eigentlich <lb/>Alles in Allem ſind, haben zwar begonnen, die erſte Stufe <lb/>des Lebens zu beſchreiten; </s>
  <s xml:id="echoid-s5065" xml:space="preserve">aber man kann bis jetzt immer <lb/>noch nicht ſehen, wo und wie aus denſelben ein Geſchöpf <lb/>oder auch nur ein Teil des Geſchöpfchens entſtehen ſoll. </s>
  <s xml:id="echoid-s5066" xml:space="preserve">Erſt <lb/>um die vierzehnte oder fünfzehnte Stunde zeigt ſich die erſte <lb/>Spur des erſten Körperteiles.</s>
  <s xml:id="echoid-s5067" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5068" xml:space="preserve">Und welches iſt dieſer Körperteil, der die Ehre hat, der <lb/>Erſtgeborene oder Erſtgebildete vor allen anderen zu ſein?</s>
  <s xml:id="echoid-s5069" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="42" file="398" n="398"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5070" xml:space="preserve">Wahrlich, wir haben nicht übel Luſt, eine kleine Weile <lb/>unſere Leſer über die Antwort auf dieſe Frage nachdenken zu <lb/>laſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5071" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5072" xml:space="preserve">Wenn wir Menſchen imſtande wären, Hühnchen zu machen, <lb/>womit würden wir wohl zuerſt anfangen? </s>
  <s xml:id="echoid-s5073" xml:space="preserve">Der Eine meint <lb/>ohne Zweifel, daß der Kopf doch die Hauptſache ſei und es <lb/>ſich zieme, zuerſt einen Hühnerkopf fertig zu machen und an <lb/>dieſen das Übrige anzuſetzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5074" xml:space="preserve">Der Andere ſagt ſicherlich: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5075" xml:space="preserve">Nein, das hieße ein Haus vom Giebel zu bauen beginnen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5076" xml:space="preserve">es <lb/>ziemt ſich, zuerſt alles andere fertig zu machen, und dann den <lb/>Kopf, als die Krone des Werkes, den Schluß bilden zu laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5077" xml:space="preserve"><lb/>Ein Dritter möchte das Hirn, den Sitz des Gedankens, vor <lb/>allem fertig haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s5078" xml:space="preserve">ein Vierter wird dem Herzen das Vorrecht <lb/>der Erſtgeburt oder Erſtbildung zuſprechen, weil, wenn dieſes <lb/>nicht da ſei, das Leben gar nicht beginnen könne. </s>
  <s xml:id="echoid-s5079" xml:space="preserve">— Vielleicht <lb/>giebt es ſogar Menſchen, die den Magen als das vorzüglichſte <lb/>und hauptſächlichſte Organ des Lebens anſehen und vor allem <lb/>verlangen würden, daß man für dieſen Teil des Körpers zu-<lb/>erſt ſorgen möge. </s>
  <s xml:id="echoid-s5080" xml:space="preserve">— Und ſo dürften die Anſichten ſo weit <lb/>auseinander gehen, daß wir Menſchen vielleicht jahrelang über <lb/>den Anfang ſtreiten würden, bevor wir überhaupt etwas zu <lb/>ſtande brächten, ſelbſt wenn wir das Kunſtſtück ſonſt verſtänden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5081" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5082" xml:space="preserve">Die ſchaffende Natur macht es anders. </s>
  <s xml:id="echoid-s5083" xml:space="preserve">Sie zweifelt nicht <lb/>über den Anfang und iſt ihrer Sache ſo ſicher, daß von tauſend <lb/>Hühner-Eiern auch nicht eines abweicht von dem vorgeſchriebenen <lb/>Bildungsgang, ſondern alle regelrecht und unabwendbar in <lb/>ganz genau beſtimmter Weiſe ſich zu formen anfangen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5084" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5085" xml:space="preserve">Um die angegebene Stunde erſcheint in der Mitte des <lb/>oberen Keimblattes ein feiner Streifen, der an einem Ende ein <lb/>wenig dicker iſt, als am anderen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5086" xml:space="preserve">und dieſer Streifen iſt die <lb/>erſte Andeutung des Rückens und zwar deſſen Mittellinie.</s>
  <s xml:id="echoid-s5087" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5088" xml:space="preserve">Der Streifen teilt die Keimſcheibe in eine rechte und linke <lb/>Seite, und iſt auch die Grenze der rechten und der linken
<pb o="43" file="399" n="399"/>
Seite des Hühnchens, ſo daß man aus dem Streifen mindeſtens <lb/>vorerſt ſehen kann, in welcher Richtung dasſelbe liegen wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s5089" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5090" xml:space="preserve">Da wir wiſſen, daß ein Hühner-Ei nicht kugelrund iſt, <lb/>ſondern eine lange und eine kurze Axe hat, ſo ſollte man ver-<lb/>muten, daß ſich das Hühnchen gewiß mit ſeiner Körperlänge <lb/>nach der Länge des Eies legen würde. </s>
  <s xml:id="echoid-s5091" xml:space="preserve">Das iſt aber nicht <lb/>der Fall; </s>
  <s xml:id="echoid-s5092" xml:space="preserve">die Länge des Hühnchens liegt anders. </s>
  <s xml:id="echoid-s5093" xml:space="preserve">Wenn man <lb/>das Ei in der Breite ſo vor ſich hinlegt, daß man das ſtumpfe <lb/>Ende des Eies zur linken und das ſpitze Ende zur rechten <lb/>Hand hat, ſo liegt der Streifen, der den Rücken des Hühnchens <lb/>andeutet, ſenkrecht vor dem Auge des Beſchauers, und zwar <lb/>wird ſich an dem oberen Ende, wo der Streifen ein wenig <lb/>dicker iſt, der Kopf des Hühnchens bilden, während das untere <lb/>Ende die Schwanzſeite des Hühnchens ſein wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s5094" xml:space="preserve">— Denken <lb/>wir uns das ganze Ei als das Bett des Hühnchens, ſo liegt <lb/>das Hühnchen nicht, wie jeder ordentliche Menſch, mit der <lb/>Körperlänge in der Länge ſeines Bettes, ſondern durchaus in <lb/>der Quere.</s>
  <s xml:id="echoid-s5095" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5096" xml:space="preserve">Das mag uns freilich ſonderbar genug vorkommen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5097" xml:space="preserve">da <lb/>aber die ſchaffende Natur das Ding doch beſſer verſteht als <lb/>wir, ſo müſſen wir uns damit beruhigen, daß es gewiß ſo <lb/>ſein muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s5098" xml:space="preserve">Und wirklich ſcheint es der Fall zu ſein, denn dieſe <lb/>quere Lage hat einen beſonderen Vorteil für unſer werdendes <lb/>Geſchöpf. </s>
  <s xml:id="echoid-s5099" xml:space="preserve">— Wir werden nämlich ſpäter ſehen, daß das <lb/>Hühnchen ſeinen Kopf nebſt dem langen Hals nicht zu laſſen <lb/>weiß und dieſen umbiegen muß nach der linken Seite, meiſt <lb/>unter den linken Flügel; </s>
  <s xml:id="echoid-s5100" xml:space="preserve">dadurch kommt aber der Schnabel <lb/>gerade an das breite Ende des Eies, wo der Luftraum ſich <lb/>befindet und das junge Geſchöpf hat hiernach die beſte Ge-<lb/>legenheit, ſich im Atmen zu üben, wenn es ſo weit iſt, dies <lb/>Kunſtſtück benutzen zu müſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5101" xml:space="preserve">Läge das Hühnchen der Länge <lb/>nach im Ei, ſo würde dieſe Länge doch nicht ausreichen, um <lb/>den Kopf an den Luftraum zu laſſen, denn ein Hühnchen iſt
<pb o="44" file="400" n="400"/>
von Kopf bis Schwanz viel länger, als ein Ei vom <lb/>breiten bis zum ſpitzen Ende. </s>
  <s xml:id="echoid-s5102" xml:space="preserve">Das Hühnchen wäre nun ge-<lb/>nötigt, den Kopf wiederum ſeitwärts irgendwo unterzubringen, <lb/>würde aber dabei ſchlecht fahren, indem es mit dem Schnabel <lb/>nicht an einen Luftraum käme.</s>
  <s xml:id="echoid-s5103" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5104" xml:space="preserve">Mit dieſem Auftreten des erſten Streifens, der die Ehre <lb/>hat, die Mittellinie des Rückens unſeres Hühnchens vor<unsure/>zuſtellen, <lb/>ſind noch andere Erſcheinungen verbunden, die man etwa nach <lb/>einer Brütung von achtzehn Stunden deutlich ſehen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s5105" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5106" xml:space="preserve">Die ganze Keimſcheibe hat ſich bedeutend vergrößert; </s>
  <s xml:id="echoid-s5107" xml:space="preserve">da-<lb/>bei ſchnüren die beiden oberen Blätter — wie wir in Ab-<lb/>ſchnitt XI ſahen — in ihrer Mittellinie je einen Strang ab, <lb/>ſo daß ſie dort undurchſichtiger werden, als an den Rändern.</s>
  <s xml:id="echoid-s5108" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5109" xml:space="preserve">Der obere Strang wird alſo zum Rückenmark und Gehirn, <lb/>der untere (die Chorda dorsalis der Anatomen) zur Wirbel-<lb/>ſäule.</s>
  <s xml:id="echoid-s5110" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div191" type="section" level="1" n="128">
<head xml:id="echoid-head148" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIII. Das Hühnchen iſt einen Tag alt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5111" xml:space="preserve">Wir haben geſehen, daß die Hühner-Fabrikation in der <lb/>erſten Hälfte des erſten Tages etwas langſam und bedächtig <lb/>vor ſich geht; </s>
  <s xml:id="echoid-s5112" xml:space="preserve">dafür aber macht ſich’s in den letzten ſechs <lb/>Stunden dieſes Tages ſchon etwas beſſer, und zwar geht die <lb/>Fabrik nach allen Richtungen hin recht ernſt darauf los, etwas <lb/>zuſtande zu bringen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5113" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5114" xml:space="preserve">Der Rücken des Hühnchens war bereits in der achtzehnten <lb/>Stunde der Brütung durch den feinen Streifen auf der Keim-<lb/>ſcheibe angedeutet. </s>
  <s xml:id="echoid-s5115" xml:space="preserve">In der Richtung dieſes Streifens, welchen <lb/>man als Rückenplatte bezeichnen kann, erhebt ſich längs der <lb/>beiden Seiten des Streifens ein feiner Rand, der ſich wie der <lb/>Wall neben dem Streifen hinzieht.</s>
  <s xml:id="echoid-s5116" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5117" xml:space="preserve">Da dies, wie geſagt, zu beiden Seiten längs des Streifens
<pb o="45" file="401" n="401"/>
geſchieht, ſo ſtehen ſich die zwei Wälle gegenüber und laſſen <lb/>ein langes Thal oder richtiger eine Rinne in ihrer Mitte.</s>
  <s xml:id="echoid-s5118" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5119" xml:space="preserve">Die Rinne iſt nach der Kopfſeite hin etwas tiefer, indem <lb/>hier die Wälle zu beiden Seiten etwas ſchärfere Kanten bilden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5120" xml:space="preserve">Iſt dies geſchehen, ſo bemerkt man bald, daß ſich die ſcharfen <lb/>Kanten der Wälle zu einander neigen, und indem ſie ſich be-<lb/>rühren und ſpäter mit einander verwachſen, fangen ſie an, ein <lb/>hohles Rohr zu bilden, aus welchem das Gehirn und durch <lb/>den Hals und Rücken gehend das Rückenmark wird, von dem <lb/>die den ganzen Körper verſorgenden Nerven ausgehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5121" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5122" xml:space="preserve">Faſt gleichzeitig aber bemerkt man auch, daß zu beiden <lb/>Seiten der Rinne und der ſie bildenden Wälle weiße, kleine <lb/>Flecke entſtehen, die faſt wie Würfelchen ausſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5123" xml:space="preserve">Dieſe <lb/>Würfelchen werden Urſegmente genannt; </s>
  <s xml:id="echoid-s5124" xml:space="preserve">ſie gehen aus den <lb/>beiden mittleren Keimblättern, genauer dem Teil hervor, aus <lb/>dem die Oberſchalenſtücke werden, und entſprechen den Quer-<lb/>gliedern der Gliedertiere, wie der Würmer, Krebſe und In-<lb/>ſekten, keineswegs alſo, wie man früher glaubte, den Wirbeln. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5125" xml:space="preserve">Auch dieſe Erſcheinung muß alſo als Erinnerung an Verhält-<lb/>niſſe bei weit zurückliegenden Vorfahren gedeutet werden, von <lb/>welchen eben die genannten Gliedertiere Nachkommen ſind, die <lb/>die urſprüngliche Bauart in den Hauptzügen bis heute bewahrt <lb/>haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s5126" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5127" xml:space="preserve">Sieht man denn aber nichts vom Kopf des Geſchöpfchens, <lb/>der der Sitz des Gehirns werden ſoll?</s>
  <s xml:id="echoid-s5128" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5129" xml:space="preserve">Die Antwort auf dieſe Frage wird wahrſcheinlich den <lb/>Leſern etwas ſonderbar klingen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5130" xml:space="preserve">aber wir können uns nicht <lb/>helfen, ſondern müſſen es nur ſagen, daß alle Forſchungen der <lb/>neueſten Zeit den Beweis geliefert haben, daß der Kopf eines <lb/>Weſens keineswegs etwas ganz Apartes, beſonders Geſchaffenes <lb/>iſt, dem der Körper nur als eine Art Poſtament zugegeben iſt; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5131" xml:space="preserve">es iſt vielmehr der Kopf jedes Tieres nur ein höher aus-<lb/>gebildeter Wirbel desſelben.</s>
  <s xml:id="echoid-s5132" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="46" file="402" n="402"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5133" xml:space="preserve">Es würde uns viel zu weit von unſerm Thema abführen, <lb/>wenn wir dieſe Behauptung der neueren Wiſſenſchaft unſeren <lb/>Leſern völlig deutlich machen wollten; </s>
  <s xml:id="echoid-s5134" xml:space="preserve">nur ſoviel wollen wir <lb/>ſagen, daß damit keineswegs behauptet werden ſoll, daß das <lb/>Haupt nicht auch die Hauptſache am Tiere ſei; </s>
  <s xml:id="echoid-s5135" xml:space="preserve">es ſoll damit <lb/>nur das Eine geſagt werden, daß die Natur die erſte Bildung <lb/>des Kopfes nur als Wirbel anlegt und die Form des Kopfes <lb/>erſt aus der des Wirbels entwickelt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5136" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5137" xml:space="preserve">An unſerem Hühnchen nimmt man dieſe Art Entwickelung <lb/>ebenfalls wahr. </s>
  <s xml:id="echoid-s5138" xml:space="preserve">Der Kopf des Hühnchens iſt vorerſt in der <lb/>That nur der erſte oberſte Wirbel; </s>
  <s xml:id="echoid-s5139" xml:space="preserve">aber gleichzeitig mit dieſer <lb/>Bildung geſchieht ſchon etwas Beſonderes mit dieſem werdenden <lb/>Kopfe und dies iſt Folgendes:</s>
  <s xml:id="echoid-s5140" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5141" xml:space="preserve">Schon während der letzten Stunden hebt ſich die immer <lb/>weiter wachſende Keimſcheibe etwas in die Höhe. </s>
  <s xml:id="echoid-s5142" xml:space="preserve">Der Rücken <lb/>des Hühnchens krümmt ſich gewiſſermaßen und macht einen <lb/>kleinen Buckel. </s>
  <s xml:id="echoid-s5143" xml:space="preserve">Während aber bei der Bildung des Wirbel-<lb/>rohrs und der Wirbel nur das aus dem inneren durch Faltung <lb/>hervorgehende mittlere Keimblatt <anchor type="note" xlink:href="" symbol="*)"/> thätig war, erhebt ſich’s am
Kopfende, alſo am erſten Wirbel, blaſenartig von unten, vom <lb/>unterſten Blatte her in die Höhe, und dieſe Erhöhung biegt <lb/>und buchtet ſich am Kopfende immer mehr vor, ſo daß das <lb/>Hühnchen auf dem Dotter wie ein umgeſtülpter Kahn daliegt, <lb/>deſſen obere Biegung ſtärker iſt als die untere.</s>
  <s xml:id="echoid-s5144" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5145" xml:space="preserve">Während der Zeit, daß dies vor ſich gegangen iſt, hat <lb/>die Fabrik an anderen Teilen keineswegs ſtill geſtanden; </s>
  <s xml:id="echoid-s5146" xml:space="preserve">ſie <lb/>hat ſich vielmehr nach allen Seiten hin geregt und bewegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5147" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5148" xml:space="preserve">Vor allem hat ſie beim Heben des Rückens ſchon die <lb/>
<anchor type="note" xlink:label="note-402-01a" xlink:href="note-402-01"/>
<pb o="47" file="403" n="403"/>
Anlage der rechten und linken Seite des Hühnchens gemacht. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5149" xml:space="preserve">Zwar kann man keinem Menſchen in der Welt zumuten, in <lb/>dieſem Dinge wirklich ein Hühnchen zu erkennen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5150" xml:space="preserve">aber es iſt <lb/>doch ſchon immer etwas, wenn man ſagen kann: </s>
  <s xml:id="echoid-s5151" xml:space="preserve">falls dies ein <lb/>Hühnchen wird, ſo wird hier oben der Kopf, dieſe Seite die <lb/>rechte, dieſe die linke desſelben ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s5152" xml:space="preserve">Genaue Unterſuchungen <lb/>zeigen aber noch mehr, und zwar ringsum im Rande des <lb/>mittleren Blattes, welcher Rand garnicht mit dem Hühnchen <lb/>in Verbindung zu ſein ſcheint, ſondern nur wie ein Kranz <lb/>rings um dasſelbe liegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5153" xml:space="preserve">In den feinen Geweben dieſes <lb/>Randes zeigen ſich gegen Ende des erſten Brüttages feine <lb/>Blutzellen, die ſpäter eine wichtige Rolle ſpielen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5154" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div191" type="float" level="2" n="1">
<note symbol="*)" position="foot" xlink:label="note-402-01" xlink:href="note-402-01a" xml:space="preserve"> Die beiden mittleren Keimblätter werden meiſt ſchlechtweg als <lb/>das mittlere Keimblatt bezeichnet, ſodaß alſo dann — wie wir’s auch <lb/>gethan haben — ein äußeres und ein inneres <emph style="sp">mittleres Keimblatt</emph> <lb/>zu unterſcheiden iſt.</note>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5155" xml:space="preserve">Blicken wir nun noch auf den Dotter im Ganzen, ſo ſehen <lb/>wir, daß die drei- (beſſer vier-) blättrige Keimſcheibe, in deren <lb/>Mitte ſich eine Hühnchen-Form erhebt, mit ihren drei verſchiedenen <lb/>Rändern weit in den Dotter eingreift; </s>
  <s xml:id="echoid-s5156" xml:space="preserve">das oberſte Keimblatt <lb/>am weiteſten, weniger das mittlere; </s>
  <s xml:id="echoid-s5157" xml:space="preserve">während aber dieſe beiden <lb/>Blätter auf der Oberfläche des Dotters ſich ausbreiten, geht <lb/>das unterſte Blatt tiefer in den Dotter hinein und breitet ſich <lb/>innerhalb desſelben aus.</s>
  <s xml:id="echoid-s5158" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5159" xml:space="preserve">So weit wäre nun ungefähr das Hühnchen nach vier-<lb/>undzwanzig Stunden; </s>
  <s xml:id="echoid-s5160" xml:space="preserve">wir werden bald ſehen, was es in den <lb/>nächſten Stunden noch für Kunſtſtücke machen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s5161" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div193" type="section" level="1" n="129">
<head xml:id="echoid-head149" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIV. Ein Blick in die Hühnerfabrik.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5162" xml:space="preserve">Aus der Geſchichte des Hühnchens am erſten Tage ſeiner <lb/>Bildung ergiebt ſich ſchon, daß die Natur anders verfährt, als <lb/>wir Menſchen verfahren würden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5163" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5164" xml:space="preserve">Die Natur macht nicht einen Teil fertig und läßt ihn <lb/>dann ruhen, um zu einem anderen überzugehen, damit ſie,
<pb o="48" file="404" n="404"/>
wenn ſie nach und nach alles gemacht hat, die Zuſammen-<lb/>ſetzung des Hühnchens vornehmen könne. </s>
  <s xml:id="echoid-s5165" xml:space="preserve">Sie arbeitet vielmehr <lb/>gleichzeitig und in ununterbrochenem Zuſammenhang an allen <lb/>Teilen zugleich. </s>
  <s xml:id="echoid-s5166" xml:space="preserve">Jhrem Wirken kommt eine Fabrik weit mehr <lb/>nahe, als eine Werkſtatt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5167" xml:space="preserve">Der Unterſchied zwiſchen menſchlicher <lb/>Fabrik und Werkſtatt iſt meiſthin der, daß in der Fabrik die <lb/>Teilung der Arbeit und das gleichzeitige Fertigwerden aller <lb/>einzelnen Teile ſtattfindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s5168" xml:space="preserve">In derſelben Zeit, wo in dem <lb/>einen Winkel einer Uhrfabrik ein Rädchen gemacht wird, werden <lb/>auf allen andern Seiten der Fabrik alle übrigen Teile der Uhr <lb/>gleichzeitig fertig. </s>
  <s xml:id="echoid-s5169" xml:space="preserve">Bei der Werkſtatt iſt dies nicht ſo. </s>
  <s xml:id="echoid-s5170" xml:space="preserve">Dort <lb/>muß meiſthin der eine Teil des Werkes liegen bleiben, um auf <lb/>das Fertigwerden des andern zu warten. </s>
  <s xml:id="echoid-s5171" xml:space="preserve">Die Teilung der <lb/>Arbeit in der Fabrik fördert die Herſtellung des Ganzen, <lb/>während dagegen die Werkſtatt äußerſt langſam vorwärts <lb/>kommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5172" xml:space="preserve">In dieſem Sinne iſt wirklich die Natur fabrikmäßig <lb/>in ihrem Schaffen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5173" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5174" xml:space="preserve">Sie iſt aber zugleich eine höchſt vollendete, von Menſchen <lb/>durchaus unnachahmliche Fabrik, ſofern ſie nicht nur gleich-<lb/>zeitig, ſondern auch zuſammenhängend arbeitet. </s>
  <s xml:id="echoid-s5175" xml:space="preserve">Während <lb/>jede menſchliche Fabrik, wenn alle einzelnen Teile des Werkes <lb/>fertig geworden ſind, erſt noch die Zuſammenſtellung des <lb/>ganzen Werkes vornehmen muß, arbeitet die Natur ſchon ſofort <lb/>einen Teil in den andern hinein, ſodaß nicht Teile, ſondern <lb/>wirklich ein Ganzes mit einemmale fertig wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s5176" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5177" xml:space="preserve">Wir haben zwar bei der Thätigkeit unſerer Hühner-<lb/>Fabrikation am erſten Tage gezeigt, daß ſich vornehmlich der <lb/>Rücken auszubilden anfängt: </s>
  <s xml:id="echoid-s5178" xml:space="preserve">aber man täuſcht ſich, wenn man <lb/>glaubt, daß das wirklich ſchon ein fertiger Rücken iſt, was <lb/>wir nach den erſten vierundzwanzig Stunden ſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5179" xml:space="preserve">Weder <lb/>die Haut, noch das Rückenmark, noch die Knochen, weder das <lb/>Fleiſch, noch die Blutadern, noch die Nerven ſind in dem-<lb/>ſelben vorhanden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5180" xml:space="preserve">Alles iſt aber zugleich angelegt, um zur
<pb o="49" file="405" n="405"/>
Zeit fertig zu werden und zwar zur Zeit, wo das ganze <lb/>Hühnchen fertig iſt, nicht früher und nicht ſpäter.</s>
  <s xml:id="echoid-s5181" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5182" xml:space="preserve">Wie aber ſieht es nach dem erſten Tage mit den Seiten <lb/>und dem Bauch des Hühnchens aus?</s>
  <s xml:id="echoid-s5183" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5184" xml:space="preserve">Um über dieſe Frage den Leſer vollkommen klar zu machen, <lb/>müſſen wir einen beſonderen Umſtand hier hauptſächlich her-<lb/>vorheben, der ſich eigentlich ſchon von ſelbſt verſtehen ſollte.</s>
  <s xml:id="echoid-s5185" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5186" xml:space="preserve">Das, was wir den Rücken des Hühnchens genannt haben <lb/>und ebenſo die blaſenartige Buchtung, die wir als Anlage <lb/>des Kopſes erkennen, iſt — das bitten wir unſere Leſer ſich <lb/>zu merken — nur eine Erhöhung und Faltung in der Mitte <lb/>des äußeren Keimblattes. </s>
  <s xml:id="echoid-s5187" xml:space="preserve">Dieſer Rücken ſowohl wie der ſo-<lb/>genannte Kopfteil iſt ganz und gar in der Runde verwachſen <lb/>mit der den Dotter umſchließenden Keimſcheibe, ſo daß man <lb/>dieſe Körperteile garnicht vom Dotter abheben kann, ohne die <lb/>Keimſcheibe mit abzuziehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5188" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5189" xml:space="preserve">Thut man dies aber, oder ſchneidet man Kopf und Rücken <lb/>von der Keimſcheibe aus und kehrt das Ding, das einen <lb/>Körperteil eines Geſchöpfes vorſtellen ſoll, um, ſo findet man, <lb/>daß weder ein Bauch, noch eine Bruſt, noch ein ſogenanntes <lb/>Geſicht vorhanden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5190" xml:space="preserve">Es iſt nichts da als eine Höhlung, <lb/>welche auf dem Dotter geruht hat, und es zeigt ſich auf dieſem <lb/>Dotter auch nicht die geringſte Spur, wie und wo hier ein <lb/>Bauch, eine Bruſt und der Vorderteil des Kopfes entſtehen ſoll.</s>
  <s xml:id="echoid-s5191" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5192" xml:space="preserve">Und in der That wird es auch nicht ſo entſtehen, wie man <lb/>ſich das denken ſollte; </s>
  <s xml:id="echoid-s5193" xml:space="preserve">vielmehr müſſen wir jetzt auf die wunder-<lb/>volle Erſcheinung aufmerkſam machen, die ſich erſt ſpäter zeigen <lb/>wird, die aber zum Verſtändnis deſſen, was am zweiten Tage <lb/>geſchieht, durchaus notwendig iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5194" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5195" xml:space="preserve">Die Rückſeite des Hühnchens iſt eben im Bilden begriffen <lb/>und ſie bildet ſich aus einem Teil der Keimſcheibe, und zwar <lb/>aus deren Mitte. </s>
  <s xml:id="echoid-s5196" xml:space="preserve">Die Vorderſeite dieſes Geſchöpfes, das, was <lb/>man Bauch, Bruſt u. </s>
  <s xml:id="echoid-s5197" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s5198" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s5199" xml:space="preserve">nennt, wird noch lange Zeit offen</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5200" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s5201" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s5202" xml:space="preserve">Volksbücher IX.</s>
  <s xml:id="echoid-s5203" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="50" file="406" n="406"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5204" xml:space="preserve">bleiben, offen auf dem Dotter liegend, ja ein wirkliches Schließen <lb/>wird erſt ſehr ſpät ſtattfinden, faſt erſt kurz vor dem Aus-<lb/>kriechen des Hühnchens aus dem Ei. </s>
  <s xml:id="echoid-s5205" xml:space="preserve">Aber ſchon vom zweiten <lb/>Tage ab wird ſich die Anlage zur Bildung der vorderen <lb/>Wände des Körpers zeigen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5206" xml:space="preserve">und zwar iſt es auch die Keim-<lb/>ſcheibe, die dieſe bilden wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s5207" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5208" xml:space="preserve">Der Vorgang iſt ganz eigentümlich und erfordert, daß <lb/>man ſich die Sache etwas deutlicher macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s5209" xml:space="preserve">Man denke ſich <lb/>das Hühnchen, als ob es ganz und gar in dem Teil läge, den <lb/>wir jetzt Rücken und Kopf genannt haben, und ſtelle ſich vor, <lb/>daß die übrige Keimſcheibe ringsum nur eine Art Schlauch <lb/>iſt, die das Hühnchen mit dem Dotter verbindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s5210" xml:space="preserve">Für jetzt <lb/>iſt dieſer Schlauch weit, ſehr weit, viel weiter, größer und <lb/>breiter als das Hühnchen ſelber, aber dieſer Schlauch wird <lb/>ſich nach und nach unter dem Hühnchen zu verengen anfangen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5211" xml:space="preserve">er wird unter dem Kopf und der Schwanzſeite und ebenſo zu <lb/>beiden Seiten des Hühnchens ſich zuſammenziehen, und ge-<lb/>wiſſermaßen immer mehr und mehr abſchnüren, ſo daß der <lb/>Schlauch immer enger wird, bis er endlich ſo dünn wie ein <lb/>Rohr iſt, das innerlich einen Kanal bildet, der vom Hühnchen <lb/>zum Dotter führt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5212" xml:space="preserve">In dieſer Weiſe wird das Hühnchen auch <lb/>einen Vorderteil des Körpers bekommen, und zwar aus dem-<lb/>ſelben Zeug, woraus ſich der Rücken gebildet und nur mit dem <lb/>Unterſchied, daß der Rücken ſich gehoben und der Vorderteil <lb/>ſich durch ein unter dem Hühnchen ſtattgehabtes Zuſammen-<lb/>ziehen der Keimſcheibe gemacht hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s5213" xml:space="preserve">Das Hühnchen wird dann <lb/>wie eine Frucht ausſehen, die auf einem Stiel, dem Rohre <lb/>wächſt, welches vom Dotter zu demſelben hinführt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5214" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5215" xml:space="preserve">Und wirkich iſt es ſo. </s>
  <s xml:id="echoid-s5216" xml:space="preserve">So iſt es nicht nur mit dem <lb/>Hühnchen, ſondern auch mit dem im Mutterſchoß ruhenden <lb/>menſchlichen Geſchöpf, und der Stiel, woran es dann wächſt, <lb/>iſt — die Nabelſchnur, durch welche es groß gefüttert wird <lb/>bis zur Minute, wo es an die Luft dieſer Welt geſetzt wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s5217" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="51" file="407" n="407"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5218" xml:space="preserve">Nach dieſer Vorbereitung wird es uns leichter werden, <lb/>die Vorgänge des zweiten Tages deutlicher zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5219" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div194" type="section" level="1" n="130">
<head xml:id="echoid-head150" xml:space="preserve"><emph style="bf">XV. Wie Einem Hören, Sehen und Denken</emph> <lb/><emph style="bf">vergehen kann.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5220" xml:space="preserve">Iſt es ſchon keine Kleinigkeit, dem Treiben des Hühnchens <lb/>während der erſten vierundzwanzig Stunden der Brütung <lb/>nachzuſpüren, ſo hat man wahrhaftig alle Hände voll zu thun, <lb/>wenn man deſſen Erlebniſſe am zweiten Tage aufzählen ſoll.</s>
  <s xml:id="echoid-s5221" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5222" xml:space="preserve">Wir könnten uns zwar das Ding recht leicht machen und <lb/>glattweg unſeren Leſern verſichern, daß dieſer zweite Tag aus <lb/>dem Leben des Hühnchens, wie man ſo zu ſagen pflegt, der <lb/>ſchönſte Tag ſeines Lebens ſei, denn es wird an dieſem Tage <lb/>ein Weſen von Kopf und Herz. </s>
  <s xml:id="echoid-s5223" xml:space="preserve">Aber wir haben viel, viel <lb/>dem hinzuzufügen, zumal da der Kopf an dieſem Tage eher <lb/>wie vier verſchiedene Köpfe ausſieht als wie ein einziger, und <lb/>was das Herz betrifft, ſicherlich kein Menſch auf der weiten <lb/>Erde behaupten wird, das Hühnchen habe an dieſem Tage das <lb/>Herz auf dem rechten Flecke.</s>
  <s xml:id="echoid-s5224" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5225" xml:space="preserve">Es geht hierbei aber noch viel anderes drum und dran <lb/>vor, daß wir gut thun, die Hauptſachen der Reihe nach auf-<lb/>zuführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5226" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5227" xml:space="preserve">Schon am erſten Tage begann ſich das hohle Rohr im <lb/>Rücken zu bilden, welches das Rückenmark wird; </s>
  <s xml:id="echoid-s5228" xml:space="preserve">am zweiten <lb/>Tage ſetzt ſich dieſe Bildung fort, ſo daß es ſich vom Hals <lb/>abwärts mehr und mehr ſchließt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5229" xml:space="preserve">Zugleich vermehren ſich <lb/>von beiden Seiten dieſes Rohres die Urſegmente, die alſo ein <lb/>Gliedertierſtadium andeuten.</s>
  <s xml:id="echoid-s5230" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5231" xml:space="preserve">Ferner umſpannt die unausgeſetzt wachſende Keimſcheibe <lb/>immer mehr und mehr den Dotter, ſo daß ſie bald den ganzen
<pb o="52" file="408" n="408"/>
Dotter in ſich eingeſchloſſen haben wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s5232" xml:space="preserve">Aber indem ſie dies <lb/>thut, hebt ſich der Teil der Keimſcheibe, der Hühnchen iſt, <lb/>immer mehr und mehr vom Dotter ab und vollzieht ſo eine <lb/>Abſonderung oder Abſchnürung des Hühnchens vom Dotter.</s>
  <s xml:id="echoid-s5233" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5234" xml:space="preserve">Vornehmlich aber treten am zweiten Tage der Brütung <lb/>folgende hauptſächliche Erſcheinungen auf.</s>
  <s xml:id="echoid-s5235" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5236" xml:space="preserve">An der Kopfſeite des Tierchens, das wir vor uns haben, <lb/>erheben ſich da, wo der noch unentwickelte Hals zu ſuchen <lb/>wäre, jederſeits vier blaſenartige Erhöhungen, ſo daß man <lb/>meinen ſollte, es wollen ſich am Hühnchen noch eine Anzahl <lb/>Köpfe bilden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5237" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5238" xml:space="preserve">Dieſe Erhöhungen oder paarweiſe, je ein rechter und ein <lb/>linker, mit einander verwachſenden Bögen ſind ein intereſſantes <lb/>Merkmal des Fiſchſtadiums unſeres Keimes. </s>
  <s xml:id="echoid-s5239" xml:space="preserve">Es ſind nämlich <lb/><emph style="sp">Kiemenbögen</emph>, die bei den Fiſchen dauernd erhalten bleiben, <lb/>während ſie bei höheren Tieren, die durch Lungen atmen, <lb/>entweder wieder zurückgebildet oder aber zur Geſichtsbildung <lb/>Verwendung finden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5240" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5241" xml:space="preserve">Das Ei bietet zwar für einen nur einigermaßen erhabenen <lb/>Kopf keinen Raum; </s>
  <s xml:id="echoid-s5242" xml:space="preserve">dazu muß man von dieſem Kopfe noch <lb/>ſagen, daß er ganz beſonders demütig erſcheint, denn er taucht <lb/>gewiſſermaßen in den Dotter unter und ſinkt beim Wachſen <lb/>immer mehr auf die Bruſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5243" xml:space="preserve">Der Nacken des Hühnchens iſt <lb/>außerordentlich gebeugt und je mehr der Kopf an Größe zu-<lb/>nimmt, deſto beſcheidener läßt das Hühnchen denſelben hängen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5244" xml:space="preserve">Gleichwohl giebt ſich der Kopf als das hauptſächlichſte Glied <lb/>des ganzen Weſens zu erkennen, denn ſein Wachstum iſt be-<lb/>deutend ſtärker als das des übrigen Körpers, und er macht auch <lb/>zuerſt Anſtalt dazu, ſich zu einem Daſein außerhalb des Eies <lb/>vorzubereiten, zu einem Daſein im Lichte dieſer Welt, auf der <lb/>wir ſo gern wandeln.</s>
  <s xml:id="echoid-s5245" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5246" xml:space="preserve">Um die angegebene Zeit, um die Mitte des zweiten Tages, <lb/>bemerkt man nämlich an der vorderſten Blaſe des Kopfes, oder
<pb o="53" file="409" n="409"/>
richtiger am Vorderteil des Gehirns, zu jeder Seite desſelben eine <lb/>kleine Erhöhung, den Anfang der <emph style="sp">Augen</emph>.</s>
  <s xml:id="echoid-s5247" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5248" xml:space="preserve">Die Augen find in dieſer Zeit freilich nur Bläschen, die <lb/>zu beiden Seiten auf einer andern Blaſe, dem Vorderhirn, ſich <lb/>bilden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5249" xml:space="preserve">Wenn man den Kopf des Hühnchens ſich dazu zurecht <lb/>legt, ſo kann man ſogar durch den Kopf hindurch von einem <lb/>Auge zum andern ſehen und gewiſſermaßen beobachten, was <lb/>eigentlich dort ſteckt, wo ſich bald feſte Gehirnmaſſe befinden <lb/>ſoll, die unzweifelhaft die Wohnung der Gedanken dieſes <lb/>Tierchens werden wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s5250" xml:space="preserve">Allein ſo viele Gedanken dies in uns <lb/>anregen mag, und ſo viel wir unſer Auge und Hirn dabei an-<lb/>ſtrengen mögen, man vermag in dieſer Stätte der größten <lb/>Wunder nicht viel mehr zu entdecken, als eine helle Flüſſigkeit, <lb/>in welcher vorerſt nicht einmal der Gedanke irgend eines Ge-<lb/>dankens ſichtbar wird, ſondern aus welcher ſich noch im Laufe <lb/>dieſes Tages feſtere Maſſe als Gehirn ausſcheidet. </s>
  <s xml:id="echoid-s5251" xml:space="preserve">Gleich-<lb/>zeitig mit dieſem erſten Auftreten des Gehirns deutet ſich das <lb/>Rückenmark entſchieden an, zuerſt ebenfalls nur als Flüſſigkeit, <lb/>welche ſich im hohlen Rohr bildet, dann als feſter werdende <lb/>Maſſe, welche in oder aus der Flüſſigkeit entſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s5252" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5253" xml:space="preserve">Aber nicht das Auge allein iſt es, das dem Kopf jetzt <lb/>ſchon den Charakter eines Dinges giebt, welches ſich vor-<lb/>bereitet, im Lichte des Tages auf der Erde zu wandeln, <lb/>ſondern auch jene Pforten beginnen ſich zu beiden Seiten des <lb/>hintern Hirnteils zu bilden, welche Kunde von dem geben, <lb/>was in der Entfernung vorgeht, ſelbſt wenn man es nicht ſieht. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5254" xml:space="preserve">Das Ohr, welches beſtimmt iſt, auf Erden die Schwingung der <lb/>Luft als Schall und Ton in ſich aufzunehmen und auf das Be-<lb/>wußtſein des Gehirns zu wirken, das Ohr fängt an, ſich ſchon in <lb/>der letzten Hälfte des zweiten Tages zu bilden, freilich nur als <lb/>feines Bläschen, an welchem vorerſt nichts von ſeiner künftigen <lb/>Beſtimmung zu erkennen iſt als das eine, daß es ungefähr den <lb/>Ort einnimmt, wo das fertige Ohr ſeinen Sitz haben wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s5255" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="54" file="410" n="410"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5256" xml:space="preserve">Bedenkt man nun, daß dies in der verſchloſſenen Ei-<lb/>Schale geſchieht, wo weder eine Anregung zum Sehen, noch <lb/>zum Hören, noch zum Denken da iſt — daß alſo nichts geſchieht <lb/>für den jetzigen Zuſtand des Hühnchens, ſondern für ſeine ihm <lb/>völlig unbekannte Zukunft auf Erden, wo ihm Gedanken nötig <lb/>ſein werden, wo es ſein eigenes Kikriki und ſonſt noch Vieles <lb/>wird zu hören bekommen, und wo es auch was zu ſehen giebt, <lb/>weil die zwanzig Millionen Meilen weit entfernte Sonne ſo <lb/>gut iſt, Lichtſtrahlen herabzuſenden, — bedenkt man dies und <lb/>noch eine ganze Reihe anderer Dinge, die drum und dran <lb/>hängen, ſo muß man geſtehen, daß bei Betrachtung dieſer ſich <lb/>bildenden Gedanken-Werkſtätte, dieſes Auges und dieſes Ohrs <lb/>in einer verſchloſſenen Ei-Schale — dem klügſten Menſchen ſo <lb/>zu ſagen Hören und Sehen und Denken vergehen kann!</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div195" type="section" level="1" n="131">
<head xml:id="echoid-head151" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVI. Ein Weſen von Kopf und Herz.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5257" xml:space="preserve">“Was aber iſt ein Weſen, und hätte es den vollendetſten <lb/>Kopf, wenn ihm das Herz fehlt?</s>
  <s xml:id="echoid-s5258" xml:space="preserve">!”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5259" xml:space="preserve">So vielleicht ruft eine gefühlvolle Leſerin aus, die es <lb/>weniger intereſſiert, wie ſich der Kopf des Hühnchens zu bilden <lb/>anfängt, und ſich größeren Genuß verſpricht, wenn ſie vom <lb/>Werden des Herzens hört.</s>
  <s xml:id="echoid-s5260" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5261" xml:space="preserve">Nun denn, ſo wollen wir zeigen, wie unſer Weſen ſchon <lb/>am zweiten Tage ſeines Daſeins auch beherzt wird; </s>
  <s xml:id="echoid-s5262" xml:space="preserve">aber ſagen <lb/>müſſen wir ſogleich, daß das Herz, das bekanntlich ein kurioſes <lb/>Ding iſt, auch ganz kurios in ſeinem Entſtehen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5263" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5264" xml:space="preserve">Schon der Ort, wo es entſteht, iſt höchſt ſonderbar und <lb/>abenteuerlich, und es gehört eine beſondere Sorgfalt dazu, um <lb/>dieſen Ort genau zu bezeichnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5265" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5266" xml:space="preserve">Wir müſſen nämlich nicht vergeſſen, daß unſer Geſchöpf,
<pb o="55" file="411" n="411"/>
das am Ende des erſten Tages etwa wie ein umgeſtülpter <lb/>Kahn ausgeſehen hat, auch jetzt noch nicht viel hübſcher ge-<lb/>worden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5267" xml:space="preserve">Es hat ſich nur in ſo weit wachſend verändert, <lb/>daß ſich der Kopfteil noch mehr gebuchtet und die Höhlung, <lb/>die er vorerſt bildet, noch weiter vor ſich gegangen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5268" xml:space="preserve">Die <lb/>Seitenwände, mit denen es auf dem Dotter lag, haben ſich ein <lb/>wenig mehr nach unten geneigt, und auch das Schwanz-Ende <lb/>hat ſich gebogen, und zwar abwärts an den Dotter hinab. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5269" xml:space="preserve">In ſolcher Weiſe hat ſich der umgeſtülpte Kahn in die Form <lb/>eines umgekehrten Filz-Pariſers verwandelt, der mit der Sohle <lb/>nach oben liegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5270" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5271" xml:space="preserve">Stellen wir uns das Hühnchen in dieſer Form vor, und <lb/>vergleichen wir es einmal des Spaßes halber mit einem <lb/>Pariſer, ſo ſtellt der Rücken, den uns das Hühnchen zuwendet, <lb/>die nach oben gekehrte Sohle vor. </s>
  <s xml:id="echoid-s5272" xml:space="preserve">Die Seitenteile des <lb/>Schuhes entſprechen der rechten und linken Seite des Hühn-<lb/>chens, der abwärts gehende Hackenteil des Schuhes ähnelt dem <lb/>abwärts geneigten Schwanzteil des Hühnchens, und die nach <lb/>unten gekehrte große Höhlung entſpricht der nach unten ſich <lb/>beugenden Blaſe, welche der Kopf des Hühnchens iſt, und die <lb/>wir zur näheren Bezeichnung die Kopfkappe nennen wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5273" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5274" xml:space="preserve">Auch inſofern ähnelt das Geſchöpfchen jetzt einem Schuh, <lb/>daß es vorerſt unten noch ganz offen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5275" xml:space="preserve">Nur in einem <lb/>Punkte iſt es ſchlimmer dran als ein Schuh, denn es iſt mit <lb/>ſeinem Rande, dort, wo der Schuh gewöhnlich ringsum mit <lb/>Band eingefaßt wird, angewachſen an der weiter um den Dotter <lb/>gehenden Keimſcheibe, die ſich an dieſem Rande umſchlägt, um <lb/>den Dotter in ſich einzuſchließen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5276" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5277" xml:space="preserve">Bedenken wir nun, daß das ganze Geſchöpf nur die <lb/>ausgewachſene Keimſcheibe iſt, daß dieſe Keimſcheibe eine Blaſe <lb/>oder Kappe bildet, ſtatt des Kopfes, daß ſie aber, nachdem ſie <lb/>dies gethan, umbiegt, um wieder die Oberfläche des Dotters <lb/>zu bekleiden, ſo haben wir gerade hier, bei dem Umbiegen,
<pb o="56" file="412" n="412"/>
die Stelle, an welcher ſich in ſehr ſonderbarer Weiſe das Herz <lb/>bildet.</s>
  <s xml:id="echoid-s5278" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5279" xml:space="preserve">Hier an dieſer Stelle geſchieht nämlich etwas, was bis <lb/>dahin noch nicht der Fall geweſen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5280" xml:space="preserve">Die Keimſcheibe beſteht, <lb/>wie wir wiſſen, eigentlich aus mehreren Blättern. </s>
  <s xml:id="echoid-s5281" xml:space="preserve">Erſt wenn <lb/>die Keimſcheibe am unterſten Rand der ſogenannten Kopfkappe <lb/>einbiegt, um den Dotter zu bekleiden, erſt dann trennt ſich das <lb/>mittlere Blatt vom oberſten um ein kleines Stückchen, und in-<lb/>dem es auch umbiegt, um ebenfalls den Dotter zu umkleiden, <lb/>entſteht zwiſchen dem oberſten und dem unterſten Blatt eine <lb/>Art Sack, ein Raum, der berufen iſt, das wichtigſte Organ des <lb/>Leibes, das Herz, in ſich auszubilden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5282" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5283" xml:space="preserve">Wie aber macht ſich ein Herz?</s>
  <s xml:id="echoid-s5284" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5285" xml:space="preserve">Wahrlich, auch dies iſt eine Frage, die zu beantworten <lb/>nicht geringere Schwierigkeiten hat, als die Frage, wie ſich <lb/>Gedanken machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5286" xml:space="preserve">Die vorzüglichſten Naturforſcher ſind für <lb/>jetzt zufrieden, wenn ſie nur erſt die Entſtehungsweiſe in den <lb/>roheren Zügen kennen lernen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5287" xml:space="preserve">Nur ſo viel ſteht feſt, daß der <lb/>Bildung des Herzens ſchon manches vorangegangen iſt, was <lb/>die Grundlage dieſer Bildung zu ſein ſcheint, nämlich die <lb/>Entſtehung des Blutes und der das Blut einſchließenden Adern, <lb/>welche eben alle insgeſamt ihr Haupt-Bureau am Herzen <lb/>haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s5288" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5289" xml:space="preserve">Schon im Verlauf des erſten Tages hat ſich nämlich <lb/>am Rande des mittleren Keimblattes ein feines, netzartiges <lb/>Gewebe gebildet, das, wie ſich ſpäter zeigt, aus hohlen Kanälchen <lb/>beſteht, in welchen ſich Blutgefäße befinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5290" xml:space="preserve">Zuerſt ſind die <lb/>Blutgefäße ungefärbt, aber bald füllen ſie ſich auch mit gelblich-<lb/>rötlicher Farbe und bilden die Blutkügelchen, die eigentlich dem <lb/>Blute die rote Farbe verleihen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5291" xml:space="preserve">Anfangs ſind die Maſchen des <lb/>Gewebes nicht in einem ſichtbaren, fortlaufenden Zuſammen-<lb/>hang; </s>
  <s xml:id="echoid-s5292" xml:space="preserve">aber bald bildet ſich auch dieſer aus, und es treten die <lb/>Blutkanäle, die Adern, ſchon deutlicher hervor.</s>
  <s xml:id="echoid-s5293" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="57" file="413" n="413"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5294" xml:space="preserve">Dies Alles iſt bereits am erſten Tage geſchehen, noch <lb/>bevor ſich eine ſichtbare Spur zur Bildung des Herzens ge-<lb/>zeigt hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s5295" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5296" xml:space="preserve">Aber in demſelben mittleren Keimblatt, in welchem ſich <lb/>das Blut und deſſen Kanäle, die Adern, gebildet, entſteht nun <lb/>am zweiten Tage an der bezeichneten Stelle zuerſt ein hohler <lb/>Schlauch. </s>
  <s xml:id="echoid-s5297" xml:space="preserve">Dieſer Schlauch teilt ſich an ſeinen beiden Enden <lb/>in zwei Kanäle, die bereits mit vorgebildeten Kanälen in <lb/>Verbindung treten; </s>
  <s xml:id="echoid-s5298" xml:space="preserve">und indem die ſchon fertigen Blutkügelchen <lb/>von der einen Seite in den Schlauch eintreten, iſt der Schlauch <lb/>das <emph style="sp">Herz</emph> geworden, und unſer Hühnchen iſt nun glücklich <lb/>am heutigen Tage ein Weſen von Kopf und Herz zugleich ge-<lb/>worden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5299" xml:space="preserve">—</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div196" type="section" level="1" n="132">
<head xml:id="echoid-head152" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVII. Das lebendige Drei-Blatt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5300" xml:space="preserve">Wir haben die zwei erſten Tage aus dem Daſein eines <lb/>Hühnchens mit einiger Weitläufigkeit begleitet; </s>
  <s xml:id="echoid-s5301" xml:space="preserve">aber wir können <lb/>heilig verſichern, daß wir dabei die Dinge gar nicht wenig <lb/>übers Knie gebrochen und, im Grunde genommen, nicht den <lb/>hundertſten Teil von all’ den Merkwürdigkeiten berührt haben, <lb/>die ſich in dieſen zwei Tagen ereignen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5302" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5303" xml:space="preserve">Ein Hühnchen iſt zwar, ſelbſt wenn es fertig iſt, nur ein <lb/>Hühnchen, und bei mäßigem Appetit verzehrt man es, zumal <lb/>wenn es gut gebraten iſt, in einer Viertelſtunde und wiſcht ſich <lb/>den Mund darauf und thut, als ob gar nichts vorgefallen <lb/>wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s5304" xml:space="preserve">Wer aber in einem Hühnchen ein Geſchöpf ſieht, das <lb/>lebt und zum Leben nicht minder berechtigt iſt als wir, und <lb/>wer darin mehr erkennt als ein Ding, unſeren Appetit zu <lb/>ſtillen, und in der Entwickelung eines Hüherlebens die Ent-<lb/>wickelung des Lebens ſelber kennen lernen will, der wird uns <lb/>verſtehen, wenn wir ſagen, daß ein ganzes ſtudienreiches
<pb o="58" file="414" n="414"/>
Menſchenleben nicht ausreicht, um die vollſtändige Geſchichte <lb/>dieſer zwei Tage in allen Einzelnheiten zu erforſchen und dar-<lb/>zuſtellen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5305" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5306" xml:space="preserve">Im Grunde genommen wiſſen wir uns noch etwas zu <lb/>Gute darauf, ſo ſchnell mit den erſten zwei Tagen dieſes kleinen <lb/>Hühner-Daſeins fertig geworden zu ſein; </s>
  <s xml:id="echoid-s5307" xml:space="preserve">aber trotzdem müſſen <lb/>wir uns mit den folgenden Tagen ſeines Verweilens im Eier-<lb/>Häuschen kürzer, viel kürzer faſſen und aus ihnen nur das <lb/>Merkwürdigſte hervorheben.</s>
  <s xml:id="echoid-s5308" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5309" xml:space="preserve">Bevor wir indeſſen dieſe täglichen Bulletins über das <lb/>Befinden und Gedeihen unſeres Tierchens eröffnen, müſſen wir <lb/>hier einen Überblick verſuchen über die ſonderbare Art, wie <lb/>ſolch ein Ding ſich entwickelt, und durch eine allgemeine Be-<lb/>trachtung das darlegen, was die Forſchung in neuerer Zeit <lb/>Lichtvolles über dieſe rätſelhafte Thatſache aufgefunden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5310" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5311" xml:space="preserve">Aus drei (das ſich bald durch Faltung in zwei Blätter <lb/>ſondernde mittlere Blatt wird, wie wir ſchon betonten, ge-<lb/>wöhnlich auch fernerhin als nur ein Blatt, eben als das <lb/>mittlere Blatt bezeichnet) übereinanderliegenden Häutchen, die <lb/>alle zuſammen anfangs nur als ein kleines Fleckchen auf dem <lb/>Dotter erſcheinen, bildet ſich ein ganzes, vollſtändiges Geſchöpf. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5312" xml:space="preserve">Das Fleckchen iſt zuerſt nur ein unbedeutender Teil des Dotters, <lb/>aber gerade die Häute oder Blättchen, welche den Flecken bilden, <lb/>verſtehen es, ſich zur Hauptſache und den ganzen Dotter ſammt <lb/>dem Eiweiß zum Nebending, zur Speiſe für die Häute zu <lb/>machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5313" xml:space="preserve">Der Keimfleck frißt buchſtäblich das ganze Ei auf und <lb/>wächſt und dehnt und faltet und geſtaltet ſich dafür ſo lange, <lb/>bis er ein Hühnchen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5314" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5315" xml:space="preserve">Es fragt ſich nun freilich: </s>
  <s xml:id="echoid-s5316" xml:space="preserve">was giebt dieſen Häuten, dieſen <lb/>drei Blättchen, aus denen der Keimfleck beſteht, die wunder-<lb/>bare Kraft, alſo zu thun?</s>
  <s xml:id="echoid-s5317" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5318" xml:space="preserve">Dieſe Frage iſt vorläufig noch unbeantwortet. </s>
  <s xml:id="echoid-s5319" xml:space="preserve">Die Wiſſen-<lb/>ſchaft auf dem jetzigen Standpunkte geſteht ein, daß ſie nicht
<pb o="59" file="415" n="415"/>
weiß, wie und wodurch dieſen Blättern die unbekannte Kraft <lb/>zukommt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5320" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5321" xml:space="preserve">Bis zu dieſer Frage reicht die Naturwiſſenſchaft noch nicht <lb/>heran und wird vorausſichtlich noch lange Zeit nicht mit <lb/>Sicherheit dieſes größte Rätſel löſen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s5322" xml:space="preserve">Dafür aber be-<lb/>ſchäftigt ſie ſich ernſtlich mit der Erforſchung der Vorſtufen zu <lb/>dieſer Frage, und eine ſolche Vorſtufe iſt die gründliche Unter-<lb/>ſuchung, welche Rolle jedes der drei Blättchen in unſerem Keim-<lb/>fleck ſpielt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5323" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5324" xml:space="preserve">Hierüber haben die Unterſuchungen <emph style="sp">Remak’s</emph> und an-<lb/>derer Licht verbreitet und die Thatſache ſicher geſtellt, daß <lb/>jedem der drei Blätter, wie wir bereits ſahen, eine beſondere <lb/>Rolle zukommt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5325" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5326" xml:space="preserve">Das oberſte äußere Blatt nennt Remak das “Hornblatt”. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5327" xml:space="preserve">Dieſes Blatt bildet alſo ſchon anfangs einen der edelſten Teile des <lb/>menſchlichen Körpers, das Rückenmark, und ſpäter wird es auch <lb/>thätig ſein bei der Bildung des Auges, des Ohrs, des Geruchs-<lb/>und Geſchmackswerkzeuges; </s>
  <s xml:id="echoid-s5328" xml:space="preserve">aber im allgemeinen ſind alle Ge-<lb/>bilde der Außenſeite des Körpers, die Oberhaut, die Haare, <lb/>Nägel und Federn nur Umgeſtaltungen, welche das oberſte <lb/>Keimblatt erfährt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5329" xml:space="preserve">Es iſt freilich nur die Grenze zwiſchen dem <lb/>Geſchöpf und der Welt außer demſelben; </s>
  <s xml:id="echoid-s5330" xml:space="preserve">aber gerade an dieſer <lb/>Grenze, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s5331" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s5332" xml:space="preserve">an unſerer ganzen Haut, ſind die Gefühls-<lb/>nerven verbreitet, welche dem lebenden Geſchöpf Kunde von der <lb/>Außenwelt geben. </s>
  <s xml:id="echoid-s5333" xml:space="preserve">Inſofern kann man von dem oberſten Blatt, <lb/>der Keimſcheibe, ſagen, es ſei dazu beſtimmt, das künftige <lb/>lebende Geſchöpf von der Außenwelt abzugrenzen und ihm <lb/>durch die Sinneswerkzeuge, die es bilden hilft, die Eindrücke <lb/>der Außenwelt zu vermitteln; </s>
  <s xml:id="echoid-s5334" xml:space="preserve">man nennt das äußere Blatt <lb/>denn auch <emph style="sp">Sinnesblatt</emph>.</s>
  <s xml:id="echoid-s5335" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5336" xml:space="preserve">Das mittlere Keimblatt ſahen wir ſchon bei der Bildung <lb/>des Blutes und des Herzens thätig. </s>
  <s xml:id="echoid-s5337" xml:space="preserve">Aus dieſem Blatte aber <lb/>entwickeln ſich vor allem die Muskeln, das Fleiſch. </s>
  <s xml:id="echoid-s5338" xml:space="preserve">Man kann
<pb o="60" file="416" n="416"/>
daher das mittlere Keimblatt das “<emph style="sp">Bewegungs-Blatt</emph>“ <lb/>nennen, oder auch das Blutblatt, weil die Bildung des Blutes <lb/>und des Herzens die erſte bedeutendſte That dieſes Blattes iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5339" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5340" xml:space="preserve">Das unterſte, innerſte Blatt endlich nennt Remak das <lb/>“<emph style="sp">Drüſen-Blatt</emph>“, und weiſt nach, daß aus ihm ſich vor-<lb/>nehmlich die inneren Teile des Körpers bilden, deren Gefüge <lb/>drüſenartig iſt, wie Magen und Darm, die Leber, die Nieren, <lb/>die Lunge. </s>
  <s xml:id="echoid-s5341" xml:space="preserve">Im Ganzen liegt es in der Natur dieſes Blattes, <lb/>alle Organe des Körpers zu bilden, welche zur Aufnahme und <lb/>Verdauung der Speiſen dienen, überhaupt diejenigen Organe, <lb/>die mit der Ernährung in Verbindung ſtehen, ſodaß man dieſes <lb/>Blatt das <emph style="sp">Nahrungsblatt</emph> nennen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s5342" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5343" xml:space="preserve">So iſt denn ein lebendes Geſchöpf, das fühlt, ſieht, hört, <lb/>ſchmeckt und riecht, ein lebendes Geſchöpf, deſſen Herz ſchlägt, <lb/>und deſſen Glieder ſich bewegen, ein lebendes Geſchöpf, das <lb/>Speiſe in ſich aufnimmt, ſich ernährt und Unbrauchbares <lb/>wieder entfernt — eigentlich ein lebendig gewordenes Drei-<lb/>Blatt, das im Ei gewachſen und ausgebildet worden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5344" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5345" xml:space="preserve">Solch ein Drei-Blatt, oder wenn wir wollen ein Vier-<lb/>Blatt, iſt ein Hühnchen — und auch der Menſch iſt leiblich <lb/>nichts anderes, denn ſeine Entwickelungsgeſchichte iſt der des <lb/>Hühnchens in den erſten Tagen zum Verwechſeln gleich.</s>
  <s xml:id="echoid-s5346" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div197" type="section" level="1" n="133">
<head xml:id="echoid-head153" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVIII. Wie viel das Hühnchen am dritten</emph> <lb/><emph style="bf">Tage zu thun hat.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5347" xml:space="preserve">Das Hühnchen ſchmeichelt ſich jetzt zwar erſt ſeit zwei Tagen <lb/>ſeines Daſeins; </s>
  <s xml:id="echoid-s5348" xml:space="preserve">aber ſchon mit dem dritten bekommt es die <lb/>Courage, ſich in einem ganz bedeutenden Punkt ſelbſtändig zu <lb/>machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5349" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="61" file="417" n="417"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5350" xml:space="preserve">Bisher war es nicht viel mehr als ein Höcker oder Aus-<lb/>wuchs auf dem Dotter; </s>
  <s xml:id="echoid-s5351" xml:space="preserve">jetzt fängt es an, ſich von demſelben <lb/>ernſtlich abzuſchnüren, und betrachtet den Dotter als einen <lb/>bloßen großen Futterſack, den ihm das gute Schickſal an den <lb/>offenen Leib geheftet hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s5352" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5353" xml:space="preserve">Das Hühnchen fängt an ſich zu fühlen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5354" xml:space="preserve">Der Schlauch, <lb/>den wir als Herz erkannt haben, zieht ſich von Zeit zu Zeit <lb/>zuſammen und nimmt von der einen Seite aus den Kanälen, <lb/>den Adern, das Blut in ſich auf und treibt es von der an-<lb/>deren Seite wieder hinaus. </s>
  <s xml:id="echoid-s5355" xml:space="preserve">Bedenkt man, daß man dieſes <lb/>Schlagen des Herzens im aufgebrochenen Ei bemerkt, ſo läßt <lb/>es ſich denken, daß dies im geſchloſſenen, ſich weiter ent-<lb/>wickelnden Ei ebenſo vor ſich geht.</s>
  <s xml:id="echoid-s5356" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5357" xml:space="preserve">Bisher hat das Hühnchen den Mund nicht aufgethan, <lb/>denn es hatte keinen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5358" xml:space="preserve">Jetzt am dritten Tage öffnet es ihn <lb/>auch nicht; </s>
  <s xml:id="echoid-s5359" xml:space="preserve">aber es zeigt ſich doch ſchon Anſtalt, daß es einen <lb/>Mund bekommen ſoll, wenn auch in höchſt unerwarteter Weiſe. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5360" xml:space="preserve">Es erweiſt ſich nämlich in der Kopf-Höhlung, daß ſich eine <lb/>Art Narbe bildet, und zwar von innen nach außen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5361" xml:space="preserve">An dieſer <lb/>Stelle wird die Kopfwand immer dünner und dünner, bis ſie <lb/>endlich aufreißt, und ſo eine Öffnung entſteht, aus der ſich <lb/>ein Mund bildet.</s>
  <s xml:id="echoid-s5362" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5363" xml:space="preserve">Das Charakteriſtiſchſte des dritten Tages aber beſteht darin, <lb/>daß die Keimhaut an beiden Seiten des Hühnchens ſich ſpaltet. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5364" xml:space="preserve">Die unteren Teile derſelben werden nun zwei Platten, die <lb/>immer mehr und mehr zu dem offenen Bauche heranwachſen, <lb/>um dieſen zu verſchließen, während die oberen Teile der ge-<lb/>ſpaltenen Keimhaut ſich wie ein Mantel um das ganze Ge-<lb/>ſchöpf legen und es in eine Art Haut einhüllen, in welcher es <lb/>noch lange Zeit liegen wird, bis es dieſelbe zerreißt, um aus <lb/>dem Ei-Gefängniß zu treten. </s>
  <s xml:id="echoid-s5365" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5366" xml:space="preserve">Da es uns Menſchen im Mutterleibe nicht beſſer geht, <lb/>und auch wir ſolch einen Hautmantel um uns haben, in
<pb o="62" file="418" n="418"/>
welchem ſich das ſogenannte Fruchtwaſſer befindet, inner-<lb/>halb deſſen wir ſchwimmen, ſo wird man ſich leicht über <lb/>das Schickſal des Hühnchens, das in ſeinem Gefängnis noch <lb/>in einer beſonderen Haut eingefaltet liegt, zu tröſten wiſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5367" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5368" xml:space="preserve">Sicherlich haben ſchon viele unſerer Leſer gehört, daß es <lb/>Kinder giebt, die in eine Haut gehüllt zur Welt gekommen ſind, <lb/>und da man dieſe Haut ſogar eine “Glückshaut” nennt, ſo hat <lb/>man vielleicht gar Urſache, das Hühnchen glücklich zu preiſen, <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-418-01a" xlink:href="fig-418-01"/>
daß es in derſelben ein-<lb/>gefaltet liegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5369" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div197" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-418-01" xlink:href="fig-418-01a">
<caption xml:id="echoid-caption83" xml:space="preserve">Fig. 15. <lb/>Längsſchnitt durch ein mehrtägig bebrütetes <lb/>Hühnerei. <lb/>n = Nahrungsdotter, h = Harnblaſe (Allantois).</caption>
<variables xml:id="echoid-variables15" xml:space="preserve">h n</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5370" xml:space="preserve">Wie wir bereits ge-<lb/>ſagt haben, fängt mit <lb/>dem dritten Tage das <lb/>eigentliche Schließen der <lb/>Bauch- und Bruſthöhle <lb/>an; </s>
  <s xml:id="echoid-s5371" xml:space="preserve">nur bleibt ſelbſt in <lb/>den ſpäteren Tagen noch <lb/>ein beträchtliches Loch <lb/>offen, welches die Nabel-<lb/>öffnung iſt, die mit <lb/>dem Nahrungsdotter n <lb/>(Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s5372" xml:space="preserve">15) in Verbindung <lb/>bleibt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5373" xml:space="preserve">Das Hühnchen <lb/>kann alſo nur noch <lb/>durch dieſe Öffnung und durch einen Schlauch, der daraus <lb/>hervorgeht, mit dem Dotter verkehren, und nimmt auf dieſem <lb/>Wege ſeine Speiſe in höchſt bequemer Weiſe zu ſich, da es <lb/>nicht zu beißen, zu ſchlucken und zu verdauen braucht, um die <lb/>Speiſe in den Darm zu bringen, woſelbſt ſie vorbereitet wird <lb/>zur Blutflüſſigkeit, ſondern ſeine Nahrung ſchon vollkommen <lb/>zubereitet aus dem Dotter zieht und dieſe als Blut zum Herzen <lb/>ſendet, das ſich langſam auf das Pulsſchlagen einübt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5374" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5375" xml:space="preserve">Man glaube aber nicht, daß das Hühnchen, dem ſozu-
<pb o="63" file="419" n="419"/>
ſagen die gebratenen Tauben in den offenen Leib hineinfliegen, <lb/>ſich auf die faule Bank legt; </s>
  <s xml:id="echoid-s5376" xml:space="preserve">es hat vielmehr viel, ſehr viel <lb/>zu thun und vollbringt auch ſein Tagewerk ganz vortrefflich.</s>
  <s xml:id="echoid-s5377" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5378" xml:space="preserve">Vor Allem bilden ſich in ihm die Blutgefäße aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s5379" xml:space="preserve">Des-<lb/>gleichen entſteht durch eigentümliche Faltungen der Länge nach <lb/>im ganzen inneren Raum des Tierchens die künftige Darm-<lb/>höhle. </s>
  <s xml:id="echoid-s5380" xml:space="preserve">Das Herz hat noch viel zu thun, ſich zu ſenken, zu <lb/>legen und zu ſchieben, ſo daß es von Stunde zu Stunde in <lb/>anderer Lage erſcheint, um endlich ſeiner ſpäteren Stellung ent-<lb/>ſprechender zu werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5381" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5382" xml:space="preserve">In der Bruſthöhle bilden ſich auch in der Mitte des <lb/>dritten Tages kleine Anſchwellungen aus, an welchen man <lb/>feine Höckerchen bemerkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5383" xml:space="preserve">Es iſt dies die erſte Anlage der <lb/>Lungen, die auch ſchon die Anfänge der Luftröhre erkennen <lb/>laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5384" xml:space="preserve">Ferner erhebt ſich am hintern Ende des Darmkanals <lb/>ein Bläschen, das bald zum Harnſack wird, der noch eine ſehr <lb/>wichtige Rolle in der Geſchichte des Ei-Bewohners ſpielen wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s5385" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5386" xml:space="preserve">Zu dieſen Veränderungen und Bildungen im Innern un-<lb/>ſeres Geſchöpfes kommen noch die äußerlich kenntlichen, die <lb/>darin beſtehen, daß ſich der Kopf, bis zum dritten Tage wie <lb/>aus mehreren Blaſen beſtehend, jetzt mehr und mehr abflacht <lb/>und als ein einziger Kopf erſcheint, daß ſich die Nerven für <lb/>Auge, Ohr und Naſe weiter entwickeln, und daß endlich an <lb/>den Bauchplatten kleine Leiſtchen ſich erheben, die ſich ſpäter <lb/>zu Füßen und Flügeln ausbilden werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5387" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div199" type="section" level="1" n="134">
<head xml:id="echoid-head154" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIX. Drei neue Lebenstage.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5388" xml:space="preserve">Was mit unſerem Geſchöpfe am dritten Tage vorgeht, iſt <lb/>nur eine Vorbereitung für den vierten und fünften Tag, wes-<lb/>halb wir denn dieſen Zeitraum zugleich vorführen wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5389" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="64" file="420" n="420"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5390" xml:space="preserve">Vor allem jedoch haben wir ein Kunſtſtück eigner Art <lb/>zu erzählen, was das Hühnchen bereits am dritten Tage ge-<lb/>lernt hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s5391" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5392" xml:space="preserve">Ohne Zweifel hat wohl jeder unſerer Leſer ſchon von <lb/>Kindesbewegungen im Mutterleibe gehört; </s>
  <s xml:id="echoid-s5393" xml:space="preserve">und es iſt auch <lb/>wirklich ſo, daß die Geſchöpfchen in ihren Iſolier- und Zellen-<lb/>Gefängniſſen doch Luſt zur Regung und Bewegung haben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5394" xml:space="preserve">Ein Unwohlſein der Mutter, der Genuß einer Speiſe, die <lb/>dem Kinde nicht bekommt, veranlaßt dieſes, das ſchwerlich weiß, <lb/>wie ihm geſchieht, mit Händen und Füßen dagegen zu pro-<lb/>teſtieren, und es erfolgen heftige Kindesbewegungen, die oft <lb/>für die Mutter ſchmerzhafter Natur ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s5395" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5396" xml:space="preserve">Es giebt aber auch Bewegungen dieſer Gefangenen, <lb/>die nicht willkürlich und nicht von zufälligen Urſachen her-<lb/>rühren, ſondern die für die Entwickelung der werdenden Weſen <lb/>notwendig ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s5397" xml:space="preserve">Es ſind dies Wendungen oder Drehungen <lb/>des ganzen Körpers, durch welche Zwecke eigener Art erreicht <lb/>werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5398" xml:space="preserve">Ein ſolche Drehung geht im Hühnchen ſchon am <lb/>dritten Tage vor ſich und hat zur Folge, daß das wichtigſte <lb/>Organ des Leibes, das Herz, die richtige Form erhält und <lb/>auch an den richtigen Fleck zu ſitzen kommt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5399" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5400" xml:space="preserve">Es iſt nämlich eine Eigentümlichkeit der Schöpferkraft <lb/>lebendiger Weſen, daß ſie ihr Werk nach den Geſetzen eines <lb/>gewiſſen Gleichgewichts anordnet. </s>
  <s xml:id="echoid-s5401" xml:space="preserve">Alle Leibesteile, die wir <lb/>zweifach haben, wie Hände, Füße, Augen, Ohren, Lungen, <lb/>Brüſte u. </s>
  <s xml:id="echoid-s5402" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s5403" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s5404" xml:space="preserve">, ſind zu beiden Seiten des Leibes gleichmäßig <lb/>geſtellt; </s>
  <s xml:id="echoid-s5405" xml:space="preserve">alle Leibesteile, von denen uns die Natur nur mit <lb/>einem Exemplar beſchenkt hat, bringt ſie in der Mitte des <lb/>Körpers an, wie Naſe, Mund, Kinn, Nacken, Rücken-<lb/>wirbel u. </s>
  <s xml:id="echoid-s5406" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s5407" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s5408" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5409" xml:space="preserve">Da wir aber nur ein Herz haben, und dies eine Herz <lb/>uns oft ſchon genug zu ſchaffen macht, ſo ſollte es eigentlich <lb/>in der Mittellinie des Körpers ſeinen Sitz einnehmen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5410" xml:space="preserve">und
<pb o="65" file="421" n="421"/>
wirklich iſt dies auch in der Entſtehung der Fall und würde <lb/>wahrſcheinlich auch ſo bleiben, wenn nicht das neubeherzte <lb/>Geſchöpf durch Drehung und Wendung des ganzen Körpers <lb/>die Lage des Herzens ändern und die erſte Veranlaſſung zur <lb/>veränderten Geſtalt und Beſchaffenheit des Herzens geben <lb/>würde.</s>
  <s xml:id="echoid-s5411" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5412" xml:space="preserve">Eine ſolche Wendung macht nun auch das Hühnchen am <lb/>dritten Tage, an dem Tage, wo es eigentlich anfängt ſelbſt-<lb/>ſtändig zu werden, und das Ei, das früher die Hauptſache <lb/>war, zu einem Werkzeug des Geſchöpfes herabſinkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5413" xml:space="preserve">Es iſt <lb/>alſo die Wendung oder Drehung die erſte That des ſelbſtändig <lb/>gewordenen Weſens, und infolge dieſer erſten That wird es <lb/>ein Weſen, das das Herz auf den rechten Fleck bekommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5414" xml:space="preserve">Das <lb/>Hühnchen oder vielmehr der Hühnchen-Keim dreht ſich nämlich <lb/>ſo, daß es auf die linke Seite zu liegen kommt: </s>
  <s xml:id="echoid-s5415" xml:space="preserve">es legt ſich <lb/>“aufs linke Ohr”. </s>
  <s xml:id="echoid-s5416" xml:space="preserve">Dadurch erhält manches in dem Tier eine <lb/>unſymmetriſche Lage, ſo wird vor allem das Herz, welches <lb/>zuerſt unten in der Mittellinie liegt, nach links geſchoben, und <lb/>ändert dabei zugleich ſeine Schlauchform.</s>
  <s xml:id="echoid-s5417" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5418" xml:space="preserve">Mit dem vierten und fünften Tage treten nun weitere <lb/>Entwickelungen des ganzen Lebens ein, deren Betrachtung eine <lb/>genaue Kenntnis aller einzelnen Teile derſelben vorausſetzt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5419" xml:space="preserve">Äußerlich wahrnehmbar ſind beſonders folgende Veränderungen <lb/>und Entwickelungen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5420" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5421" xml:space="preserve">Von der Bruſt, dem unteren Teil des Schwanzes und <lb/>den beiden Seiten des Bauches her wachſen die Häute immer <lb/>mehr zuſammen und verengen den Eingang zur Bauchhöhle <lb/>immer mehr, das heißt, es geht die oft erwähnte Ab-<lb/>ſchnürung des Geſchöpfes immer weiter vor ſich. </s>
  <s xml:id="echoid-s5422" xml:space="preserve">Zugleich <lb/>wächſt auch die Umhüllung desſelben ihren Gang fort, ſo daß <lb/>es am Ende des fünften Tages ganz in einer neuen Haut ein-<lb/>gebettet liegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5423" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5424" xml:space="preserve">Es wird nun auch die Wirbelſäule weiter ausgebildet.</s>
  <s xml:id="echoid-s5425" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5426" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s5427" xml:space="preserve">Bernſtein, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s5428" xml:space="preserve">Volksbücher IX.</s>
  <s xml:id="echoid-s5429" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="66" file="422" n="422"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5430" xml:space="preserve">Ferner wächſt der nach unten ſich krümmende Hals derart, daß <lb/>der Kopf immer tiefer nach unten taucht, und da auch die <lb/>Schwanzſeite ſich abwärts dehnt, ſo iſt die Lage des Tierchens <lb/>ſo, daß ſeine äußerſten Enden ſich faſt unter dem Leibe be-<lb/>rühren. </s>
  <s xml:id="echoid-s5431" xml:space="preserve">Von den Sinneswerkzeugen bildet ſich das Auge am <lb/>weiteſten aus, und die Füße und Flügel durchlaufen eine <lb/>Reihe von Veränderungen, daß man von ihnen ſagen kann, <lb/>ſie ſehen alle Tage anders aus.</s>
  <s xml:id="echoid-s5432" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5433" xml:space="preserve">Am dritten Tage waren ſie nur als feine Leiſtchen auf <lb/>den Bauchplatten ſichtbar; </s>
  <s xml:id="echoid-s5434" xml:space="preserve">am vierten Tage ragen ſie wie <lb/>Blättchen hervor, und am fünften Tage haben ſich die Blätt-<lb/>chen zu vier meißelartigen Anſätzen umgewandelt und ſehen <lb/>wie Stumpfe abgehackter Glieder aus.</s>
  <s xml:id="echoid-s5435" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5436" xml:space="preserve">Am Schluß dieſes fünften Tages hat ſich aber auch zu-<lb/>gleich der Harnſack, welcher außerhalb des Körpers des Hühn-<lb/>chens liegt, ausgebildet, und zugleich iſt die Umhüllung des <lb/>Hühnchens ſo vollendet, daß es jetzt durch dieſelbe vom übrigen <lb/>Ei getrennt iſt und ſeine beſondere Behauſung einnimmt, zum <lb/>Zeichen, daß es jetzt nur noch durch den Nabel in Verbindung <lb/>mit dem Dotter ſteht, durch welchen es ſeine Speiſe als ſelbſt-<lb/>ſtändiges Weſen bezieht.</s>
  <s xml:id="echoid-s5437" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5438" xml:space="preserve">Unſere Figur 15 zeigt bereits die den Keim (den Embryo) <lb/>nunmehr vollſtändig umhüllende neue Haut und in h die <lb/>mächtig auswachſende Harnblaſe.</s>
  <s xml:id="echoid-s5439" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5440" xml:space="preserve">Es hat auch das ganze Ei hiernach eine weſentliche Ver-<lb/>änderung erlitten. </s>
  <s xml:id="echoid-s5441" xml:space="preserve">Das Eiweiß hat ſich vermindert und iſt <lb/>feſter, der Dotter dagegen größer und ſein Inhalt flüſſiger <lb/>geworden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5442" xml:space="preserve">Es iſt offenbar, daß im Dotter etwas Ähnliches <lb/>vorgeht, wie in unſerem Magen und Darm, woſelbſt die <lb/>Speiſe, die wir in den Mund ſtecken, vorbereitet wird, er-<lb/>nährendes Blut zu werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5443" xml:space="preserve">Da das Hühnchen weder ſeinen <lb/>Mund, der ſich erſt bildet, noch ſeinen Magen, noch ſeinen Darm <lb/>hierzu gebraucht, ſo übernimmt der Dotter, der ſpäter ganz
<pb o="67" file="423" n="423"/>
aufgegeſſen werden ſoll, dieſes durchaus nicht kleine Geſchäft, <lb/>ſich ſelber zu einer das Hühnchen ernährenden Speiſe zu <lb/>verarbeiten.</s>
  <s xml:id="echoid-s5444" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div200" type="section" level="1" n="135">
<head xml:id="echoid-head155" xml:space="preserve"><emph style="bf">XX. Wie das Hühnchen anfängt, Tauſchgeſchäfte</emph> <lb/><emph style="bf">zu machen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5445" xml:space="preserve">Bis zum ſechſten Tage beſchäftigt ſich unſer Hühnchen nur <lb/>mit inneren Angelegenheiten. </s>
  <s xml:id="echoid-s5446" xml:space="preserve">Das Ei iſt ſeine Welt, und die <lb/>ganze, große, weite Welt da draußen kümmert unſer Geſchöpf <lb/>nicht weiter. </s>
  <s xml:id="echoid-s5447" xml:space="preserve">Mit dem ſechſten Tage aber fängt es an, ſich <lb/>auch um das Ausland zu kümmern und eröffnet ein Tauſch-<lb/>geſchäft mit der Welt, das nicht mehr aufhört, als bis das <lb/>letzte Stündlein geſchlagen hat und der letzte Atemzug des <lb/>Hühnchens verhaucht iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5448" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5449" xml:space="preserve">Und bei dieſem merkwürdigen Tauſchgeſchäft, das im Ei <lb/>von innen nach der Welt draußen hin vorgeht, dient eben der <lb/>mehrfach erwähnte Harnſack als äußerſt geſchickter Kommiſſionär, <lb/>der ſich zur Vergrößerung ſeines Geſchäfts ganz außerordent-<lb/>lich auszubreiten verſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s5450" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5451" xml:space="preserve">Da hiermit eine ganz neue Lebensepoche des Hühnchens <lb/>beginnt, ſo müſſen wir die Sache ein wenig umfaſſender be-<lb/>trachten. </s>
  <s xml:id="echoid-s5452" xml:space="preserve">Die erſten zwei Tage hat, wie wir wiſſen, das <lb/>Hühnchen ein herzloſes Daſein geführt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5453" xml:space="preserve">Ein Blutumlauf fand <lb/>in dieſer Zeit eben noch nicht ſtatt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5454" xml:space="preserve">Dieſer ernährende Lebens-<lb/>ſaft hatte mindeſtens in den erſten zwei Tagen noch keine be-<lb/>ſtimmten Wege und Bahnen, und die Geſtaltung und Ent-<lb/>wickelung des Hühnchens ſcheint nur erhalten worden zu ſein <lb/>durch die Dotterſpeiſe allein, die durch den in die Mitte des <lb/>Dotters hinführenden Kanal ihm zugekommen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5455" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5456" xml:space="preserve">Erſt mit dem dritten Tage trat ſowohl das bewegte Blut
<pb o="68" file="424" n="424"/>
wie das Blut aufnehmende und weitertreibende Herz auf. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5457" xml:space="preserve">Aber dieſes Blut, das jetzt zum Herzen hin und vom Herzen <lb/>aus weiter ſtrömt, hat, wie das auch fernerhin der Fall iſt, <lb/>einen Kreislauf durch den Körper des Hühnchens und einen <lb/>Teil des auf dem Dotter verbreiteten mittleren Keimblattes, <lb/>der der Dotterhof genannt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s5458" xml:space="preserve">— Der Kreislauf des Blutes <lb/>alſo war vom dritten bis zum ſechſten Tage auf einen Teil <lb/>der Keimhaut und den Körper des Hühnchens beſchränkt uud <lb/>ſcheint mehr die Bildung neuen Blutes als die Verbeſſerung <lb/>des verbrauchten Blutes bezweckt zu haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s5459" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5460" xml:space="preserve">So hat denn das Hühnchen bis zum ſechſten Tage zwei <lb/>ſehr weſentlich verſchiedene Epochen ſeines Daſeins erlebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5461" xml:space="preserve">Die <lb/>erſte, wo es noch gar keinen Blut-Kreislauf gab, und die <lb/>zweite, wo das Blut durch das Hühnchen und einen Teil der <lb/>Keimſcheibe, den Dotterhof, zirkulierte.</s>
  <s xml:id="echoid-s5462" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5463" xml:space="preserve">Mit dem ſechſten Tage bildet ſich ein neues Organ aus, <lb/>das dem Kreislauf des Blutes eine ganz andere Richtung giebt, <lb/>infolge welcher auch der Kreislauf durch den Dotterhof nach <lb/>und nach abſtirbt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5464" xml:space="preserve">Und dieſes Organ iſt der “Harnſack” h, <lb/>der in der Wiſſenſchaft als Allantois bezeichnet wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s5465" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5466" xml:space="preserve">Wir haben es bereits erwähnt, daß dieſer Sack eine Blaſe <lb/>iſt, welche vom Hinterteil des Hühnchens ſich abhebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5467" xml:space="preserve">Anfangs <lb/>iſt dieſe Blaſe ſehr klein und beſcheiden, kaum wie ein Nadel-<lb/>knopf groß. </s>
  <s xml:id="echoid-s5468" xml:space="preserve">Mit dem dritten Tage fängt ſie an zu wachſen <lb/>und kann deutlicher in Augenſchein genommen werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5469" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5470" xml:space="preserve">Da inzwiſchen ſich auch der Bauch des Tierchens ge-<lb/>ſchloſſen hat, und nur am Nabel ein Loch bleibt, durch welches <lb/>das Rohr zum Dotterkanal geht, um dort neue Speiſe aufzu-<lb/>nehmen, ſo iſt auch hier die Stelle, wo der Harnſack an einem <lb/>ſich ausbildenden, feinen Rohr hängt, ſo daß ſich an der Nabel-<lb/>öffnung ein zwiefacher Ausgang befindet.</s>
  <s xml:id="echoid-s5471" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5472" xml:space="preserve">Der Harnſack wächſt nun ungemein ſtark, und in ſeiner <lb/>Haut zeigen ſich feinere und ſtärkere Blutadern, in welche das
<pb o="69" file="425" n="425"/>
Blut vom Körper aus hinſtrömt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5473" xml:space="preserve">Hier werden nun die Äder-<lb/>chen immer feiner, ſo daß ſie ein außerordentlich zartes Netz <lb/>bilden, das man Haargefäße oder Kapillargefäße nennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5474" xml:space="preserve">Das <lb/>Blut geht alſo durch dieſe feinen Kanälchen in die Haut des <lb/>Harnſacks und kehrt ſodann durch ein anderes Gezweige von <lb/>Blutadern, die ſich gleichfalls in der Haut des Harnſacks be-<lb/>finden, wieder zurück zum Nabel und in den Körper des <lb/>Hühnchens. </s>
  <s xml:id="echoid-s5475" xml:space="preserve">Es verſteht ſich von ſelbſt, daß das Blut, das <lb/>in den Harnſack einſtrömt, vom Herzen herkommt, und das <lb/>rückſtrömende Blut zum Herzen hinſtrömt, und daß die ganze <lb/>Maſchinerie eigentlich vom Zuſammenziehen und Ausdehnen <lb/>des Herzens oder von dem ſogenannten Pulsſchlag des Herzens <lb/>herrührt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5476" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5477" xml:space="preserve">Zu welchem Zweck aber macht das Blut ſolchen <lb/>Spazierlauf?</s>
  <s xml:id="echoid-s5478" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5479" xml:space="preserve">Der Zweck iſt einzig und allein derſelbe, den wir beim <lb/>Atmen haben, und das iſt der, daß wir dem Blute unſeres <lb/>Leibes den Sauerſtoff der Luft zuführen und die Kohlenſäure <lb/>des verbrauchten Blutes aus dem Körper hinauswerfen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5480" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5481" xml:space="preserve">So ſonderbar es auch dem Uneingeweihten klingen mag, <lb/>ſo wahr und unumſtößlich iſt es dennoch, daß jedes Tröpfchen <lb/>Blut, das aus unſerem Körper in das Herz zurückſtrömt, mit <lb/>Kohlenſäure geſchwängert iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5482" xml:space="preserve">Das aus dem Körper zum <lb/>Herzen ſtrömende Blut iſt kohlenſäurehaltig und iſt ſo ſehr ſchäd-<lb/>lich für unſer Leben, daß wir eines ſchnellen Todes ſtürben, <lb/>wenn wir es nicht verändern würden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5483" xml:space="preserve">Zu dieſem Zweck ſendet <lb/>das Herz das kohlenſäurehaltige, geſchwärzte Blut durch eigene <lb/>Adern in die Lungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5484" xml:space="preserve">Hier atmen wir friſche Luft ein, die <lb/>Sauerſtoff enthält, und atmen Luft aus, wodurch eben die <lb/>Kohlenſäure aus dem Körper hinausgeworfen wird, und die <lb/>Folge davon iſt eine fortwährende Reinigung des Blutes, die <lb/>unumgänglich zum Leben nötig iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5485" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="70" file="426" n="426"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5486" xml:space="preserve">Ganz dasſelbe geht im Ei in der Haut des Harnſackes <lb/>vor ſich, wie wir dies im nächſten Abſchnitt ſogleich ſehen <lb/>werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5487" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div201" type="section" level="1" n="136">
<head xml:id="echoid-head156" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXI. Das Kommiſſionsgeſchäft für ungeborene</emph> <lb/><emph style="bf">Weſen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5488" xml:space="preserve">Der Harnſack des Hühnchens wächſt nun vom ſechſten <lb/>Brüttage an immer bedeutender und dehnt ſich, ſo weit nur <lb/>ein Plätzchen da iſt, bis an die Eiſchale aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s5489" xml:space="preserve">Da um dieſe <lb/>Zeit das Eiweiß ſchon faſt verſchwunden und nur noch am <lb/>ſpitzen Ende des Eies vorhanden iſt, ſo legt ſich die Haut des <lb/>Harnſacks faſt vollſtändig an die innere Kalkwand des Eies <lb/>an, und indem durch die Adern dieſer Haut das Blut des <lb/>Hühnchens hindurchſtrömt, tritt es der Luft draußen ziemlich <lb/>nahe und iſt von derſelben nur durch die feine Haut der <lb/>Adern, die Häute der Eiſchale und die Schale ſelbſt getrennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5490" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5491" xml:space="preserve">Man ſollte nun freilich glauben, daß es unmöglich ſei, <lb/>durch ſolche Hinderniſſe, wie eine Kaltſchale und drei Häute <lb/>ſind, Luft ſchöpfen und ausatmen zu können; </s>
  <s xml:id="echoid-s5492" xml:space="preserve">denn wenn auch <lb/>die Eiſchale ſelbſt voll kleiner, feiner Löcherchen iſt, ſo ſind <lb/>doch die Häute, welche die Luft vom Blut abſperren, keines-<lb/>wegs durchlöchert und bilden einen Verſchluß, durch welchen <lb/>man einen Austauſch von Stoffen nicht gut für möglich halten <lb/>ſollte.</s>
  <s xml:id="echoid-s5493" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5494" xml:space="preserve">Und doch iſt dies der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s5495" xml:space="preserve">Das Ei atmet durch den <lb/>Harnſack Kohlenſäure aus und atmet Sauerſtoff ein, ſo gut <lb/>wie wir es mit den Lungen thun.</s>
  <s xml:id="echoid-s5496" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5497" xml:space="preserve">Es geſchieht dies in derſelben Weiſe, welche wir in <lb/>Teil V S. </s>
  <s xml:id="echoid-s5498" xml:space="preserve">62 eingehend kennen gelernt haben, durch Diffuſion.</s>
  <s xml:id="echoid-s5499" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5500" xml:space="preserve">Auch wir Menſchen verrichten mit jedem Atemzug dasſelbe
<pb o="71" file="427" n="427"/>
Kunſtſtück, denn wenn es auch ganz richtig iſt, daß das Herz <lb/>Blut nach der Lunge ſtrömen läßt, und wir durch das Auf-<lb/>atmen dem Blute Luft zuführen, ſo darf man ſich doch nicht <lb/>vorſtellen, als ob wirklich in der Lunge Blut und Luft ſich <lb/>berühren, vielmehr ſind beide durch zwei feine Häutchen ge-<lb/>trennt, da die ganze Lunge nichts weiter iſt, als außerordentlich <lb/>feine Äſtchen von Blutadern, die nirgends eine Öffnung haben; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5501" xml:space="preserve">um dieſe Äſtchen eben winden ſich eine ganze Maſſe feiner <lb/>Luft-Kanälchen, und obwohl das Blut in ſolcher Weiſe durch <lb/>die Wände der Adern und ebenſo die Luft durch die Wände <lb/>der Kanälchen abgeſchloſſen iſt, genügt doch die innige Be-<lb/>rührung dieſer Scheidewände vollkommen, um aus dem Blut <lb/>Kohlenſäure austreten und Sauerſtoff eintreten zu laſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5502" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5503" xml:space="preserve">Wir können daher im vollen Sinne des Wortes ſagen, <lb/>daß unſer Hühnchen von dem ſechſten Tage an eine ganz <lb/>wunderliche Lunge bekommt, und dieſe Lunge iſt eben der <lb/>Harnſack, deſſen Wand ſich mit ſeinen feinen Blutadern an die <lb/>Schale des Eies anlegt und hier durch dieſen Kommiſſionär <lb/>ein Tauſchgeſchäft vollzieht, wobei der Sauerſtoff der Luft von <lb/>draußen ins Bereich des Eies gebracht und von drinnen Kohlen-<lb/>ſäure nach außen abgeſchieden wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s5504" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5505" xml:space="preserve">In dem geſchilderten Stadium wird alſo die Atmung von <lb/>einem zu den Darm-Organen gehörigen Teile beſorgt, eben <lb/>von der Harnblaſe, die übrigens ihren Namen trotzdem mit <lb/>Recht führt, da ſie außerdem wäſſerige Ausſcheidungen auf-<lb/>nimmt, die der heranwachſende Keim nicht verwerten kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s5506" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5507" xml:space="preserve">Wenn bisher unſer Hühnchen noch nicht den Namen eines <lb/>Weltbürgers verdient, weil es im Ei eingeſchloſſen lag, weil <lb/>es weder der Welt etwas abgab, noch von dieſer etwas ver-<lb/>langte, als höchſtens eine Portion Wärme, ſo kann man jetzt <lb/>nach dem ſechſten Tage ſagen, daß unſer armes Weſen von <lb/>ſeinem Gefängnis aus mit der großen Welt in wechſelſeitigen <lb/>Verkehr tritt: </s>
  <s xml:id="echoid-s5508" xml:space="preserve">es atmet, es lebt, es iſt ein Bürger dieſer Welt,
<pb o="72" file="428" n="428"/>
und obwohl es noch ganz gut verpackt liegt und noch viel zu <lb/>thun hat, um das Licht des Tages zu erblicken, müſſen wir <lb/>doch geſtehen, daß ihm ſchon jetzt unſere Gratulation zu einem <lb/>neuen Daſein gebührt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5509" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5510" xml:space="preserve">Wie aber, fragt freilich ein wißbegieriger Leſer, mag es <lb/>wohl uns weiſen Menſchen im Mutterleibe ergehen? </s>
  <s xml:id="echoid-s5511" xml:space="preserve">Atmen <lb/>wir dort auch und ſchafft uns die Natur eine ähnliche künſt-<lb/>liche Lunge, die das Tauſchgeſchäft mit der Außenwelt ver-<lb/>mittelt?</s>
  <s xml:id="echoid-s5512" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5513" xml:space="preserve">Wohl atmen wir im Mutterleibe; </s>
  <s xml:id="echoid-s5514" xml:space="preserve">nicht mit dem Munde, <lb/>ſondern auch durch den Nabel, wie das Hühnchen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5515" xml:space="preserve">aber wir <lb/>haben einen beſſeren Kommiſſionär, oder richtiger, eine liebe <lb/>Kommiſſionärin für dieſes Tauſchgeſchäft, denn die Mutter <lb/>atmet für uns mit.</s>
  <s xml:id="echoid-s5516" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5517" xml:space="preserve">Von ihrem Herzblut pulſt ein Strom reinen Blutes nach <lb/>dem ſogenannten Mutterkuchen, nach der “Nachgeburt”; </s>
  <s xml:id="echoid-s5518" xml:space="preserve">hier <lb/>findet es einen Strom verbrauchten Blutes vor, der vom Kinde <lb/>gleichfalls durch die Nabelſchnur dahin pulſt, und obwohl auch <lb/>hier zwei feine Häutchen das Blut der Mutter von dem des <lb/>Kindes trennen, findet doch ein Austauſch ſtatt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5519" xml:space="preserve">Das Blut <lb/>der Mutter giebt dem des Kindes den Sauerſtoff und nimmt <lb/>dem des Kindes die Kohlenſäure. </s>
  <s xml:id="echoid-s5520" xml:space="preserve">und da Atmen eben nichts <lb/>iſt als ein Tauſchgeſchäft von Kohlenſäure gegen Sauerſtoff, ſo <lb/>kann man im vollen Sinne des Wortes ſagen, daß wir auch <lb/>im Mutterleibe atmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5521" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5522" xml:space="preserve">Es kommt oft vor, daß Kinder zur Welt kommen, ohne <lb/>daß ſie mit dem Munde atmen: </s>
  <s xml:id="echoid-s5523" xml:space="preserve">ſo lange nur die Nabelſchnur <lb/>pulſt, ſchadet es nichts; </s>
  <s xml:id="echoid-s5524" xml:space="preserve">denn die Mutter atmet noch immer <lb/>für dasſelbe. </s>
  <s xml:id="echoid-s5525" xml:space="preserve">In dem Augenblick aber, wo man das Kind <lb/>zum Schreien bringt, es alſo ſelbſt atmet, in demſelben Augen-<lb/>blick hört die Nabelſchnur auf zu pulſieren und die liebe <lb/>Kommiſſionärin hört auf, das Tauſchgeſchäft für ihr Kind zu <lb/>beſorgen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5526" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="73" file="429" n="429"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5527" xml:space="preserve">Ein Ei und eine Mutter betreiben alſo ſo zu ſagen ein <lb/>Kommiſſionsgeſchäft für ungeborene Weſen!</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div202" type="section" level="1" n="137">
<head xml:id="echoid-head157" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXII. Das Hühnchen wird ſeinen Eltern immer</emph> <lb/><emph style="bf">ähnlicher.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5528" xml:space="preserve">Von der Zeit ab, wo das Hühnchen durch das Atmen mit <lb/>der Außenwelt in Verbindung tritt, iſt die Geſchichte ſeiner <lb/>Entwickelung nur eine Geſchichte der Ausbildung ſeiner faſt <lb/>vollſtändig vorhandenen einzelnen Glieder und Körperteile, und <lb/>wir können, da wir nicht auf Einzelheiten eingehen mögen, die <lb/>ganze Reihe von Tagen bis zu ſeinem Auskriechen nunmehr <lb/>zuſammenfaſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5529" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5530" xml:space="preserve">Zwar darf man ſich nicht vorſtellen, daß das Hühnchen <lb/>am ſechſten Tage auch dem Auge des Unkundigen als ein Ge-<lb/>ſchöpf von unzweifelhaftem Charakter erſcheint. </s>
  <s xml:id="echoid-s5531" xml:space="preserve">Wenn man <lb/>das Ding, wie es iſt, abgelöſt vom Dotter, vom Harnſack und <lb/>von dem Hautmantel, in dem es gelegen, einem Unkundigen <lb/>vorſetzt, ſo wird er es zwar als ein im Werden begriffenes <lb/>lebendes Weſen anerkennen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5532" xml:space="preserve">aber es ſoll ihm ſchwer werden <lb/>zu ſagen, ob dies eine jugendliche Maus oder ein Fiſch oder <lb/>ein Vogel iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5533" xml:space="preserve">Ja, ſelbſt dem Kundigen, der leicht entdecken <lb/>wird, daß dies ein Vogel ſein muß, wird es ſchwer, zu be-<lb/>ſtimmen, ob er ein Hühnchen oder eine Taube oder einen Geier <lb/>vor ſich hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s5534" xml:space="preserve">— Gleichwohl iſt von den Gliedern ſchon alles <lb/>in der Anlage da, und unſer Geſchöpf bedarf jetzt nur der <lb/>weiteren Ausbildung derſelben.</s>
  <s xml:id="echoid-s5535" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5536" xml:space="preserve">Das Mutterhuhn, wenn es das Brütgeſchäft ſelbſt beſorgt, <lb/>weiß dies auch, und ſelbſt der Hahn, der Herr Papa, muß <lb/>hiervon eine Ahnung haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s5537" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5538" xml:space="preserve">Bis zum ſechſten Tage nämlich verläßt das Mutterhuhn
<pb o="74" file="430" n="430"/>
die Eier nur im äußerſten Notfall auf wenige Augenblicke, <lb/>und wenn der Herr Papa bei der Hand iſt, ſetzt er ſich wohl <lb/>unterdeſſen, wenn auch nicht ſo manierlich, wie die getreue <lb/>Gattin, über die Eier, um ſie nicht kalt werden zu laſſen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5539" xml:space="preserve">Vom ſechſten Tage ab erlaubt ſich das Huhn ſchon etwas mehr <lb/>Freiheit, und der geliebte Gatte bequemt ſich ſchon ſeltener <lb/>dazu, Wartefrau zu ſpielen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5540" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5541" xml:space="preserve">Auf Grund dieſer Thatſache nahm man ſonſt an, daß von <lb/>dieſer Zeit ab die Hühnchen ſchon ſtark genug ſein mögen, <lb/>einen kleinen Schnupfen durch Erkältung zu ertragen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5542" xml:space="preserve">jetzt <lb/>weiß man es beſſer. </s>
  <s xml:id="echoid-s5543" xml:space="preserve">Das Huhn und auch der Hahn ſind in <lb/>ihrer Weiſe ſehr gelehrte Chemiker, obgleich ſie es ſchwerlich <lb/>ahnen, wie geſcheit ſie ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s5544" xml:space="preserve">Die Chemie und zwar die <lb/>Forſchungen des großen deutſchen Chemikers Liebig haben <lb/>es bewieſen, daß durch die Atmung von Sauerſtoff die Körper-<lb/>wärme erzeugt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s5545" xml:space="preserve">Wenn wir daher nur gut atmen können, <lb/>können wir ſchon eine Portion Kälte vertragen, wohingegen <lb/>Schwindſüchtige, die wenig Lunge haben, fortwährend, ſelbſt <lb/>im heißen Sommer, fröſteln. </s>
  <s xml:id="echoid-s5546" xml:space="preserve">Da nun von der Zeit ab, wo <lb/>der Harnſack im Ei das Geſchäft des Atmens übernimmt, eine <lb/>Portion Wärme im Ei ſelbſt erzeugt wird, iſt eine kleine <lb/>Pauſe der Brütung nicht von weſentlichem Nachteil und hat <lb/>wahrſcheinlich nur zur Folge, daß die Atmung etwas ſchneller <lb/>vor ſich geht.</s>
  <s xml:id="echoid-s5547" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5548" xml:space="preserve">Man ſieht, nicht nur die weiſen Naturforſcher unſerer Zeit, <lb/>ſondern auch Hahn, Henne und Hühnchen, ſind von uralten <lb/>Zeiten her ganz und gar Liebig’s Anſicht!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5549" xml:space="preserve">Was nun eben das Hühnchen ſelbſt betrifft, ſo beeilt es <lb/>ſich vom ſechſten bis zum zehnten Tage, in allen ſeinen <lb/>Teilen dereinſt ein würdiges Mitglied der Vogel-Geſellſchaft <lb/>zu werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5550" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5551" xml:space="preserve">Zu dieſem Zwecke reckt und dehnt ſich ſein Hals ganz be-<lb/>ſonders ſtark. </s>
  <s xml:id="echoid-s5552" xml:space="preserve">Bisher war eigentlich ein Hals gar nicht vor-
<pb o="75" file="431" n="431"/>
handen, denn der Kopf und der Rumpf waren, wie man zu <lb/>ſagen pflegt, wie aus einem Guß; </s>
  <s xml:id="echoid-s5553" xml:space="preserve">nunmehr erſt wächſt der <lb/>Hals und zwar von der Rückſeite aus am kräftigſten, ſo daß <lb/>der Kopf ſich noch weiter nach unten neigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5554" xml:space="preserve">Indem aber der <lb/>Körper des Hühnchens ſelbſt wächſt, kommt die Zeit ſchnell <lb/>heran, wo es nicht mehr in ſeiner Querlage Platz hat, und es <lb/>dreht deshalb die Bruſt nach dem breiten Ende des Eies, ſo <lb/>daß es jetzt ſchon eher wie ein ordentliches Weſen der Länge <lb/>nach in ſeinem Bette liegen will.</s>
  <s xml:id="echoid-s5555" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5556" xml:space="preserve">Allein an dem breiten Ende iſt, wie wir wiſſen, der Luft-<lb/>raum, und da der Kopf des Hühnchens Urſache hat, ſich von <lb/>hier nicht zu weit zu entfernen, iſt es genötigt, ſowohl durch <lb/>den wachſenden Hals, der den Kopf nach unten ſchiebt, wie <lb/>durch die Drehung des ganzen Körpers ein eigenes Manöver <lb/>zu machen oder mit ſich machen zu laſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5557" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5558" xml:space="preserve">Dies beſteht nun in ſeiner Vollendung darin, daß der <lb/>Kopf ſich unter den Flügel legt und nicht etwa mit dem <lb/>Schnabel nach hinten, wie man ſich’s denken ſollte, ſondern <lb/>umgekehrt, mit dem Schnabel nach vorn, wodurch derſelbe, <lb/>wenn es ſo weit iſt, an den Rand des Luftraumes zu liegen <lb/>kommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5559" xml:space="preserve">Der Hals biegt ſich hierbei wie ein lateiniſches S erſt <lb/>nach der einen Seite rückwärts und dann am Kopf zurück und <lb/>vorwärts: </s>
  <s xml:id="echoid-s5560" xml:space="preserve">eine Lage, die den jungen Hühnern, ſelbſt wenn ſie <lb/>zur Welt gekommen ſind, ganz wohl zu thun ſcheint, wenigſtens <lb/>findet man, daß ſie dieſelbe zuweilen freiwillig annehmen, <lb/>ſelbſt wenn ſie nichts in der Welt hindert, den Kopf ſtramm <lb/>zu halten.</s>
  <s xml:id="echoid-s5561" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5562" xml:space="preserve">Wir ſprechen hier freilich ſchon vom Flügel und Schnabel <lb/>des Hühnchens, obwohl es in dem Flügel noch nicht weit vor-<lb/>geſchritten iſt und ſich des Schnabels noch gar nicht rühmen <lb/>kann; </s>
  <s xml:id="echoid-s5563" xml:space="preserve">allein da es bisher ſo geſcheit war, zu ſeinen Gliedern <lb/>zu kommen, dürfen wir ſicher ſein, daß es ſich mit Flügel und <lb/>Schnabel auch ganz geſcheit machen wird; </s>
  <s xml:id="echoid-s5564" xml:space="preserve">denn Flügel und
<pb o="76" file="432" n="432"/>
Schnabel ſind eben die Erkennungszeichen des Vogels. </s>
  <s xml:id="echoid-s5565" xml:space="preserve">— Daß <lb/>dem ſo iſt, wollen wir ſofort ſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5566" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div203" type="section" level="1" n="138">
<head xml:id="echoid-head158" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXIII. Bis zum Auskriechen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5567" xml:space="preserve">Von den vielen Wundern der Entwickelung einzelner <lb/>Glieder und Körperteile am Hühnchen heben wir die Bildung <lb/>des Mundes und des Schnabels, ſowie die der Flügel be-<lb/>ſonders hervor, weil dieſe Teile in ihrer Form bekannt genug <lb/>als die Kennzeichen des Vogelgeſchlechts ſind, und deshalb die <lb/>Beſchreibung ihrer Entwickelung verſtändlicher wird, als die <lb/>von vielen anderen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5568" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5569" xml:space="preserve">Was den Mund des Tierchens betrifft, ſo entſteht er <lb/>eigentlich recht ſpät. </s>
  <s xml:id="echoid-s5570" xml:space="preserve">— Urſprünglich iſt, wie wir wiſſen, Kopf-, <lb/>Bruſt- und Bauchhöhle nur ein- und dasſelbe, und wenn ſich <lb/>dieſe unten unverſchloſſene Höhle durch die Abſchnürung zu <lb/>ſchließen anfängt, ſcheint weder ein Platz für einen ſo langen <lb/>Hals, noch gar für einen beſonderen Mund da zu ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s5571" xml:space="preserve">Erſt <lb/>ſpäter, wo der Hals gewiſſermaßen wie aus dem Rumpf her-<lb/>vorwächſt, ſondert ſich der Kopf vom Rumpf, und man be-<lb/>kommt einen ungefähren Begriff davon, wie ſich hier ein Mund <lb/>bilden könnte.</s>
  <s xml:id="echoid-s5572" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5573" xml:space="preserve">Gleichwohl iſt die Art und Weiſe, wie ſich der Mund <lb/>bildet, ſehr überraſchend.</s>
  <s xml:id="echoid-s5574" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5575" xml:space="preserve">Es zeigen ſich nämlich ſo ſonderbare Spaltungen und <lb/>Hervorragungen unter der Stirn des Tierchens, daß man <lb/>darauf ſchwören möchte, es wolle ſich hier ein Fiſch bilden, <lb/>deſſen Kiemen man vor ſich ſähe. </s>
  <s xml:id="echoid-s5576" xml:space="preserve">Dieſe Kiemen, die man <lb/>bereits am ſechſten Tage deutlich ſieht, geben ſich erſt am <lb/>zehnten Tage etwa als das zu erkennen, was ſie ſein ſollen <lb/>und zwar ſind ſie die Teile des Ober- und Unterkiefers, die <lb/>der Mund des Tieres werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5577" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="77" file="433" n="433"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5578" xml:space="preserve">Erſt ſehr ſpät ſpitzt ſich dieſer Mund und bekommt ſeinen <lb/>hornigen Überzug, den Schnabel, und da der Schnabel gerade <lb/>das Charakteriſtiſche des Vogels iſt, ſo kann man erſt jetzt das <lb/>Geſchöpf als ein Weſen bezeichnen, das zwar auf der Erde zu <lb/>leben beſtimmt iſt, das aber die ſchöne Gabe beſitzt, ſich zu-<lb/>weilen ſchwebend über die Erde zu erheben.</s>
  <s xml:id="echoid-s5579" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5580" xml:space="preserve">Hierzu bedarf es freilich der Flügel, und an den Flügeln <lb/>der Federn; </s>
  <s xml:id="echoid-s5581" xml:space="preserve">die Bildung der Flügel aber iſt ebenſo eigen-<lb/>tümlich, daß der Unkundige bei dem Beginn dieſer Bildung <lb/>kaum die Entwickelung derſelben ahnen möchte.</s>
  <s xml:id="echoid-s5582" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5583" xml:space="preserve">Anfangs laſſen ſich Flügel und Füße gar nicht unterſcheiden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5584" xml:space="preserve">Sie ſind vor dem ſechſten Tage nur unanſehnliche Leiſtchen, die <lb/>ſich wie ein Meißel anſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5585" xml:space="preserve">Ungefähr gleichzeitig mit der Aus-<lb/>bildung des Schnabels, der dem Tierchen den Charakter des <lb/>Vogels verleiht, bilden ſich auch die Flügel anders als die Füße <lb/>aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s5586" xml:space="preserve">Während die Füße ihre Einbiegung, alſo das Knie, nach <lb/>vorn richten, richtet ſich die Einbiegung des Flügels, alſo der <lb/>Ellenbogen, nach hinten, und die Lage iſt etwa am zehnten Tage <lb/>ſo, daß Knie und Ellenbogen ſich faſt berühren. </s>
  <s xml:id="echoid-s5587" xml:space="preserve">Während ſich <lb/>nun am Fuß die Zehen bilden, entſteht am Vorderarm des <lb/>Tierchens eine Art verkümmerte Hand, die aber nur zwei Finger <lb/>hat und zwar ſehr lange Finger; </s>
  <s xml:id="echoid-s5588" xml:space="preserve">denn dieſe Finger ſind eben <lb/>der Anſatz der Hauptſchwungfedern, die dereinſt das Geſchöpf <lb/>durch die Luft zu tragen beſtimmt ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s5589" xml:space="preserve">So ſonderbar dies <lb/>denen klingen mag, die da meinen, daß nur wir Menſchen und <lb/>höchſtens die Affen mit Händen geſegnet ſind, ſo richtig iſt es <lb/>dennoch, wenn die Naturforſcher in den Flügeln Arme, Hände <lb/>und Finger wiederfinden, freilich all dies in einer Weiſe um-<lb/>geſtaltet, wie es zum Nutzen des Geſchöpfes und zum Zweck <lb/>ſeiner Beſtimmung eingerichtet ſein muß.</s>
  <s xml:id="echoid-s5590" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5591" xml:space="preserve">Indem wir nunmehr mit dem nächſten Abſchnitt die Bil-<lb/>dung des Hühnchens ſo weit fortführen wollen, daß es zum <lb/>Auskriechen reif iſt, wollen wir nur noch eines weſentlichen
<pb o="78" file="434" n="434"/>
Teiles des Körpers erwähnen, der beſonders in der letzten Zeit <lb/>die völlige Ausbildung erhält; </s>
  <s xml:id="echoid-s5592" xml:space="preserve">es iſt dies ſolch ein Teil, der <lb/>dem Hühnchen, während es im Ei wohnt, zu gar nichts nützt, <lb/>den es aber ſofort wird gebrauchen müſſen, wenn es nur das <lb/>Licht dieſer Welt erblickt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5593" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5594" xml:space="preserve">Zwar gehört der größte Teil dieſer Glieder und Organe <lb/>zu dieſer Gattung. </s>
  <s xml:id="echoid-s5595" xml:space="preserve">Das Hühnchen braucht im Ei weder Füße <lb/>noch Flügel, weder Augen noch Ohren, weder Naſe noch Zunge. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5596" xml:space="preserve">Allein dieſe Körperteile ſind derart, daß ſie während des Lebens <lb/>in der Welt wenigſtens auf kurze Zeit gemißt werden können, <lb/>ja, während des Schlafes wirklich gemißt werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5597" xml:space="preserve">Dahingegen <lb/>giebt es Organe, die im Ei gar nichts zu thun haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s5598" xml:space="preserve">aber <lb/>ſofort nach dem Auszug aus dieſer Behauſung unausgeſetzt <lb/>durch das ganze Leben hindurch thätig ſein müſſen, ohne je-<lb/>mals ermüden zu dürfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5599" xml:space="preserve">Das hauptſächlichſte dieſer Organe <lb/>iſt die Lunge.</s>
  <s xml:id="echoid-s5600" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5601" xml:space="preserve">Die Lungen entſtehen als Ausſtülpungen aus dem innerſten <lb/>Keimblatt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5602" xml:space="preserve">Die weitere Bildung und die endliche Vollendung <lb/>geht erſt in der letzten Zeit der Brütung vor ſich, und in <lb/>dieſer ſtellt ſich die Lunge als ein feinverzweigtes Aderſyſtem <lb/>dar, um welches und durch welches hindurch ſich ein ebenſo <lb/>feinverzweigtes Syſtem von Luftwegen ſchlängelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5603" xml:space="preserve">Da das <lb/>Tierchen im Ei nicht mit der Lunge atmet, tritt auch das Blut <lb/>nicht aus dem Herzen in die Lunge, obwohl der Weg dahin <lb/>durch eine große Ader führt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5604" xml:space="preserve">Die Lunge iſt alſo im Ei zu <lb/>nichts zu gebrauchen, außerhalb desſelben aber, ſchon von der <lb/>erſten Minute ab bis zum Ende des Daſeins, nicht einen Augen-<lb/>blick zu miſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5605" xml:space="preserve">— Da aber die Lunge das Blut vom Herzen <lb/>empfängt und wieder gereinigt zum Herzen zurückſendet, und <lb/>dieſer Lauf des Blutes im Ei-Leben nicht ſtattfindet, ſo läßt <lb/>ſich’s denken, daß auch im Herzen im Augenblick des Eintritts <lb/>eines Geſchöpfes in die Welt eine weſentliche Veränderung vor-<lb/>gehen muß, und da wir eben dabei ſind, unſer lange gehegtes
<pb o="79" file="435" n="435"/>
Hühnchen in die Welt hinaus zu begleiten, wollen wir zu <lb/>ſeinem Abſchied von dem Ei-Leben oder ſeinem Willkommen <lb/>in dem Erdendaſein noch einen Liebesblick auf ſein Herz werfen, <lb/>wie es ſich in ſolchen feierlichen Augenblicken gebührt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5606" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div204" type="section" level="1" n="139">
<head xml:id="echoid-head159" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXIV. Wie das Hühnchen ſich reiſefertig für das</emph> <lb/><emph style="bf">Leben macht.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5607" xml:space="preserve">Der Augenblick, in welchem wir Menſchen geboren werden, <lb/>iſt von ſolcher plötzlichen Umwandlung unſeres innerſten Weſens <lb/>begleitet, daß man ſich nicht wundern darf, daß wir laut <lb/>ſchreiend dieſe Welt betreten. </s>
  <s xml:id="echoid-s5608" xml:space="preserve">In dieſer Beziehung hat es das <lb/>Hühnchen ſchon beſſer, denn die Umwandlung geſchieht nicht <lb/>ſo plötzlich und macht auch deshalb nicht einen ſo kräftigen <lb/>Eindruck auf den jungen Weltbürger, obgleich ſie ihrer Natur <lb/>nach ganz dieſelbe iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5609" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5610" xml:space="preserve">So lange nämlich die Lungen vor der Geburt unbenutzt <lb/>daliegen, ſo lange treibt das Herz kein Blut in dieſelben ein. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5611" xml:space="preserve">Es führt wohl eine große Ader vom Herzen zur Lunge und <lb/>von der Lunge wieder zu einer anderen Abteilung des Herzens; </s>
  <s xml:id="echoid-s5612" xml:space="preserve"><lb/>allein das Blut nimmt vor der Geburt nicht dieſen Umweg, <lb/>um von einem Teil des Herzens zum andern zu gelangen, <lb/>ſondern die Natur hat es ihm durch ein offenes Loch, das von <lb/>dem einen Teil des Herzens zum andern führt, bequemer ge-<lb/>macht, und es gebraucht dieſe Bequemlichkeit ganz ungeniert. </s>
  <s xml:id="echoid-s5613" xml:space="preserve"><lb/>Mit der Geburt aber, wo es gilt, die Lunge des jungen Welt-<lb/>weſens in Thätigkeit zu ſetzen und durch dieſelbe ſeinem Blute <lb/>den Sauerſtoff der Luft zuzuführen, da muß auch das Herz <lb/>eine Umwandlung erfahren, und dieſe beſteht eben darin, daß <lb/>es nicht mehr das Blut durch jenes Loch von einer Herz-<lb/>Abteilung zur andern treibt, ſondern dasſelbe zwingt, durch
<pb o="80" file="436" n="436"/>
die Adern zur Lunge und von dieſer erſt wieder zum Herzen <lb/>zu ſtrömen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5614" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5615" xml:space="preserve">Das Geborenwerden iſt daher ein Moment, der wirklich <lb/>ans Herz geht, und dasſelbe inſofern auch umwandelt, als <lb/>jenes Loch von einer Abteilung des Herzens zur anderen ſich <lb/>zu verſchließen anfängt, und zwar durch eine bereits vorrätige <lb/>Haut-Klappe, die ſich vor das Loch legt und ſpäter die Ver-<lb/>wachſung desſelben veranlaßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5616" xml:space="preserve">In ſeltenen Fällen kommt es <lb/>bei Menſchen vor, daß dieſe Verwachſung nicht vollſtändig iſt, <lb/>und dies bringt es zu wege, daß kohlenſäurehaltiges Blut in <lb/>den Körper tritt und die glücklicherweiſe ſeltene “Blauſucht” <lb/>verurſacht, gegen die kein Kraut gewachſen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5617" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5618" xml:space="preserve">Man wird geſtehen, daß dieſe innere Umwandlung des <lb/>Menſchen bei der Geburt höchſt bedeutſam iſt, und daß ſein <lb/>Aufſchreien an ſich gerechtfertigt, auch wenn es nicht außer-<lb/>ordentlich wohlthätig wäre, da durch dasſelbe ſo eigentlich der <lb/>Atmungsprozeß eingeleitet und das Welt-Leben erſt begonnen <lb/>wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s5619" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5620" xml:space="preserve">Dem Hühnchen indeſſen iſt mehr Zeit gelaſſen, dieſe Um-<lb/>wandlung durchzumachen, und die letzten Tage ſeines Ei-Lebens <lb/>leiten dieſelbe ſehr regelmäßig ein.</s>
  <s xml:id="echoid-s5621" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5622" xml:space="preserve">Wir zweibeinigen Geſchöpfe ohne Federn, wie ein griechi-<lb/>ſcher Philoſoph uns Menſchen nannte, werden ſehr gewaltſam <lb/>und unhöflich aus der Wohnung im Mutterſchoße exmittiert; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5623" xml:space="preserve">mit den Hühnchen geht es weit glimpflicher zu, denn ſchon <lb/>vom achtzehnten Tage an geſchehen die Wunder der Vorberei-<lb/>tung für dieſes Leben.</s>
  <s xml:id="echoid-s5624" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5625" xml:space="preserve">Faſſen wir die Geſamterſcheinungen dieſer letzten Tage des <lb/>Ei-Lebens zuſammen, ſo finden wir, daß Dotter und Eiweiß <lb/>faſt ganz verſchwunden ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s5626" xml:space="preserve">Der Dotterſack, der am Nabel <lb/>hängt, hat nur noch wenig Flüſſigkeit in ſich und ſchlüpft end-<lb/>lich vor dem Auskriechen aus dem Ei ganz und gar in den <lb/>Leib des Hühnchens hinein. </s>
  <s xml:id="echoid-s5627" xml:space="preserve">Hierdurch erſt erhält der Leib
<pb o="81" file="437" n="437"/>
des Hühnchens die Geſtalt, in welcher ſein Schwanz auf-<lb/>gerichtet iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5628" xml:space="preserve">Der Harnſack, der das Atmungsgeſchäft verſehen <lb/>hatte, thut dies auch in den letzten Tagen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5629" xml:space="preserve">aber er dorrt nach <lb/>und nach zuſammen und klebt dabei an die Eiſchale an, ſobald <lb/>das Hühnchen anfängt, durch die Lungen zu atmen, was oft <lb/>ſchon am zwanzigſten Tage der Fall iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s5630" xml:space="preserve">wobei die Luft im <lb/>Luftraum den Stoff für die erſten Atemzüge unſeres Geſchöpfes <lb/>darbietet. </s>
  <s xml:id="echoid-s5631" xml:space="preserve">Hat aber einmal die Atmung begonnen, ſo wird ſie <lb/>fortgeſetzt, und in demſelben Maße ſtirbt der Kreislauf des <lb/>Blutes durch den Harnſack ab, und dieſer dient nur noch dazu, <lb/>mit ſeinen feinen und groben Ader-Geweben eine zierliche <lb/>Tapete an den Wänden des Eies zu bilden, ſo daß die Woh-<lb/>nung des Hühnchens beim Ausziehen desſelben ſchöner iſt als <lb/>bei deſſen Einzug. </s>
  <s xml:id="echoid-s5632" xml:space="preserve">Ein Teil des Harnſackes aber ſchnürt ſich <lb/>in der Nähe des Nabels vollſtändig ab, wächſt in die Bauch-<lb/>höhle hinein und verbindet ſich mit den Harnorganen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5633" xml:space="preserve">Beim <lb/>Menſchen und den Säugetieren entſteht aus demſelben Organ <lb/>die Harnblaſe.</s>
  <s xml:id="echoid-s5634" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5635" xml:space="preserve">Dem Hühnchen ſcheint daher die alte Wohnung gar nicht <lb/>ſo unbehaglich, und es übereilt ſich keineswegs bei der Räu-<lb/>mung derſelben. </s>
  <s xml:id="echoid-s5636" xml:space="preserve">Seine Ziehzeit beträgt zwei Tage, und es <lb/>hat den Vorzug vor dem Menſchen, ſich im vollen Sinne des <lb/>Wortes die Welt erſt anſehen zu können, bevor es in dieſelbe <lb/>ſeinen Einzug hält.</s>
  <s xml:id="echoid-s5637" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5638" xml:space="preserve">Zu dieſem Zwecke pickt der Schnabel am Luftraum und <lb/>durchbricht denſelben; </s>
  <s xml:id="echoid-s5639" xml:space="preserve">ſodann macht er ſich an die Eiſchale und <lb/>hämmert ſo lange daran, bis ein Riß da iſt oder ein Stückchen <lb/>abſpringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5640" xml:space="preserve">Die eindringende Luft wird nun kräftiger geatmet; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5641" xml:space="preserve">allein die eingeengte Lunge geſtattet keine recht tiefe Atmung <lb/>und veranlaßt das Hühnchen, ſein Gefängnis weiter auszu-<lb/>brechen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5642" xml:space="preserve">Nach und nach vergrößert es daher das Loch in der <lb/>Schale, bis es den Kopf herausſtecken kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s5643" xml:space="preserve">Jetzt erſt ſchöpft <lb/>es frei und voll Atem, und ſo wie dies der Fall iſt, ſtirbt der</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5644" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s5645" xml:space="preserve">Bernſtein, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s5646" xml:space="preserve">Volksbücher IX.</s>
  <s xml:id="echoid-s5647" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="82" file="438" n="438"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5648" xml:space="preserve">Harnſack ganz und gar ab; </s>
  <s xml:id="echoid-s5649" xml:space="preserve">auch die Stelle, wo er am Nabel <lb/>angewachſen iſt, verdorrt und reißt ab, ſobald das Hühnchen <lb/>ſich bewegt, und ſomit iſt das Geſchöpf frei, und es ſteht ihm <lb/>nichts im Wege, aus dem Gefängnis zu kommen, als die nur <lb/>noch ſehr ſchwache Eiſchale.</s>
  <s xml:id="echoid-s5650" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5651" xml:space="preserve">Das Hühnchen beeilt ſich aber keineswegs hiermit. </s>
  <s xml:id="echoid-s5652" xml:space="preserve">Es <lb/>liegt vielmehr oft ſtundenlang mit dem Kopf zum Fenſter <lb/>heraus und drückt nur von Zeit zu Zeit gegen die Eiſchale, <lb/>um ſie ganz zu ſprengen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5653" xml:space="preserve">Iſt dies aber erfolgt, ſo verſteht <lb/>es ſchon die eben noch ſehr zuſammengepreßten Beinchen zu <lb/>regen und thut ganz meiſterlich ſeinen Schritt in das Daſein, <lb/>das Menſchenkind beſchämend, das unfreiwillig und unbeholfen <lb/>in die Welt hinausgeſtoßen wird und dieſe nur durch ſein un-<lb/>melodiſches Geſchrei begrüßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5654" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div205" type="section" level="1" n="140">
<head xml:id="echoid-head160" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXV. Gin gedankenſchwerer Abſchied vom</emph> <lb/><emph style="bf">Hühnchen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5655" xml:space="preserve">So thut denn das Hühnchen einen Schritt ins Leben hin-<lb/>aus und läßt die Schale zurück, nur noch mit wenig Flüſſig-<lb/>keit, die es ſelbſt ausgeſchieden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5656" xml:space="preserve">So tritt es hinaus, ein Weſen, <lb/>das man in Wahrheit nur ein lebendig gewordenes Ei, oder <lb/>richtiger noch ein lebendig gewordenes Keimfleckchen nennen <lb/>kann, welches, früher ein Teil des Eies, jetzt das Ei in höchſt <lb/>wunderbarer Weiſe aufgegeſſen hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s5657" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5658" xml:space="preserve">Die Stoffe des Eies ſind noch vorhanden; </s>
  <s xml:id="echoid-s5659" xml:space="preserve">aber in ver-<lb/>wandelter Geſtalt und in ganz verändertem Zuſtande. </s>
  <s xml:id="echoid-s5660" xml:space="preserve">Vom <lb/>Ei ging nichts verloren und von der Wärme noch weniger. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5661" xml:space="preserve">Denn die 37 Grad Wärme, die man einundzwanzig Tage <lb/>lang ihm gegeben hat, beſitzt das Tierchen nicht nur bei ſeiner <lb/>Geburt, ſondern wird dieſelbe auch für die ganze Dauer ſeines
<pb o="83" file="439" n="439"/>
Lebens fort und fort beſitzen, und wenn es ein Huhn wird, <lb/>wird es dieſe Wärme reichlich anderen Eiern mitteilen, um <lb/>gleiche Weſen aus dem Nichts in das Daſein hervorzurufen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5662" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5663" xml:space="preserve">Wer vermag das tiefe Rätſel zu löſen, das ſolch ein Weſen <lb/>dem forſchenden Geiſt der Meuſchen ſtellt?</s>
  <s xml:id="echoid-s5664" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5665" xml:space="preserve">Die Wiſſenſchaft auf ihrem jetzigen Standpunkt vermißt <lb/>ſich noch nicht, an die Auflöſung dieſes Rätſels zu gehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5666" xml:space="preserve">Sie <lb/>hat genug mit der Aufgabe, genau zu erforſchen, wie all’ dies <lb/>gekommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5667" xml:space="preserve">Wieſo, warum, wodurch all’ dies ſo gekommen? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5668" xml:space="preserve">das wagt ſie noch nicht zu beantworten; </s>
  <s xml:id="echoid-s5669" xml:space="preserve">denn das Rätſel des <lb/>Lebens liegt noch verſchloſſen vor dem Menſchengeiſte. </s>
  <s xml:id="echoid-s5670" xml:space="preserve">Er hat <lb/>mit all’ ſeinem Forſcherdrang noch nicht vermocht, die Brücke <lb/>auszuſpähen, welche den Keim zum Leben führt, und er ſteht <lb/>ſtumm und ſtaunend an dieſer erhabenen Grenze, das Wunder <lb/>ſchauend, aber nicht faſſend.</s>
  <s xml:id="echoid-s5671" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5672" xml:space="preserve">Das Wunder, das ſich vor unſern Augen entfaltet, iſt ſo <lb/>überaus gewaltig und großartig, daß wir vorerſt genug zu <lb/>thun haben, wenn wir ſeine Größe ganz erfaſſen wollen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5673" xml:space="preserve">Das <lb/>Wunder zu erklären, wird erſt eine Aufgabe einer viel weiter <lb/>in der Forſchung vorgedrungenen Menſchheit ſein, die einſt das <lb/>Recht haben wird, ſtolz auf uns und auf all’ das, was wir <lb/>“Wiſſen” nennen, herabzublicken.</s>
  <s xml:id="echoid-s5674" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5675" xml:space="preserve">Es iſt wahr: </s>
  <s xml:id="echoid-s5676" xml:space="preserve">unſer Wiſſen iſt ein Stückwerk und winzig; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5677" xml:space="preserve">unſere großſprechende Weisheit verſchwindet vor dem ſtummen <lb/>Walten in der Natur, das vor unſeren Augen wirkend und <lb/>ſchaffend thätig iſt und zur Beſchämung unſerer Weisheit nach <lb/>einem weiſen, zweckentſprechenden Plane thätig iſt, der genau <lb/>berechnet iſt, ſo genau, daß wir nur Schauer der Verwunde-<lb/>rung empfinden, wenn wir dem Plane nachzurechnen verſuchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5678" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5679" xml:space="preserve">Das Hühnchen iſt in dem Ei entſtanden, in einem Raume, <lb/>der rings abgeſchloſſen war von der ganzen Welt, und dennoch <lb/>hat ſich dies Weſen darin gebildet, deſſen ganzes Daſein für <lb/>dieſe ihm bis dahin völlig fremde Welt eingerichtet iſt!</s>
</p>
<pb o="84" file="440" n="440"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5680" xml:space="preserve">Im Ei, wohin das Licht nicht gedrungen iſt, hat ſich ein <lb/>Auge ausgebildet, genau ſo geſchaffen, wie es das Licht der <lb/>Sonne erfordert, welche zwanzig Millionen Meilen weit ent-<lb/>fernt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5681" xml:space="preserve">Man kann ein Ei in völliger Finſternis ausbrüten <lb/>laſſen, und doch wird das Hühnchen Augen haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s5682" xml:space="preserve">Würde es <lb/>auch Augen haben, wenn die Sonne nicht vorhanden wäre? </s>
  <s xml:id="echoid-s5683" xml:space="preserve">— <lb/>Schwerlich würde dies der Fall ſein! Wer aber vermag uns <lb/>zu ſagen, welch ein naturgemäßes Band vorhanden iſt zwiſchen <lb/>dem Auge eines Hühnchens, das ſich in vollkommenſter Finſternis <lb/>bildet, und der unendlich entfernten Sonne, die den Weltraum <lb/>erleuchtet?</s>
  <s xml:id="echoid-s5684" xml:space="preserve">!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5685" xml:space="preserve">Im Ei, in einem verſchloſſenen Raume, in welchem die <lb/>Luft nur äußerſt ſpärlich Eingang findet, bildet ſich ein Vogel <lb/>aus, der ganz und gar geſchaffen iſt, ſich in den Luftraum <lb/>über uns ſchwebend zu erheben. </s>
  <s xml:id="echoid-s5686" xml:space="preserve">Die Weisheit der Weiſeſten <lb/>würde, in ſolchem Raume abgeſchloſſen, nicht zu ahnen ver-<lb/>mögen, daß eine Erde vorhanden, daß dieſe Erde von einem <lb/>Luftmeer umgeben iſt, und daß es Werkzeuge geben könne, <lb/>durch welche man ſich aufzuſchwingen vermag, um in dieſem <lb/>Meere zu ſchweben. </s>
  <s xml:id="echoid-s5687" xml:space="preserve">Und doch hat das Hühnchen, im Ei ver-<lb/>ſchloſſen, Flügel erhalten, ganz zweckentſprechend für einen Flug <lb/>in der Luft. </s>
  <s xml:id="echoid-s5688" xml:space="preserve">Sein Rücken iſt feſter gefugt, als der nicht fliegen-<lb/>der Weſen, damit er ſtark genug ſei, mit den Flügeln, die an <lb/>ihm haften, den Leib zu tragen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5689" xml:space="preserve">Die Knochen des Hühnchens <lb/>ſind hohl, damit es leicht ſei für den Aufſchwung über das <lb/>feſte Erdenrund! Seine Flügel ſind befiedert zum leichten, <lb/>wirkſamen Flügelſchlage. </s>
  <s xml:id="echoid-s5690" xml:space="preserve">Seine ganze Geſtalt iſt ſo gebaut, <lb/>daß ſie leicht die Luft durchſchneidet, und ſeine Lunge iſt kräftig <lb/>ausgebildet, damit ſie nicht ermattet in der anſtrengenden <lb/>Thätigkeit des Fluges.</s>
  <s xml:id="echoid-s5691" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5692" xml:space="preserve">Und wollten wir jedes einzelne Glied dieſes Weſens be-<lb/>trachten, wir würden nicht Raum genug finden, die Plan-<lb/>mäßigkeit ſeines Baues und die äußerſt genaue Berechnung zu
<pb o="85" file="441" n="441"/>
bewundern, mit welcher ein Geſchöpf, das in einem völlig <lb/>von der Erde abgeſchloſſenen Raume ſich bildete, ausgeſtattet <lb/>wurde, um ganz und gar für das Daſein auf der Erde zu paſſen!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5693" xml:space="preserve">Es iſt alſo nicht das Rätſel des Lebens allein, das uns <lb/>hier entgegentritt, ſondern es iſt der wohlberechnete Plan des-<lb/>ſelben, der dieſes Weſen, noch bevor es wird, genau ſo ge-<lb/>ſtaltet und einrichtet, wie es ſein Daſein in der Außenwelt <lb/>notwendig macht!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5694" xml:space="preserve">Mit ſtummem Staunen erfüllt uns daher ein ernſter Blick <lb/>in die Bildungsſtätte dieſes lebenden Weſens, und haben wir <lb/>verſucht, mit Heiterkeit und Leichtigkeit einen Überblick der Ent-<lb/>wickelung des Eies zu geben, ſo wollen wir es nicht leugnen, <lb/>daß wir nunmehr vor dem lebenden Hühnchen mit ſchauernder <lb/>Bewunderung ſtehen und von dem Thema gedankenſchweren <lb/>Abſchied nehmen — gedankenſchwerer, als wir es begonnen <lb/>haben!</s>
</p>
<pb file="442" n="442"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div206" type="section" level="1" n="141">
<head xml:id="echoid-head161" xml:space="preserve"><emph style="bf">Dom Hypnotismus.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head162" xml:space="preserve"><emph style="bf">I. Einleitende Bemerkungen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5695" xml:space="preserve">Man hört in unſeren Tagen ſo häufig vom Hypnotismus, <lb/>und der Laie weiß nie, was er mit dieſem Ding anfangen <lb/>ſoll und was es beſagen will. </s>
  <s xml:id="echoid-s5696" xml:space="preserve">Entweder ſtellt er ſich darunter <lb/>ganz geheimnisvolle Zauberkünſte vor, die womöglich nur von <lb/>raffinierten Verbrechern benutzt werden, um ſich in ſicherer <lb/>und unentdeckbarer Weiſe Vorteile irgend welcher Art zu ver-<lb/>ſchaffen, oder, was noch häufiger geſchieht, er hält die ganze <lb/>Sache für Schwindel, ſetzt ſich mit einem erhabenen Lächeln <lb/>über den “Unſinn” hinweg und denkt: </s>
  <s xml:id="echoid-s5697" xml:space="preserve">“Wie können die Menſchen <lb/>nur ſo dumm ſein und an ſolchen albernen, plumpen Betrug <lb/>glauben! Und daß ſelbſt die Zeitungen ſo was drucken können, <lb/>iſt einfach ein Skandal!”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5698" xml:space="preserve">Daher iſt die Kenntnis des hypnotiſchen Zuſtandes bisher <lb/>erſt auf ſehr kleine Kreiſe im Volke beſchränkt, zumal ſelbſt <lb/>derjenige, der einmal Gelegenheit hatte einer hypnotiſchen <lb/>Sitzung beizuwohnen, noch keineswegs von ſeinem Unglauben <lb/>bekehrt zu werden pflegt, falls er ſich nicht völlig gegen jeden <lb/>Schwindel oder Scherz geſichert weiß. </s>
  <s xml:id="echoid-s5699" xml:space="preserve">Im Gegenteil: </s>
  <s xml:id="echoid-s5700" xml:space="preserve">wer <lb/>ſich nicht völlig auf die Glaubwürdigkeit und Zuverläſſigkeit <lb/>des Hypnotiſeurs und des Hypnotiſierten verlaſſen kann, iſt <lb/>nach Beendigung der hypnotiſchen Sitzung meiſt noch viel mehr <lb/>geneigt an einen raffinierten und geſchickten Betrug zu glauben
<pb o="87" file="443" n="443"/>
und erklärt das, was er geſehen hat, für “Mumpitz”, um einen <lb/>Berliner Ausdruck zu gebrauchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5701" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5702" xml:space="preserve">Und dennoch: </s>
  <s xml:id="echoid-s5703" xml:space="preserve">der Hypnotismus beruht keineswegs auf <lb/>Schwindel, vielmehr iſt er auf dem beſten Wege eine Wiſſenſchaft <lb/>für ſich zu werden und in die geſamte mediziniſche Wiſſenſchaft <lb/>epochemachend einzugreifen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5704" xml:space="preserve">Wir wollen deshalb verſuchen, im <lb/>folgenden einen kurzen Überblick über ſeine Bedeutung, ſeine Er-<lb/>ſcheinungen und “Wunder” zu geben und können dabei von vorn-<lb/>herein die Verſicherung abgeben, daß wir es hier ganz und gar <lb/>nicht mit ſogenannten “übernatürlichen” Dingen zu thun haben, <lb/>ſondern daß wir es nur mit einer ſeltſamen, ſtarken Steigerung <lb/>allbekannter und alltäglicher Ereigniſſe zu thun haben, wenn-<lb/>gleich man ſich noch nicht völlig darüber klar iſt, was für <lb/>phyſiologiſche Veränderungen im Körper des Hypnotiſierten <lb/>vorgehen, welche den hypnotiſchen Zuſtand bedingen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5705" xml:space="preserve">Das <lb/>Weſen des Hypnotismus beruht auf der ſogenannten “Sug-<lb/>geſtion”; </s>
  <s xml:id="echoid-s5706" xml:space="preserve">ſehen wir alſo zunächſt einmal zu, was das für ein <lb/>Ding iſt!</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div207" type="section" level="1" n="142">
<head xml:id="echoid-head163" xml:space="preserve"><emph style="bf">II. Das Weſen der Suggeſtion.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5707" xml:space="preserve">Unter Suggeſtion im weiteſten Sinne kann man jede Be-<lb/>einfluſſung eines Willens durch einen anderen, der ihm ſeine <lb/>Gedankenrichtung aufzwingt, verſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5708" xml:space="preserve">Wenn man dieſe Defi-<lb/>nition gelten läßt, ſo übt ſchließlich jedes Wort, das wir hören <lb/>oder leſen, eine Suggeſtion auf uns aus, da ja überhaupt der <lb/>einzige Zweck, weshalb es geſprochen oder geſchrieben iſt, der iſt, <lb/>unſere Gedanken in eine beſtimmte Bahn zu lenken. </s>
  <s xml:id="echoid-s5709" xml:space="preserve">Doch da bei <lb/>dieſem Vorgang ſtets auch unſer eigener Wille im Spiel iſt, der <lb/>ſich dem fremden Einfluß immer mehr oder weniger widerſetzt <lb/>oder ihn doch kritiſiert, bevor wir ihn uns vielleicht zu eigen
<pb o="88" file="444" n="444"/>
machen, ſo wirkt das geſprochene Wort immer nur anregend, <lb/>aber nicht beſtimmend auf uns ein; </s>
  <s xml:id="echoid-s5710" xml:space="preserve">dieſe Art der Suggeſtion <lb/>zwingt unſere Gedanken in die gewünſchte Bahn, kann ſie aber <lb/>nie ohne unſeren eigenen Willen zum gewünſchten Ziele führen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5711" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5712" xml:space="preserve">Was dagegen gewöhnlich als Suggeſtion bezeichnet wird, <lb/>iſt Beeinfluſſung ohne oder gar wider unſeren Willen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5713" xml:space="preserve">Auch <lb/>dieſe kann in der verſchiedenſten Weiſe und unter den ver-<lb/>ſchiedenſten Umſtänden auf uns wirken.</s>
  <s xml:id="echoid-s5714" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5715" xml:space="preserve">Wenn ich plötzlich jemandem, der vor mir hergeht, ein <lb/>“Halt!” zurufe, ſo ſteht er unwillkürlich ſtill, zum mindeſten <lb/>zögert er, weiter vorzuſchreiten; </s>
  <s xml:id="echoid-s5716" xml:space="preserve">wenn ich zu jemandem ſage: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5717" xml:space="preserve">“Sie werden ja ganz rot”, ſo errötet er wirklich. </s>
  <s xml:id="echoid-s5718" xml:space="preserve">Dies ſind <lb/>momentan wirkende Suggeſtionen, im erſten Fall ohne, im <lb/>zweiten ſogar oft gegen den Willen des Betroffenen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5719" xml:space="preserve">Auch eine <lb/>andere, ſehr häufige Erſcheinung iſt hierher zu rechnen, nämlich <lb/>die, daß viele Menſchen beim Anblick eines Gähnenden unwill-<lb/>kürlich mitgähnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5720" xml:space="preserve">Es wird ihnen nämlich dabei der Gedanke an <lb/>Müdigkeit “ſuggeriert”, und ſobald ſie daran nur einigermaßen <lb/>intenſiv denken, müſſen ſie regelmäßig gähnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5721" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5722" xml:space="preserve">Doch dieſe genannten “<emph style="sp">Wachſuggeſtionen</emph>“ — wie wir <lb/>ſie im Gegenſatz zu den im hypnotiſchen Schlaf erzielten <lb/>nennen wollen —, die wohl jeder ſchon häufig an ſich zu be-<lb/>obachten Gelegenheit hatte, vermögen nie von hervorragender <lb/>Bedeutung für den Menſchen zu ſein, da ſie eben nur eine vor-<lb/>übergehende, momentane Beeinfluſſung des Willens hervor-<lb/>rufen, ohne ihre Wirkungen auch auf die Folgezeit zu er-<lb/>ſtrecken. </s>
  <s xml:id="echoid-s5723" xml:space="preserve">Von weit größerer Wichtigkeit können dagegen ſchon <lb/>diejenigen Wachſuggeſtionen ſein, welche von länger dauerndem <lb/>Einfluſſe auf den Menſchen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s5724" xml:space="preserve">Wir wollen nun einmal <lb/>die einzelnen Phaſen der Suggeſtionen in ihrer allmählichen <lb/>Steigerung von den noch ziemlich unſcheinbaren Anfängen der <lb/>dauernden Wachſuggeſtionen bis zu den höchſten Stadien des <lb/>hypnotiſchen Zuſtandes durch Beiſpiele vorführen, und wir
<pb o="89" file="445" n="445"/>
werden ſehen, daß der Hypnotismus eben nichts anderes iſt <lb/>als eine Potenzierung ganz gewöhnlicher und alltäglicher <lb/>Erſcheinungen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5725" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div208" type="section" level="1" n="143">
<head xml:id="echoid-head164" xml:space="preserve"><emph style="bf">III. Von den “Wachſuggeſtionen”.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5726" xml:space="preserve">Greifen wir zunächſt aus der Fülle der Beiſpiele einige <lb/>wenige heraus, die zeigen mögen, wie die dauernde Wach-<lb/>ſuggeſtion, die ſich in den meiſten Fällen mit dem Begriff <lb/>“Einbildung” decken wird, einen Einfluß auf das menſchliche <lb/>Leben gewinnen kann, deſſen mögliche Tragweite vorläufig <lb/>noch garnicht abzuſehen iſt und ſtets gewaltig unterſchätzt zu <lb/>werden pflegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5727" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5728" xml:space="preserve">Beginnen wir mit einem Beiſpiel ganz einfacher Art: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5729" xml:space="preserve">Als im Anfang der 50er Jahre der berühmte franzöſiſche <lb/>Komponiſt <emph style="sp">Hector Berlioz</emph> (1803—1869) wegen ſeiner <lb/>rauſchenden Muſik viel getadelt wurde, komponierte er ein <lb/>ganz ſchlichtes Werk, das er als das Erzeugnis eines alten <lb/>Muſikers aus dem 17. </s>
  <s xml:id="echoid-s5730" xml:space="preserve">Jahrhundert ausgab. </s>
  <s xml:id="echoid-s5731" xml:space="preserve">Es wurde auf-<lb/>geführt, und man pries die edle Einfachheit und die anſpruchs-<lb/>loſe Schönheit der Muſik und erklärte kurz und bündig, die <lb/>neue Zeit ſei unfähig, derartiges zu ſchaffen, wobei beſonders <lb/>Berlioz ſo manchen Seitenhieb abbekam, bis der Komponiſt <lb/>den kleinen Scherz, den er ſich erlaubt hatte, aufklärte und <lb/>nun die Lacher auf ſeine Seite brachte.</s>
  <s xml:id="echoid-s5732" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5733" xml:space="preserve">Dies Beiſpiel beweiſt ſchon, wie mächtig die Einbildung <lb/>uns oft beherrſcht, wenn wir keinen Grund haben, an der <lb/>Wahrheit eines uns ſuggerierten Gedankens zu zweifeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s5734" xml:space="preserve">Gewiß <lb/>hat damals ſogar mancher in dem Muſikwerk ganz ſpezielle <lb/>Eigentümlichkeiten des angeblichen Komponiſten herausgefunden, <lb/>nur weil er der felſenfeſten Überzeugung war, dieſe Eigen-<lb/>tümlichkeiten <emph style="sp">müßten</emph> ſich darin finden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5735" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="90" file="446" n="446"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5736" xml:space="preserve">Wir ſehen an dieſem Beiſpiel, und wir werden an den <lb/>folgenden das gleiche ſehen, daß dieſe Einbildungen durch unbe-<lb/>dingten, blinden Glauben verurſacht werden, oft auch durch den <lb/>ſogenannten Autoritätsglauben. </s>
  <s xml:id="echoid-s5737" xml:space="preserve">Wie über alle Maßen gewaltig <lb/>dieſer letztere wirken kann, davon haben wir erſt vor wenigen <lb/>Jahren ein frappantes Beiſpiel erlebt, als im Herbſt 1890 <lb/>plötzlich die Nachricht von der Heilkraft des Kochſchen Tuber-<lb/>kulin auftauchte. </s>
  <s xml:id="echoid-s5738" xml:space="preserve">Eine große Reihe von Ärzten wollte damals <lb/>an Kranken, die mit dem neuen Mittel behandelt wurden, <lb/>Erſcheinungen beobachtet haben, wie man ſie erhoffte, wie ſie <lb/>aber leider in Wirklichkeit nie eingetreten ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s5739" xml:space="preserve">Doch die bloße <lb/>Autorität Kochs genügte, um zahlreiche Menſchen Dinge beob-<lb/>achten zu laſſen, die garnicht vorhanden waren.</s>
  <s xml:id="echoid-s5740" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5741" xml:space="preserve">Dieſe feſte und unverrückte Zuverſicht, dies und jenes <lb/><emph style="sp">müſſe</emph> unter gewiſſen Bedingungen ſtattfinden, kann auf den <lb/>Menſchen mit ungeheurer, ungeahnter Kraft wirken; </s>
  <s xml:id="echoid-s5742" xml:space="preserve">ſie kann <lb/>ihn Wunderdinge verrichten laſſen, die er bei nüchterner <lb/>Überlegung, unter gewöhnlichen Verhältniſſen nie vollbringen <lb/>würde, ſie kann eine Energie, eine Willens- und Thatkraft in <lb/>ihm erwecken, von deren Größe er bis dahin keine Ahnung <lb/>hatte, ſie verleiht gar oft jenes titanenhafte, himmelſtürmende, <lb/>alle Hinderniſſe beſiegende Selbſtbewußtſein, das wir Be-<lb/>geiſterung nennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5743" xml:space="preserve">Der feſte Glaube, daß ein Führer an <lb/>ihrer Spitze ſtände, der unüberwindlich ſei, ließ die Soldaten <lb/>des eben verſtorbenen Cimon bei Salamis auf Cypern auch <lb/>ohne Feldherrn den Sieg erringen (449 v. </s>
  <s xml:id="echoid-s5744" xml:space="preserve">Chr.)</s>
  <s xml:id="echoid-s5745" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s5746" xml:space="preserve">Das Gerücht, <lb/>daß ein himmliſches Weſen in voller Rüſtung auf dem Ölberg <lb/>erſchienen ſei, um ihnen ſiegverheißend zuzuwinken, ließ die <lb/>erſchienen Kreuzfahrer nach wochenlangen, vergeblichen Mühen <lb/>Jeruſalem endlich ſtürmen (15. </s>
  <s xml:id="echoid-s5747" xml:space="preserve">Juli 1099); </s>
  <s xml:id="echoid-s5748" xml:space="preserve">die unerſchütterliche <lb/>Zuverſicht, daß eine gottgeſandte Retterin mit ihnen kämpfe, <lb/>führte die Truppen der Jeanne d’Arc, der “Jungfrau von <lb/>Orleans”, nachdem ſie vorher viele Jahre hindurch in jedem
<pb o="91" file="447" n="447"/>
Treffen geſchlagen waren, von Sieg zu Siege (1429). </s>
  <s xml:id="echoid-s5749" xml:space="preserve">An-<lb/>dererſeits haben Heere, die entmutigt und zaghaft, in der Er-<lb/>wartung, geſchlagen zu werden, in den Kampf gingen, noch <lb/>ſtets eine Niederlage zu verzeichnen gehabt, ſo die Dorer nach <lb/>Kodrus’ Tod, die Römer bei Cannae, die Truppen des Hannibal <lb/>bei Zama, die des Brutus bei Philippi, des Barbaroſſa bei <lb/>Legnano, Karls XII. </s>
  <s xml:id="echoid-s5750" xml:space="preserve">bei Pultawa u. </s>
  <s xml:id="echoid-s5751" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s5752" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s5753" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5754" xml:space="preserve">Daß aber ſogar das körperliche Wohlbefinden des Ein-<lb/>zelnen in einer faſt unglaublichen Weiſe durch Einbildungen <lb/>beeinflußt zu werden vermag, erſcheint vielleicht ſchon wunder-<lb/>barer, dennoch aber iſt es Thatſache, daß nicht nur Gemüts-<lb/>ſtimmungen, ſondern ſelbſt Krankheiten durch die bloße Ein-<lb/>bildung weſentlich beeinflußt bezw. </s>
  <s xml:id="echoid-s5755" xml:space="preserve">beſeitigt werden können. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5756" xml:space="preserve">Giebt man jemanden Brotpillen oder ſonſtige harmloſe Stoffe <lb/>als Abführmittel ein, ſo ſtellt ſich infolge dieſer Täuſchung <lb/>ſehr häufig Durchfall ein, giebt man ihm Zuckerwaſſer oder <lb/>etwas Ähnliches als Schlafmittel ein, ſo wird dadurch in <lb/>vielen Fällen die Schlafloſigkeit thatſächlich beſeitigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5757" xml:space="preserve">Auch iſt <lb/>es bekannt, daß die “Beſprechungen” der Kopfroſe und einiger <lb/>anderer Krankheiten nicht ſelten wirklich von Erfolg begleitet <lb/>ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s5758" xml:space="preserve">auch dies iſt ein Einfluß der Suggeſtion, der freilich <lb/>offenbar ſeine Wirkung ſofort verfehlen wird, wenn der Patient <lb/>Zweifel an der Wirkung des Mittels hegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5759" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5760" xml:space="preserve">Ja, noch mehr: </s>
  <s xml:id="echoid-s5761" xml:space="preserve">ſelbſt gelähmte Gliedmaßen können durch <lb/>die bloße Kraft der Einbildung, alſo durch Suggeſtion, wieder <lb/>geſund werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5762" xml:space="preserve">Das Wallfahrten zu geheiligten Stätten, <lb/>Wunderbrunnen, heiligen Röcken u. </s>
  <s xml:id="echoid-s5763" xml:space="preserve">dgl. </s>
  <s xml:id="echoid-s5764" xml:space="preserve">m. </s>
  <s xml:id="echoid-s5765" xml:space="preserve">kann wirklich und <lb/>wahrhaftig Geneſung ſchaffen und hat es ſchon häufig gethan. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5766" xml:space="preserve">Der bekannteſte derartige Fall iſt die durch den Trierer Rock <lb/>bewirkte Heilung der “Freifrau von Droſte-Viſchering” (1844), <lb/>die ja auch in einem luſtigen Studentenlied verherrlicht und <lb/>verewigt wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s5767" xml:space="preserve">Auf den gleichen Urſachen beruhen auch ſo <lb/>manche wirklich geglückte Charlatan- und Quackſalberkuren.</s>
  <s xml:id="echoid-s5768" xml:space="preserve">
<pb o="92" file="448" n="448"/>
Immer aber kann eine derartige Kur nur dann von Erfolg gekrönt <lb/>ſein, wenn der Patient der felſenfeſten Überzeugung iſt, er <lb/>müſſe geheilt werden, und auch dann nur, wenn in dem ge-<lb/>lähmten Glied alle Nerven u. </s>
  <s xml:id="echoid-s5769" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s5770" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s5771" xml:space="preserve">intakt ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s5772" xml:space="preserve">ſind dieſe <lb/>durchſchnitten, ſo kann auch das gläubigſte Gemüt nichts helfen, <lb/>und ſollten ſelbſt tauſend heilige Röcke all ihren wunderthätigen <lb/>Einfluß aufwenden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5773" xml:space="preserve">— Übrigens iſt es nicht unwahrſcheinlich, <lb/>daß auch manche Heilungen Chriſti auf ähnliche Weiſe wirklich <lb/>ſtattgefunden haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s5774" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div209" type="section" level="1" n="144">
<head xml:id="echoid-head165" xml:space="preserve"><emph style="bf">IV. Eine Hinrichtung durch Suggeſtion.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5775" xml:space="preserve">Den höchſten Grad der Wachſuggeſtion aber bildet fol-<lb/>gender Vorfall: </s>
  <s xml:id="echoid-s5776" xml:space="preserve">Ein zum Tode Verurteilter wurde einſt mit <lb/>verbundenen Augen in ein Zimmer geführt, wo ihm eröffnet <lb/>wurde, man würde ihm jetzt den Hals aufſchneiden, und dann <lb/>würde er hören, wie ſein hervorſpritzendes Blut in einer Schale <lb/>aufgefangen würde; </s>
  <s xml:id="echoid-s5777" xml:space="preserve">bis er an Verblutung ſtürbe. </s>
  <s xml:id="echoid-s5778" xml:space="preserve">Darauf <lb/>wurde ihm mit einer Nadel ein kleiner, kaum merkbarer Stich in <lb/>die Halsgegend verſetzt und gleichzeitig ein kleiner Waſſerſpring-<lb/>brunnen in Thätigkeit geſetzt, damit der Delinquent das ver-<lb/>heißene Plätſchern höre. </s>
  <s xml:id="echoid-s5779" xml:space="preserve">Und wirklich war der Verurteilte nach <lb/>einiger Zeit tot.</s>
  <s xml:id="echoid-s5780" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5781" xml:space="preserve">Man ſollte dies nicht für möglich halten, aber es ſind <lb/>weitere Beiſpiele bekannt, welche es über jeden Zweifel erhaben <lb/>machen, daß thatſächlich auch der Tod durch Einbildung, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s5782" xml:space="preserve">h. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5783" xml:space="preserve">durch Suggeſtion eintreten kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s5784" xml:space="preserve">So exiſtiert eine ziemlich <lb/>bekannte Geſchichte von König Friedrich Wilhelm I. </s>
  <s xml:id="echoid-s5785" xml:space="preserve">von <lb/>Preußen, der irgend einem armen Schlucker einen Poſſen ſpielen <lb/>wollte, ihn unter einem beliebigen Vorwand verhaften, vor ein <lb/>Gericht führen und zum Tode verurteilen ließ. </s>
  <s xml:id="echoid-s5786" xml:space="preserve">Dann wurde
<pb o="93" file="449" n="449"/>
der Betreffende mit verbundenen Augen zur Exekution ab-<lb/>geführt, mußte niederknieen und — erhielt mit einer Wurſt <lb/>einen Schlag auf den Nacken. </s>
  <s xml:id="echoid-s5787" xml:space="preserve">Als er nun aber von ſeiner <lb/>Pein erlöſt werden ſollte, war er im Augenblick jenes Schlages <lb/>wirklich geſtorben. </s>
  <s xml:id="echoid-s5788" xml:space="preserve">Faſt genau die gleiche Geſchichte wurde <lb/>auch einmal von Schulknaben berichtet, die dem Schulpförtner <lb/>nicht gewogen waren, ihn bei einer günſtigen Gelegenheit ge-<lb/>fangen nahmen, vor einer Art Vehmgericht (das natürlich aus <lb/>verkleideten Schulknaben beſtand) verklagten und zum Tode <lb/>verurteilten, nur daß man ihn nachher nicht mit einer Wurſt <lb/>auf den Nacken ſchlug, ſondern mit einem naſſen Handtuch. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5789" xml:space="preserve">Der Erfolg aber war derſelbe wie im erſten Fall: </s>
  <s xml:id="echoid-s5790" xml:space="preserve">der Mann <lb/>ſtarb im Moment des Schlages. </s>
  <s xml:id="echoid-s5791" xml:space="preserve">Man wird bei dieſen Er-<lb/>zählungen nicht ſagen dürfen, die betreffenden Perſonen ſeien <lb/>vor Schreck geſtorben, denn erſtens iſt der Tod durch Schreck <lb/>ein recht ſeltenes Vorkommnis, zweitens liegt dann abſolut kein <lb/>genügender Grund vor, weshalb der Tod erſt in dem Augenblick <lb/>erfolgte, als der Nacken von dem betreffenden Gegenſtand be-<lb/>rührt wurde, denn die Steigerung des Schreckens gerade in <lb/>dieſem Moment kann nur eine verhältnismäßig unbedeutende ge-<lb/>weſen ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s5792" xml:space="preserve">Es bleibt alſo wirklich dabei: </s>
  <s xml:id="echoid-s5793" xml:space="preserve">auch der Tod durch <lb/>bloße Suggeſtion iſt möglich.</s>
  <s xml:id="echoid-s5794" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div210" type="section" level="1" n="145">
<head xml:id="echoid-head166" xml:space="preserve"><emph style="bf">V. Die Suggeſtionen im gewöhnlichen Schlaf.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5795" xml:space="preserve">Wir ſind alſo ſchon bei dem Kapitel der Wachſuggeſtionen <lb/>mitten hinein geraten in das Unerklärliche und Rätſelhafte, <lb/>das den hypnotiſchen Schlaf umgiebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5796" xml:space="preserve">Den Übergang von den <lb/>Wachſuggeſtionen zu den in der Hypnoſe herbeigeführten Sug-<lb/>geſtionen bilden die durch äußeren Einfluß hervorgerufenen <lb/>Träume im gewöhnlichen Schlaf, die jeder ſchon an ſich beob-
<pb o="94" file="450" n="450"/>
achtet hat, ohne etwas Ungewöhnliches darin zu ſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5797" xml:space="preserve">Be-<lb/>ſonders ſolche Vorgänge, die uns durch den Gefühl- und <lb/>Gehörſinn übermittelt werden, beeinfluſſen unſere Träume in <lb/>einer ausſchlaggebenden Weiſe, zumal da ſie nicht ſelten in <lb/>ſehr aufgebauſchter Form den Sinnen übermittelt werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5798" xml:space="preserve">Leider <lb/>laſſen ſich Experimente in dieſer Hinſicht kaum anſtellen, da <lb/>ſicherlich nur ſehr wenige Träume in unſerem Bewußtſein er-<lb/>halten bleiben, worin ſich übrigens auch eine Ähnlichkeit mit <lb/>dem tiefen hypnotiſchen Schlaf kundgiebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5799" xml:space="preserve">Beſonders gut eignen <lb/>ſich zu Verſuchen ungewohnte Geräuſche, zumal wenn ſie <lb/>längere Zeit hintereinander andauern und der Schlafende gleich <lb/>darauf geweckt wird, ſodaß die Träume in der Erinnerung <lb/>haften bleiben. </s>
  <s xml:id="echoid-s5800" xml:space="preserve">Der Regen, der an die Fenſter ſchlägt, das <lb/>Heulen des Sturmes, fortgeſetztes Klopfen und andere ähnliche <lb/>Geräuſche, ſie alle ſpielen eine große Rolle in unſeren Träumen <lb/>und werden in oft ſehr merkwürdiger Weiſe von dem Schlafenden <lb/>aufgefaßt und falſch gedeutet. </s>
  <s xml:id="echoid-s5801" xml:space="preserve">Betaſtet man einen Schlafenden, <lb/>ſo ſoll er unter Umſtänden ſolche Berührung als Dolchſtoß <lb/>empfinden können; </s>
  <s xml:id="echoid-s5802" xml:space="preserve">hindert man ſeine Atmung, indem man ihm <lb/>ein Tuch über Naſe und Mund breitet, ſo wird man in vielen <lb/>Fällen das Gefühl des ſogenannten Alpdrückens hervorrufen <lb/>können; </s>
  <s xml:id="echoid-s5803" xml:space="preserve">iſt das Tuch zottig, ſo wird der Schlafende die Em-<lb/>pfindung haben, daß ein ſtark behaartes Tier auf ihm laſte <lb/>und ihm das Atmen dadurch erſchwere. </s>
  <s xml:id="echoid-s5804" xml:space="preserve">Um noch ein Beiſpiel <lb/>zu erwähnen, ſo ſei das folgende, auch in anderer Beziehung <lb/>merkwürdige herausgegriffen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5805" xml:space="preserve">Als auf den erſten Konſul <lb/>Bonaparte am 24. </s>
  <s xml:id="echoid-s5806" xml:space="preserve">Dezember 1800 ein Bomben-Attentat am <lb/>Place de l’Opéra verübt wurde, ſchlief Napoleon gerade. </s>
  <s xml:id="echoid-s5807" xml:space="preserve">Als <lb/>nun der Karren mit der Höllenmaſchine explodierte, träumte <lb/>Bonaparte in der unendlich kurzen Zeit zwiſchen dem Knall <lb/>und ſeinem Erwachen, er überſchritte mit ſeinem Heer den <lb/>Fluß Tagliamento unter dem Kanonendonner der Öſterreicher, <lb/>und erlebte ſomit in einem Moment das ganze kriegeriſche
<pb o="95" file="451" n="451"/>
Ereignis noch einmal, das ſich drei Jahre zuvor, am <lb/>18. </s>
  <s xml:id="echoid-s5808" xml:space="preserve">März 1797, zugetragen hatte.</s>
  <s xml:id="echoid-s5809" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5810" xml:space="preserve">Auch dann kann man die Träume eines Schlafenden ſehr <lb/>ſtark beeinfluſſen, wenn dieſer zu ſprechen beginnt, was, neben-<lb/>bei bemerkt, ſehr häufig vorkommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5811" xml:space="preserve">Erwidert man etwas auf <lb/>ſeine Worte, ſo giebt er zuweilen paſſende Antworten darauf, <lb/>verwebt aber die Reden des andern in ſeinen Traum.</s>
  <s xml:id="echoid-s5812" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div211" type="section" level="1" n="146">
<head xml:id="echoid-head167" xml:space="preserve"><emph style="bf">VI. Das Nachtwandeln.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5813" xml:space="preserve">Es zeigen ſich alſo ſchon im Traumleben manchmal Er-<lb/>ſcheinungen, die mit den eigentlich hypnotiſchen Vorgängen eng <lb/>verwandt ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s5814" xml:space="preserve">An dieſer Stelle ſei auch noch kurz auf das <lb/>Nachtwandeln hingewieſen, wo zwar Suggeſtion nicht im Spiel <lb/>iſt, wo aber in anderer Beziehung ein Zuſtand vorhanden iſt, <lb/>der mit gewiſſen hypnotiſchen Erſcheinungen faſt identiſch iſt, <lb/>während er von allem, was wir ſonſt für natürlich und er-<lb/>klärlich halten, auf das entſchiedenſte abweicht: </s>
  <s xml:id="echoid-s5815" xml:space="preserve">Das erwähnte <lb/>Alpdrücken iſt ſchon als der niedrigſte Grad des Nachtwandelns <lb/>(Somnambulismus) anzuſehen, in den höheren Stadien ſteht <lb/>der Kranke — denn als Krankheit muß man die ganze Er-<lb/>ſcheinung betrachten — auf, kleidet ſich manchmal an, ſpricht <lb/>laut, geht umher, berührt Gegenſtände und Perſonen, weicht <lb/>ſogar, falls er die Augen geöffnet hat, abſichtlich hin-<lb/>geſtellten Hinderniſſen aus, erklettert manchmal Spinden und <lb/>Öfen, öffnet ein Fenſter, ſteigt Treppen hinunter und wieder <lb/>herauf, geht mit erſtaunlicher Sicherheit über geneigte Flächen <lb/>(Dächer) und gefährlich ſchmale Bretter und kehrt ſchließlich <lb/>wieder in ſein Bett zurück, ohne eine Erinnerung an das <lb/>Geſchehene zurückzubehalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s5816" xml:space="preserve">Die Augen ſind meiſt halb
<pb o="96" file="452" n="452"/>
oder auch ganz geöffnet, ſodaß es ſcheint, als ob der Geſichts-<lb/>ſinn auch unbewußt thätig iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5817" xml:space="preserve">Daraus würde ſich das Um-<lb/>gehen von Hinderniſſen und manche andere Erſcheinung erklären <lb/>laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5818" xml:space="preserve">Ein dem Schreiber dieſer Zeilen (H.) </s>
  <s xml:id="echoid-s5819" xml:space="preserve">bekannter Herr <lb/>ſoll früher im Schlaf einen Tiſch erklettert haben, auf dem ſich <lb/>zahlreiche Nippſachen befanden und ſoll darauf umhergegangen <lb/>ſein, ohne auch nur eine einzige umzuwerfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5820" xml:space="preserve">Der Nacht-<lb/>wandler begiebt ſich oft in die gefährlichſten Situationen, ohne <lb/>daß ihm etwas zuſtößt, denn allein das Bewußtſein der nahen <lb/>Gefahr iſt es, unſere eigene Unſicherheit und Zaghaftigkeit, die <lb/>ſo manche Dinge für uns erſt wirklich gefährlich werden läßt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5821" xml:space="preserve">Daher iſt es durchaus berechtigt, wenn man allgemein davor <lb/>warnt, einen auf dem Dach herumſpazierenden Nachtwandler <lb/>anzurufen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5822" xml:space="preserve">denn, wenn dieſer in ſeiner gefährlichen Situation <lb/>erwacht, ſo kann die bloße Furcht vor der Gefahr dieſe wirk-<lb/>lich herbeiführen und ihn einen Fehltritt thun laſſen, den er <lb/>ſchlafend nie gethan hätte. </s>
  <s xml:id="echoid-s5823" xml:space="preserve">Alle Handlungen des Nachtwandlers <lb/>ſind rein mechaniſch, er nimmt unter Umſtänden ein Buch vom <lb/>Bücherbrett — auch ſolche, die in einer ihm fremden Sprache <lb/>geſchrieben ſind — ſchlägt es auf und thut ganz ſo, als ob <lb/>er darin lieſt, blättert ſogar um zu der Zeit, wo man etwa <lb/>eine Seite geleſen haben kann, hört aber auch dann nicht auf, <lb/>wenn man das Licht auslöſcht und ihn im Dunkeln läßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5824" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5825" xml:space="preserve">Gerade dieſe letztere Thatſache beweiſt recht deutlich, daß <lb/>die Handlungen des Nachtwandlers ohne Vernunft und Über-<lb/>legung vollzogen werden, daß ſie alſo rein mechaniſch ſind <lb/>und nur auf ſogenannten Reflexbewegungen beruhen, wobei <lb/>die Erinnerung an gewohnte Thätigkeiten eine eigentümliche <lb/>Rolle ſpielt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5826" xml:space="preserve">Daß der Schlaf im Somnambulismus übrigens <lb/>ein beſonders tiefer ſein muß, ergiebt ſich ſchon daraus, daß <lb/>der Nachtwandler nicht wie andere Träumer auf Fragen <lb/>manchmal antwortet, auch auf Lichtreize nicht immer reagiert. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5827" xml:space="preserve">Worin freilich der bekannte, intenſive Einfluß beſteht, den
<pb o="97" file="453" n="453"/>
der Vollmond auf die Nachtwandler ausübt, iſt noch ganz un-<lb/>erklärt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5828" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5829" xml:space="preserve">Worauf beruht nun aber dieſe geheimnisvolle, unheimliche <lb/>Erſcheinung des Nachtwandelns? </s>
  <s xml:id="echoid-s5830" xml:space="preserve">Nun, man wird den Grund <lb/>ſicherlich nicht erraten und, wenn man ihn erfahren hat, wird <lb/>man darüber lachen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5831" xml:space="preserve">Das Nachtwandeln wird nämlich hervor-<lb/>gerufen durch — Eingeweidewürmer. </s>
  <s xml:id="echoid-s5832" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s5833" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s5834" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s5835" xml:space="preserve">Aus einer ſo pro-<lb/>ſaiſchen Urſache entſteht eine Erſcheinung, welche erſt auf eine <lb/>überſinnliche Erklärung zu deuten ſchien.</s>
  <s xml:id="echoid-s5836" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div212" type="section" level="1" n="147">
<head xml:id="echoid-head168" xml:space="preserve"><emph style="bf">VII. Die Herbeiführung des hypnotiſchen Schlafes.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5837" xml:space="preserve">Wenn wir bisher ohne übernatürliche Erklärungen aus-<lb/>gekommen ſind, ſo werden wir ihrer wohl jetzt, wo wir dem <lb/>eigentlichen Hypnotismus näher zu Leibe gehen wollen, auch <lb/>entbehren können, denn im Verhältnis zu dem, was ſich bis-<lb/>her vor unſeren Blicken entrollt hat, iſt die Steigerung der <lb/>“Wunder”, die uns jetzt noch erwarten, verhältnismäßig nicht <lb/>mehr bedeutend.</s>
  <s xml:id="echoid-s5838" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5839" xml:space="preserve">Wer eignet ſich zunächſt einmal zum Hypnotiſiertwerden? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5840" xml:space="preserve">Dieſe intereſſante Frage wollen wir doch zunächſt einmal unter-<lb/>ſuchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5841" xml:space="preserve">Wenn man vielfach glaubt, daß nur wenige Menſchen <lb/>hypnotiſiert werden können, ſo iſt ſolche Anſicht grundfalſch; </s>
  <s xml:id="echoid-s5842" xml:space="preserve"><lb/>vielmehr iſt faſt jeder Menſch dazu disponiert, allerdings <lb/>der eine mehr, der andere weniger. </s>
  <s xml:id="echoid-s5843" xml:space="preserve">Liébault, ein berühmter <lb/>franzöſiſcher Suggeſtionstherapeutiker <anchor type="note" xlink:href="" symbol="*)"/>, fand unter 1011 Per-
ſonen nur 27, die abſolut widerſtandsfähig waren, alſo noch</s>
</p>
<note symbol="*)" position="foot" xml:space="preserve">Als Suggeſtionstherapeutiker bezeichnet man ſolche Ärzte, die den <lb/>Hypnotismus therapeutiſch, d. h. zu Heilzwecken in großem Maßſtabe, zu <lb/>verwenden pflegen.</note>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5844" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s5845" xml:space="preserve">Bernſtein, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s5846" xml:space="preserve">Volksbücher IX.</s>
  <s xml:id="echoid-s5847" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="98" file="454" n="454"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5848" xml:space="preserve">nicht 3 Prozent, bei 33 rief er wenigſtens einen ſchlafrigen <lb/>Zuſtand und Schwere der Glieder hervor, bei 100 dagegen <lb/>leichten, bei 460 tiefen und bei 232 ſehr tiefen Schlaf, bei <lb/>31 leichten und bei 131 tiefen Somnambulismus (worunter er <lb/>Erinnerungsloſigkeit nach der Hypnoſe verſtand).</s>
  <s xml:id="echoid-s5849" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5850" xml:space="preserve">Viele Autoritäten neigen ſogar zu der aus langer Er-<lb/>fahrung gewonnenen Anſicht, daß kein Menſch völlig wider-<lb/>ſtandsfähig gegen die Hypnoſe ſei, vorausgeſetzt, daß er den <lb/>guten Willen hat einzuſchlafen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5851" xml:space="preserve"><anchor type="note" xlink:href="" symbol="*)"/> <emph style="sp">Ohne dieſen Willen
des Mediums iſt das Hypnotiſieren unmöglich</emph>, was <lb/>wir zum Troſt für ängſtliche Gemüter ausdrücklich betonen <lb/>wollen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5852" xml:space="preserve">Wer den Willen hat wach zu bleiben oder wer ſich <lb/>einſchläfern laſſen will in der Überzeugung, daß der Hypnotis-<lb/>mus Schwindel ſei, der iſt nicht zu hypnotiſieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s5853" xml:space="preserve">Die Schauer-<lb/>märchen von Reiſenden, die im Eiſenbahnwagen von ihrem <lb/>vis-à-vis durch den Blick hypnotiſiert wurden und dann ſich <lb/>willenlos und hilflos ausplündern laſſen mußten, ſind Fabeln.</s>
  <s xml:id="echoid-s5854" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5855" xml:space="preserve">Es wird manchen in großes Erſtaunen ſetzen, wenn er <lb/>hört, daß ganz zweifellos willensſtarke Menſchen weit leichter <lb/>zu hypnotiſieren ſind, als willensſchwache, nervöſe und hyſteri-<lb/>ſche, eben weil ſie ihren Willen weit mehr auf den Gedanken <lb/>an Schlaf energiſch zu konzentrieren imſtande ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s5856" xml:space="preserve">Dagegen <lb/>ſind nervöſe und willensſchwache Menſchen, wenn ſie erſt ein-<lb/>mal in hypnotiſchen Schlaf gebracht ſind, leichter empfänglich <lb/>für Suggeſtionen, ſodaß ſie die beſten “Medien” liefern.</s>
  <s xml:id="echoid-s5857" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5858" xml:space="preserve">Die Herbeiführung der Hypnoſe kann auf die verſchiedenſte <lb/>Weiſe geſchehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5859" xml:space="preserve">Alles Ermüdende, beſonders alſo alles Ein-<lb/>förmige eignet ſich dazu: </s>
  <s xml:id="echoid-s5860" xml:space="preserve">das Beſtreichen an gewiſſen Stellen <lb/>des Kopfes und das Anſchauen glänzender Gegenſtände ſind <lb/>
<anchor type="note" xlink:label="note-454-01a" xlink:href="note-454-01"/>
<pb o="99" file="455" n="455"/>
die beliebteſten Methoden und führen nach einigen Minuten <lb/>— wenn der Betreffende ſchon häufig hypnotiſiert worden iſt, <lb/>ſogar bereits nach einigen Sekunden — zum Ziel. </s>
  <s xml:id="echoid-s5861" xml:space="preserve">Doch auch <lb/>einförmige Geräuſche können dieſelbe Wirkung herbeiführen, ſo <lb/>eignet ſich beſonders der Ton des Tamtam dazu; </s>
  <s xml:id="echoid-s5862" xml:space="preserve">man fand <lb/>einſt eine hyſteriſche Kranke ſchlafend auf, die durch Spielen <lb/>mit einem Tamtam ſich ſelbſt hypnotiſiert hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s5863" xml:space="preserve">Die indiſchen <lb/>Säulenheiligen hypnotiſieren ſich ſelbſt durch fortgeſetztes Aus-<lb/>ſprechen der Silbe om. </s>
  <s xml:id="echoid-s5864" xml:space="preserve">Auch fortgeſetztes Zuführen von Luft, <lb/>etwa aus einem Blaſebalg, hat in vereinzelten Fällen ſchon <lb/>genügt (nebenbei bemerkt, iſt dies dasſelbe Mittel, das am <lb/>ſicherſten den hypnotiſchen Zuſtand wieder aufhebt). </s>
  <s xml:id="echoid-s5865" xml:space="preserve">Oft genügt <lb/>ſchon das bloße Zuſehen, wie ein anderer hypnotiſiert wird, <lb/>da in dieſem Fall wie beim Gähnen der Gedanke an Schlaf <lb/>und Müdigkeit ſehr energiſch in den Vordergrund tritt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5866" xml:space="preserve">Recht <lb/>zuverläſſig und oft angewandt iſt auch das bloße Anſtarren <lb/>des Hypnotiſeurs, allerdings kommt es dabei nicht ſelten vor, <lb/>daß dieſer ſelbſt in Schlaf verfällt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5867" xml:space="preserve">Wie ſehr der menſchliche <lb/>Blick, wenn das Geſicht ganz unbeweglich bleibt, ſchon nach <lb/>kurzer Zeit ermüdet, davon kann ſich leicht jeder überzeugen, <lb/>wenn er ſein eignes Bild im Spiegel auch nur eine Minute <lb/>lang regungslos anſtarrt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5868" xml:space="preserve">Darauf, daß das ſtarre Auge eine <lb/>hypnotiſierende (fascinierende) Wirkung ausübt, beruht ja auch <lb/>die große Macht, die der Tierbändiger über jedes wilde Tier <lb/>ausübt, ferner auch die bekannte Thatſache, daß kleine Vögel <lb/>durch den bloßen Blick der Klapperſchlange gleichſam gelähmt <lb/>werden und ſich nicht von der Stelle rühren können. </s>
  <s xml:id="echoid-s5869" xml:space="preserve">Bei <lb/>Perſonen, die ſchon häufig in der Hypnoſe geweſen ſind, iſt <lb/>ſogar ſchon mehrfach beobachtet worden, daß die bloße An-<lb/>kündigung, um eine beſtimmte Zeit würden ſie hypnotiſiert <lb/>werden, hinreichte, um ſie zu der betreffenden Stunde ohne <lb/>weitere Hilfsmittel in Schlaf fallen zu laſſen, ſelbſt wenn außer <lb/>ihnen kein Menſch im Zimmer anweſend iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5870" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div212" type="float" level="2" n="1">
<note symbol="*)" position="foot" xlink:label="note-454-01" xlink:href="note-454-01a" xml:space="preserve"> Oft freilich muß der Verſuch, ein williges Medium einzuſchläfern, <lb/>erſt ziemlich häufig wiederholt werden, ehe das Ziel wirklich erreicht wird; <lb/>bei anderen Perſonen gelingt das Experiment ſofort.</note>
</div>
<pb o="100" file="456" n="456"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5871" xml:space="preserve">Es muß aber betont werden, daß der hypnotiſche Schlaf <lb/>ſich nur dann einſtellen kann, wenn die Aufmerkſamkeit des <lb/>Mediums eine ungeteilte iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s5872" xml:space="preserve">nach einer großen Aufregung oder <lb/>in einer ſehr unangenehmen Stellung oder während einer inter-<lb/>eſſanten Unterhaltung kann niemand eingeſchläfert werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5873" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div214" type="section" level="1" n="148">
<head xml:id="echoid-head169" xml:space="preserve"><emph style="bf">VIII. Die Erſcheinungen während des leichteren</emph> <lb/><emph style="bf">hypnotiſchen Schlafes.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5874" xml:space="preserve">Die Wirkung des hypnotiſchen Schlafes kann ſich nun <lb/>zwar zweifellos bei verſchiedenen Perſonen in ſehr verſchiedener <lb/>Weiſe äußern, ſtets aber wird das Medium dadurch zum mehr <lb/>oder minder willenloſen Werkzeug des Hypnotiſeurs. </s>
  <s xml:id="echoid-s5875" xml:space="preserve">Einigen <lb/>Widerſtand werden die Befehle des Hypnotiſeurs wohl ſtets <lb/>finden, wenn ſie dem Medium unangenehm ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s5876" xml:space="preserve">oft führt <lb/>eine mehrfache eindringliche Wiederholung des Befehls zum <lb/>Ziel, iſt aber der Widerſtand zu groß, ſo wird der Verſuch, <lb/>die Ausführung des Befehls zu erzwingen, nur Erwachen des <lb/>Mediums herbeiführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5877" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5878" xml:space="preserve">Bei den weitaus meiſten Hypnotiſierten zeigt es ſich, daß <lb/>ſie nicht gehorchen, wenn ſie eine ihr Gewiſſen belaſtende That <lb/>begehen ſollen (Mord, Diebſtahl, ſexuelle Vergehen a.)</s>
  <s xml:id="echoid-s5879" xml:space="preserve">, da-<lb/>gegen geben ſie leichter nach, wenn ſie der rein paſſive Teil <lb/>in derartigen Fällen ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s5880" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5881" xml:space="preserve">Die erſte Äußerung des hypnotiſchen Schlafes, welche auch <lb/>das Kennzeichen für den Eintritt desſelben abgiebt, iſt die <lb/>Unfähigkeit des Mediums, ohne Erlaubnis des Hypnotiſeurs <lb/>die Augenlider zu öffnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5882" xml:space="preserve">Sonſt unterſcheidet ſich der Zuſtand <lb/>des erſten Schlafes in nichts vom wachen Zuſtand: </s>
  <s xml:id="echoid-s5883" xml:space="preserve">das <lb/>Medium iſt bei vollſtem Bewußtſein, unterhält ſich mit den
<pb o="101" file="457" n="457"/>
Anweſenden ganz, als ob nichts geſchehen wäre, und amüſiert <lb/>ſich womöglich ſelbſt über ſeine Unfähigkeit die Augen zu <lb/>öffnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5884" xml:space="preserve">Wird der Schlaf etwas tiefer, ſo gehorcht der Schlafende <lb/>ſchon einigen Befehlen des Hypnotiſeurs: </s>
  <s xml:id="echoid-s5885" xml:space="preserve">er muß auf Befehl <lb/>die Hände immer um einander drehen und kann nicht eher <lb/>aufhören, bis es ihm erlaubt wird (Drehautomatismus), und <lb/>es läßt ſich erreichen, daß einzelne Körperteile, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s5886" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s5887" xml:space="preserve">die Arme, <lb/>nur auf Befehl bewegt werden können, wenn ſie ſelbſt vorher <lb/>in die unangenehmſte Stellung gebracht worden ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s5888" xml:space="preserve">Die <lb/>Muskeln ſpannen ſich auf Befehl ganz ſtraff, und das be-<lb/>treffende Glied wird ſteif und hart wie Holz und läßt ſich <lb/>eher zerbrechen, als daß es ohne Erlaubnis des Hypnotiſeurs <lb/>aus der angewieſenen Stellung weicht; </s>
  <s xml:id="echoid-s5889" xml:space="preserve">dagegen vermag ein <lb/>Wort des Hypnotiſeurs ſofort den ſtarren Bann zu löſen und <lb/>dem Gliede ſeine vorherige Gelenkigkeit unverkürzt zurückzugeben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5890" xml:space="preserve">Auch in dieſem Zuſtand, den man als <emph style="sp">Katalepſie</emph> bezeichnet, <lb/>kann das Bewußtſein noch vollſtändig vorhanden ſein; </s>
  <s xml:id="echoid-s5891" xml:space="preserve">übrigens <lb/>ſei bemerkt, daß die Starre der Glieder nicht etwa mit <lb/>Schmerzen für das Medium verbunden iſt, zumal wenn der <lb/>Hypnotiſeur eine diesbezügliche Suggeſtion giebt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5892" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5893" xml:space="preserve">Stundenlang (ſchon bis zu 17 Stunden beobachtet) kann <lb/>dieſer kataleptiſche Zuſtand andauern, mag die Stellung auch <lb/>noch ſo gezwungen und anſtrengend ſein, und dabei verſpürt <lb/>das Medium nach dem Erwachen nicht die geringſte Ermüdung <lb/>oder ſonſtige üble Folgen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5894" xml:space="preserve">Selbſt wenn der Arm ſchwer mit <lb/>Gewichten beladen iſt, hält das Medium ihn beliebig lange <lb/>ausgeſtreckt, während er in wachem Zuſtande ſchon nach einigen <lb/>Sekunden erſchlaffen würde. </s>
  <s xml:id="echoid-s5895" xml:space="preserve">Iſt der Schlaf tief genug, ſo <lb/>kann der kataleptiſche Zuſtand ſogar auf den ganzen Körper <lb/>erſtreckt werden: </s>
  <s xml:id="echoid-s5896" xml:space="preserve">dieſer wird hart wie ein Brett und ſchwebt <lb/>bei bloßer Unterſtützung des Kopfes und der Hacken beliebig <lb/>lange in der Luft, wobei ſogar noch eine ſchwere Perſon auf <lb/>den Körper herauftreten kann; </s>
  <s xml:id="echoid-s5897" xml:space="preserve">es iſt dies eine Leiſtung, die
<pb o="102" file="458" n="458"/>
kein Menſch, auch nicht der beſte Turner und kräftigſte Athlet, <lb/>im wachen Zuſtand nachzumachen vermag.</s>
  <s xml:id="echoid-s5898" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div215" type="section" level="1" n="149">
<head xml:id="echoid-head170" xml:space="preserve"><emph style="bf">IX. Die Erſcheinungen während des hypnotiſchen</emph> <lb/><emph style="bf">Tiefſchlafes.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5899" xml:space="preserve">Um nun die verſchiedenen ſonſtigen Wunder der Hypnoſe <lb/>zu beſprechen, wollen wir auch hier von den verhältnismäßig <lb/>einfachſten Vorgängen des Tiefſchlafes zu den rätſelhafteſten all-<lb/>mählich fortſchreiten.</s>
  <s xml:id="echoid-s5900" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5901" xml:space="preserve">Beginnen wir mit dem Nachahmungstrieb der Hypno-<lb/>tiſierten. </s>
  <s xml:id="echoid-s5902" xml:space="preserve">“So ſtark iſt die Tendenz der Nachahmung, die <lb/>Neigung, Befehlen zu gehorchen bei vielen, daß ſie ſelbſt dann, <lb/>wenn das Selbſtbewußtſein zum Teil erhalten iſt, nicht dem <lb/>Drang widerſtehen können und nachher berichten, es ſei ihnen <lb/>eben in jenen Augenblicken das Nachgeben notwendig und an-<lb/>genehm vorgekommen, es ſei für ſie das einzige geweſen, was <lb/>ſie hätten thun können”, ſagt Preyer (1841—1897). </s>
  <s xml:id="echoid-s5903" xml:space="preserve">Wenn <lb/>der Hypnotiſeur verlangt, das Medium ſolle ihm alles nach-<lb/>machen, ſo thut es dies auch unter den erſchwerendſten Um-<lb/>ſtänden; </s>
  <s xml:id="echoid-s5904" xml:space="preserve">es pfeift einen Walzer nach und tanzt dazu, ſelbſt <lb/>wenn es ein Gewicht von 25 Pfund am Arm zu hängen hat; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5905" xml:space="preserve">es ſpricht jedes ihm vorgeſprochene Wort mit demſelben Accent, <lb/>demſelben Ausdruck, in demſelben Dialekt nach, wie es der <lb/>Hypnotiſeur ihm vorgeſprochen hat, es wiederholt Sätze, die in <lb/>einer ihm ganz fremden Sprache geſprochen ſind, es unterbricht <lb/>den Satz, um ſich zu räuſpern, an genau denſelben Stellen, wie <lb/>es ihm vorgemacht iſt, kurzum, es iſt der vollendetſte Phono-<lb/>graph, den man ſich vorſtellen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s5906" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5907" xml:space="preserve">Ebenſo zeigt ſich der unbedingte Gehorſam, die willenloſe
<pb o="103" file="459" n="459"/>
Ergebenheit des Hypnotiſierten auch in der Beziehung, daß er <lb/>alle Dinge, deren Exiſtenz ihm eingeredet wird, die aber that-<lb/>ſächlich gar nicht vorhanden ſind, im Bereich ſeiner Sinne <lb/>wahrnimmt, und daß er andere Dinge nicht ſo auffaßt, wie <lb/>ſie ſind, ſondern ſo, wie ſie ihm eingeredet werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5908" xml:space="preserve">Waſſer, <lb/>das ihm als Wein verabreicht wird, trinkt er als ſolchen, und, <lb/>wenn er ein Kenner iſt, giebt er ſelbſt Marke und Jahrgang <lb/>an, ja, wenn er es in größeren Mengen genießt, wird er ſogar <lb/>berauſcht a.</s>
  <s xml:id="echoid-s5909" xml:space="preserve">; dasſelbe tritt ein, wenn man ihm Tinte oder <lb/>Eſſig als Wein reicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s5910" xml:space="preserve">Umgekehrt kann er alkoholiſche Getränke, <lb/>die ihm als Waſſer bezeichnet werden, in bedeutenden Quan-<lb/>titäten vertilgen, ohne irgendwie berauſcht zu werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5911" xml:space="preserve">Auf <lb/>Befehl verliert er die Sprache, das Gehör, oder er hört nichts <lb/>anderes, als das, was der Hypnotiſeur ſpricht. </s>
  <s xml:id="echoid-s5912" xml:space="preserve">Wird ihm ein <lb/>Gegenſtand als Überzieher gereicht, ſo ſucht er ihn anzuziehen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5913" xml:space="preserve">mit einem angeblichen Beſen beginnt er zu fegen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5914" xml:space="preserve">glaubt er <lb/>einen aufgeſpannten Regenſchirm zu erhalten, ſo fröſtelt ihn, <lb/>als ob er den Regen empfindet; </s>
  <s xml:id="echoid-s5915" xml:space="preserve">wird ihm ſuggeriert, er ſei in <lb/>einem Blumengarten, ſo bückt er ſich, als ob er Blumen <lb/>ſammelt, und ſetzt ſich dann hin und macht Bewegungen, als <lb/>ob er ſie zu einem Kranz oder Strauß zuſammenbinde. </s>
  <s xml:id="echoid-s5916" xml:space="preserve">Steht <lb/>er aufrecht und es wird ihm geſagt, daß ein Erdbeben ſtatt-<lb/>fände, ſo greift er mit den Händen nach irgend einem feſten <lb/>Gegenſtande, um ſich feſtzuhalten, wenn ihm dann aber be-<lb/>fohlen wird, er ſolle ſich auf den Boden niederſetzen, ohne daß <lb/>ihm vorher geſagt wird, er ſolle die Hände loslaſſen, ſo macht <lb/>er dieſe nicht frei, und infolgedeſſen iſt es ihm unmöglich, den <lb/>neuen Befehl auszuführen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5917" xml:space="preserve">Dieſe letztere Beobachtung iſt be-<lb/>ſonders intereſſant, denn dadurch wird bewieſen, daß der <lb/>Hypnotiſierte ſtets nur das Nächſtliegende begreift, nur augen-<lb/>blicklichen Anregungen zugängig iſt, daß er ſich ſeines eiguen <lb/>jeweiligen Zuſtandes überhaupt nicht bewußt iſt und, ſich ſelbſt <lb/>überlaſſen, einem lebloſen Weſen vollſtändig gleichen würde,
<pb o="104" file="460" n="460"/>
Er iſt nur eine Maſchine, mit welcher der Hypnotiſeur hantiert, <lb/>und welche ohne ſein Zuthun nicht fähig iſt, irgend etwas zu <lb/>thun oder zu empfinden; </s>
  <s xml:id="echoid-s5918" xml:space="preserve">das alte Wort <emph style="sp">d’Alemberts</emph> vom <lb/>l’homme machine (Der Menſch eine Maſchine) erfährt hier <lb/>eine ganz neue und überraſchende Auslegung.</s>
  <s xml:id="echoid-s5919" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5920" xml:space="preserve">Betrachten wir ferner die erſtaunlichen Veränderungen, <lb/>welche mit der Sinnesthätigkeit des Menſchen im hypnotiſchen <lb/>Schlaf vor ſich gehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5921" xml:space="preserve">Auch dies Gebiet iſt noch ſehr wenig <lb/>aufgeklärt: </s>
  <s xml:id="echoid-s5922" xml:space="preserve">während ſich im tieferen Schlafe bei den meiſten <lb/>Individuen auf Befehl des Hypnotiſeurs die Fähigkeit der <lb/>Empfindung des einen oder des andern Sinns mehr oder <lb/>weniger verlieren kann, kann ſie ſich bei andern zu einer Höhe <lb/>und einer Feinheit ſteigern, die ſelbſt die wunderbarſten Er-<lb/>ſcheinungen auf derartigem Gebiete, wie ſie ſich manchmal bei <lb/>hyſteriſchen Frauen finden, übertrifft. </s>
  <s xml:id="echoid-s5923" xml:space="preserve">Bei welchen Individuen <lb/>dieſer Zuſtand eintritt, ſcheint ſich vorher gar nicht beſtimmen <lb/>zu laſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5924" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5925" xml:space="preserve">Am häufigſten und am vielartigſten ſind die Verände-<lb/>rungen, die mit dem Gefühlsſinn vor ſich gehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5926" xml:space="preserve">Wird einem <lb/>Medium (beſonders, wenn es in kataleptiſchem Zuſtande iſt) <lb/>befohlen, es ſolle nichts fühlen, ſo kann man mit ihm thun, <lb/>was man will, ohne daß es die geringſte Empfindung davon <lb/>hat oder auf irgend eine Berührung, welcher Art ſie auch ſein <lb/>mag, reagiert. </s>
  <s xml:id="echoid-s5927" xml:space="preserve">Man kann es an jeder beliebigen Stelle des <lb/>Körpers mit Nadeln ſtechen oder auf eine ſonſtige Art und <lb/>Weiſe ihm Schmerzen zufügen, die getroffenen Körperteile <lb/>zucken auch nicht einmal zuſammen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5928" xml:space="preserve"><emph style="sp">Little</emph> in New-York durch-<lb/>ſtach einem Hypnotiſierten, den man für einen Simulanten <lb/>hielt, die Hornhaut des Auges, ohne daß eine Reaktion er-<lb/>folgte. </s>
  <s xml:id="echoid-s5929" xml:space="preserve">Nach dem Erwachen trat dann allerdings eine ſtarke <lb/>Hornhautentzündung ein.</s>
  <s xml:id="echoid-s5930" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5931" xml:space="preserve">Da auch dieſe Unempfindlichkeit beliebig lange andauert, <lb/>ſo ſind ſchon mehrfach, beſonders von dem Augenarzt <emph style="sp">Esdaile</emph>
<pb o="105" file="461" n="461"/>
in Calcutta, während dieſes Zuſtandes der Analgeſie (Schmerz-<lb/>loſigkeit) große chirurgiſche Operationen ausgeführt worden; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5932" xml:space="preserve">auch zu ſchmerzloſen Zahnextraktionen, ja ſogar bei Ent-<lb/>bindungen iſt die Hypnoſe ſchon verwendet worden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5933" xml:space="preserve">Sicher <lb/>iſt es, daß die hypnotiſche Analgeſie auch im Mittelalter bei <lb/>Gefolterten manchmal eine Rolle geſpielt hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s5934" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5935" xml:space="preserve">Trotzdem nun dieſe Vorgänge ſo erſtaunlich ſich anhören, <lb/>können wir doch auch beim wachen Menſchen Zuſtände hervor-<lb/>rufen oder beobachten, die in engſter Beziehung zu den eben <lb/>geſchilderten ſtehen, wenngleich ſie natürlich niemals ſo intenſiv <lb/>auftreten. </s>
  <s xml:id="echoid-s5936" xml:space="preserve">Durch energiſche Ablenkung der Aufmerkſamkeit auf <lb/>irgend einen Gegenſtand vermag man Linderung oder gar Ver-<lb/>ſchwinden körperlicher Schmerzen hervorzurufen: </s>
  <s xml:id="echoid-s5937" xml:space="preserve">Zahnſchmerzen <lb/>verſchwinden manchmal durch den bloßen Anblick der Zange <lb/>des Zahnarztes oder gar nur ſeiner Wohnung. </s>
  <s xml:id="echoid-s5938" xml:space="preserve">Bei lebhafter <lb/>geiſtiger Anſtrengung oder bei ſtarker Gemütsbewegung vergißt <lb/>man nicht ſelten das körperliche Unbehagen u. </s>
  <s xml:id="echoid-s5939" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s5940" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s5941" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5942" xml:space="preserve">Der Gegenſatz zu dieſer Anäſtheſie (Gefühlsloſigkeit) in <lb/>der Hypnoſe iſt die Hyperäſtheſie (übernormale Empfindlichkeit). <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5943" xml:space="preserve">Auch dieſe läßt ſich im wachen Zuſtande in einem gewiſſen <lb/>Grade erwerben, und zwar ſchon durch bloße Übung, wenn <lb/>man die gewöhnlich geteilte Aufmerkſamkeit häufiger darauf <lb/>konzentriert, den Druck- und Taſtſinn zu verfeinern. </s>
  <s xml:id="echoid-s5944" xml:space="preserve">Um nur <lb/>ein Beiſpiel anzuführen, ſei auf den enorm ausgebildeten Ge-<lb/>fühlsſinn bei Blinden verwieſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5945" xml:space="preserve">Und daß im krankhaften <lb/>Zuſtande, beſonders im hyſteriſchen, ſich eine Hyperäſtheſie <lb/>entwickeln kann, die der im hypnotiſchen Zuſtand beobachteten <lb/>vollkommen gleichkommt, iſt ja eine zweifelloſe Thatſache.</s>
  <s xml:id="echoid-s5946" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5947" xml:space="preserve">Übrigens iſt es noch von Intereſſe, daß nicht ſelten an <lb/>Hypnotiſierten bei einſeitiger Katalepſie auf einer Körper-<lb/>hälfte Anäſtheſie, auf der andern Hyperäſtheſie vorhanden iſt, <lb/>wobei ſich ohne Regel die Katalepſie einmal auf der empfind-<lb/>lichen, das andere Mal auf der unempfindlichen Seite zeigt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5948" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="106" file="462" n="462"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5949" xml:space="preserve">Hand in Hand mit dem eigentlichen Gefühlsſinn geht auch <lb/>der Temperaturſinn. </s>
  <s xml:id="echoid-s5950" xml:space="preserve">Meiſtens geht er auf Befehl verloren, <lb/>und erliſcht nicht ſelten vollſtändig, in andern Fällen kann <lb/>auch er ſich ungemein verſchärfen, ſo daß ſchon ein Lufthauch, <lb/>der ſonſt gar nicht empfunden würde, ſehr lebhaft und un-<lb/>angenehm wirken kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s5951" xml:space="preserve">Richer in Paris erzählt von einer <lb/>Hyſteriſchen, welche die Wärme einer 40 cm hinter ihren <lb/>Rücken gehaltenen Hand ſchon unangenehm empfand.</s>
  <s xml:id="echoid-s5952" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5953" xml:space="preserve">Ganz ebenſo, wie der Gefühlsſinn, verändern ſich auch die <lb/>übrigen Sinne, auf die nun kürzer eingegangen werden kann. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5954" xml:space="preserve">Auch ſie können entweder ganz beſeitigt oder von der enormſten <lb/>Feinheit ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s5955" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5956" xml:space="preserve">Der Geruchsſinn z. </s>
  <s xml:id="echoid-s5957" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s5958" xml:space="preserve">kann ſich ſo ſteigern, daß das <lb/>Medium durch ihn Perſonen unterſcheiden kann, jemanden <lb/>durch den Geruch eines Handſchuhs wiedererkennt u. </s>
  <s xml:id="echoid-s5959" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s5960" xml:space="preserve">w. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5961" xml:space="preserve">Der Engländer Braid, der um das Jahr 1840 zuerſt die <lb/>Hypnoſe wiſſenſchaftlich zu erforſchen begann, berichtet, daß <lb/>eine Hypnotiſierte den Duft einer Roſe noch in 46 Fuß Ent-<lb/>fernung deutlich wahrnahm. </s>
  <s xml:id="echoid-s5962" xml:space="preserve">Einer hyſteriſchen Kranken wurde <lb/>einſt in der Hypnoſe eine Viſitenkarte vorgehalten, welche dann <lb/>plötzlich in Stücken geriſſen und an den verſchiedenſten Orten <lb/>in einem benachbarten Zimmer verſteckt wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s5963" xml:space="preserve">Ein Endchen <lb/>der Karte ward der Kranken zurückgebracht. </s>
  <s xml:id="echoid-s5964" xml:space="preserve">Dieſe beriecht es, <lb/>ſtürzt in das Nebenzimmer und ſucht, wie ein Hund umher-<lb/>ſchnüffelnd, nur durch ihren Geruchsſinn geleitet (die Augen <lb/>ſind zur Sicherheit verbunden), die einzelnen Teile wieder <lb/>zuſammen und ruht nicht eher, als bis ſie alle gefunden hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s5965" xml:space="preserve"><lb/>Da einzelne Perſonen Teile der Karte verbergen, ſo geht ſie <lb/>auf ſie zu und ruht nicht eher, bis ſie ihren Zweck erreicht <lb/>hat, bei anderen Perſonen geht ſie dagegen achtlos vorbei. </s>
  <s xml:id="echoid-s5966" xml:space="preserve"><lb/>Nimmt ihr jemand einige Stücke des Papiers fort und entfernt <lb/>ſich aus dem Zimmer, ſo läuft ſie ihm nach und dringt wütend, <lb/>ſchreiend und ſchlagend auf ihn ein, bis ſie ihr Eigentum
<pb o="107" file="463" n="463"/>
wieder erlangt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s5967" xml:space="preserve">Länger als eine halbe Stunde hält aber <lb/>dieſe krankhafte Steigerung der Geruchsempfindlichkeit nie an. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5968" xml:space="preserve">Nach dem Erwachen iſt jede Erinnerung an das Vorgegangene <lb/>geſchwunden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5969" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5970" xml:space="preserve">Auch beim Gehörſinn können die gewaltigſten Steigerungen <lb/>auftreten. </s>
  <s xml:id="echoid-s5971" xml:space="preserve">Flüſterſtimmen und ganz leiſe Geräuſche werden <lb/>noch in großer Entfernung gehört und können Nachahmungs-<lb/>bewegungen veranlaſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5972" xml:space="preserve">Schon Braid berichtet, ſein leiſes <lb/>Hauchen ſei von einem Medium noch in 15 Fuß Entfernung <lb/>vernommen worden, während er ſelbſt es nicht mehr hörte. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5973" xml:space="preserve">Eine derartige Verſchärfung des Gehörs iſt übrigens auch bei <lb/>Hyſteriſchen nichts Seltenes, auch an ihnen iſt ſchon beobachtet, <lb/>daß ſie Taſchenuhren im Nebenzimmer ticken hörten oder den <lb/>leiſeſten Gang auf einem dicken Teppich oder das Atmen eines <lb/>kranken Kindes im darüber gelegenen Stockwerk u. </s>
  <s xml:id="echoid-s5974" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s5975" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s5976" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5977" xml:space="preserve">Dagegen iſt eine Steigerung des Geſchmacksſinnes in der <lb/>Hypnoſe bisher noch nicht beobachtet worden, trotzdem auch ihr <lb/>Vorkommen mehr als wahrſcheinlich iſt, zumal da ſie bei <lb/>Hyſteriſchen mehrfach ſich gezeigt hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s5978" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5979" xml:space="preserve">Der Geſichtsſinn ſchließlich bildet eins der ſchwierigſten <lb/>Themata, da ſich nur ſelten die Gelegenheit bietet, ihn in Ruhe <lb/>und Sicherheit zu beobachten. </s>
  <s xml:id="echoid-s5980" xml:space="preserve">Für gewöhnlich ſind ja die <lb/>Augen der Medien feſt geſchloſſen, ſo daß die Möglichkeit des <lb/>Sehens ausgeſchloſſen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5981" xml:space="preserve">Wenn aber der Geſichtsſinn einmal <lb/>in Kraft tritt, ſo gehen mit ihm eben ſolche Veränderungen <lb/>vor, wie mit den anderen Sinnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5982" xml:space="preserve">In den Fällen, wo Hypno-<lb/>tiſierte leſen konnten, erkannten ſie kleine Schrift noch im Halb-<lb/>dunkel (Hyſteriſche erkennen größere Gegenſtände im völligen <lb/>Dunkel). </s>
  <s xml:id="echoid-s5983" xml:space="preserve">Nach <emph style="sp">Bergſon</emph> zeichnete ein Hypnotiſierter noch Zellen <lb/>eines mikroſkopiſchen Präparates von 0,06 mm Durchmeſſer <lb/>ohne Zuhilfenahme eines Mikroſkops. </s>
  <s xml:id="echoid-s5984" xml:space="preserve">Mehrfach gelang auch <lb/>der Verſuch, daß die Medien diktierte Worte nachſchrieben; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5985" xml:space="preserve">doch muß man ſich hüten, dieſe Fähigkeiten immer unbedingt
<pb o="108" file="464" n="464"/>
auf Rechnung ihres Geſichtsſinnes zu ſchreiben, vielmehr ſcheint <lb/>hier der Taſtſinn oft eine Hauptrolle zu ſpielen, da das <lb/>Schreiben auch dann nicht unterbrochen wird, wenn das Papier <lb/>den Blicken entzogen iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s5986" xml:space="preserve">ja, ſelbſt unter ſolchen Verhältniſſen <lb/>werden noch nachträgliche Verbeſſerungen an der richtigen <lb/>Stelle angebracht.</s>
  <s xml:id="echoid-s5987" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5988" xml:space="preserve">In ähnlicher Weiſe, wie bei den fünf Sinnen, zeigen ſich <lb/>auch die größten Beeinfluſſungen der Hypnoſe beim Gedächtnis, <lb/>und zwar eben ſo ſehr nach der poſitiven, wie nach der nega-<lb/>tiven Seite hin. </s>
  <s xml:id="echoid-s5989" xml:space="preserve">Die meiſten Medien verlieren auf Befehl ihr <lb/>Gedächtnis völlig, ſie wiſſen ihren eigenen Namen, ihr Alter, <lb/>ihre Wohnung nicht, dagegen fällt ihnen dies alles wieder ein, <lb/>wenn es ihnen vorbuchſtabiert oder, falls ſie leſen können, <lb/>aufgeſchrieben wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s5990" xml:space="preserve">In vielen Fällen dagegen iſt die Er-<lb/>innerung an früher Erlebtes oder Gehörtes von einer über-<lb/>raſchenden Treue, und ſie iſt es auch, die bei vielen Suggeſtionen <lb/>eine ſo wunderbare Rolle ſpielt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5991" xml:space="preserve">Dieſe ſtark geſteigerte Ge-<lb/>dächtniskraft ſpielte z. </s>
  <s xml:id="echoid-s5992" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s5993" xml:space="preserve">in den berühmten Krafft-Ebingſchen <lb/>Verſuchen, die vor einigen Jahren ſo großes Aufſehen erregten, <lb/>eine Hauptrolle. </s>
  <s xml:id="echoid-s5994" xml:space="preserve">Es wurde einer etwa dreißigjährigen Dame <lb/>nacheinander ſuggeriert, ſie ſei 7, 15 und 19 Jahre alt, und <lb/>täuſchend ähnlich kopierte ſie das Verhalten des Kindes und <lb/>der jungen Mädchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5995" xml:space="preserve">Bei den durch Iolly in Berlin wieder-<lb/>holten gleichen Experimenten wurde einer etwa gleichaltrigen <lb/>Dame außerdem ſuggeriert, ſie ſei 70 Jahre alt, und auch bei <lb/>dieſem Verſuch nahm ſie ganz das Benehmen einer Greiſin an, <lb/>wenngleich die Nachahmung nicht ſo täuſchend war, wie bei den <lb/>übrigen Lebensaltern. </s>
  <s xml:id="echoid-s5996" xml:space="preserve">Gerade dieſer letztere Umſtand beweiſt, <lb/>in wie hohem Maße das Gedächtnis bei derartigen Vor-<lb/>gängen beteiligt iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s5997" xml:space="preserve">ſobald die Reproduktion eines Zuſtandes <lb/>nur auf Grund von Vorſtellungen geſchieht, die ſich die Perſon <lb/>im Lauf ihres Lebens davon gebildet hat, kann ſie nicht ſo <lb/>täuſchend ſein, als wenn ſie auf Grund eigener Erlebniſſe und
<pb o="109" file="465" n="465"/>
Erfahrungen geſchieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s5998" xml:space="preserve">Daß auch das Gedächtnis bei künſtlich <lb/>ſuggerierten Hallucinationen eine ganz hervorragende Rolle <lb/>ſpielt, braucht wohl kaum noch betont zu werden, nur ein ſehr <lb/>intereſſantes Beiſpiel, wie es von Richer erzählt wird, ſei hier <lb/>erwähnt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5999" xml:space="preserve">Einer hypnotiſierten Perſon wurde ſuggeriert, ſie <lb/>ſteige mit einem Luftballon in die Höhe und gelange auf den <lb/>Mond. </s>
  <s xml:id="echoid-s6000" xml:space="preserve">Nun glaubte ſie alles genau ſo zu ſehen, wie ſie es <lb/>einſt im <emph style="sp">Iules Verne</emph> geleſen hatte, ſie ſah eine große Kugel (die <lb/>Erdkugel) über ſich ſchweben, ſah allerhand ſeltſame Weſen u. </s>
  <s xml:id="echoid-s6001" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s6002" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s6003" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6004" xml:space="preserve">Die merkwürdigſte Erzählung von dieſen Steigerungen <lb/>der Gedächtnisſtärke iſt die, daß eine hypnotiſierte Hyſteriſche <lb/>einſt eine Arie aus dem zweiten Akt der “Afrikanerin” ſingen <lb/>konnte, von der ſie im wachen Zuſtande auch nicht eine Note <lb/>auswendig wußte.</s>
  <s xml:id="echoid-s6005" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div216" type="section" level="1" n="150">
<head xml:id="echoid-head171" xml:space="preserve"><emph style="bf">X. Die ſogenannte Poſthypnoſe.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6006" xml:space="preserve">Dies ſind die wichtigſten Erſcheinungen während der <lb/>Hypnoſe, auf die wir uns des genaueren hier nicht einlaſſen <lb/>können. </s>
  <s xml:id="echoid-s6007" xml:space="preserve">Doch noch ſind wir nicht bei den rätſelhafteſten Vor-<lb/>gängen angelangt, die Grenze der ſtaunenswerteſten Wunder <lb/>iſt noch nicht erreicht, denn noch haben wir nicht geſprochen von <lb/>der ſogenannten Poſthypnoſe d. </s>
  <s xml:id="echoid-s6008" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s6009" xml:space="preserve">derjenigen Hypnoſe, die noch <lb/>beliebig lange nach dem Erwachen aus dem hypnotiſchen Schlaf <lb/>ihre Wirkung entfaltet. </s>
  <s xml:id="echoid-s6010" xml:space="preserve">Es wird dem hypnotiſierten Medium ein <lb/>Befehl erteilt, es ſolle nach dem Erwachen zu einer beſtimmten <lb/>Zeit — ob am ſelben oder an irgend einem ſpäteren Tage, iſt <lb/>gleich — irgend eine Handlung begehen, und in der Mehrzahl <lb/>der Fälle wird dem Befehl Folge geleiſtet, als ob das Medium <lb/>noch willenlos in der Hypnoſe läge.</s>
  <s xml:id="echoid-s6011" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6012" xml:space="preserve">Wenn man ſich mit dieſen Fragen beſchäftigt, wenn man
<pb o="110" file="466" n="466"/>
zumal die Möglichkeiten und Konſequenzen erwägt, welche auf <lb/>gerichtlichem Gebiet möglich ſind, ſo kann einem allerdings <lb/>unheimlich zu Mute werden, zumal wenn man bedenkt, welch <lb/>weiter Spielraum dem Verbrechen gelaſſen iſt, ohne daß auch <lb/>nur eine Möglichkeit vorhanden zu ſein ſcheint, den fremden <lb/>Einfluß bei dem Thäter nachzuweiſen und den wahren Anſtifter <lb/>zu ermitteln. </s>
  <s xml:id="echoid-s6013" xml:space="preserve">Aber auch hier können wir ängſtliche Gemüter, <lb/>wenigſtens bis zu einem gewiſſen Grade, beruhigen, wie wir <lb/>im nächſten Kapitel zeigen wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6014" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6015" xml:space="preserve">Bleiben wir zunächſt bei den gewöhnlichen poſthypnotiſchen <lb/>Experimenten, bei denen es ſich ja meiſtens um viel harmloſere <lb/>Dinge handeln wird, als um Verbrechen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6016" xml:space="preserve">Nicht nur jede <lb/>Handlung wird pünktlich zur feſtgeſetzten Stunde vollführt, <lb/>ſondern auch körperliche Unbequemlichkeiten, wie Müdigkeit, <lb/>vorübergehende Übelkeit, Lähmung, Taubheit, Aphaſie (Sprach-<lb/>verluſt) treten, je nachdem, wie es befohlen wird, unmittelbar <lb/>nach der Hypnoſe ein, oder auch Wochen und Monate darauf, <lb/>und zwar genau am beſtimmten Tage. </s>
  <s xml:id="echoid-s6017" xml:space="preserve">Bis über ein Jahr <lb/>hinaus hat man ſchon derartige Wirkungen beobachtet, ohne daß <lb/>das Medium in der Zwiſchenzeit auch nur eine Ahnung davon <lb/>hatte, was vielleicht am allermerkwürdigſten iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6018" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6019" xml:space="preserve">Aus der unerſchöpflichen Fülle von poſthypnotiſchen Ex-<lb/>perimenten ſeien hier einige durch den Nancyer Arzt <emph style="sp">Bernheim</emph> <lb/>angeſtellte als Beiſpiele herausgegriffen, die vielleicht um ſo <lb/>mehr intereſſieren, als ſich eine leicht humoriſtiſche Färbung <lb/>in ihnen findet, wie ſie ſich wohl ſtets bei harmloſen poſt-<lb/>hypnotiſchen Experimenten geltend machen wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s6020" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6021" xml:space="preserve">Den erſten Fall erzählt Bernheim folgendermaßen: </s>
  <s xml:id="echoid-s6022" xml:space="preserve">“Ich <lb/>ſuggerirte dem Klienten, als er ſchlief, er würde nach ſeinem <lb/>Erwachen Herrn St.</s>
  <s xml:id="echoid-s6023" xml:space="preserve">, einen anweſenden Kollegen, ſehen und <lb/>zwar mit nur auf einer Seite raſiertem Geſicht und einer un-<lb/>geheuren ſilbernen Naſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s6024" xml:space="preserve">Als er geweckt wurde, wandten ſich <lb/>ſeine Augen zufällig auf unſeren Kollegen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6025" xml:space="preserve">er brach in lautes
<pb o="111" file="467" n="467"/>
Lachen aus: </s>
  <s xml:id="echoid-s6026" xml:space="preserve">'Sie haben wohl eine Wette gemacht? </s>
  <s xml:id="echoid-s6027" xml:space="preserve">Sie ſind <lb/>ja nur halb raſiert! Und dieſe Naſe! Sie gehören wohl zu <lb/>den Invaliden?</s>
  <s xml:id="echoid-s6028" xml:space="preserve">’” Das Medium wußte abſolut nichts davon, <lb/>daß ihm ein diesbezüglicher Befehl erteilt ward.</s>
  <s xml:id="echoid-s6029" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6030" xml:space="preserve">Einem anderen Klienten ſagte Bernheim: </s>
  <s xml:id="echoid-s6031" xml:space="preserve">“Da iſt ein <lb/>Buch über Chemie! Wenn Sie aufgewacht ſind, wird Ihnen <lb/>der Gedanke kommen, in dem Buch das Kapitel über Gold zu <lb/>leſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6032" xml:space="preserve">Sie werden im Inhaltsverzeichnis darnach ſuchen und <lb/>es dann leſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6033" xml:space="preserve">Dann werden Sie zu mir ſagen: </s>
  <s xml:id="echoid-s6034" xml:space="preserve">'Wenn ich <lb/>Gold hätte, würde ich Ihnen gern etwas geben, um Sie für <lb/>Ihre Mühen zu belohnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6035" xml:space="preserve">Leider habe ich keins. </s>
  <s xml:id="echoid-s6036" xml:space="preserve">Man <lb/>erwirbt kein Gold, weder in der Marine, noch im Eiſenbahn-<lb/>dienſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6037" xml:space="preserve">Dieſe Gedanken ſollen Ihnen während des Leſens <lb/>kommen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6038" xml:space="preserve">” Erſt nach einer vollen halben Stunde wurde das <lb/>Medium geweckt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6039" xml:space="preserve">Bernheim verließ das Zimmer, und als erzurück-<lb/>kam, ſah er den Betreffenden das Kapitel über Gold leſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6040" xml:space="preserve">Auf <lb/>Befragen, weshalb er dies thue, antwortete er: </s>
  <s xml:id="echoid-s6041" xml:space="preserve">“Es iſt nur <lb/>ſo eine Idee von mir.</s>
  <s xml:id="echoid-s6042" xml:space="preserve">” Nach einer Pauſe ſagte er: </s>
  <s xml:id="echoid-s6043" xml:space="preserve">“Wenn <lb/>ich Gold hätte, würde ich Sie gern belohnen, aber ich habe keins.</s>
  <s xml:id="echoid-s6044" xml:space="preserve">” <lb/>Abermals las er dann weiter, um nach einer Pauſe zu ſagen: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6045" xml:space="preserve">“Die Eiſenbahngeſellſchaft bereichert ihre Angeſtellten nicht.</s>
  <s xml:id="echoid-s6046" xml:space="preserve">” <lb/>Nachträglich war er aufs höchſte erſtaunt, als ihm mitgeteilt <lb/>wurde, daß er jene Gedanken nicht aus ſich ſelbſt haben ſolle, <lb/>ſondern daß ſie ihm ſuggeriert ſeien.</s>
  <s xml:id="echoid-s6047" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6048" xml:space="preserve">Schließlich noch ein von Bernheim mitgeteilter Fall, der <lb/>für die Wirkung der Hypnoſe nach längerem Zeitraum charak-<lb/>teriſtiſch iſt: </s>
  <s xml:id="echoid-s6049" xml:space="preserve">“Im Monat Auguſt 1883 ſage ich dem Somnam-<lb/>bulen S.</s>
  <s xml:id="echoid-s6050" xml:space="preserve">, einem alten Sergeanten, während ſeines Schlafes: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6051" xml:space="preserve">“Welchen Tag in der erſten Woche des Oktober haben Sie <lb/>frei?</s>
  <s xml:id="echoid-s6052" xml:space="preserve">” Er ſagte mir: </s>
  <s xml:id="echoid-s6053" xml:space="preserve">“Am Mittwoch.</s>
  <s xml:id="echoid-s6054" xml:space="preserve">” “Gut, alſo hören Sie, <lb/>am erſten Mittwoch des Oktober gehen Sie zu Dr. </s>
  <s xml:id="echoid-s6055" xml:space="preserve">Liébault; </s>
  <s xml:id="echoid-s6056" xml:space="preserve"><lb/>Sie werden bei ihm den Präſidenten der Republik antreffen, <lb/>der Ihnen eine Medaille und eine Penſion verleihen wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s6057" xml:space="preserve">”
<pb o="112" file="468" n="468"/>
“Ich werde hingehen,” ſagte er zu mir. </s>
  <s xml:id="echoid-s6058" xml:space="preserve">Ich ſpreche mit ihm <lb/>nicht mehr darüber. </s>
  <s xml:id="echoid-s6059" xml:space="preserve">Nach ſeinem Erwachen erinnert er ſich <lb/>an nichts. </s>
  <s xml:id="echoid-s6060" xml:space="preserve">Ich ſehe ihn in der Zwiſchenzeit mehrfach, ich <lb/>errege andere Suggeſtionen in ihm und erinnere ihn nie an <lb/>das Vorgegangene. </s>
  <s xml:id="echoid-s6061" xml:space="preserve">Am 3. </s>
  <s xml:id="echoid-s6062" xml:space="preserve">Oktober (63 Tage nach der Sug-<lb/>geſtion) erhalte ich folgenden Brief von Dr. </s>
  <s xml:id="echoid-s6063" xml:space="preserve">Liébault: </s>
  <s xml:id="echoid-s6064" xml:space="preserve">“Der <lb/>ſomnambuliſche S. </s>
  <s xml:id="echoid-s6065" xml:space="preserve">traf heut 10 Minuten vor 11 bei mir ein. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6066" xml:space="preserve">Nachdem er beim Eintreten Herrn F.</s>
  <s xml:id="echoid-s6067" xml:space="preserve">, an welchem er vorbei-<lb/>kam, begrüßt hatte, wandte er ſich nach links meiner Bibliothek <lb/>zu, ohne jemand anders zu bemerken, ich ſah ihn reſpektvoll <lb/>grüßen und hörte dann, wie er das Wort Excellenz ſagte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6068" xml:space="preserve">Da <lb/>er ziemlich leiſe ſprach, trat ich raſch auf ihn zu, in demſelben <lb/>Augenblick ſtreckte er ſeine rechte Hand aus und antwortete: </s>
  <s xml:id="echoid-s6069" xml:space="preserve"><lb/>“Danke, Excellenz.</s>
  <s xml:id="echoid-s6070" xml:space="preserve">” Ich fragte ihn hierauf, mit wem er ſich <lb/>unterhielte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6071" xml:space="preserve">“Nun, mit dem Präſidenten der Republik!” ant-<lb/>wortete er mir. </s>
  <s xml:id="echoid-s6072" xml:space="preserve">Ich erwähne hierbei, daß niemand ſich vor <lb/>ihm befand. </s>
  <s xml:id="echoid-s6073" xml:space="preserve">Dann wandte er ſich wieder zur Bibliothek, <lb/>grüßte, ſich verneigend, und ging dann wieder an Herrn F. </s>
  <s xml:id="echoid-s6074" xml:space="preserve"><lb/>vorbei. </s>
  <s xml:id="echoid-s6075" xml:space="preserve">Die Zeugen dieſes ſeltſamen Vorganges fragten mich <lb/>einige Minuten, nachdem er hinausgegangen war, ob das ein <lb/>Verrückter geweſen ſei. </s>
  <s xml:id="echoid-s6076" xml:space="preserve">Meine Antwort war, er ſei nicht <lb/>verrückt, ſondern ebenſo vernünftig wie ſie und ich; </s>
  <s xml:id="echoid-s6077" xml:space="preserve">ein anderer <lb/>ſei es, der in ihm arbeite.</s>
  <s xml:id="echoid-s6078" xml:space="preserve">” Der Kranke verſicherte noch ſpäter, <lb/>daß der Gedanke, zu Herrn Liébault zu gehen, ihm ganz <lb/>plötzlich am 3. </s>
  <s xml:id="echoid-s6079" xml:space="preserve">Oktober um 10 Uhr Morgens gekommen ſei, <lb/>daß er die ganzen vorhergehenden Tage nichts davon gewußt <lb/>hätte, hingehen zu müſſen und daß er an das dortige Erlebuis <lb/>keine Erinnerung mehr habe.</s>
  <s xml:id="echoid-s6080" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6081" xml:space="preserve">Gerade dieſer letzte Fall iſt ungemein intereſſant und be-<lb/>lehrend und eröffnet die weiteſten Ausblicke zur Erforſchung <lb/>des menſchlichen Geiſtes.</s>
  <s xml:id="echoid-s6082" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="113" file="469" n="469"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div217" type="section" level="1" n="151">
<head xml:id="echoid-head172" xml:space="preserve"><emph style="bf">XI. Vom verbrecheriſchen Mißbrauch des</emph> <lb/><emph style="bf">Hypnotismus.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6083" xml:space="preserve">Zahlloſe andere, überaus intereſſante und wiſſenſchaftlich <lb/>höchſt wertvolle Experimente laſſen ſich anſtellen und ſind an-<lb/>geſtellt worden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6084" xml:space="preserve">Unſeren Leſern aber wird, zumal nachdem ſie <lb/>von den Erſcheinungen der Poſthypnoſe gehört haben, jetzt <lb/>zunächſt nur eine Frage im Kopfe herumgehen und vielleicht <lb/>ſchon lange auf der Zunge ſchweben, nämlich die Frage: </s>
  <s xml:id="echoid-s6085" xml:space="preserve">“Iſt <lb/>es möglich, den Hypnotismus zu verbrecheriſchen Zwecken zu <lb/>mißbrauchen?</s>
  <s xml:id="echoid-s6086" xml:space="preserve">”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6087" xml:space="preserve">Wenn wir uns nun — dem Wunſche der Leſer gehorchend <lb/>— dieſem wichtigen Punkte zuwenden, ſo wollen wir die ge-<lb/>ſtellte Frage gleich von vornherein mit einem runden “Ja!” <lb/>beantworten . </s>
  <s xml:id="echoid-s6088" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s6089" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s6090" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s6091" xml:space="preserve">Aber erſchrick nur nicht, lieber Leſer; </s>
  <s xml:id="echoid-s6092" xml:space="preserve">Du <lb/>wirſt nachher ſehen, daß die Sache nicht ſo ſchlimm iſt, als <lb/>ſie anfangs erſcheint.</s>
  <s xml:id="echoid-s6093" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6094" xml:space="preserve">Zunächſt aber geſtatte, daß wir uns das kleine Vergnügen <lb/>machen dich ein wenig zu ängſtigen, und ſo wollen wir dir <lb/>denn einige thatſächlich vorgekommene Fälle vorführen, damit <lb/>du zunächſt ſiehſt, daß wirklich ſchon mehrfach das Verbrechen <lb/>ſich der Hypnoſe bemächtigt hat, um ſeine ſchwarzen Pläne <lb/>möglichſt unentdeckt durchzuführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6095" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6096" xml:space="preserve">Erſtens ſei erinnert an den ſogenannten Fall Czynski, <lb/>welcher Ende 1894 allgemeines, großes Aufſehen erregte. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6097" xml:space="preserve">Czynski hatte einer ſehr reichen Dame in der Hypnoſe befohlen <lb/>ihm allerhand Schenkungen zu machen und ſonſtige Vermögens-<lb/>vorteile zuzuwenden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6098" xml:space="preserve">Der Betrug wurde jedoch entdeckt und <lb/>Czynski beſtraft.</s>
  <s xml:id="echoid-s6099" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6100" xml:space="preserve">Derartigen Mißbräuchen der Hypnoſe wird das Medium <lb/>gar keinen Widerſtand entgegenzuſetzen vermögen, da es ſelbſt <lb/>oft gar nicht an dem Verbrechen beteiligt zu ſein braucht.</s>
  <s xml:id="echoid-s6101" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6102" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s6103" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s6104" xml:space="preserve">Volksbücher IX.</s>
  <s xml:id="echoid-s6105" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="114" file="470" n="470"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6106" xml:space="preserve">Man braucht ihm nur zu ſuggerieren, es ſoll — ob <lb/>während der Hypnoſe oder ſpäter, iſt dabei ganz gleich — <lb/>unter ein beſtimmtes Schriftſtück ſeinen Namen ſchreiben, man <lb/>wird gar keinen Widerſtand finden, und kann ſo unter jeden <lb/>beliebigen Wechſel, Vertrag, Denunziation u. </s>
  <s xml:id="echoid-s6107" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s6108" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s6109" xml:space="preserve">eine Unter-<lb/>ſchrift des Betreffenden erhalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s6110" xml:space="preserve">Ebenſo iſt während und <lb/>nach der Hypnoſe ſexuelle Mißhandlung möglich, wenn das <lb/>Medium nur paſſiv beteiligt iſt, während es vielleicht nicht <lb/>dazu zu bringen iſt, weit harmloſere Handlungen, die ſein <lb/>Schamgefühl verletzen würden, ſelber zu begehen, etwa zu <lb/>urinieren.</s>
  <s xml:id="echoid-s6111" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6112" xml:space="preserve">Ja, ſelbſt Diebſtahl und ſogar Mord können manchen Me-<lb/>dien befohlen werden, ohne daß dieſe dem Geheiß Widerſtand <lb/>entgegenzuſetzen vermögen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6113" xml:space="preserve">Ein zum Scherz befohlener Taſchen-<lb/>diebſtahl, “Leichenfledderei” u. </s>
  <s xml:id="echoid-s6114" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s6115" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s6116" xml:space="preserve">wird oft mit einer Geſchick-<lb/>lichkeit und Schlauheit, ja Raffiniertheit ausgeführt, daß man <lb/>das Medium für einen “geprüften Taſchendieb” halten könnte, <lb/>wie man wohl ſcherzhafterweiſe zu ſagen pflegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6117" xml:space="preserve">In Budapeſt <lb/>wurde einſt ein Experiment gemacht, um zu ſehen, ob ſich auch <lb/>die Ausübung eines Mordes durch Hypnoſe erreichen laſſe: </s>
  <s xml:id="echoid-s6118" xml:space="preserve">der <lb/>Experimentator befahl einer hypnotiſierten Frau an einem be-<lb/>ſtimmten Tage zur feſtgeſetzten Stunde ihr dreijähriges Kind <lb/>im Schlafe zu erwürgen, und thatſächlich wollte die Frau zur <lb/>befohlenen Stunde den Mord ausführen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6119" xml:space="preserve">natürlicherweiſe wurde <lb/>ſie daran gehindert.</s>
  <s xml:id="echoid-s6120" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6121" xml:space="preserve">Vor wenigen Jahren paſſierte es in Hamburg, daß ein <lb/>Knabe mitten in der Nacht plötzlich aufſtand, ein Beil aus der <lb/>Küche holte und ſeine ſchlafende Mutter damit erſchlug. </s>
  <s xml:id="echoid-s6122" xml:space="preserve">Da <lb/>durchaus kein Grund für dieſe That einzuſehen war und der <lb/>Knabe bis zum letzten Tage in beſtem, liebevollſten Einver-<lb/>nehmen mit ſeiner Mutter gelebt haben ſollte, ſo warf man <lb/>damals die Frage auf, ob er vielleicht unter poſthypnotiſchem <lb/>Einfluß gehandelt habe. </s>
  <s xml:id="echoid-s6123" xml:space="preserve">Leider berichteten die Zeitungen nicht,
<pb o="115" file="471" n="471"/>
zu welchem Ergebnis die Unterſuchung ſchließlich gelangte; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6124" xml:space="preserve">immerhin ſcheint die Annahme des hypnotiſchen Einfluſſes hier <lb/>nicht unberechtigt geweſen zu ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s6125" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6126" xml:space="preserve">In Paris ſuchte ein junger Arzt die drohenden Folgen <lb/>eines Liebesverhältniſſes dadurch zu beſeitigen, daß er ſeiner <lb/>Geliebten in der Hypnoſe befahl, einige Tage ſpäter, während <lb/>er verreiſt ſei, ſich mit ſeinem eigenen Revolver zu erſchießen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6127" xml:space="preserve">Das Mädchen gehorchte und verletzte ſich bei dem Selbſtmord-<lb/>verſuch ſehr ſchwer. </s>
  <s xml:id="echoid-s6128" xml:space="preserve">Nur durch einen Zufall gelang es dieſes <lb/>Verbrechen nachzuweiſen: </s>
  <s xml:id="echoid-s6129" xml:space="preserve">Das verwundete Mädchen wurde <lb/>nämlich in die Klinik <emph style="sp">Charcots</emph>, eines der hervorragendſten <lb/>Suggeſtionstherapeutiker, gebracht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6130" xml:space="preserve">Als Charcot erfuhr, daß <lb/>ſie ſchon mehrfach hypnotiſiert worden ſei, benutzte er ſie auch <lb/>einmal als Medium, um Experimente mit ihr zu machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6131" xml:space="preserve">In <lb/>der Hypnoſe fragte er ſie nach den Gründen ihres Selbſtmord-<lb/>verſuchs. </s>
  <s xml:id="echoid-s6132" xml:space="preserve">Auch im wachen Zuſtand war ſie mehrfach danach <lb/>gefragt worden; </s>
  <s xml:id="echoid-s6133" xml:space="preserve">da ihr aber von ihrem Geliebten einſuggeriert <lb/>worden war, ſie ſolle nach dem Erwachen alle während des <lb/>Tiefſchlafs geſchehenen Ereigniſſe vergeſſen, hatte ſie ſtets ge-<lb/>antwortet, ſie wiſſe nicht, weshalb ſie die That begangen habe — <lb/>für Thaten, die in der Hypnoſe oder Poſthypnoſe ausgeführt <lb/>wurden, iſt dieſe Antwort immer höchſt charakteriſtiſch. </s>
  <s xml:id="echoid-s6134" xml:space="preserve">Als <lb/>ſie nun jedoch abermals im hypnotiſchen Schlaf lag, erwachte <lb/>die Erinnerung an das Geſchehene, und ſie erzählte dem er-<lb/>ſtaunten Charcot alles, was ihr Geliebter ihr einſuggeriert hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6135" xml:space="preserve"><lb/>Der betreffende Arzt wurde nun vor Gericht geſtellt und zu <lb/>8 Jahren Zuchthaus verurteilt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6136" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6137" xml:space="preserve">Lieber Leſer, nachdem dich nun wohl bei dieſen Geſchichten <lb/>genug gegruſelt hat, wirſt du vermutlich ſchaudernd ausrufen: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6138" xml:space="preserve">“Ja aber, mein Himmel, das iſt ja entſetzlich; </s>
  <s xml:id="echoid-s6139" xml:space="preserve">da iſt man ja <lb/>vor keinem Verbrechen mehr ſicher! Wohin ſoll denn das führen!” <lb/>Aber beruhige dich; </s>
  <s xml:id="echoid-s6140" xml:space="preserve">es wird nichts ſo heiß gegeſſen, wie es ge-<lb/>kocht wird, und der verbrecheriſche Mißbrauch der Hypnoſe wird
<pb o="116" file="472" n="472"/>
ſich ſtets nur in engſten Grenzen halten können, ganz abgeſehen <lb/>davon, daß die Kenntnis des Hypnotiſierens einſtweilen nur <lb/>auf einen ſehr kleinen Kreis von Menſchen beſchränkt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6141" xml:space="preserve">Zu-<lb/>nächſt einmal muß ein Verbrecher, um die Hypnoſe irgendwie <lb/>zu mißbrauchen, ſehr genau die ſpeziellen Eigentümlicheiten <lb/>kennen, die ſich im Tiefſchlaf gerade ſeines Mediums geltend <lb/>machen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6142" xml:space="preserve">er muß wiſſen, ob ſeine Befehle auf Widerſtand zu <lb/>rechnen haben, und wie groß dieſer eventuell iſt, er muß wiſſen, <lb/>ob bei ſeinem Medium ſtets abſolute Erinnerungsloſigkeit durch <lb/>einen diesbezüglichen Befehl zu erzielen iſt oder nicht, ob poſt-<lb/>hypnotiſche Suggeſtionen mit derſelben unbedingten Zuberläſſig-<lb/>keit befolgt werden wie ſolche, die während des Schlafs ſelbſt <lb/>wirkend ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s6143" xml:space="preserve">kurzum, er muß ſein Medium ſchon ſehr oft und <lb/>eingehend ſtudiert haben, bevor er es wagen darf die Hypnoſe <lb/>für frevelhafte Zwecke zu benutzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6144" xml:space="preserve">Iſt er auch nur in einem <lb/>der angeführten Punkte ſeiner Sache nicht vollſtändig ſicher, ſo <lb/>läuft er ſtets Gefahr, daß an dem Eigenwillen des Mediums <lb/>ſein verbrecheriſches Vorhaben ſcheitert und ſomit vereitelt und <lb/>gleichzeitig verraten wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s6145" xml:space="preserve">Abgeſehen davon zeigt der letzte <lb/>der mitgeteilten Fälle, wie in allen verdächtigen Fällen ein <lb/>erneutes Hypnotiſieren genügt, um durch geſchickte Frageſtellung <lb/>zu konſtatieren, ob ein Verbrechen unter hypnotiſchem Einfluß <lb/>begangen wurde oder nicht — denn es iſt eine der allermerk-<lb/>würdigſten und ſtaunenswerteſten Thatſachen, daß die Erinne-<lb/>rung an alle Vorgänge im hypnotiſchen Schlaf, welche im <lb/>wachen Zuſtand vollkommen unterdrückt ſein kann, in der Hyp-<lb/>noſe und nur in der Hypnoſe wieder zu erwecken iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6146" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6147" xml:space="preserve">In Anbetracht aller dieſer Umſtände iſt die Ausſicht, daß <lb/>das einem Medium ſuggerierte Verbrechen wirklich vollführt <lb/>wird und außerdem unentdeckt bleibt, eine gar zu geringe, als <lb/>daß man einen weitgehenden Mißbrauch der Hypnoſe in dieſer <lb/>Beziehung ernſtlich zu befürchten hätte; </s>
  <s xml:id="echoid-s6148" xml:space="preserve">dem hypnotiſierenden <lb/>Frevler iſt alſo in ſeinem eigenen Intereſſe gewiſſermaßen
<pb o="117" file="473" n="473"/>
anzuraten, größere Verbrechen, die er beabſichtigt, lieber ohne <lb/>Hypnoſe und ohne Medium ſelber zu begehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6149" xml:space="preserve">— Und ſich ſelbſt <lb/>kann jeder gegen hypnotiſchen Mißbrauch ſchützen, indem er <lb/>ſich von nicht völlig zuverläſſigen Perſonen niemals unter vier <lb/>Augen hypnotiſieren läßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6150" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6151" xml:space="preserve">Hoffentlich iſt durch dieſe Betrachtungen, lieber Leſer, deine <lb/>übergroße Furcht vor der Hypnoſe beſeitigt und deine vielleicht <lb/>ſchon geſtörte Nachtruhe wieder hergeſtellt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6152" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div218" type="section" level="1" n="152">
<head xml:id="echoid-head173" xml:space="preserve"><emph style="bf">XII. Iſt die Hypnoſe nicht ſchädlich?</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6153" xml:space="preserve">Noch ein in den weiteſten Kreiſen verbreitetes Bedenken <lb/>gegen die Anwendung der Hypnoſe — ſei es, wozu es ſei — <lb/>müſſen wir behandeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s6154" xml:space="preserve">Überall — und ganz beſonders bei <lb/>ſolchen Leuten, die nie eine Hypnoſe mit angeſehen haben und <lb/>nicht die Bohne davon verſtehen — hört man mit einer Be-<lb/>ſtimmtheit und Sicherheit, die einer beſſern Sache würdig wäre, <lb/>das Urteil ausſprechen, daß alles Hypnotiſieren für das Me-<lb/>dium geſundheitsſchädlich und nervenzerrüttend ſei. </s>
  <s xml:id="echoid-s6155" xml:space="preserve">Nun, ganz <lb/>unbegründet ſind dieſe Bedenken freilich nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6156" xml:space="preserve">Durch unge-<lb/>ſchickte Suggeſtion oder durch gar zu häufig raſch wiederholte <lb/>Hypnoſe können allerdings Unbequemlichkeiten harmloſerer Art <lb/>für das Medium entſtehen, wie Mattigkeit, Kopfſchmerzen, vor-<lb/>übergehende, leichte Nervoſität, Schlafloſigkeit u. </s>
  <s xml:id="echoid-s6157" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s6158" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s6159" xml:space="preserve">, Un-<lb/>bequemlichkeiten, die allerdings in längſtens 24 Stunden von <lb/>ſelbſt wieder ſchwinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6160" xml:space="preserve">Ebenſo kann eine leichte Benommen-<lb/>heit und Müdigkeit für kurze Zeit eintreten, wenn die Hypnoſe <lb/>eingeleitet wurde, aber ein feſterer Schlaf nicht zu erzielen war. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6161" xml:space="preserve">Aber einem geübten Hypnotiſeur werden derartige Zufälle nicht <lb/>ſo leicht paſſieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s6162" xml:space="preserve">Er wird ſeinem Medium, bevor er es er-<lb/>weckt — und zwar nicht plötzlich, ſondern langſam vorbereitend
<pb o="118" file="474" n="474"/>
erweckt —, den Befehl erteilen, daß es nach dem Erwachen <lb/>keinerlei Unbequemlichkeiten haben, ſich munter und friſch fühlen <lb/>und in der nächſten Nacht vortrefflich ſchlafen würde; </s>
  <s xml:id="echoid-s6163" xml:space="preserve"><emph style="sp">unter <lb/>ſolchen Bedingungen iſt aber die Hypnoſe auch ab-<lb/>ſolut unſchädlich</emph>.</s>
  <s xml:id="echoid-s6164" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6165" xml:space="preserve">Da ferner während der Hypnoſe oft der Atem recht ſchnell <lb/>und tief geht, wird der geübte Hypnotiſeur ſeinem Medium <lb/>gleich zu Beginn des Schlafes die Weiſung geben, recht ruhig <lb/>und gleichmäßig zu atmen und ihm ſofort Mitteilung zu machen, <lb/>wenn ſich irgendwelche Unbequemlichkeiten oder Schmerzen ein-<lb/>ſtellen ſollten. </s>
  <s xml:id="echoid-s6166" xml:space="preserve">Herz- oder lungenleidenden Perſonen iſt jedoch <lb/>abzuraten, ſich hypnotiſieren zu laſſen, weil eben oft die <lb/>Atmungsorgane vorübergehend zu erhöhter Thätigkeit während <lb/>des hypnotiſchen Schlafs angeregt werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s6167" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6168" xml:space="preserve">Am 17. </s>
  <s xml:id="echoid-s6169" xml:space="preserve">September 1894 paſſierte ein Ereignis, das <lb/>monatelang die Gemüter in Aufregung hielt und die Furcht <lb/>vor der Hypnoſe, zumal bald darauf der oben genannte Prozeß <lb/>Czynski von ſich reden machte, ins Unermeſſene wachſen ließ. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6170" xml:space="preserve">Auf einem ungariſchen Schloſſe war ein Fräulein von Salamon, <lb/>das von einem gewiſſen Neukomm ſchon oft hypnotiſiert worden <lb/>war, plötzlich während des hypnotiſchen Schlafs geſtorben. </s>
  <s xml:id="echoid-s6171" xml:space="preserve"><lb/>Alles ſchrie Zeter und Mordio, und die Zeitungen überboten <lb/>einander in den unglaublichſten Übertreibungen des wirklich <lb/>Geſchehenen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6172" xml:space="preserve">die wunderbarſten und fabelhafteſten Kombina-<lb/>tionen mit hochromantiſchem Beigeſchmack wurden an den Vor-<lb/>fall geknüpft, und dabei hackten die Zeitungsſchreiber, die ja <lb/>bekanntlich alles verſtehen und verſtehen müſſen, von allen <lb/>Seiten unbarmherzig auf den Hypnotismus los.</s>
  <s xml:id="echoid-s6173" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6174" xml:space="preserve">Zwar ſtellte ſich nachher durch die Unterſuchung heraus, <lb/>daß der Tod des Fräulein von Salamon durch einen ganz <lb/>gewöhnlichen Schlaganfall erfolgt ſei, der höchſt wahrſcheinlich <lb/>in gar keinem direkten Zuſammenhang mit der Hypnoſe ſtand <lb/>und auch erfolgt wäre, wenn die junge Dame zufällig an
<pb o="119" file="475" n="475"/>
dieſem Tage nicht hypnotiſiert worden wäre, aber wer kümmerte <lb/>ſich nachher um dieſe Stimme der ruhigen Überlegung? </s>
  <s xml:id="echoid-s6175" xml:space="preserve">Die <lb/>haarſträubenden Schauermärchen waren einmal in die Welt <lb/>geſetzt, und — wie es ja immer zu geſchehen pflegt — waren <lb/>nun nicht mehr zu widerrufen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6176" xml:space="preserve">Das Ergebnis der wiſſenſchaft-<lb/>lichen Unterſuchung des Falles war viel zu wenig ſenſationell, <lb/>als daß man es irgendwie beachtet oder gar geglaubt hätte, <lb/>und ſo ſpukt denn der “Fall Salamon” noch heute in den <lb/>Köpfen und läßt gar manchen, wenn er nur das Wort <lb/>“Hypnotismus” hört, die Hände ſchaudernd und empört über <lb/>den Kopf zuſammenſchlagen mit der Bitte, ihm mit dem “greu-<lb/>lichen Unfug” zehn Schritte vom Leibe zu bleiben.</s>
  <s xml:id="echoid-s6177" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6178" xml:space="preserve">Leider aber hatten die Fälle Salamon und Czynski noch <lb/>mancherlei Folgen recht bedauerlicher Natur. </s>
  <s xml:id="echoid-s6179" xml:space="preserve">In Berlin z. </s>
  <s xml:id="echoid-s6180" xml:space="preserve">B.</s>
  <s xml:id="echoid-s6181" xml:space="preserve">, <lb/>und wohl auch anderswo, wurden alle öffentlichen Vorträge <lb/>über Hypnotismus und alle öffentlichen hypnotiſchen Demon-<lb/>ſtrationen, die man vorher unbedenklich erlaubt hatte, polizeilich <lb/>verboten. </s>
  <s xml:id="echoid-s6182" xml:space="preserve">Natürlich iſt ein ſolches Verbot ein Schlag ins <lb/>Waſſer, denn der Mißbrauch der Hypnoſe, dem man damit <lb/>ſteuern wollte, und die unbefugte Anwendung derſelben werden <lb/>dadurch nicht im geringſten gemindert, wohl aber wird dem <lb/>Publikum die Möglichkeit entzogen, ſich über die Thatſachen <lb/>des Hypnotismus Belehrung zu verſchaffen und ſomit die <lb/>Kenntniſſe zu erwerben, um ſich gegen etwaigen Mißbrauch <lb/>desſelben ſelber zu ſchützen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6183" xml:space="preserve">Das Mißtrauen gegen den Hypno-<lb/>tismus wird durch jenes unangebrachte Verbot nur unnötig <lb/>gefördert und ſomit auch die vielfachen Segnungen der ſug-<lb/>geſtiven Behandlung, denen wir noch ein letztes Kapitel widmen <lb/>wollen, arg beeinträchtigt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6184" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="120" file="476" n="476"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div219" type="section" level="1" n="153">
<head xml:id="echoid-head174" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIII. Der Nutzen des Hypnotismus.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6185" xml:space="preserve">Schon in den bisherigen Auseinanderſetzungen bot ſich <lb/>einige Male die Gelegenheit, auf den praktiſchen Nutzen des <lb/>Hypnotismus hinzuweiſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6186" xml:space="preserve">Wir ſahen, daß man ihn ſchon <lb/>mehrfach angewendet hat, um für die Dauer von operativen <lb/>und geburtshülflichen Eingriffen Schmerzloſigkeit zu erzeugen, <lb/>und der Leſer wird, nachdem er von der weittragenden Be-<lb/>deutung der Poſthypnoſe gehört hat, ſich ſchon faſt von ſelbſt <lb/>ſagen können, daß gewiſſe krankhafte Zuſtände ſich mit Hülfe <lb/>der Poſthypnoſe ſogar dauernd beſeitigen laſſen müſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6187" xml:space="preserve">So <lb/>kann man Schmerzen aller Art unterdrücken, vor allem ner-<lb/>vöſen Kopfſchmerz und Zahnſchmerz — wenngleich gegen den <lb/>letzteren ſtets die Hülfe eines tüchtigen Zahnarztes mehr als <lb/>der Hypnotismus zu empfehlen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6188" xml:space="preserve">Aber auch gegen Schlaf-<lb/>loſigkeit, Verdauungsbeſchwerden, Menſtruationsſtörungen und <lb/>Übelkeiten mannigfacher Art, ja ſelbſt gegen leichtere Lähmun-<lb/>gen verleiht der Hypnotismus eine vortreffliche Abhülfe, kurz, <lb/>gegen die verſchiedenartigſten Beſchwerden und Gebrechen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6189" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6190" xml:space="preserve">Diejenigen Ärzte, welche man als Suggeſtionstherapeutiker <lb/>bezeichnet, ſind auf dem beſten Wege, den Hypnotismus zu einer <lb/>Sonderwiſſenſchaft im Gebiet der Heilkunde heranzubilden und <lb/>haben bereits den Beweis geliefert, daß die ſuggeſtive Be-<lb/>handlung in vielen Fällen vor allen andren den Vorzug <lb/>verdient.</s>
  <s xml:id="echoid-s6191" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6192" xml:space="preserve">Die Führung auf dieſem Gebiete hat unbeſtritten Frank-<lb/>reich übernommen, wo ſchon ſeit Jahrzehuten der Hypnotismus <lb/>in großartigſtem Maßſtabe zu Heilzwecken benutzt wird; </s>
  <s xml:id="echoid-s6193" xml:space="preserve"><emph style="sp">Char-<lb/>cot, Liébault, Bernheim</emph>, in Paris und Nancy, und <lb/>andre Forſcher haben einen Weltruf als Suggeſtionstherapeutiker <lb/>e@langt; </s>
  <s xml:id="echoid-s6194" xml:space="preserve">von den Lebenden dürfte zur Zeit Forel in Zürich <lb/>der berühmteſte ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s6195" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="121" file="477" n="477"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6196" xml:space="preserve">Um zu zeigen, wie ſegensreich der Hypnotismus verwertet <lb/>werden kann, mögen hier kurz zwei intereſſante Fälle mitgeteilt <lb/>werden, welche Dr. </s>
  <s xml:id="echoid-s6197" xml:space="preserve">Starcke aus Heidelberg im Jahre 1896 <lb/>veröffentlichte:</s>
  <s xml:id="echoid-s6198" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6199" xml:space="preserve">Ein 56 jähriger Goldarbeiter litt ſchon ſeit Jahren an <lb/>Krampfanfällen, die, von den Geſichtsmuskeln ausgehend, ſich <lb/>ſpäter auch auf die Hals-, Nacken- und Bauchmuskeln über-<lb/>trugen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6200" xml:space="preserve">Die Krämpfe traten oft 10 bis 20 Mal täglich ein <lb/>und bewirkten ſtändige Schlafloſigkeit nebſt ſtarker Neigung zum <lb/>Erbrechen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6201" xml:space="preserve">Starcke ſuchte dem Leiden durch hypnotiſche Sug-<lb/>geſtion beizukommen und zwar mit vortrefflichem Erfolge. </s>
  <s xml:id="echoid-s6202" xml:space="preserve">Der <lb/>Patient wurde anfangs täglich, ſpäter alle 2 bis 3 Tage {1/4} <lb/>bis {1/2} Stunde lang hypnotiſch behandelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6203" xml:space="preserve">Während zuerſt nur <lb/>die leichteren Stadien des hypnotiſchen Schlafes (Unfähigkeit <lb/>die Augen von ſelbſt zu öffnen) erreicht wurden, gelang es <lb/>ſchon nach wenigen Sitzungen, die tiefſten Stadien der Hypnoſe <lb/>zu erzielen, ſo daß der Patient für alle Suggeſtionen empfäng-<lb/>lich wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s6204" xml:space="preserve">Durch geeignete Suggeſtionen gelangte Starcke <lb/>dahin, daß ſchon von der vierten Sitzung an die Krämpfe <lb/>vollſtändig verſchwanden und innerhalb weniger Wochen konnte <lb/>der Patient als “geheilt” entlaſſen werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s6205" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6206" xml:space="preserve">Im zweiten Fall handelte es ſich um eine 22 jährige <lb/>Krankenſchweſter, welche an einer eitrigen Mittelohrentzündung <lb/>litt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6207" xml:space="preserve">Die Krankheit hatte Schlafloſigkeit, Kopfſchmerz, Fieber, <lb/>Schwindel und Erbrechen nach jeder Nahrungsaufnahme im <lb/>Gefolge, welch letzteres als hyſteriſch gedeutet wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s6208" xml:space="preserve">Die <lb/>Krankheit verſchlimmerte ſich trotz mehrfacher Operationen von <lb/>Monat zu Monat, endlich ſuchte man wenigſtens dem ſtändigen <lb/>Erbrechen, das ſich oft 6 Mal täglich einſtellte und wodurch <lb/>die Patientin ſchon völlig entkräftet war, ſuggeſtiv beizukommen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6209" xml:space="preserve">Schon in der zweiten hypnotiſchen Sitzung erreichte Starcke, <lb/>daß in der Hypnoſe verabreichte Milch, “welche nicht gebrochen <lb/>werden kann” auch nach dem Erwachen behalten wurde, während
<pb o="122" file="478" n="478"/>
Milch, welche die Patientin im wachen Zuſtande genoß, als-<lb/>bald wieder ausgebrochen wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s6210" xml:space="preserve">Bald gelang es, das Er-<lb/>brechen auch im wachen Zuſtande zu unterdrücken, und nun <lb/>ſuchte Starcke (in der vierten Sitzung) auch gegen den Kopf-<lb/>ſchmerz vorzugehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6211" xml:space="preserve">Auch dies Bemühen war bald von Erfolg <lb/>gekrönt, und in der neunten Sitzung wagte Starcke ſchon die <lb/>Schwindelanfälle zu bekämpfen, ebenfalls erfolgreich. </s>
  <s xml:id="echoid-s6212" xml:space="preserve">So war <lb/>bereits nach 16 Tagen die Kranke wieder “zu einem für <lb/>ſchwere Arbeit tauglichen lebensfrohen Weſen” gemacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6213" xml:space="preserve">Der <lb/>Krankheit ſelbſt natürlich konnte vermittelſt der Hypnoſe nicht <lb/>beigekommen werden, die lebensgefährlichen Symptome aber <lb/>waren auf ſuggeſtivem Wege beſeitigt oder doch auf ein Mi-<lb/>nimum beſchränkt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6214" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6215" xml:space="preserve">Man kann daraus erſehen, ein wie bedeutungsvoller und <lb/>ſegensreicher Faktor die Hypnoſe bei geſchickter und mehrfach <lb/>wiederholter Anwendung zu werden vermag. </s>
  <s xml:id="echoid-s6216" xml:space="preserve">Natürlich darf <lb/>man nicht, wie manche Leute thun, ſich einbilden, daß man <lb/>allen Krankheiten auf dieſe Weiſe beizukommen vermag: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6217" xml:space="preserve">ſelbſtverſtändlich kann man nicht Schwindſucht oder Krebs <lb/>oder ähnliche Krankheiten durch Hypnoſe bekämpfen, ebenſo-<lb/>wenig wie man etwa einen gebrochenen Arm durch Suggeſtion <lb/>zu heilen vermag. </s>
  <s xml:id="echoid-s6218" xml:space="preserve">Aber faſt alle auf Nervenſtörungen be-<lb/>ruhenden Leiden und Beſchwerden ſind auf jenem Wege entweder <lb/>ganz zu beſeitigen oder doch weſentlich zu beſſern.</s>
  <s xml:id="echoid-s6219" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6220" xml:space="preserve">Auch gegen mancherlei ſchlechte und verderbliche An-<lb/>gewohnheiten und Laſter, ſo vor allem gegen Alkoholismus, <lb/>Morphinismus und Onanie hat man den Hypnotismus mit <lb/>glücklichſtem Erfolge angewandt, ferner auch gegen kleinere <lb/>Unbequemlichkeiten des Daſeins, wie Melancholie, Zerſtreutheit, <lb/>Jähzorn, Befangenheit, Vergeßlichkeit u. </s>
  <s xml:id="echoid-s6221" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s6222" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s6223" xml:space="preserve">Endlich hat man <lb/>auch in Fällen, wo ein Kranker ſich nach Möglichkeit ruhen und <lb/>kräftigen ſollte, den Patienten in hypnotiſchen Schlaf verſetzt und <lb/>ihn durch Wochen, ja ſchon durch Monate darin verweilen laſſen,
<pb o="123" file="479" n="479"/>
wobei es durch geeignete Suggeſtionen erreicht wurde, daß die <lb/>verſchiedenen notwendigen Funktionen des Organismus, vor <lb/>allem Eſſen und Trinken auch im Schlafe verrichtet wurden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6224" xml:space="preserve">Vor <lb/>allem der bedeutende ſchwediſche Suggeſtionstherapeutiker <lb/><emph style="sp">Wetterſtrand</emph> in Stockholm und der bekannte Münchener Arzt <lb/>Freiherr <emph style="sp">von Schrenck-Notzing</emph> haben in dieſer Beziehung <lb/>ganz Erſtaunliches erreicht.</s>
  <s xml:id="echoid-s6225" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6226" xml:space="preserve">Wie verſchwinden dieſen Segnungen des Hypnotismus <lb/>gegenüber die Schäden, welche durch die unbefugte Anwendung <lb/>desſelben hier und da hervorgerufen wurden! Und wie thöricht <lb/>iſt nach dem Geſagten die in Laienkreiſen faſt allgemeine Angſt <lb/>vor jenen ſo geheimnißvollen Erſcheinungen! Wenn die praktiſche <lb/>Anwendung des Hypnotismus ſich erſt allgemeiner Bahn bricht <lb/>in den Kreiſen der Ärzte — und dieſe ſind allein die berufenen <lb/>Jünger jener Wiſſenſchaft! — ſo wird man vielmehr der Heil-<lb/>kunde einen nicht unbedeutenden Aufſchwung prophezeien können.</s>
  <s xml:id="echoid-s6227" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6228" xml:space="preserve">Druck von G. </s>
  <s xml:id="echoid-s6229" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph> in Berlin.</s>
  <s xml:id="echoid-s6230" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb file="480" n="480"/>
<pb file="481" n="481"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div220" type="section" level="1" n="154">
<head xml:id="echoid-head175" xml:space="preserve"><emph style="bf">Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher</emph> <lb/>von <lb/><emph style="bf">A. Bernſtein.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head176" xml:space="preserve">Fünfte, reich iſſuſtrierte Aufſage.</head>
<head xml:id="echoid-head177" xml:space="preserve">Durchgeſehen und verbeſſert <lb/>von <lb/><emph style="bf">H. Potonié</emph> und <emph style="bf">R. Hennig.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head178" xml:space="preserve">Zehnter Teil.</head>
  <figure>
    <image file="481-01" xlink:href="http://echo.mpiwg-berlin.mpg.de/zogilib?fn=/permanent/library/xxxxxxxx/figures/481-01"/>
  </figure>
</div>
<div xml:id="echoid-div221" type="section" level="1" n="155">
<head xml:id="echoid-head179" xml:space="preserve"><emph style="bf">Berſin.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head180" xml:space="preserve"><emph style="sp">Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung</emph>.</head>
<pb file="482" n="482"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div222" type="section" level="1" n="156">
<head xml:id="echoid-head181" xml:space="preserve">Das Necht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.</head>
<pb file="483" n="483"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div223" type="section" level="1" n="157">
<head xml:id="echoid-head182" xml:space="preserve"><emph style="bf">Inhaltsverzeichnis.</emph></head>
<note position="right" xml:space="preserve"> <lb/># # Seite <lb/>## <emph style="bf">Vom Leben der Pflanzen, der Tiere und der Menſchen. I.</emph> <lb/>I. # Das Leben in ſeinen verſchiedenen Arten # 1 <lb/>II. # Die ſogenannte “tote” und “lebende” Natur # 4 <lb/>III. # Tod und Leben # 7 <lb/>IV. # Die Stufenreihen des Lebens # 10 <lb/>V. # Die einfachſten Pflanzen # 13 <lb/>VI. # Die Einzelzelle # 16 <lb/>VII. # Wachstum und Verbreitung der Einzelzelle # 19 <lb/>VIII. # Wie die Pflanzen wachſen # 22 <lb/>IX. # Lebensthätigkeit der Pflanze # 24 <lb/>X. # Die Verwandlung unbelebter Stoffe in belebte durch die <lb/>## Pflanze # 26 <lb/>XI. # Von dem Rätſel des Lebens # 29 <lb/>XII. # Die eigne Art des Wachstums der Pflanze # 31 <lb/>XIII. # Die Bildung des Baumes # 34 <lb/>XIV. # Genaueres über den inneren Bau der Pflanzen # 36 <lb/>XV. # Mittel zur Erreichung der Feſtigkeit bei den Pflanzen # 38 <lb/>XVI. # Die Zellen des Skelettgewebes # 40 <lb/>XVII. # Die Bedeutung der Steinkörper im Fruchtfleiſche der Birnen # 41 <lb/>XVIII. # Die Eigenſchaften der Skelettzellen # 46 <lb/>XIX. # Anordnung des Skelettgewebes im Pflanzenkörper # 48 <lb/>XX. # Allſeitig biegungsfeſte Organe # 51 <lb/>XXI. # Bau der auf Zug in Anſpruch genommenen Organe # 57 <lb/>XXII. # Das Leben eines Baumes # 59 <lb/>XXIII. # Das Wunder der Blüte # 62 <lb/>XXIV. # Ein ſich klärendes Rätſel # 65 <lb/>XXV. # Das Rätſel des Lebens und das Rätſel des Todes # 66 <lb/>XXVI. # Vom Leben des Tieres # 68 <lb/>XXVII. # Der Übergang von den Pflanzen zur Tierwelt # 71 <lb/>XXVIII. # Die Entwickelung der Tierwelt # 74 <lb/></note>
<pb o="IV" file="484" n="484"/>
<note position="right" xml:space="preserve"> <lb/># # Scite <lb/>XXIX. # Die Selbſtzeugung # 77 <lb/>XXX. # Zur Geſchichte des Tierlebens auf der Erde # 81 <lb/>XXXI. # Empfindungen und Bewegungen der Tiere # 84 <lb/>XXXII. # Der Wohnſitz der Empfindung im Tiere # 87 <lb/>XXXIII. # Wo man die Schmerzen hat # 90 <lb/>XXXIV. # Weitere Verſuche über die Empfindungen # 93 <lb/>XXXV. # Das Pflanzenleben der Tiere # 96 <lb/>XXXVI. # Das ſympathiſche Nervenſyſtem # 99 <lb/>XXXVII. # Von der Innen- und Außenwelt # 102 <lb/>XXXVIII. # Das Tier und die Außenwelt # 105 <lb/>XXXIX. # Wie die Eindrücke der Außenwelt den Weg zum <lb/># Gehirn finden # 108 <lb/>XL. # Von den übrigen Sinnesnerven # 111 <lb/>XLI. # Die Fähigkeit der Bewegung des Tierleibes # 114 <lb/>XLII. # Wie die Musk@ln zur Bewegung angereizt werden # 117 <lb/>XLIII. # Eine Nervendurchſchueidung # 119 <lb/>XLIV. # Eine weitere Folge der Nervendurchſchneidung # 122 <lb/>XLV. # Die Teilung der Nervenarbeit # 123 <lb/>XLVI. # Ein Nervengiſt # 126 <lb/>XLVII. # Das Pfeilgift und ſeine Gegenmittel # 129 <lb/>XLVIII. # Die Nervenverwachſung # 133 <lb/>XLIX. # Die Nervenverheilung # 137 <lb/>L. # Ein künſtlicher Nerv # 139 <lb/>LI. # Nervenreize # 142 <lb/>LII. # Nervenleitung # 147 <lb/>LIII. # Fortpflanzung der Nervenleitung # 150 <lb/>LIV. # Geſchwindigkeit und Nervenleitung # 154 <lb/>LV. # Neueſtes über den Aufbau des Nervenſyſtems # 157 <lb/></note>
<pb file="485" n="485"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div224" type="section" level="1" n="158">
<head xml:id="echoid-head183" xml:space="preserve"><emph style="bf">Dom Leben der Pflanzen, der Ciere und <lb/>der Menſchen. I.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head184" xml:space="preserve"><emph style="bf">I. Das Leben in ſeinen verſchiedenen Arten.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6231" xml:space="preserve">Alles, was von ſeinesgleichen gezeugt und geboren wird; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6232" xml:space="preserve">alles, was während ſeines Daſeins fremde Stoffe in ſich auf-<lb/>nimmt und dadurch wächſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s6233" xml:space="preserve">alles, was verbrauchte Stoffe von <lb/>ſich ausſcheidet und ſo die Stoffe wechſelt; </s>
  <s xml:id="echoid-s6234" xml:space="preserve">alles, was in ſeinem <lb/>Wachstum die höchſte Stufe erreicht und nun ſeinesgleichen <lb/>zeugt; </s>
  <s xml:id="echoid-s6235" xml:space="preserve">alles, was nach dieſer Zeit ſeines höchſten Wachstums <lb/>wieder zu verkümmern anfängt, bis es dann wieder vergeht: </s>
  <s xml:id="echoid-s6236" xml:space="preserve"><lb/>Alles dies lebt; </s>
  <s xml:id="echoid-s6237" xml:space="preserve">das heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s6238" xml:space="preserve">alle Dinge in der Welt, die dieſe <lb/>genannten Zuſtände an ſich beobachten laſſen, von dieſen ſagt <lb/>man mit Recht, daß ſie leben.</s>
  <s xml:id="echoid-s6239" xml:space="preserve"><anchor type="note" xlink:href="" symbol="*)"/></s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6240" xml:space="preserve">Eine Pflanze lebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6241" xml:space="preserve">Sofern ſie zu den Blütenpflanzen <lb/>gehört, iſt ſie von der Mutterpflanze, alſo von ihresgleichen, in <lb/>der Zeit der Blüte gezeugt worden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6242" xml:space="preserve">Eine Pflanze lebt, denn <lb/>ſie iſt zur Keimzeit des Samens geboren worden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6243" xml:space="preserve">Eine Pflanze <lb/>lebt, denn ſie wächſt, indem ſie fortwährend fremde Stoffe aus <lb/>dem Boden, aus der Luft in ſich aufnimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6244" xml:space="preserve">Eine Pflanze <lb/>lebt, denn ſie ſcheidet wieder verbrauchte Stoffe, wie Waſſer <lb/>und Sauerſtoff, von ſich aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s6245" xml:space="preserve">Eine Pflanze lebt, denn ſie</s>
</p>
<note symbol="*)" position="foot" xml:space="preserve">(Eine genauere (wiſſenſchaftlichere) Begriffsbeſtimmung des Lebens <lb/>wurde in Teil I S. 25—29 geboten.</note>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6246" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s6247" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s6248" xml:space="preserve">Volksbücher X.</s>
  <s xml:id="echoid-s6249" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="2" file="486" n="486"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6250" xml:space="preserve">ſchreitet im Wachstum vor und beginnt dann zu einer be-<lb/>ſtimmten Zeit Blüten zu tragen, dieſe zu befruchten, reifen zu <lb/>laſſen, damit aus denſelben neue Pflanzen ſich erzeugen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6251" xml:space="preserve">Eine <lb/>Pflanze lebt, denn ſie beginnt, nachdem ſie den höchſten Grad <lb/>des Wachstums erreicht hat, wieder zu zerfallen, bis ſie end-<lb/>lich ganz und gar vergeht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6252" xml:space="preserve">Eine Pflanze lebt, denn eine <lb/>Pflanze <emph style="sp">ſtirbt</emph>.</s>
  <s xml:id="echoid-s6253" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6254" xml:space="preserve">Man ſagt daher mit Recht, daß Zeugung, Geburt<anchor type="note" xlink:href="" symbol="*)"/>, Er-
nährung, Wachstum, Stoffwechſel, Vermehrung und Tod die <lb/>ſicherſten Merkmale des Lebens ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s6255" xml:space="preserve">Das heißt, alles was <lb/>lebt, iſt gezeugt, geboren worden, ernährt ſich, wächſt, wechſelt <lb/>den Stoff, vermehrt ſich und verkümmert dann und ſtirbt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6256" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6257" xml:space="preserve">All dieſe Merkmale des Lebens finden ſich an den Tieren, <lb/>und nicht minder an dem wundervollſten der Tiere, an dem <lb/>Menſchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6258" xml:space="preserve">Tiere und Menſchen führen daher ein Leben, das <lb/>dem Leben der Pflanzen in dieſen Punkten ganz gleich iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6259" xml:space="preserve">Aber es tritt bei den Tieren ſchon etwas zu dieſem Pflanzen-<lb/>leben hinzu, und giebt ihm eine höhere Stufe des Daſeins. </s>
  <s xml:id="echoid-s6260" xml:space="preserve"><lb/>Das Tier hat Empfindung, es hat Sinne, es hat ſeinen <lb/>Willen, und es vermag ſich nach ſeinem Willen von Ort zu <lb/>Ort zu bewegen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6261" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6262" xml:space="preserve">Zum Teil lebt das Tier ganz ſo wie eine Pflanze, und <lb/>zu Zeiten iſt ſogar das Leben der Menſchen nicht höher als <lb/>das Pflanzenleben, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s6263" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s6264" xml:space="preserve">im Mutterleibe, im Schlafe oder in <lb/>krankhafter Bewußtloſigkeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s6265" xml:space="preserve">Aber das Tier hat außer dieſem <lb/>Pflanzenleben, das wir noch näher kennen lernen werden, eine <lb/>höchſt wunderbare Eigenſchaft, die der Empfindung, welche ihm <lb/>
<anchor type="note" xlink:label="note-486-01a" xlink:href="note-486-01"/>
<pb o="3" file="487" n="487"/>
Kenntnis giebt vom eigenen Daſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s6266" xml:space="preserve">Die Pflanze weiß nicht, <lb/>daß ſie exiſtiert; </s>
  <s xml:id="echoid-s6267" xml:space="preserve">das Tier weiß dies ſehr wohl. </s>
  <s xml:id="echoid-s6268" xml:space="preserve">Das Tier <lb/>hat außerdem noch Sinne; </s>
  <s xml:id="echoid-s6269" xml:space="preserve">es ſieht, es hört, es riecht, es <lb/>ſchmeckt und fühlt und erhält dadurch Kenntnis von der Welt <lb/>umher. </s>
  <s xml:id="echoid-s6270" xml:space="preserve">Die Pflanze weiß von ihrer eigenen Exiſtenz nichts <lb/>und ebenſowenig, ob in der Runde irgend wie und wo eine <lb/>Welt vorhanden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6271" xml:space="preserve">Das Tier weiß durch die Empfindung <lb/>etwas von ſich, und durch die Sinne, durch Hören, Sehen u. </s>
  <s xml:id="echoid-s6272" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s6273" xml:space="preserve">w. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6274" xml:space="preserve">etwas von der Welt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6275" xml:space="preserve"><anchor type="note" xlink:href="" symbol="*)"/></s>
</p>
<div xml:id="echoid-div224" type="float" level="2" n="1">
<note symbol="*)" position="foot" xlink:label="note-486-01" xlink:href="note-486-01a" xml:space="preserve">Hier iſt zu berückfichtigen, daß die erſten Lebeweſen, von denen <lb/>alle übrigen nach Annahme der Deſcendenz-Theorie abſtammen, natürlich <lb/>aus unorganiſchen Beſtandteilen entſtanden vorauszuſetzen find, wenn man <lb/>nicht mit <emph style="sp">Preyer</emph> annehmen will, daß die Organismen nie entſtanden <lb/>find, ſondern ſeit jeher in der Geſamtwelt vorhanden geweſen find.</note>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6276" xml:space="preserve">Hiernächſt vermag das Tier das zu wollen, was ſeiner <lb/>Empfindung wohl thut, und das zu meiden, was ſeine Em-<lb/>pfindung verletzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6277" xml:space="preserve">Es hat ſeinen Willen, um zu leben, den <lb/>Tod zu meiden und Gefahr zu fliehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6278" xml:space="preserve">Von einer Pflanze <lb/>ſagen wir wohl, daß ſie dürſtet; </s>
  <s xml:id="echoid-s6279" xml:space="preserve">aber ſie weiß davon ebenſo-<lb/>wenig etwas, wie von ihrem Wohlbefinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6280" xml:space="preserve">Sie verſchmachtet <lb/>ohne Schmerz, ſie gedeihet ohne Luſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6281" xml:space="preserve">Sie weiß nichts von <lb/>ſich und nichts von der Außenwelt; </s>
  <s xml:id="echoid-s6282" xml:space="preserve">d. </s>
  <s xml:id="echoid-s6283" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s6284" xml:space="preserve">die ſich wie ſelbſtändig <lb/>bewegenden Pflanzen (es giebt niedere Waſſerpflanzen, die ſich <lb/>wie Tiere bewegen) und freilich auch die Tiere, die keine <lb/>Nerven oder Teile beſitzen, die unſerem Gehirn entſprechen, <lb/>haben damit verknüpft nicht das Bewußtſein der Bewegung, <lb/>während Tiere, die ein Gehirn beſitzen, ſich bei ihren Be-<lb/>wegungen des bewußt ſind oder doch bewußt ſein können.</s>
  <s xml:id="echoid-s6285" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6286" xml:space="preserve">Das Tier alſo lebt zwar wie eine Pflanze; </s>
  <s xml:id="echoid-s6287" xml:space="preserve">aber es hat <lb/>zu dieſem Pflanzenleben noch die wunderbaren Zugaben, die <lb/>wir eben angeführt haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s6288" xml:space="preserve">Der Menſch gleicht dem Tiere. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6289" xml:space="preserve">Auch er lebt erſtens ein Pflanzenleben und hat zweitens all <lb/>die Zugaben, die wir beim Tiere finden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6290" xml:space="preserve">Aber er hat außer-<lb/>
<anchor type="note" xlink:label="note-487-01a" xlink:href="note-487-01"/>
<pb o="4" file="488" n="488"/>
dem eine Zugabe, die ſein Leben auf eine höhere Stufe des <lb/>Daſeins erhebt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6291" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div225" type="float" level="2" n="2">
<note symbol="*)" position="foot" xlink:label="note-487-01" xlink:href="note-487-01a" xml:space="preserve">Im Vorausgehenden und Folgenden iſt der Unterſchied der <lb/>höheren Tiere von den höheren Pflanzen hervorgehoben, die niederen <lb/>Tiere und Pflanzen nähern ſich in ihren Eigentümlichkeiten immer mehr <lb/>und mehr, ſodaß hier die Unterſchiede allmählich <emph style="sp">gänzlich</emph> ſchwinden.</note>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6292" xml:space="preserve">Es iſt ſehr ſchwer, für dieſe Zugabe den richtigen, allge-<lb/>mein anerkannten Namen zu finden; </s>
  <s xml:id="echoid-s6293" xml:space="preserve">denn hierüber haben die <lb/>Menſchen am allermeiſten geſtritten. </s>
  <s xml:id="echoid-s6294" xml:space="preserve">Der eine nennt es Seele, <lb/>der andere Vernunft, und der dritte will es gar nicht als eine <lb/>aparte Zugabe betrachten, ſondern ſieht es nur als einen <lb/>höheren Grad der Gaben an, welche auch das Tier beſitzt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6295" xml:space="preserve">Dieſer Streit iſt von tiefer Bedeutung; </s>
  <s xml:id="echoid-s6296" xml:space="preserve">allein für die Natur-<lb/>wiſſenſchaft iſt es im Grunde genommen nur der Streit um <lb/>den Namen eines Dinges, wo man das Weſen des Dinges <lb/>noch nicht kennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6297" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6298" xml:space="preserve">Deshalb wollen wir uns auf den Streit um den Namen <lb/>nicht weiter einlaſſen, ſondern uns lieber das Leben der Pflanze, <lb/>des Tieres und des Menſchen betrachten, wie es beobachtet <lb/>wird, und ſo weit es erkannt werden kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s6299" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div227" type="section" level="1" n="159">
<head xml:id="echoid-head185" xml:space="preserve"><emph style="bf">II. Die ſogenannte “tote” und “lebende” Natur.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6300" xml:space="preserve">Bevor wir auf die Erſcheinungen des Lebens der Pflanze, <lb/>des Tieres und der Menſchen kommen, müſſen wir noch einen <lb/>Blick auf die Natur im ganzen werfen, die man die “tote <lb/>Natur” nennt, um zu ſehen, in wie weit in dieſer etwas Ähn-<lb/>liches wie in der lebenden vorkommt, und wenn dies der Fall <lb/>iſt, um zu verſuchen, ob wir die Grenzen und die Unter-<lb/>ſchiede zwiſchen toter und lebender Natur etwas näher zu be-<lb/>zeichnen imſtande ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s6301" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6302" xml:space="preserve">Werfen wir den Blick auf das Weltall, ſo ſehen wir <lb/>Millionen von Sternen, Millionen von Sonnen, von Welten, <lb/>die ſcheinbar in Ruhe an ihrem Orte verharren. </s>
  <s xml:id="echoid-s6303" xml:space="preserve">Die fort-
<pb o="5" file="489" n="489"/>
geſchrittene Wiſſenſchaft hat aber gelehrt, daß jeder dieſer <lb/>Sterne ſich im Raum bewege und ſeinen Ort verändere. </s>
  <s xml:id="echoid-s6304" xml:space="preserve">Da <lb/>auch unſere Erde ſich bewegt, ſo finden wir, daß die Be-<lb/>wegung das allgemeinſte Geſetz der Natur iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s6305" xml:space="preserve">und dies allein <lb/>dient ſchon als Merkmal, daß die ganze Natur keineswegs <lb/>“tot” iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6306" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6307" xml:space="preserve">Gleichviel, woher dieſe Bewegung ſtammt; </s>
  <s xml:id="echoid-s6308" xml:space="preserve">wir ſehen, daß <lb/>ſie vorhanden iſt und dürfen vermuten, daß kein Ding im <lb/>großen, unendlichen Weltall exiſtiert, welches ihrem Geſetz nicht <lb/>unterworfen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6309" xml:space="preserve">Neben dieſem Geſetz der Bewegung, deſſen <lb/>Urſprung unbekannt iſt, ſehen wir die Himmelskörper Licht <lb/>ausſtrahlen in den unendlichen Weltraum, und obwohl man <lb/>die Natur des Lichtes ebenfalls nicht genau kennt, ſo iſt es <lb/>doch keinem Zweifel unterworfen, daß durch dasſelbe eine Ein-<lb/>wirkung des einen Sternes auf den anderen nicht ausbleiben <lb/>kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s6310" xml:space="preserve">Daß das Sonnenlicht auf die Erde wirkt, daß es Wärme <lb/>auf derſelben erzeugt, wie es Veränderungen hervorruft, <lb/>chemiſche Stoffe zerſetzt und chemiſche Verbindungen zu Wege <lb/>bringt, das iſt zum Teil bekannt, zum Teil in neueſter Zeit <lb/>erſt Gegenſtand näherer Forſchung. </s>
  <s xml:id="echoid-s6311" xml:space="preserve">Daß das Licht jedes <lb/>Sternes in ähnlicher Weiſe auf alle übrigen ſo wirke, iſt eine <lb/>vollkommen begründete Annahme. </s>
  <s xml:id="echoid-s6312" xml:space="preserve">Es iſt alſo eine von allem <lb/>auf alles wirkende Thätigkeit vorhanden, die zum Weſen der <lb/>ganzen Natur gehört.</s>
  <s xml:id="echoid-s6313" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6314" xml:space="preserve">Neben dieſer ausſtrahlenden Wirkſamkeit des Lichtes hat <lb/>uns aber die Naturforſchung noch eine Wirkſamkeit der An-<lb/>ziehung gelehrt, die von Geſtirn zu Geſtirn thätig iſt: </s>
  <s xml:id="echoid-s6315" xml:space="preserve">und die <lb/>gründlichſten Unterſuchungen zeigen, daß die Anziehung eine <lb/>Kraft iſt, die allen Dingen, den kleinſten und den größten, je nach <lb/>ihrer Maſſe zukommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6316" xml:space="preserve">(S. </s>
  <s xml:id="echoid-s6317" xml:space="preserve">Teil III, S. </s>
  <s xml:id="echoid-s6318" xml:space="preserve">31 ff.) </s>
  <s xml:id="echoid-s6319" xml:space="preserve">Das Licht geht <lb/>von den Körpern aus nach allen Richtungen des Weltraumes <lb/>hin; </s>
  <s xml:id="echoid-s6320" xml:space="preserve">die Anziehung wirkt ebenſo als eine Kraft, welche von dem <lb/>Körper nach allen Richtungen des Weltraumes hin thätig iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6321" xml:space="preserve">
<pb o="6" file="490" n="490"/>
Die Geſetze der Anziehungskraft gelten auf dem Erdenrund <lb/>und genau in derſelben Weiſe in den unendlichen Räumen, <lb/>wo Doppelſterne, zwei Sonnen ſich um einander bewegen, die <lb/>ſo entfernt von uns ſind, daß ſie ſür unſer Auge wie ein <lb/>einziger Stern erſcheinen, obwohl ſie viele, viele Millionen Meilen <lb/>von einander abſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6322" xml:space="preserve">— Die Anziehung alſo iſt wiederum eine <lb/>eigene Kraft, die allen Dingen im Weltraum zukommt, und die <lb/>wiederum eine alles umfaſſende Thätigkeit zeigt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6323" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6324" xml:space="preserve">Auch Elektrizität und Magnetismus wirken ähnlich von <lb/>Welten zu Welten; </s>
  <s xml:id="echoid-s6325" xml:space="preserve">ſo erklärt man z. </s>
  <s xml:id="echoid-s6326" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s6327" xml:space="preserve">jetzt die Schweif-<lb/>bildung der Kometen durch elektriſche Beeinfluſſung (meiſt Ab-<lb/>ſtoßung) ſeitens der Sonne; </s>
  <s xml:id="echoid-s6328" xml:space="preserve">aber ſehen wir auch hiervon ab, <lb/>ſo finden wir, daß die drei ſicheren Thatſachen, die eigene Be-<lb/>wegung durch den Raum, die Ausſtrahlung des Lichtes und <lb/>die Kraft der Anziehung hinreichend ſind, um die Natur im <lb/>ganzen und allgemeinen als thätig und die einzelnen Himmels-<lb/>körper als gegenſeitig auf einander einwirkend zu bezeichnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6329" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6330" xml:space="preserve">Wenden wir uns von den Himmelsräumen zurück zur <lb/>Erde und ſehen wir hier, wie oben gezeigt, daß dieſer unſer <lb/>Wohnſitz ſelber eine Geſchichte der Entwickelung beſitzt; </s>
  <s xml:id="echoid-s6331" xml:space="preserve">wie er <lb/>ſich nach und nach umgeſtaltet hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s6332" xml:space="preserve">beobachten wir, wie er <lb/>fortwährend in Bewegung um die Sonne, in Umdrehung um <lb/>die eigene Achſe iſt, — wie die Luft, die ihn umgiebt, in <lb/>ewigen, eigenen Bewegungen begriffen, — die Gewäſſer über-<lb/>und unterirdiſch fortwährend ſtrömend, fortwährend verdunſtend <lb/>ſind, — wie Gebirge entſtehen und vergehen, — wie Felſen <lb/>ſelbſt in Wanderungen und das All in Wandelungen begriffen <lb/>iſt — beobachten wir, wie Pflanzen, Tiere und Menſchen <lb/>nimmer leben würden ohne dieſe Thätigkeit der Erde; </s>
  <s xml:id="echoid-s6333" xml:space="preserve">ſehen <lb/>wir, — was die Wiſſenſchaft ganz unzweifelhaft gemacht — <lb/>daß die Geſchichte der Entwickelung der Erde, die Geſchichte <lb/>der Entwickelung der Pflanzen-, Tier- und Menſchenwelt in <lb/>ihrem Beſtehen bedingt, — ſo werden wir darauf geführt, die
<pb o="7" file="491" n="491"/>
Thätigkeit der Erde ſelber in weiterem Sinne als eine Lebens-<lb/>thätigkeit zu bezeichnen, und den Ausſpruch zu thun, daß <lb/>Pflanzen-, Tier- und Menſchenleben, obwohl ſie ganz anders <lb/>zur Erſcheinung kommen, doch im innigſten Einklang mit dem <lb/>Erdleben ſelber ſtehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6334" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6335" xml:space="preserve">Indem wir nun in einer Reihe von Abſchnitten das Leben <lb/>der Pflanze, des Tieres und des Menſchen genauer betrachten <lb/>werden, hoffen wir, daß unſere Leſer es uns verzeihen, wenn <lb/>wir die ſchwachen Fäden des Zuſammenhanges vorerſt zeigen, <lb/>um dann auf den feſtern Boden der Unterſchiede, die zwiſchen <lb/>der “toten” und “lebenden” Natur herrſchen, übergehen zu <lb/>können. </s>
  <s xml:id="echoid-s6336" xml:space="preserve">Leider werden wir vorerſt ein klein wenig weiter <lb/>philoſophieren müſſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6337" xml:space="preserve">aber wir werden es kurz machen und <lb/>dabei ſtets eingedenk ſein, daß die Philoſophie gerade dort <lb/>anfängt, wo die exacte Wiſſenſchaft aufhört, oder richtiger: </s>
  <s xml:id="echoid-s6338" xml:space="preserve">wir <lb/>Menſchen philoſophieren immer nur über die Dinge, über <lb/>welche wir uns in Unwiſſenheit befinden.</s>
  <s xml:id="echoid-s6339" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div228" type="section" level="1" n="160">
<head xml:id="echoid-head186" xml:space="preserve"><emph style="bf">III. Tod und Leben.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6340" xml:space="preserve">Wenn wir den Zuſammenhang des Erdlebens mit dem <lb/>Leben der Pflanze, des Tieres und ebenſo des Menſchen be-<lb/>trachten, ſo drängt ſich vor allem folgende Bemerkung auf:</s>
  <s xml:id="echoid-s6341" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6342" xml:space="preserve">Der Stoff, woraus der Körper der Pflanze, des Tieres <lb/>und auch des Menſchen gebaut iſt, iſt auch derſelbe Stoff, <lb/>der der Erde angehört.</s>
  <s xml:id="echoid-s6343" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6344" xml:space="preserve">Man kann eine Pflanze, ein Tier und ebenſo den menſch-<lb/>lichen Leib auf chemiſche Weiſe zerlegen und jeden überzeugen, <lb/>daß ihr Baumaterial aus der Erde entnommen iſt, wie es der <lb/>Erde naturgemäß auch wieder zufällt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6345" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6346" xml:space="preserve">Ein Kilo Pflanze oder Tierſtoff hat eine gewiſſe Portion
<pb o="8" file="492" n="492"/>
Sauerſtoff, Stickſtoff, Waſſerſtoff und Kohlenſtoff in ſich, außer-<lb/>dem findet ſich etwas Schwefel, Phosphor, Kalk, Eiſen, und es <lb/>finden ſich noch andere im gewöhnlichen Leben weniger be-<lb/>kannte Stoffe vor. </s>
  <s xml:id="echoid-s6347" xml:space="preserve">Der Chemiker kann aus dem Kilo Pflanze <lb/>oder Tierſtoff all dieſe Stoffe wieder herſtellen, und nimmt er <lb/>ſie alle zuſammen und wiegt ſie, ſo findet ſich, daß ſie zu-<lb/>ſammen genau ein Kilo ſchwer ſind, ſodaß in der lebenden <lb/>Pflanze, dem lebendigen Tierſtoff nichts weiter als dieſe Stoffe <lb/>vorhanden waren.</s>
  <s xml:id="echoid-s6348" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6349" xml:space="preserve">Dem Stoffe nach gehören die Pflanzen wie die Tiere der <lb/>Erde an, und es kehren auch dieſe Stoffe wieder nach dem <lb/>Tode des lebenden Weſens zur Erde zurück.</s>
  <s xml:id="echoid-s6350" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6351" xml:space="preserve">Da nun die Geſchichte der lebenden Weſen erweislich viele <lb/>Millionen Jahre ſchon währt und gewährt hat, ſo kann man <lb/>den Gedanken faſſen, daß aller Sauerſtoff, aller Stickſtoff, aller <lb/>Waſſerſtoff, aller Kohlenſtoff u. </s>
  <s xml:id="echoid-s6352" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s6353" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s6354" xml:space="preserve">vielleicht ſchon einmal <lb/>gelebt hat, wie, daß all das, was wir jetzt noch als ſolche <lb/>Stoffe ſehen, einmal leben wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s6355" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6356" xml:space="preserve">Zwar giebt es viele Stoffe in der Erde, die man in <lb/>Pflanzen und Tieren noch nicht gefunden hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s6357" xml:space="preserve">man würde <lb/>alſo, wenn man dieſen Gedanken verfolgt, ſagen müſſen, daß <lb/>die Erde aus Stoffen beſteht, von denen nur ein Teil lebende <lb/>Form und Weſen annehmen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s6358" xml:space="preserve">Indeſſen iſt die Forſchung <lb/>hierüber nicht abgeſchloſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6359" xml:space="preserve">Man fand in neuerer Zeit, daß <lb/>Kupfer ebenſo wie Eiſen in einem großen Teil unſerer Gemüſe, <lb/>z. </s>
  <s xml:id="echoid-s6360" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s6361" xml:space="preserve">im gewöhnlichen Küchen-Spinat, vorhanden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6362" xml:space="preserve">Man <lb/>hat auch in gewiſſen Pflanzen Zink entdeckt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6363" xml:space="preserve">Die Zahl der <lb/>Stoffe, die nicht in Pflanzen und Tieren vorkommt, ſchmilzt <lb/>immer mehr zuſammen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6364" xml:space="preserve">Wenn es aber auch unter den etwa <lb/>ſiebenzig chemiſchen Urſtoffen noch eine Reihe derſelben giebt, <lb/>die man vergebens im Reiche des Lebens ſucht, ſo müſſen <lb/>wir bedenken, daß wir den Pflanzenreichtum der Vorwelt wenig <lb/>kennen und den der Nachwelt nicht zu ahnen vermögen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6365" xml:space="preserve">Mit
<pb o="9" file="493" n="493"/>
dem Tierreich iſt dies in noch größerem Maße der Fall. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6366" xml:space="preserve">Der Gedanke alſo, daß alle Stoffe der Erde lebensfähig ſind, <lb/>läßt ſich mindeſtens nicht dadurch widerlegen, daß wir nicht <lb/>alle Stoffe in den gegenwärtigen lebenden Weſen vorfinden.</s>
  <s xml:id="echoid-s6367" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6368" xml:space="preserve">Welch ungeheuere Maſſen aber, die man zur toten Natur <lb/>zählt, teils einmal gelebt haben, teils noch wirklich leben <lb/>davon geben ungeheuere Kalk- und Kreidegebirge und ganze <lb/>Schichten von Diatomeenlagern Zeugnis.</s>
  <s xml:id="echoid-s6369" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6370" xml:space="preserve">Viele Kalk- und alle Kreidegebirge, die ſich meilenweit <lb/>über die Erde erſtrecken, ſind nach den ſicherſten Forſchungen, <lb/>wie wir früher geſehen haben, nichts als eine Anſammlung der <lb/>Gehäuſe, Schalen von Tierchen, die einſt gelebt haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s6371" xml:space="preserve">Wie <lb/>die weichen Schnecken, wenn ſie ſterben und verweſen, ihr Haus, <lb/>ihre Schale, ihr feſtes Gerüſt zurücklaſſen, das ſich während <lb/>ihres Lebens aus den Säften ihres Leibes, aus ihrem Blut <lb/>gebildet hat, ebenſo ſind Kalk- und Kreidegebirge nichts als <lb/>ſolche Reſte, die einmal gelebt oder doch lebenden Weſen ge-<lb/>dient haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s6372" xml:space="preserve">— Der Kalk an unſeren Häuſern hat alſo, kann <lb/>man ſagen, einmal gelebt, die Kreide, mit der wir ſchreiben, <lb/>hat gelebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6373" xml:space="preserve">Mit Hilfe eines guten Mikroſkops kann man ſich <lb/>hiervon überzeugen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6374" xml:space="preserve">— Vielleicht waren die Stoffe, die in <lb/>dem jetzt lebenden Menſchengeſchlecht das Baumaterial des <lb/>Leibes ausmachen, einmal die Speiſe derſelben Tiere, deren <lb/>Reſte wir jetzt wie tote Maſſen anſehen!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6375" xml:space="preserve">Ganze große Erdlagen, die wir ſeit jeher als toten Erd-<lb/>boden betrachten, und auf dem wir herumwandeln, Gärten <lb/>pflanzen und Häuſer bauen, beſtehen andererſeits aus den <lb/>Schalen abgeſtorbener, mikroſkopiſcher Pflanzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6376" xml:space="preserve">Die Unter-<lb/>ſuchungen <emph style="sp">Ehrenbergs</emph> (1795—1876) haben gezeigt, daß die <lb/>Karlſtraße in Berlin auf einem ſolchen Lager ſteht, ja daß <lb/>die ganze Luiſenſtadt auf demſelben Boden gebaut iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6377" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6378" xml:space="preserve">Ganze Inſeln beſtehen aus Korallenriffen, und dieſe Riffe <lb/>ſind die Skelettteile lebender Tiere, der Polypen, die dieſe Teile
<pb o="10" file="494" n="494"/>
aus dem Blute ihres Leibes bilden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6379" xml:space="preserve">Solche Riffe, die meilen-<lb/>weit das Meer durchziehen, und an denen Schiffe zerſchellen <lb/>und Schiffer ihren Tod finden, ſind alſo ſelber Geſtaltungen <lb/>des Lebens!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6380" xml:space="preserve">Selbſt harte Kieſel löſen ſich auf und gehen in Pflanzen <lb/>ein, um in ihnen zu leben und in feiner Verteilung an den <lb/>Rändern z. </s>
  <s xml:id="echoid-s6381" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s6382" xml:space="preserve">der Gräſerblätter zu erſcheinen, welche in die <lb/>Finger ſchneiden, wenn man über ſie hinfährt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6383" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6384" xml:space="preserve">Mit einem Worte: </s>
  <s xml:id="echoid-s6385" xml:space="preserve">die toten Stoffe werden in lebende <lb/>umgewandelt, die lebenden in tote. </s>
  <s xml:id="echoid-s6386" xml:space="preserve">Das Baumaterial des <lb/>Lebens iſt das Baumaterial der Erde ſelber, die man tot <lb/>nennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6387" xml:space="preserve">Daß lebende und tote Natur dem Stoffe nach im <lb/>innigſten Zuſammenhang ſtehen, iſt unbeſtreitbar. </s>
  <s xml:id="echoid-s6388" xml:space="preserve">Dies haben <lb/>die älteſten Dichter ſchon geahnt, die dem Menſchen entgegen-<lb/>rufen: </s>
  <s xml:id="echoid-s6389" xml:space="preserve">aus Staub biſt Du geworden, zum Staube ſollſt Du <lb/>werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6390" xml:space="preserve">Dies beſtätigen auch Männer der Wiſſenſchaft, von <lb/>denen einer, der eben genannte <emph style="sp">Ehrenberg</emph>, einmal die Äuße-<lb/>rung gethan hat, daß möglicherweiſe alles, was wir toten Stoff <lb/>nennen, nichts als Reſt einſtigen Lebens iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6391" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div229" type="section" level="1" n="161">
<head xml:id="echoid-head187" xml:space="preserve"><emph style="bf">IV. Die Stufenreihen des Lebens.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6392" xml:space="preserve">Dem Stoffe nach iſt, wie wir geſehen haben, das, was <lb/>lebt, im innigen Zuſammenhang mit den nicht lebenden Stoffen <lb/>der Erde. </s>
  <s xml:id="echoid-s6393" xml:space="preserve">Wir wiſſen, daß aus nicht lebenden Stoffen Weſen <lb/>entſtehen, welche die Merkmale des Lebens an ſich tragen, und <lb/>ſehen auch, daß lebende Weſen zerfallen und zu nicht lebenden <lb/>Stoffen werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s6394" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6395" xml:space="preserve">Fragen wir uns aber: </s>
  <s xml:id="echoid-s6396" xml:space="preserve">wie und wodurch entſteht Leben <lb/>aus Lebloſigkeit? </s>
  <s xml:id="echoid-s6397" xml:space="preserve">ſo geſteht die ſtrenge Wiſſenſchaft, daß ſie
<pb o="11" file="495" n="495"/>
hierauf eine Antwort nicht zu geben vermag. </s>
  <s xml:id="echoid-s6398" xml:space="preserve">Wir finden uns <lb/>hier noch mehr auf das Feld der Vermutungen hingewieſen <lb/>und erhalten als Führer auf dieſem unſichern Felde nur leiſe <lb/>Fingerzeige aus der Natur.</s>
  <s xml:id="echoid-s6399" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6400" xml:space="preserve">Wir wollen indeſſen bis auf lichtvollere Zeiten der Wiſſen-<lb/>ſchaft hin den Schritt auf dieſem Gebiete verſuchen und die-<lb/>jenigen ſchwachen Spuren verfolgen, die uns zu leiten im-<lb/>ſtande ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s6401" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6402" xml:space="preserve">Die Erde iſt keine tote Maſſe, ſondern eine fortwährend <lb/>thätige Welt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6403" xml:space="preserve">Ihre Stoffe ſind es eben, welche zeitweiſe Leben <lb/>erhalten, und ihre Thätigkeit iſt es, welche das Leben nur <lb/>möglich macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6404" xml:space="preserve">Fragen wir nun: </s>
  <s xml:id="echoid-s6405" xml:space="preserve">Sind die Kräfte dieſer Thätig-<lb/>keit, ſoweit wir ſie kennen, ausreichend, um eine Pflanze zu <lb/>erzeugen, wenn keine vorher beſtanden hätte? </s>
  <s xml:id="echoid-s6406" xml:space="preserve">ſo müſſen wir <lb/>dies zwar für den jetzigen Zuſtand des Erdenlebens mit “Nein!” <lb/>beantworten. </s>
  <s xml:id="echoid-s6407" xml:space="preserve">Zum Entſtehen einer Pflanze iſt, ſoweit unſere <lb/>Erfahrung reicht, ein Keim einer vorher dageweſenen Pflanze <lb/>nötig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6408" xml:space="preserve">Soweit uns die Beobachtung lehrt, geht jetzt eine <lb/>Pflanze nur aus einem Keim hervor, der vorher einer Mutter-<lb/>pflanze angehört hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s6409" xml:space="preserve">Ein Gleiches iſt mit der Entſtehung der <lb/>Tiere der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s6410" xml:space="preserve">Allein es ſchließt dieſe Antwort nicht die <lb/>Möglichkeit aus, daß die Erde in der Geſchichte der Entwicke-<lb/>lung ihres Lebens, von welcher wir ſehr bedeutſame Spuren <lb/>entdecken, einmal eine Zeit durchgemacht habe, in welcher ſie <lb/>ſelbſt Pflanzenkeime und Keime tieriſcher Natur zu erzeugen <lb/>imſtande geweſen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6411" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6412" xml:space="preserve">Wir werden ſpäter noch ſehen, daß gegenwärtig die Pflanzen <lb/>die Kunſt verſtehen, aus ſogenannten unbelebten Stoffen, aus <lb/>Kohlenſäure, aus Waſſer und aus Salzen belebte Materie, <lb/>Pflanzenteile zu bilden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6413" xml:space="preserve">Kohlenſäure, Waſſer und Salze ſind <lb/>die Speiſe der Pflanze, ſie ſind das Baumaterial, aus welchem <lb/>die Pflanzen den eignen Leib geſtalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s6414" xml:space="preserve">Bedenken wir hierzu, <lb/>was wir früher ſchon geſehen haben, daß Tiere eben von
<pb o="12" file="496" n="496"/>
Pflanzen ſich ernähren, daß alſo ihr Leib eigentlich ver-<lb/>wandelte Pflanze iſt, ſo ſieht man eine Stufenfolge der Ent-<lb/>wickelung des Lebens. </s>
  <s xml:id="echoid-s6415" xml:space="preserve">Aus Kohlenſäure, Waſſer und Salzen <lb/>wird Pflanze; </s>
  <s xml:id="echoid-s6416" xml:space="preserve">aus Pflanze wird tieriſcher Körper aufgebaut. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6417" xml:space="preserve">Iſt dem aber ſo, ſo darf man nicht überſehen, wie in dieſe <lb/>Stufenfolge auch die Thätigkeit des Erdlebens mit hineingehört.</s>
  <s xml:id="echoid-s6418" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6419" xml:space="preserve">Unſeres Erachtens hat man in der Wiſſenſchaft zu wenig <lb/>Wert auf den Umſtand gelegt, daß die Pflanze im allgemeinen <lb/>nicht imſtande iſt, einfache Stoffe zu genießen, ſondern ihre <lb/>Speiſe nur in einer Paarung aufnimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6420" xml:space="preserve">Kohlenſäure beſteht <lb/>aus zwei Stoffen, welche die chemiſche Kraft ſchon gepaart hat, <lb/>aus Kohlenſtoff und Sauerſtoff; </s>
  <s xml:id="echoid-s6421" xml:space="preserve">Waſſer beſteht aus einer gleichen <lb/>Paarung von Waſſerſtoff und Sauerſtoff; </s>
  <s xml:id="echoid-s6422" xml:space="preserve">die Salze ſind gleich-<lb/>falls Verbindungen, und zwar ſind die Salze, die Stickſtoff, <lb/>Schwefel u. </s>
  <s xml:id="echoid-s6423" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s6424" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s6425" xml:space="preserve">enthalten, beſonders wichtig für die Pflanzen-<lb/>ernährung. </s>
  <s xml:id="echoid-s6426" xml:space="preserve">Obwohl die Pflanze in der Luft exiſtiert, in welcher <lb/>ſie reichlich Stickſtoff und Sauerſtoff vorfindet, vermag ſie doch <lb/>nicht dieſe ungepaarten, chemiſch nicht verbundenen Stoffe allein <lb/>zu genießen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6427" xml:space="preserve">ſie ſtirbt ab in der Luft, in welcher keine Kohlen-<lb/>ſäure enthalten iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6428" xml:space="preserve">Die bloßen Stoffe ſind nicht imſtande als <lb/>Speiſe in die Pflanze einzugehen, die Stoffe müſſen erſt durch <lb/>eine eigene Kraft, durch eine eigene Thätigkeit, durch einen <lb/>chemiſchen Vorgang hierzu vorbereitet werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s6429" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6430" xml:space="preserve">In dieſem Sinne könnten wir die chemiſche Paarung als <lb/>die erſte Stufe in der Stufenfolge des Lebens bezeichnen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6431" xml:space="preserve">Durch chemiſche Vorgänge werden dann die vereinzelten Stoffe <lb/>ſo verarbeitet, daß die Pflanze ſie als Speiſe aufnehmen kann, <lb/>oder richtiger, daß die Stoffe ein höheres Leben annehmen und <lb/>Pflanze werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6432" xml:space="preserve">Die Pflanze wird zur Nahrung der Tiere, <lb/>das heißt, die zweite Stufe des Lebens geht in eine noch höhere <lb/>über; </s>
  <s xml:id="echoid-s6433" xml:space="preserve">und der Menſch baut ſeinen Leib aus Pflanzen- und <lb/>Tierſtoffen auf, das heißt, dieſelben Stoffe nehmen im Menſchen <lb/>die gegenwärtig höchſte Stufe des Lebens an.</s>
  <s xml:id="echoid-s6434" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="13" file="497" n="497"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6435" xml:space="preserve">Dies wäre der freilich lückenhafte, aber doch immerhin <lb/>naturgemäße Faden, der bis zur höchſten Stufe, dem Leben <lb/>des Menſchen, zu führen imſtande wäre.</s>
  <s xml:id="echoid-s6436" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6437" xml:space="preserve">Doch es iſt Zeit, daß wir das Reich der Vermutungen <lb/>und des Philoſophierens verlaſſen und zur Wiſſenſchaft zurück-<lb/>kehren, die uns bald ſicherern und beſſer begründeten Boden <lb/>geben wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s6438" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div230" type="section" level="1" n="162">
<head xml:id="echoid-head188" xml:space="preserve"><emph style="bf">V. Die einfachſten Pflanzen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6439" xml:space="preserve">In Teil I und ſpäter haben wir auf den zelligen Bau <lb/>der Pflanzen aufmerkſam gemacht, das iſt zum Verſtändnis <lb/>des Folgenden feſtzuhalten und gründlich noch einmal nach-<lb/>zuleſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6440" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6441" xml:space="preserve">Wenn, wie wir dort geſehen haben, ſchon der innere Bau, <lb/>in ſeinen kleinſten Teilen, das, was man das Gefüge nennt, <lb/>einen weſentlichen Unterſchied ausmacht bei lebenden und nicht-<lb/>lebenden Stoffen, ſo iſt endlich die Anordnung der Teile zum <lb/>Ganzen als der hauptſächlichſte Unterſchied anzuſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6442" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6443" xml:space="preserve">Wie mag nun wohl die einfachſte aller Pflanzen be-<lb/>ſchaffen ſein?</s>
  <s xml:id="echoid-s6444" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6445" xml:space="preserve">Die Unterſuchungen über den Bau der Pflanzen und über <lb/>die Rolle, welcher jeder Teil im Leben der ganzen Pflanze zu <lb/>ſpielen hat, konnten erſt geführt werden, nachdem man das <lb/>Vergrößerungsglas, das Mikroſkop, zu jener Feinheit aus-<lb/>gearbeitet hatte, daß mit demſelben die außerordentlich zarten <lb/>Gewebe, woraus die Pflanze gebaut iſt, deutlich geſehen werden <lb/>können. </s>
  <s xml:id="echoid-s6446" xml:space="preserve">— Durch das Mikroſkop vermag man jetzt zu ſehen, <lb/>wie die einfachſte Pflanze aus einer einzelnen Zelle beſteht, <lb/>wie höhere Gattungen von Pflanzen aus einer Sammlung von <lb/>ſolchen Zellen entſtehen, und wie ſelbſt die tauſendjährige Eiche
<pb o="14" file="498" n="498"/>
auch nur eine Unzahl äußerſt kleiner Zellen iſt, die in eigen-<lb/>tümlicher Weiſe aneinandergefügt ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s6447" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6448" xml:space="preserve">Der Unterſchied zwiſchen den Pflanzen, die nur als Einzel-<lb/>zelle exiſtieren und den entwickelteren, größern und größten be-<lb/>ſteht nur darin, daß die Pflanze, die als einzelne Zelle lebt, <lb/>ſofern es ſich um die mikroſkopiſchen, einzelligen Pflanzen han-<lb/>delt, noch nicht jene Teilung der Arbeit aufweiſt, welche wir <lb/>bei den höhern Pflanzen finden; </s>
  <s xml:id="echoid-s6449" xml:space="preserve">in einer entwickelteren Pflanze <lb/>vereinigen ſich ſchon mehrere Zellen zu einem gemeinſamen <lb/>Zweck. </s>
  <s xml:id="echoid-s6450" xml:space="preserve">In den entwickeltſten Pflanzen, wie in den Bäumen <lb/>z. </s>
  <s xml:id="echoid-s6451" xml:space="preserve">B.</s>
  <s xml:id="echoid-s6452" xml:space="preserve">, iſt die Zahl der Zellen unzählbar groß, ihre Organi-<lb/>ſation iſt bei weitem vorgeſchrittener, die Teilung der Arbeit <lb/>iſt noch ausgeſprochener.</s>
  <s xml:id="echoid-s6453" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6454" xml:space="preserve">Das einfachſte Pflanzengebilde iſt eine Zelle, und es giebt <lb/>Zellen, die man als eine Pflanze für ſich betrachten darf. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6455" xml:space="preserve">Pflänzchen dieſer Art ſind im Waſſer ſehr zahlreich anzutreffen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6456" xml:space="preserve"><lb/>unter den Algen und Pilzen kommen einzellige Arten vor. </s>
  <s xml:id="echoid-s6457" xml:space="preserve"><lb/>Viele Algen beſtehen aus mehreren, untereinander gleichartigen <lb/>Zellen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6458" xml:space="preserve">ſie wachſen im Waſſer, auf Steinen, auf der Erde.</s>
  <s xml:id="echoid-s6459" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6460" xml:space="preserve">Wenn der Landmann über die ſchlechten Ausſichten der <lb/>Ernte klagt, ſo weiſt er oftmals auf den ſogenannten “Roſt” <lb/>und “Brand” des Getreides hin, der das Korn nicht ausreifen <lb/>läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6461" xml:space="preserve">Dieſer “Roſt” und “Brand” ſieht ſich an der Ähre des <lb/>wachſenden Getreides in der That wie ein feiner Staub von <lb/>Eiſenroſt oder wie ein zarter Überzug von ausgebrannter Torf-<lb/>aſche an. </s>
  <s xml:id="echoid-s6462" xml:space="preserve">Man kann mit den Fingern dieſen feinen Hauch ab-<lb/>wiſchen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6463" xml:space="preserve">aber er kehrt gar ſchnell wieder und überzieht die <lb/>koſtbare Frucht von neuem. </s>
  <s xml:id="echoid-s6464" xml:space="preserve">— Was iſt dieſer “Roſt”, dieſer <lb/>“Brand”?</s>
  <s xml:id="echoid-s6465" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6466" xml:space="preserve">Er iſt ein Pflänzchen, das millionenfältig auf den Ge-<lb/>treidepflanzen ſitzt; </s>
  <s xml:id="echoid-s6467" xml:space="preserve">es ſind feine Zellenfäden, von denen jeder <lb/>eine Pflanze für ſich auf der großen Pflanze wächſt und ſich <lb/>auf Koſten der Getreidepflanze ernährt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6468" xml:space="preserve">Man nennt das Er-
<pb o="15" file="499" n="499"/>
ſcheinen ſolcher fremder Pflanzen auf einer andern Pflanze eine <lb/>Krankheit derſelben. </s>
  <s xml:id="echoid-s6469" xml:space="preserve">Die Weintrauben leiden oft daran, und <lb/>das Mikroſkop hat auch an den Kartoffelſtauden dieſe unge-<lb/>betenen Gäſte als die Quelle der ſo beklagenswerten Kartoffel-<lb/>krankheit nachgewieſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6470" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6471" xml:space="preserve">Baumſtämme, Schindeldächer, Steine an Brunnen, Zäune, <lb/>ja ganz hohe Felſen ſind oft von einem äußerſt feinen, grünen <lb/>oder gelblichen Staub bedeckt, der ſich am Morgen und Abend <lb/>namentlich kühl und ſchlüpfrig anfaßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6472" xml:space="preserve">Woraus beſteht dieſer <lb/>Überzug?</s>
  <s xml:id="echoid-s6473" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6474" xml:space="preserve">Es ſind oft einzellige Pflänzchen, die hier millionenfach <lb/>wachſen, von denen einzelne Gattungen nicht einmal ein Fädchen <lb/>als Wurzel haben, ſondern bloß als Zelle, als äußerſt feines <lb/>Bläschen aufliegen und durch deſſen Wand hindurch die Nah-<lb/>rung in ſich aufnehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6475" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6476" xml:space="preserve">Über Himbeerſaft, Kirſchſaft, Pflaumenmuß, wie über Obſt-<lb/>ſorten und ſonſtige Speiſen bildet ſich oft trotz der Vorſicht <lb/>der Hausfrauen ein feiner Schimmel, ein graues, wunderliches <lb/>Gewebe, das dem bloßen Auge ſchon als feine Fäden erſcheint, <lb/>an deren Spitze ſich zarte Knoten befinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6477" xml:space="preserve">— Auch dies iſt <lb/>nichts als eine Pflanze, eine Pflanze, die aus einer einzigen <lb/>Zelle beſteht oder aus einem Faden untereinander ganz gleich-<lb/>artiger Zellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6478" xml:space="preserve">— Sie wachſen ſelbſt im Tintenfaß, das man <lb/>eine Zeit nicht benutzt hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s6479" xml:space="preserve">ſie erſcheinen auf Kleidern als ſo-<lb/>genannte “Stockflecke” und ſelbſt an Häuſern als Mauerfraß.</s>
  <s xml:id="echoid-s6480" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6481" xml:space="preserve">Durch das Mikroſkop hat man all die Gebilde, die man <lb/>mit bloßem Auge nur dort erkennt, wo ſie bereits millionen-<lb/>fach bei einander erſcheinen, näher als winzige Pflanzen kennen <lb/>gelernt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6482" xml:space="preserve">Man hat die unzähligen Gattungen möglichſt geordnet <lb/>und auch das Leben, die Lebenserſcheinung und Lebensgeſchichte <lb/>dieſer einfachſten der Pflanzen näher zu erforſchen vermocht.</s>
  <s xml:id="echoid-s6483" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="16" file="500" n="500"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div231" type="section" level="1" n="163">
<head xml:id="echoid-head189" xml:space="preserve"><emph style="bf">VI. Die Einzelzelle.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6484" xml:space="preserve">Wie lebt ein ſo feines Pflänzchen, das nur aus einer <lb/>einzigen Zelle beſteht?</s>
  <s xml:id="echoid-s6485" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6486" xml:space="preserve">Um dies zu beantworten, müſſen wir auf den Bau der <lb/>Zelle näher eingehen und beſonders auf eine eigentümliche <lb/>Kraft aufmerkſam machen, welche nicht nur bei den Pflanzen, <lb/>ſondern auch im Tierleben eine äußerſt wichtige Rolle ſpielt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6487" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6488" xml:space="preserve">Eine Zelle beſteht meiſt aus einem Häutchen, das wie <lb/>eine Blaſe inwendig hohl iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6489" xml:space="preserve">In der erwachſenen Pflanzen-<lb/>zelle iſt die innere Höhlung mit einer feinen Tapete ſchleimig-<lb/>flüſſiger Subſtanz, die man <emph style="sp">Protoplasma</emph> nennt, ausgekleidet, <lb/>die das eigentlich lebensthätige Organ iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6490" xml:space="preserve">Das äußere Häutchen <lb/>iſt gewiſſermaßen die ſchützende Schale dieſer innern Tapete, <lb/>wie etwa eine geſchloſſene Muſchel die Schale eines lebenden <lb/>Tieres iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6491" xml:space="preserve">Der innere Raum der Zelle iſt mit einer waſſer-<lb/>hellen Flüſſigkeit gefüllt, die man als den Saft der Pflanze, <lb/>als ihren Nahrungsſaft, als ihr Blut gewiſſermaßen bezeichnen <lb/>kann, und durch dieſen Zellſaft ſind Stränge von Protoplasma <lb/>ausgeſpannt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6492" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6493" xml:space="preserve">Eine ſolche einzelne Zelle hat in ihrer einfachſten Geſtalt <lb/>die Kugelform; </s>
  <s xml:id="echoid-s6494" xml:space="preserve">aber wenn zwei derſelben aneinander liegen, <lb/>ſo ſind ſie an der Berührungsſtelle platt, und es ſehen zwei <lb/>Zellen, die ſo aneinander liegen, wie zwei Seifenblaſen aus, die <lb/>aneinder hangen, was wohl jedermann ſchon öfter geſehen haben <lb/>wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s6495" xml:space="preserve">Legen ſich nun an eine Zelle von allen vier Seiten und <lb/>ebenſo oben und unten neue Zellen an, ſo iſt die mittelſte Zelle <lb/>von ſechs Nachbarzellen eingeſchloſſen und flach gedrückt, und <lb/>dadurch erſcheint die Zelle nicht mehr rund, ſondern wie eine <lb/>Art Würfel mit runden Ecken und ſechs Flächen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6496" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6497" xml:space="preserve">Bei noch größerer Anhäufung der Zellen nehmen ſie alle <lb/>dieſe von allen Seiten flachgedrückte Geſtalt an; </s>
  <s xml:id="echoid-s6498" xml:space="preserve">ſie gleichen
<pb o="17" file="501" n="501"/>
in ihrer Geſtalt dem Haufen Seifenblaſen, welche entſtehen, <lb/>wenn man ein Röhrchen ins Seifenwaſſer hineinſteckt und ſo <lb/>ins Waſſer Luft hineinbläſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6499" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6500" xml:space="preserve">Dies iſt indeſſen nur der Fall bei Pflanzen, die aus einer <lb/>Bildung vieler Zellen beſtehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6501" xml:space="preserve">bei Pflanzen, die nur von <lb/>einer Einzelzelle gebildet werden, bleibt meiſt die Kugelgeſtalt, <lb/>höchſtens entwickelt ſich hieraus die Eiform oder die länglichere <lb/>Form.</s>
  <s xml:id="echoid-s6502" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6503" xml:space="preserve">Wie aber dringt die Nahrung einer ſolchen Zelle in ihr <lb/>verſchloſſenes Innere?</s>
  <s xml:id="echoid-s6504" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6505" xml:space="preserve">Hierauf antwortet die Wiſſenſchaft mit einer Lehre, welche <lb/>von der höchſten Wichtigkeit iſt, und die man durch folgenden <lb/>Verſuch leicht deutlich machen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s6506" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6507" xml:space="preserve">Füllt man eine Tierblaſe mit Waſſer, bindet dieſe feſt zu <lb/>und legt ſie in ein Gefäß mit Salzwaſſer oder Zuckerwaſſer <lb/>oder überhaupt mit Waſſer, in welchem irgend ein Stoff auf-<lb/>gelöſt iſt, ſo zeigt es ſich nach einiger Zeit, daß durch die Wand <lb/>der Tierblaſe hindurch ein Austauſch der beiden Flüſſigkeiten <lb/>ſtattgefunden hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s6508" xml:space="preserve">und zwar iſt dieſer Austauſch derart, daß <lb/>die leichtere Flüſſigkeit, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s6509" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s6510" xml:space="preserve">das reine Waſſer, in größerer <lb/>Maſſe durch die Wand geht, um in die dichtere Flüſſigkeit zu <lb/>gelangen, während die dichtere Flüſſigkeit, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s6511" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s6512" xml:space="preserve">das Salzwaſſer, <lb/>in geringerer Portion ſich in die Blaſe hineinbegiebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6513" xml:space="preserve">War <lb/>die Blaſe, als man ſie ins Gefäß legte, voll und prall, ſo <lb/>wird ſie nach einiger Zeit ſchlaff erſcheinen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6514" xml:space="preserve">denn es hat nicht <lb/>nur ein Austauſch der Flüſſigkeiten ſtattgefunden, ſondern es <lb/>iſt mehr Flüſſigkeit aus der Blaſe ins Gefäß getreten als um-<lb/>gekehrt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6515" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6516" xml:space="preserve">Man nennt dieſe Erſcheinung, wie wir ſchon früher in <lb/>Teil V ſahen, die “<emph style="sp">Endosmoſe</emph>“ oder “<emph style="sp">Diffuſion</emph>“, und er-<lb/>klärt ſie durch die Anziehung, welche die Tierblaſe auf beide <lb/>Flüſſigkeiten ausübt und durch den Austauſch, welcher in den <lb/>feinſten, die Tierblaſe durchziehenden Kanälchen ſtattfindet.</s>
  <s xml:id="echoid-s6517" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6518" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s6519" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s6520" xml:space="preserve">Volksbücher X.</s>
  <s xml:id="echoid-s6521" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="18" file="502" n="502"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6522" xml:space="preserve">Dieſe Art Durchdringung der Tierhaut ſpielt bei der Er-<lb/>nährung der Tiere und des Menſchen die wichtigſte Rolle. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6523" xml:space="preserve">Vom Munde der Tiere bis zum Darm und ſeiner untern <lb/>Öffnung iſt nämlich nirgend eine Seitenöffnung, die in den <lb/>Körper hineinführt, ſo daß eigentlich die aufgenommene Speiſe <lb/>in einen Schlauch gelangt, welcher durch keine einzige Öffnung <lb/>mit dem eigentlichen Körper in Verbindung ſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6524" xml:space="preserve">Aber die <lb/>Speiſen, die im Magen und Darm zu einem Saft, zu einer <lb/>Flüſſigkeit verarbeitet werden, gehen durch die “Endosmoſe” <lb/>in feine Kanälchen über, die um den Darm herumliegen, und <lb/>die den Saft ins Blut führen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6525" xml:space="preserve">Wäre die Kraft der Endos-<lb/>moſe nicht vorhanden, ſo würde alle Speiſe den Darm <lb/>wiederum verlaſſen, ohne das Blut zu erneuern und den Körper <lb/>zu ernähren.</s>
  <s xml:id="echoid-s6526" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6527" xml:space="preserve">Ganz ſo wie eine Tierblaſe, wirkt auch die Pflanzenzelle. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6528" xml:space="preserve">Sie iſt ein Bläschen, mit Flüſſigkeit gefüllt, das oft nur einzeln <lb/>an einer andern Pflanze anliegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6529" xml:space="preserve">Hier an dieſer Stelle be-<lb/>rühren ſich zwei Zellenwände, die Wand der größern Pflanze <lb/>mit der Wand der kleinen Zelle, die auf ihr ruht, und die <lb/>Ernährung dieſer kleinen Zelle geſchieht in der Weiſe, daß die <lb/>Säfte ſich durch die Wände austauſchen und lebensfähige <lb/>Flüſſigkeit aus der großen Pflanze in die kleine Zellen einzieht.</s>
  <s xml:id="echoid-s6530" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6531" xml:space="preserve">Eine ſolche Zelle pflanzt ſich, wie wir ſehen werden, fort <lb/>und gebärt neue Zellen, die gleichfalls an der größeren Pflanze <lb/>zehren, und auf dieſe Weiſe überzieht der “Roſt” oder “Brand” <lb/>in verderblicher Weiſe das Getreide, die Weintraube, die Kar-<lb/>toffel; </s>
  <s xml:id="echoid-s6532" xml:space="preserve">ja ſogar auf Tieren leben ſolche Zellen, wie denn die <lb/>Seidenzucht viel zu leiden hat von einer ähnlichen Pflanze, <lb/>der “Muskardine”, welche ſich auf die Eier der Seidenraupe <lb/>ſetzt und viele derſelben hinrafft.</s>
  <s xml:id="echoid-s6533" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="19" file="503" n="503"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div232" type="section" level="1" n="164">
<head xml:id="echoid-head190" xml:space="preserve"><emph style="bf">VII. Wachstum und Verbreitung der Einzelzelle.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6534" xml:space="preserve">Das beſondere Merkmal des Organiſchen zeigt ſich auch <lb/>hier in der Einzelzelle. </s>
  <s xml:id="echoid-s6535" xml:space="preserve">— Wie wir geſehen haben, dringt die <lb/>Nahrung der Zelle durch die Wand derſelben ein, und iſt bei <lb/>dieſem Eindringen eine Kraft thätig, die man die Endosmoſe <lb/>nennt; </s>
  <s xml:id="echoid-s6536" xml:space="preserve">aber in Folge dieſer Kraft tritt eine Erſcheinung hervor, <lb/>die außerordentlich ſchwierig zu erklären iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s6537" xml:space="preserve">wir meinen das <lb/>Wachſen der Zelle.</s>
  <s xml:id="echoid-s6538" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6539" xml:space="preserve">So klein auch eine völlig ausgewachſene Zelle einer <lb/>Schimmel-Pflanze iſt, ſo läßt ſich doch an ihr beobachten, daß <lb/>ſie, durch die Nahrung angeregt, wächſt, das heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s6540" xml:space="preserve">es nehmen <lb/>alle ihre Teile gleichzeitig an Umfang und Inhalt zu.</s>
  <s xml:id="echoid-s6541" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6542" xml:space="preserve">Für den erſten Augenblick könnte es ſcheinen, als ob dies <lb/>ganz einfach und natürlich wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s6543" xml:space="preserve">Man könnte behaupten, daß <lb/>die Nahrung, welche durch die Wand der Zelle eindringt, eine <lb/>Ausdehnung derſelben zur Folge haben müſſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s6544" xml:space="preserve">Die dehnbare <lb/>Haut der Zelle vergrößere ſich etwa ſo, wie ein dehnbarer <lb/>Beutel an Umfang zunimmt, je mehr man hineinſtopft. </s>
  <s xml:id="echoid-s6545" xml:space="preserve">Allein <lb/>es iſt mit dem Wachstum doch etwas anders. </s>
  <s xml:id="echoid-s6546" xml:space="preserve">Wäre die Haut <lb/>der Zelle nur dehnbar, ſo würde ſie bei der Vergrößerung <lb/>dünner werden müſſen, wie etwa ein Stück Gummi dünner <lb/>wird, wenn man es dehnt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6547" xml:space="preserve">Das iſt aber nicht der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s6548" xml:space="preserve">Die <lb/>Haut nimmt an Dicke ebenſo wie an Umfang zu, und das läßt <lb/>darauf ſchließen, daß hier nicht eine bloße Ausdehnung, ſondern <lb/>eine Fabrikation thätig iſt, welche auch den eindringenden Saft <lb/>umwandelt und aus ihm all’ die einzelnen Gebilde der Zelle <lb/>erſchafft.</s>
  <s xml:id="echoid-s6549" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6550" xml:space="preserve">Moritz Traube hat eine Reihe von intereſſanten Ver-<lb/>ſuchen über das Bilden und Wachſen künſtlicher Zellen ver-<lb/>öffentlicht, die zwar keine Erklärung, aber ein deutliches Bild <lb/>von dem Vorgange des natürlichen Wachſens geben, die wir <lb/>daher unſeren Leſern kurz mitteilen wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6551" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="20" file="504" n="504"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6552" xml:space="preserve">Er taucht einen an einem Glasſtabe hängenden Tropfen <lb/>von gewöhnlichem, flüſſigen Leim in eine verdünnte Auflöſung <lb/>von Gerbſäure. </s>
  <s xml:id="echoid-s6553" xml:space="preserve">Überall nun, wo dieſe beiden Flüſſigkeiten <lb/>ſich berühren, entſteht bekanntlich der lederartige, unlösliche, <lb/>gerbſaure Leim. </s>
  <s xml:id="echoid-s6554" xml:space="preserve">Hier alſo bildet ſich eine vollſtändige Haut <lb/>von Leder rings um den flüſſigen Leimtropfen, oder eine künſt-<lb/>liche Zelle, deren Inhalt aus Leim, und deren Haut aus Leder <lb/>beſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s6555" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6556" xml:space="preserve">Dieſe künſtliche Zelle verſteht nun ganz vorzüglich das <lb/>Kunſtſtück, zu wachſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6557" xml:space="preserve">Sie wird immer größer, aber nicht <lb/>durch bloße Ausdehnung, ſondern die Haut der künſtlichen <lb/>Zelle wird auch gleichzeitig dicker, ganz ſo, wie beim Wachſen <lb/>der natürlichen Zellen die Haut an Dicke zunimmt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6558" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6559" xml:space="preserve">Traube giebt für dieſe Erſcheinung folgende Erklärung:</s>
  <s xml:id="echoid-s6560" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6561" xml:space="preserve">Der gerbſaure Leim, oder das Leder, beſitzt ſo kleine <lb/>Poren, daß weder Leimteilchen, noch die Atome der Gerbſäure <lb/>durch ſie hindurchtreten können. </s>
  <s xml:id="echoid-s6562" xml:space="preserve">Sowie daher der Leimtropfen <lb/>beim Eintauchen in die Gerbſäure eine Lederhaut bekommen <lb/>hat, ſind die beiden Flüſſigkeiten von einander abgeſperrt und <lb/>können ſich nicht mehr mit einander verbinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6563" xml:space="preserve">Aber das <lb/>Waſſer, deſſen Atome klein ſind, kann noch durch die Poren <lb/>der Lederhaut in das Innere der künſtlichen Zelle dringen, <lb/>und dehnt die Haut etwas aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s6564" xml:space="preserve">Die Folge davon iſt, daß die <lb/>Poren der Zellhaut weiter werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6565" xml:space="preserve">Nun vermag in jede Pore <lb/>von außen ein Gerbſäureteilchen und von innen ein Leimteilchen <lb/>zu treten. </s>
  <s xml:id="echoid-s6566" xml:space="preserve">Sie treffen ſich in der Pore und bilden ein ganz <lb/>kleines Stückchen Leder, das die Öffnung verſtopft und die Zell-<lb/>haut vergrößert.</s>
  <s xml:id="echoid-s6567" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6568" xml:space="preserve">Nun kann wiederum weder Gerbſäure noch Leim durch die <lb/>Haut treten, wohl aber das aus kleineren Teilchen beſtehende <lb/>Waſſer. </s>
  <s xml:id="echoid-s6569" xml:space="preserve">Die Haut wird wiederum durch die Endosmoſe des <lb/>Waſſers ausgedehnt, und die Poren werden abermals ſo er-<lb/>weitert, daß ein bißchen Gerbſäure und ein wenig Leim hin-
<pb o="21" file="505" n="505"/>
eintreten, ſich verbinden und die Löcherchen der Haut durch <lb/>neuentſtandene Lederteilchen verſtopfen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6570" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6571" xml:space="preserve">So wächſt die künſtliche Zelle fortwährend weiter. </s>
  <s xml:id="echoid-s6572" xml:space="preserve">Der <lb/>Inhalt wird durch Endosmoſe, die Haut durch Hineinlagern <lb/>kleiner Lederteilchen in die Poren vergrößert, und es nehmen <lb/>hier alſo Inhalt und Zellhaut gleichmäßig an Umfang und <lb/>Dicke zu.</s>
  <s xml:id="echoid-s6573" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6574" xml:space="preserve">Daß dies keine Erklärung, ſondern nur ein Bild für den <lb/>unerklärten Vorgang des Wachstums ſein ſoll, das müſſen wir <lb/>nochmals hervorheben, denn wir werden, ohne weit zu ſuchen, <lb/>ſchon den großen Unterſchied zwiſchen dieſem Vorgang und dem <lb/>wirklichen Zellen-Leben in der einen Thatſache erkennen, daß <lb/>die Pflanzenzelle nur bis zu einer beſtimmten Größe wächſt <lb/>und dann ein ganz anderes Geſchäft beſorgt, das einer ſolch’ <lb/>künſtlichen Lederzelle nicht im Traume in den Sinn kommen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s6575" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6576" xml:space="preserve">Die Pflanzenzelle, wenn ſie eine gewiſſe Größe erreicht <lb/>hat, hört auf weiter zu wachſen und fabriziert etwas ganz <lb/>Neues. </s>
  <s xml:id="echoid-s6577" xml:space="preserve">Entweder bildet ſie eine zweite Zelle aus, wie wir <lb/>dies noch ſehen werden, oder ſie bildet Samen aus, wie es in <lb/>der einzelligen Pflanze der Fall iſt, die wir eben betrachten. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6578" xml:space="preserve">Nehmen wir z. </s>
  <s xml:id="echoid-s6579" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s6580" xml:space="preserve">die gewöhnliche Schimmel-Pflanze an, ſo <lb/>zeigt ſich an ihr, daß ſich die Zelle in ihrem höchſten Wachstum <lb/>wie eine Art Pilz-Kopf ausbildet, in deſſen oberer Hälfte ſich <lb/>bei der Reife eine Art feiner Pünktchen anſetzen, die bald zu <lb/>einem Samenkörnchen werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6581" xml:space="preserve">Und ehe man ſich verſieht, <lb/>ſchleudert die Zelle mit einer gewiſſen Kraft die Keim-Körnchen, <lb/>welche man “Sporen” nennt, von ſich und bildet eine feine <lb/>Staubwolke, die ſich dann auf die Umgebung der erſten Zelle <lb/>niederläßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6582" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6583" xml:space="preserve">Jedes Sporen-Körnchen iſt aber eine ſehr kleine Zelle, <lb/>die, wo ſie ſich anlegt, neue Schimmelpflanzen bildet. </s>
  <s xml:id="echoid-s6584" xml:space="preserve">Daher <lb/>ſieht man den Schimmel, wenn er eben erſt entſteht, wie in <lb/>feinen Faſerchen verteilt, wo ſich junge Kolonien anpflanzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6585" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="22" file="506" n="506"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6586" xml:space="preserve">Die Sporen werden aber auch von der Luft fortgetragen <lb/>und ſchweben zu Millionen und Millionen allenthalben umher. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6587" xml:space="preserve">Sie gelangen ſo an Orte, wo ſie als unwillkommene Gäſte ihr <lb/>Unweſen treiben. </s>
  <s xml:id="echoid-s6588" xml:space="preserve">Sie verbreiten ſich über dem Waſſer und <lb/>pflanzen ſich allenthalben an, wo ſie Boden für ihre Ernährung <lb/>finden, während viele, viele Millionen unbeachtet abſterben, ſo-<lb/>bald ſie auf Stellen gelangen, wo ſie keine Nahrung vorfinden.</s>
  <s xml:id="echoid-s6589" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div233" type="section" level="1" n="165">
<head xml:id="echoid-head191" xml:space="preserve"><emph style="bf">VIII. Wie die Pflanzen wachſen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6590" xml:space="preserve">Das Protoplasma der Pflanzenzelle iſt nicht nur thätig, <lb/>das eigne Leben, vor allem das Leben der Geſamtpflanze zu <lb/>erhalten, ſondern beſorgt auch das Geſchäft der Fortpflanzung <lb/>auf eigne Weiſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s6591" xml:space="preserve">In der Pflanze, die nur aus einzelnen Zellen <lb/>beſteht, bildet das Plasma die “Sporen” aus, die Keime, aus <lb/>denen die neue Generation hervorgeht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6592" xml:space="preserve">Bei Pflanzen indeſſen, <lb/>welche aus einer Zuſammenſetzung mehrerer aneinander ge-<lb/>ſchloſſenen Zellen beſtehen, iſt die Erzeugung der Keime eine <lb/>ſehr viel verwickeltere: </s>
  <s xml:id="echoid-s6593" xml:space="preserve">wir haben ſie ausführlich in Teil I be-<lb/>ſprochen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6594" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6595" xml:space="preserve">Um nun das Wachstum der Pflanzen aus dem Keim ſtu-<lb/>dieren zu können, wollen wir annehmen, daß wir den Samen <lb/>einer hochorganiſierten Pflanze, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s6596" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s6597" xml:space="preserve">eines Salats, in die Erde <lb/>geſteckt hätten, um zu ſehen, was mit demſelben für Verände-<lb/>rungen vorgehen, um aus ihm ein ganzes Pflänzchen mit <lb/>Wurzel, Stamm und Blatt werden zu laſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6598" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6599" xml:space="preserve">Ein ſolches Samenkörnchen hat eine harte Hülle und iſt <lb/>gewiſſermaßen eine große Zelle; </s>
  <s xml:id="echoid-s6600" xml:space="preserve">aber es iſt unter dem Mikro-<lb/>ſkop geſehen doch ſchon eine ſehr bedeutende Gruppe zahlloſer <lb/>Zellen, die unter ſich ſehr verſchiedener Natur ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s6601" xml:space="preserve">Der
<pb o="23" file="507" n="507"/>
Hauptteil der im Samen ſteckenden Zellen iſt der Keim, der in <lb/>den meiſten Samen ſichtbar iſt, wenn man ein Körnchen an <lb/>einer richtigen Stelle ſpaltet. </s>
  <s xml:id="echoid-s6602" xml:space="preserve">An einer Erbſe oder Bohne <lb/>kann man die Spaltung ſehr leicht vornehmen, wenn man ſie <lb/>im Waſſer hat aufweichen laſſen, und man ſieht den Keim, <lb/>nachdem man die Schale entfernt hat, vor ſich liegen in der <lb/>Form zweier Halbkugeln, den beiden erſten Blättern, die <lb/>zwiſchen ſich den jungen, noch ſehr kleinen, erſten Sproß zeigen <lb/>und in deſſen Fortſetzung die noch umgebogene Wurzel zu ſehen <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6603" xml:space="preserve">Ähnlich läßt ſich der Keim in faſt jedem Samen ſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6604" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6605" xml:space="preserve">Der Keim, das junge Pflänzchen (der Embryo), beſteht <lb/>ſchon aus ſehr vielen Zellen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6606" xml:space="preserve">die beiden erſten, dicken Blätter <lb/>der Erbſe enthalten die erſte Speiſe des Keims. </s>
  <s xml:id="echoid-s6607" xml:space="preserve">Das Mehl <lb/>eines Weizenkornes iſt ebenfalls gewiſſermaßen die Muttermilch <lb/>des Keimes, die Nahrung des Keimes für die Zeit, wo er noch <lb/>nicht entwickelt genug iſt, ſolche aus der Erde und der Luft zu <lb/>entnehmen, ebenſo wie in die Mutterbruſt gleich nach der Geburt <lb/>eines Kindes Milch einſtrömt, um das Kind während der Zeit <lb/>zu erhalten, wo es noch nicht andere Stoffe zu ſich nehmen <lb/>oder an ſich zu bringen verſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6608" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6609" xml:space="preserve">Wird nun ſolch ein Samenkörnchen in feuchte Erde gebracht, <lb/>und wirkt hierbei noch die nötige Wärme ein, ſo geſchieht <lb/>Folgendes.</s>
  <s xml:id="echoid-s6610" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6611" xml:space="preserve">Die Nahrungsſtoffe des Körnchens erleiden eine chemiſche <lb/>Veränderung, wobei ſich hauptſächlich das Mehl ganz in der-<lb/>ſelben Weiſe in Zucker verwandelt, wie dies künſtlich in allen <lb/>Zuckerfabriken geſchieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6612" xml:space="preserve">Der Zucker löſt ſich in der Feuchtig-<lb/>keit auf und wird ſelber flüſſig und dringt ſomit in die Zellen <lb/>des Keimes ein, die anſchwellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6613" xml:space="preserve">Dieſe Zellen fangen nun an <lb/>zu leben, das heißt, ſich zu entwickeln und zu vergrößern, bis <lb/>ſie ſich durch Zellwandbildung teilen, vermehren. </s>
  <s xml:id="echoid-s6614" xml:space="preserve">Sie ver-<lb/>doppeln ſich nun immerfort, nach unten als Wurzel und nach <lb/>oben als Pflanzenſtämmchen, und mit dieſer ſteten Verdoppe-
<pb o="24" file="508" n="508"/>
lung tritt der Keim aus dem Samenkörnchen heraus, und <lb/>dringt in ſolcher Weiſe durch Teilung der Zellen wachſend auf <lb/>der einen Seite in die Erde hinein und auf der andern über <lb/>die Erdoberfläche hinauf, um in Luft und Licht weiter zu <lb/>exiſtieren.</s>
  <s xml:id="echoid-s6615" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6616" xml:space="preserve">Dies iſt der Vorgang bei allen höheren Pflanzen vom <lb/>“Iſop an der Wand bis zur Ceder des Libanon”, und des-<lb/>halb wollen wir der Beobachtung und Betrachtung dieſes Vor-<lb/>ganges noch einige Worte widmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6617" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div234" type="section" level="1" n="166">
<head xml:id="echoid-head192" xml:space="preserve"><emph style="bf">IX. Lebensthätigkeit der Pflanze.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6618" xml:space="preserve">Wie gelangt die Nahrung bis hinauf in die höchſte Spitze <lb/>der Pflanze?</s>
  <s xml:id="echoid-s6619" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6620" xml:space="preserve">Hierüber hatte man vor gar nicht langer Zeit die ſonder-<lb/>barſten Vorſtellungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6621" xml:space="preserve">Man glaubte, die Nahrung ſteige auch <lb/>in die Pflanze, wie etwa Oel in einem Docht auffteigt; </s>
  <s xml:id="echoid-s6622" xml:space="preserve">Andere <lb/>ſchrieben dieſe Erſcheinung auf Rechnung einer lebendigen Saug-<lb/>Kraft, welche die Pflanzen beſitzen ſollten. </s>
  <s xml:id="echoid-s6623" xml:space="preserve">Die Forſchungen <lb/>neuerer Zeit haben aber bewieſen, daß auch dies weit einfacher <lb/>vor ſich geht, und daß hierbei nicht unbekannte Wunderkräfte <lb/>obwalten, ſondern in erſter Reihe die “Endosmoſe” thätig iſt, <lb/>die zwiſchen Zelle und Zelle durch die Wände hindurch ſtatt-<lb/>findet. </s>
  <s xml:id="echoid-s6624" xml:space="preserve">Der Saft der Wurzelzelle tauſcht ebenſo mit dem der <lb/>Nachbarzelle ſeine Beſtandteile aus, wie zwei aneinanderliegende <lb/>Tierblaſen, die mit verſchiedenen Flüſſigkeiten gefüllt ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s6625" xml:space="preserve">Die <lb/>Nachbarzelle giebt nun die aufgenommenen Beſtandteile ihrer <lb/>nächſten Nachbarin ab, und ſo geht dieſes Tauſchgeſchäft fort <lb/>und fort, ununterbrochen weiter von Zelle zu Zelle, bis die-<lb/>ſelbe Nahrung, die die Wurzel der Erde entnommen hat, durch
<pb o="25" file="509" n="509"/>
die ganze Pflanze verteilt iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s6626" xml:space="preserve">und da die Wurzel immerzu <lb/>neue Nahrung in ſich aufnimmt und in einem fort eine Nachbar-<lb/>zelle neben ſich hat, die die ihrige der entferntern Nachbarin <lb/>gegeben hat, ſo geht das Einſtrömen und Wandern der Nah-<lb/>rung eigentlich ununterbrochen fort und giebt fortwährend <lb/>Veranlaſſung zur Vermehrung der Zellen, das heißt, zum <lb/>Wachstum der Pflanze.</s>
  <s xml:id="echoid-s6627" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6628" xml:space="preserve">Forſchen wir alſo nach dem Leben der Pflanze wie nach <lb/>dem Organ, in welchem die Thätigkeit dieſes Lebens vor ſich <lb/>geht, ſo finden wir Folgendes:</s>
  <s xml:id="echoid-s6629" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6630" xml:space="preserve">Eine eigentümliche Sammlung von Pflanzenzellen, die <lb/>man den Keim nennt, nimmt urſprünglich unter dem Einfluß <lb/>von Feuchtigkeit und Wärme Stoffe in ſich auf, welche ſich <lb/>vorrätig in den Samen finden, in denen der Keim eingebettet <lb/>liegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6631" xml:space="preserve">Die Zellen des Keimes vergrößern, vermehren und <lb/>ſtrecken ſich zur Bildung von Stämmchen und Wurzel. </s>
  <s xml:id="echoid-s6632" xml:space="preserve">Hierzu <lb/>iſt nicht nötig, daß der Samen in die Erde gebracht wird, er <lb/>braucht vielmehr nur angefeuchtet und erwärmt zu werden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6633" xml:space="preserve">Man kann ſich hiervon überzeugen, wenn man Gerſte mit <lb/>etwas Waſſer überſchüttet und einen Tag lang etwa im <lb/>geheizten Zimmer in der Nähe des Ofens ſtehen läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6634" xml:space="preserve">Es <lb/>zeigt ſich hierbei, daß die Gerſte aufſchwillt und der darin <lb/>liegende Keim Wurzel und Stamm bildet. </s>
  <s xml:id="echoid-s6635" xml:space="preserve">Zugleich iſt das <lb/>Mehl der Gerſtenkörner in Zuckerſtoff umgewandelt, ſo daß ſie <lb/>ſüßlich ſchmecken und jetzt das Malz der Brauer bilden, die <lb/>aus demſelben die verſchiedenen Biere bereiten. </s>
  <s xml:id="echoid-s6636" xml:space="preserve">Liegt aber <lb/>der Samen in der Erde, ſo iſt die Wurzel, die heranwächſt, <lb/>imſtande, der Erde ſelber Nahrungsſtoffe zu entnehmen, ſobald <lb/>dieſelbe nur feucht und warm iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s6637" xml:space="preserve">und dieſes genügt, um in <lb/>einem Boden, der die richtigen, zur Nahrung der Pflanze <lb/>dienenden Stoffe enthält, das weitere Wachstum, die weitere <lb/>Vermehrung der Zellen zu bewerkſtelligen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6638" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6639" xml:space="preserve">Der Sitz dieſer Thätigkeit aber iſt das Protoplasma; </s>
  <s xml:id="echoid-s6640" xml:space="preserve">dies
<pb o="26" file="510" n="510"/>
hat eben die Eigenſchaft, die man bisher nicht erklären konnte, <lb/>und welche es bewirkt, daß aus den Nahrungsſtoffen der <lb/>Pflanze neue Pflanze entſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s6641" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6642" xml:space="preserve">Und dieſen eigentümlichen Vorgang wollen wir jetzt be-<lb/>trachten.</s>
  <s xml:id="echoid-s6643" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div235" type="section" level="1" n="167">
<head xml:id="echoid-head193" xml:space="preserve"><emph style="bf">X. Die Verwandlung unbelebter Stoffe in</emph> <lb/><emph style="bf">belebte durch die Pflanze.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6644" xml:space="preserve">In welcher Weiſe aus den Nahrungsmitteln der Pflanze <lb/>wirkliche Pflanze entſteht, davon hat die Wiſſenſchaft noch keine <lb/>klare Erkenntnis. </s>
  <s xml:id="echoid-s6645" xml:space="preserve">Es iſt dies für jetzt ein Rätſel, deſſen Löſung <lb/>noch nicht gelungen iſt, und wahrſcheinlich deshalb, weil noch <lb/>eine Reihe von Naturkräften erſt wird erforſcht werden müſſen, <lb/>bevor man imſtande ſein wird, ernſtlich an dieſe Frage zu <lb/>gehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6646" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6647" xml:space="preserve">Wir wollen uns deshalb damit begnügen, dies Rätſel in <lb/>ſeinen Umriſſen etwas genauer kennen zu lernen und von <lb/>ſeiner Löſung ſoviel hier wiederzugeben, als es bisher mit <lb/>einiger Sicherheit möglich geworden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6648" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6649" xml:space="preserve">Die Nahrung der Pflanze beſteht hauptſächlich aus drei <lb/>Dingen, aus Waſſer, aus Kohlenſäure und aus Salzen, die <lb/>im Bodenwaſſer gelöſt ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s6650" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6651" xml:space="preserve">Dieſe drei Dinge ſind vollſtändig bekannt; </s>
  <s xml:id="echoid-s6652" xml:space="preserve">Waſſer beſteht <lb/>aus einer chemiſchen Verbindung von zwei Luftarten, Sauer-<lb/>ſtoff und Waſſerſtoff; </s>
  <s xml:id="echoid-s6653" xml:space="preserve">— Kohlenſäure beſteht aus einer chemi-<lb/>ſchen Verbindung, einer Luftart Sauerſtoff mit einem feſten <lb/>Körper: </s>
  <s xml:id="echoid-s6654" xml:space="preserve">Kohle. </s>
  <s xml:id="echoid-s6655" xml:space="preserve">Die Salze ſind chemiſche Verbindungen, <lb/>unter denen diejenigen, die Stickſtoff enthalten, für die Pflanze <lb/>die wichtigſten ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s6656" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="27" file="511" n="511"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6657" xml:space="preserve">Aber ſehr wichtig ſind in denſelben auch Phosphor, <lb/>Schwefel, Eiſen und andere Metalle. </s>
  <s xml:id="echoid-s6658" xml:space="preserve">Wir wollen jedoch der <lb/>Einfachheit wegen von dieſen Stoffen abſehen und nur die <lb/>Hauptnahrung in Betracht ziehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6659" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6660" xml:space="preserve">Nimmt eine Pflanze die gedachten Stoffe in ſich auf, ſo <lb/>lebt und wächſt ſie, ohne daß in ihr irgend ein anderer Stoff <lb/>vorhanden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6661" xml:space="preserve">Die Pflanze alſo iſt nichts anderes als eine <lb/>eigentümliche Art von Verbindung dieſer bekannten Stoffe, <lb/>welche ſie verzehrt, die Pflanze iſt im weſentlichen verwandeltes <lb/>Waſſer, verwandelte Kohlenſäure und verwandelte Salze, deren <lb/>Stickſtoff namentlich von Wichtigkeit iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6662" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6663" xml:space="preserve">Weder das Waſſer noch die Kohlenſäure noch die Salze <lb/>leben. </s>
  <s xml:id="echoid-s6664" xml:space="preserve">Auch wenn man ſie mit einander vermiſcht, vermengt <lb/>oder chewiſch verbindet, entſteht nichts Lebendes, nichts, was <lb/>den Charakter des Lebenden an ſich trägt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6665" xml:space="preserve">Nur wenn ſie in <lb/>der Pflanze zuſammentreffen, nur da bilden ſie eine lebens-<lb/>fähige Verbindung. </s>
  <s xml:id="echoid-s6666" xml:space="preserve">— In der Pflanze alſo geht etwas vor, <lb/>was wir durch Menſchenkunſt nicht zu Wege bringen können. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6667" xml:space="preserve">Die Pflanze treibt eine Art Chemie, die wir nicht nachahmen <lb/>können. </s>
  <s xml:id="echoid-s6668" xml:space="preserve">Sie macht aus nichtlebenden Stoffen ein lebendes <lb/>Weſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6669" xml:space="preserve">nichtorganiſche Dinge werden in der Pflanze organiſch.</s>
  <s xml:id="echoid-s6670" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6671" xml:space="preserve">Im vollen Sinne des Wortes liegt alſo in einer Pflanze <lb/>eine Lebensfabrik.</s>
  <s xml:id="echoid-s6672" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6673" xml:space="preserve">Will man nun nicht annehmen, daß die Pflanze eine <lb/>übernatürliche Kunſt betreibt, ſondern faßt man den richtigen <lb/>Gedanken, daß in einer Pflanze dieſelben Naturkräfte walten <lb/>wie in der nicht organiſchen Natur, ſo muß man ſagen: </s>
  <s xml:id="echoid-s6674" xml:space="preserve">die <lb/>Entſtehung des Lebens aus Nichtleben iſt ein Ergebnis von <lb/>Naturkräften. </s>
  <s xml:id="echoid-s6675" xml:space="preserve">Naturkräfte ſind es, welche nichtlebende Stoffe <lb/>ſo verbinden, daß ſie lebendig werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s6676" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6677" xml:space="preserve">Dieſer Gedanke iſt freilich ein ſolcher, der alten Vor-<lb/>ſtellungen vom Leben widerſpricht; </s>
  <s xml:id="echoid-s6678" xml:space="preserve">allein er iſt in der Wiſſen-<lb/>ſchaft ganz unumſtößlich geworden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6679" xml:space="preserve">Die Thatſache, daß die
<pb o="28" file="512" n="512"/>
Pflanzen aus unorganiſchen Stoffen organiſche machen, aus <lb/>nichtlebenden belebte ſchaffen, läßt ſich gegenüber den Beweiſen <lb/>derſelben nicht mehr leugnen, und es ſteht ſomit in jeder <lb/>Pflanze ein Rätſel für den Naturforſcher da, das man in <lb/>ältern Zeiten durch das Wort “Wunder” aus dem Bereich des <lb/>Natürlichen hinaus in das Bereich des Übernatürlichen verwies.</s>
  <s xml:id="echoid-s6680" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6681" xml:space="preserve">Betrachten wir nun aber dieſe Verwandlung von nicht-<lb/>organiſcher Maſſe in organiſche als die Folge von Natur-<lb/>kräften, ſo haben wir doch zu bekennen, daß die Wiſſenſchaft <lb/>noch nicht imſtande iſt, ſich ein durchweg klares Bild von dem <lb/>Getriebe dieſer Kräfte zu machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6682" xml:space="preserve">Man hat ſich daher früher <lb/>veranlaßt geſehen anzunehmen, daß in der Pflanze — und <lb/>nicht minder im Tiere — eine eigene Kraft exiſtiere, welche <lb/>man “Lebenskraft” nannte, und ſchrieb alle unerklärlichen Er-<lb/>ſcheinungen des Lebens auf Rechnung dieſer unbekannten <lb/>“Lebenskraft”.</s>
  <s xml:id="echoid-s6683" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6684" xml:space="preserve">Doch hat w<unsure/>an ſehr triftige Gründe, dieſe ſogenannte <lb/>“Lebenskraft” zurückzuweiſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6685" xml:space="preserve">Es hat ſich nämlich bei gründ-<lb/>lichen Forſchungen ergeben, daß viele Erſcheinungen, die man <lb/>ſonſt der “Lebenskraft” zuſchrieb, aus ganz anderen Urſachen <lb/>herrühren. </s>
  <s xml:id="echoid-s6686" xml:space="preserve">So hat man z. </s>
  <s xml:id="echoid-s6687" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s6688" xml:space="preserve">noch vor gar nicht langer Zeit <lb/>angenommen, daß es die “Lebenskraft” ſei, welche im Innern <lb/>der Tiere und Menſchen ſtets denſelben Grad der Wärme er-<lb/>hält, gleichviel ob es Winter oder Sommer iſt, gleichviel ob <lb/>ſie in heißen oder in kalten Ländern leben. </s>
  <s xml:id="echoid-s6689" xml:space="preserve">Gegenwärtig je-<lb/>doch weiß man, daß die ſtets gleiche Wärme von der beim <lb/>Atmen ſtattfindenden chemiſchen Verbrennung herrührt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6690" xml:space="preserve">Bevor <lb/>man die “Endosmoſe” kannte, die wir bereits wiederholt er-<lb/>wähnt haben, ſchrieb man das Einſtrömen der Nahrung in <lb/>Pflanzen und in den Tierkörper gleichfalls der unerklärlichen <lb/>wunderbaren “Lebenskraft” zu; </s>
  <s xml:id="echoid-s6691" xml:space="preserve">jetzt iſt es ſoweit, daß man <lb/>Jedem deutlich zeigen kann, wie hierbei nur die Endosmoſe <lb/>wirkt, die ſich auch bei nichtlebenden Stoffen vorfindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s6692" xml:space="preserve">—
<pb o="29" file="513" n="513"/>
Ähnlich wie dieſe Fälle ſind noch andere, die es darthun, daß <lb/>viele Naturerſcheinungen, in denen man ſonſt “Lebenskraft” zu <lb/>finden glaubte, die Folge von Kräften ſind, die ſich auch in <lb/>der ſogenannten toten Natur thätig zeigen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6693" xml:space="preserve">und hieraus iſt <lb/>man mit gutem Grund dem Gedanken nahe geführt worden, <lb/>daß auch alle übrigen, bisher unerklärten Erſcheinungen im <lb/>Leben der Pflanzen und der Tiere dereinſt ohne Annahme der <lb/>Lebenskraft werden erklärt werden können, ſobald man nur in <lb/>der Kenntnis der chemiſchen und phyſikaliſchen Kräfte weiter <lb/>fortgeſchritten und imſtande ſein wird, ihr Zuſammenwirken zu <lb/>begreifen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6694" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div236" type="section" level="1" n="168">
<head xml:id="echoid-head194" xml:space="preserve"><emph style="bf">XI. Von dem Rätſel des Lebens.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6695" xml:space="preserve">Wir wollen es nun verſuchen, uns einmal das Haupt-<lb/>rätſel im Leben der Pflanze recht deutlich zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6696" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6697" xml:space="preserve">Blicken wir nun auf die Zellen der Wurzel einer beliebigen <lb/>Pflanze, ſo wiſſen wir mit vollkommener Sicherheit, daß die <lb/>aufnehmenden Zellen durch ihre Wand hindurch Waſſer mit <lb/>den in demſelben gelöſten mineraliſchen Beſtandteilen in ſich <lb/>aufnehmen, und man ſollte meinen, daß, wenn dies geſchehen, <lb/>man in den Zellen dieſe Stoffe ebenſo finden müßte, als wenn <lb/>ſie außerhalb der Zellen durcheinander vermiſcht oder chemiſch <lb/>verbunden würden.</s>
  <s xml:id="echoid-s6698" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6699" xml:space="preserve">Das iſt aber nicht der Fall.</s>
  <s xml:id="echoid-s6700" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6701" xml:space="preserve">Preßt man die Zellen, nachdem ſie dieſe Stoffe in ſich <lb/>aufgenommen haben, aus, ſo findet man, daß ſie einen Pflanzen-<lb/>ſaft enthalten, der durchaus anderer Natur iſt als dasjenige, <lb/>was wir durch Waſſer, Kohlenſäure, die durch die grünen <lb/>Blätter der Pflanze zugeführt werden, und ſtickſtoffhaltige Salze <lb/>herzuſtellen imſtande wären. </s>
  <s xml:id="echoid-s6702" xml:space="preserve">— Zwar iſt in dem Pflanzenſaft
<pb o="30" file="514" n="514"/>
auch chemiſch nichts weiter enthalten als die genannten Beſtand-<lb/>teile, und der Chemiker iſt auch imſtande, dieſelben wiederum <lb/>aus dem Pflanzenſaft herzuſtellen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6703" xml:space="preserve">allein er erhält dieſe Speiſe-<lb/>ſtoffe in einer ſo eigentümlichen Verbindung, daß ſie in den <lb/>Zellen unverkennbar etwas ganz anderes geworden ſind, als <lb/>ſie vorher hätten werden können.</s>
  <s xml:id="echoid-s6704" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6705" xml:space="preserve">Man darf aber hierbei auch nicht vergeſſen, daß die <lb/>Stoffe, welche die Zellen als Speiſe aufnehmen, ſchon ſelber <lb/>durch eine eigene Kraft gepaart ſind, durch eine chemiſche Kraft, <lb/>die ſowohl im Waſſer, wie in der Kohlenſäure und den minera-<lb/>liſchen Beſtandteilen und den Salzen des Erdbodens ſteckt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6706" xml:space="preserve">Dieſe Kraft ſpielt ſicherlich eine Hauptrolle und wird vielleicht <lb/>nur durch die im Zellen-Protoplasma wirkende Kraft umge-<lb/>ändert. </s>
  <s xml:id="echoid-s6707" xml:space="preserve">Die Naturwiſſenſchaft auf dem gegenwärtigen Stand-<lb/>punkt iſt überhaupt noch ſehr im Unklaren über das, was bei <lb/>einer chemiſchen Verbindung zweier Stoffe vorgeht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6708" xml:space="preserve">Wir <lb/>können zwar aus Sauerſtoff und Waſſerſtoff künſtlich Waſſer <lb/>machen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6709" xml:space="preserve">aber es leiſtet uns hierbei etwas Unbekanntes Hilfe, <lb/>das wir chemiſche “Anziehung”, “chemiſche Verwandtſchaft” <lb/>nennen, und bei welchem die Elektrizität wie die Wärme eine <lb/>große Rolle ſpielen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6710" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6711" xml:space="preserve">Will man daher aufrichtig ſein, ſo muß man ſagen, daß <lb/>das Rätſel des Lebens der Pflanze ſchon in der Speiſe der <lb/>Pflanze, in der chemiſchen Verbindung ihrer Speiſeſtoffe ſteckt, <lb/>ja man darf annehmen, daß im Waſſer, wie in der Kohlen-<lb/>ſäure u. </s>
  <s xml:id="echoid-s6712" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s6713" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s6714" xml:space="preserve">ſchon die erſten Lebenskräfte ſchlummern, und <lb/>daß dieſe Kräfte nur angeregt werden zur gemeinſamen Thätig-<lb/>keit durch eine eigne Kraft, die im Protoplasma waltet.</s>
  <s xml:id="echoid-s6715" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6716" xml:space="preserve">Freilich iſt hiernach noch nicht einzuſehen, woher es kommt, <lb/>daß dieſe drei Speiſeſtoffe imſtande ſind, ſo verſchiedenartige <lb/>Pflanzen zu erzeugen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6717" xml:space="preserve">Die Zellen eines Weizenkeimlings <lb/>nehmen faſt dieſelbe Speiſe in ſich auf wie die eines Apfel-<lb/>baumes, und doch iſt ein Weizenkorn ganz etwas anderes als
<pb o="31" file="515" n="515"/>
ein Apfel. </s>
  <s xml:id="echoid-s6718" xml:space="preserve">Allein man kann ſich vorſtellen, daß das Proto-<lb/>plasma einer Zelle im Weizenkeimling den Speiſen der Pflanze <lb/>eine andere Anregung giebt als das Protoplasma der Apfel-<lb/>zellen, ſo daß gleiche Speiſeſtoffe durch verſchiedene Anregungen <lb/>zu verſchiedenen Gebilden werden, es kommt noch hinzu, daß <lb/>die verſchiedenen Pflanzenarten ein “Wahlvermögen” ihre <lb/>Nahrung der Umgebung zu entnehmen beſitzen, indem ver-<lb/>ſchiedene Arten auch verſchiedene Beſtandteile oder doch dieſe <lb/>in verſchiedener Quantität aufnehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6719" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6720" xml:space="preserve">Hiernach wären im weſentlichen Waſſer, Kohlenſäure u. </s>
  <s xml:id="echoid-s6721" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s6722" xml:space="preserve">w. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6723" xml:space="preserve">Dinge, welche die Fähigkeit haben, alle Arten von Pflanzen zu <lb/>bilden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6724" xml:space="preserve">Dieſe Fähigkeit ſchlummert gewiſſermaßen, ſo lange ſie <lb/>nicht eine Anregung erhält von einer bereits exiſtierenden <lb/>Pflanzenzelle. </s>
  <s xml:id="echoid-s6725" xml:space="preserve">Je nach der Anregung aber erhalten dieſe <lb/>Speiſeſtoffe der Pflanze eine Richtung, ſich organiſch zu ver-<lb/>binden, und dieſe Verbindung geſchieht derart, daß ſie immer <lb/>dieſelbe Pflanze bilden, von welcher ſie zur Thätigkeit angeregt <lb/>werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s6726" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6727" xml:space="preserve">Das iſt die freilich noch ſehr unvollſtändige Löſung des <lb/>Rätſels vom Leben der Pflanze, oder richtiger vom Übergang <lb/>der unorganiſchen Stoffe in organiſche.</s>
  <s xml:id="echoid-s6728" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div237" type="section" level="1" n="169">
<head xml:id="echoid-head195" xml:space="preserve"><emph style="bf">XII. Die eigne Art des Wachstums der Pflanze.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6729" xml:space="preserve">Die Pflanze nimmt nun — wie ſchon angedeutet — <lb/>Nahrung nicht allein durch Vermittelung der Wurzeln, ſondern <lb/>auch aus der Luft auf; </s>
  <s xml:id="echoid-s6730" xml:space="preserve">ſie bedarf dabei alſo zu ihrem Leben <lb/>des Lichtes und der Wärme, und ſie ſcheidet auch während <lb/>ihres Lebens eingenommene, für das Leben unbrauchbar ge-<lb/>wordene Stoffe wieder aus.</s>
  <s xml:id="echoid-s6731" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="32" file="516" n="516"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6732" xml:space="preserve">Der Haushalt der Pflanze iſt in den verſchiedenen Pflanzen <lb/>verſchieden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6733" xml:space="preserve">Die Pflanze, die nur als Einzel-Zelle lebt, iſt <lb/>ein äußerſt einfaches Weſen, das alle Arbeit ſeines Lebens für <lb/>ſich allein verrichten muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s6734" xml:space="preserve">Pflanzen, in welchen ſich die Zellen <lb/>familienweiſe anbauen, fangen oft ſchon an, die Arbeit unter <lb/>ſich zu teilen: </s>
  <s xml:id="echoid-s6735" xml:space="preserve">denn in einer und derſelben Pflanze haben ver-<lb/>ſchiedene Zellen dann meiſt ſchon verſchiedene Verrichtungen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6736" xml:space="preserve">Pflanzen, die ſchon aus einer ungeheuren Reihe von Zellen <lb/>beſtehen, bilden ſich ſo, daß ganze Gruppen von Zellen ſowohl <lb/>in ihrer Verrichtung anders ſind als die andern Zellen derſelben <lb/>Pflanze; </s>
  <s xml:id="echoid-s6737" xml:space="preserve">denn es findet hier eine wirkliche Teilung der Arbeit <lb/>in einzelnen Teilen zum Beſten der ganzen Pflanze ſtatt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6738" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6739" xml:space="preserve">Wir wollen dies durch ein Beiſpiel deutlicher zu machen <lb/>ſuchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6740" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6741" xml:space="preserve">Geſetzt, man pflanzt einen Apfelkern in die Erde ein, ſo <lb/>wird, wie das jedermann weiß, endlich ein Apfelbaum daraus <lb/>mit Wurzel, Stamm, Zweigen und Blätterkrone, der ſodann <lb/>Blüten trägt, und endlich wieder Äpfel entwickelt, in welchen <lb/>Apfelkerne ſich finden.</s>
  <s xml:id="echoid-s6742" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6743" xml:space="preserve">Mit Recht fragt man: </s>
  <s xml:id="echoid-s6744" xml:space="preserve">wie iſt dies zugegangen?</s>
  <s xml:id="echoid-s6745" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6746" xml:space="preserve">Vor gar nicht langer Zeit hatte man die thörichte Vor-<lb/>ſtellung, daß in dem Apfelkern eigentlich ein ganz kleiner, <lb/>unſerem Auge nicht ſichtbarer Apfelbaum ſtecke, der nur an <lb/>Maſſe zuzunehmen brauche, um zu wachſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6747" xml:space="preserve">Ja man ging <lb/>ſo weit, zu glauben, daß auch alle Äpfel des künftigen Baumes <lb/>in dem Kerne ſtecken, und da in den Äpfeln auch Kerne ſtecken, <lb/>die wiederum Bäume werden, ſo war man genötigt zu der <lb/>Annahme, daß jeder Samen alle Pflanzen ſeiner Gattung in <lb/>ſich trage, die ſich erſt ſpäter entwickeln werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6748" xml:space="preserve">Man nahm <lb/>ſo — wie wir ſchon früher ſahen — eine “Einſchachtelung” <lb/>an, nach welcher in einem einzigen Apfelkern eine nach Jahr-<lb/>tauſenden erſt ſichtbare Geſchlechtsreihe von Apfelbäumen ein-<lb/>geſchachtelt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6749" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="33" file="517" n="517"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6750" xml:space="preserve">Gegenwärtig hat die Forſchung dieſe falſche Vorſtellung <lb/>ganz beſeitigt, und man weiß, daß ein Apfelkern nur eine <lb/>Gruppe von Zellen in ſich hat, welche die Fähigkeit haben, <lb/>ſich nach Aufnahme von chemiſch zubereiteten Speiſen zu teilen, <lb/>alſo neue Zellen zu bilden, die ſich wiederum weiter teilen und <lb/>ſo imſtande ſind, einen ganzen Baum zu bilden.</s>
  <s xml:id="echoid-s6751" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6752" xml:space="preserve">Aber mit dieſer Fähigkeit der Zellen ſich zu vervielfältigen <lb/>iſt zugleich noch etwas Anderes verbunden, das bisher noch <lb/>nicht völlig erklärt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6753" xml:space="preserve">Die neuentſtandenen Zellen bleiben <lb/>nicht alle ſo geſtaltet, wie die alten, und die Teilung der Zelle, <lb/>die Verdoppelung, geht nicht nach allen Seiten hin in gleicher <lb/>Weiſe vor ſich; </s>
  <s xml:id="echoid-s6754" xml:space="preserve">denn in ſolchem Falle würde aus einer Eizelle <lb/>immer nur ein nach allen Seiten hin größer und dicker werden-<lb/>des, rundes Klumpengewächs entſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6755" xml:space="preserve">Es geſtalten ſich und <lb/>es legen ſich vielmehr die neuen Zellen nur nach gewiſſen <lb/>Formen und gewiſſen Richtungen an.</s>
  <s xml:id="echoid-s6756" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6757" xml:space="preserve">Die Wurzel in der Erde wächſt fadenartig nach be-<lb/>ſtimmten Richtungen hin. </s>
  <s xml:id="echoid-s6758" xml:space="preserve">Wenn man behaupten hört, daß die <lb/>Pflanzen dorthin ihre Wurzeln richten, wo der nahrungs-<lb/>reichere Boden iſt, ſo iſt das ganz richtig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6759" xml:space="preserve">Aber man darf <lb/>ſich nicht denken, daß dieſes für das Pflanzenindividuum ſo <lb/>zweckdienliche Benehmen etwa mit einer Willensempfindung <lb/>verknüpft ſei, daß alſo die Wurzel ein bewußtes Streben habe, <lb/>dorthin zu wachſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6760" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6761" xml:space="preserve">Wer es bedenkt, daß die leiſeſte Ungleichheit des Erdreichs, <lb/>das ein Samenkörnchen umgiebt, hinreicht, den einzelnen Zellen <lb/>der Wurzel verſchiedene Richtungen zu geben, der wird es <lb/>ſchon hiernach erklärlich finden, daß die Wurzelzellen nicht zu <lb/>klumpenartigen Bildungen vereinigt ſich finden, ſondern zu <lb/>ſtrahlenartigen und am meiſten nach der Richtung hin, wo die <lb/>äußere Umgebung das Wachstum befördert.</s>
  <s xml:id="echoid-s6762" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6763" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s6764" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s6765" xml:space="preserve">Volksbücher X.</s>
  <s xml:id="echoid-s6766" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="34" file="518" n="518"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div238" type="section" level="1" n="170">
<head xml:id="echoid-head196" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIII. Die Bildung des Baumes.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6767" xml:space="preserve">Während die Wurzel der Pflanze in die Erde hinein-<lb/>wächſt, und zwar, wie wir gezeigt haben, nach der Richtung <lb/>des Ortes hin, woher ihr die Nahrung, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s6768" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s6769" xml:space="preserve">das Waſſer mit <lb/>gelöſten Bodenbeſtandteilen, leichter zukommt, wächſt auch der <lb/>Teil der Pflanze, der aufwärts ſtrebt, nach demſelben Geſetz.</s>
  <s xml:id="echoid-s6770" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6771" xml:space="preserve">Fragt man: </s>
  <s xml:id="echoid-s6772" xml:space="preserve">woher kommt es, daß die Pflanzen über die <lb/>Erde aufwärts in die Luft hinein wachſen? </s>
  <s xml:id="echoid-s6773" xml:space="preserve">Weshalb entſteht <lb/>hier nicht Zelle an Zelle nach jeder Richtung hin, weshalb <lb/>ſteigt dieſes Zellengebäude immer mehr aufwärts, als es in <lb/>die Breite wächſt? </s>
  <s xml:id="echoid-s6774" xml:space="preserve">— ſo läßt ſich hierauf eine ähnliche Antwort <lb/>geben, wie die über das Wachstum der Wurzel.</s>
  <s xml:id="echoid-s6775" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6776" xml:space="preserve">Die Luft über der Erde enthält eine äußerſt wichtige <lb/>Speiſe der Pflanze. </s>
  <s xml:id="echoid-s6777" xml:space="preserve">In der Luft findet ſich fortwährend und <lb/>überall Kohlenſäure. </s>
  <s xml:id="echoid-s6778" xml:space="preserve">Der Teil der Pflanze alſo, der aufwärts <lb/>wächſt, wächſt eigentlich nach der Richtung hin, woher ihm die <lb/>wichtigſte Nahrung zuſtrömt, das heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s6779" xml:space="preserve">die Zellen vermehren <lb/>ſich nach der Gegend hin am ſtärkſten, wo am leichteſten die <lb/>Nahrung in ſie einſtrömt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6780" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6781" xml:space="preserve">Hierzu kommt noch, daß Licht und Sonnenwärme von <lb/>oben her auf die Pflanze wirken, und dieſe, wie die Erfahrung <lb/>lehrt, auf das Wachstum und deſſen Richtung von großem <lb/>Einfluß ſind, ohne daß man ſich klare Rechenſchaft von der <lb/>Rolle geben kann, welche ſie hierbei ſpielen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6782" xml:space="preserve">Den Einfluß des <lb/>Lichtes ſieht man am deutlichſten bei Gewächſen, die man in <lb/>Zimmern aufzieht, wo alle Blätter und Zweige unverkennbar <lb/>nach dem Fenſter hin, wo das Licht einſtrömt, wachfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6783" xml:space="preserve">Der <lb/>Einfluß der Wärme iſt ſo groß, daß in warmen Ländern und <lb/>Treibhäuſern wie in geheizten Zimmern die Gewächſe Jahr <lb/>aus Jahr ein ihren Blätterſchmuck, ihre Blüte- und Fruchtzeit <lb/>haben und ohne Unterbrechung zum Wachstum vorſchreiten.</s>
  <s xml:id="echoid-s6784" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="35" file="519" n="519"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6785" xml:space="preserve">Obwohl nun eine ganze Reihe von Einflüſſen und Kräften <lb/>auf die Pflanzen einwirken, ſo ſind dieſe doch nicht ausreichend, <lb/>um die verſchiedenartigen Geſtalten zu erklären, in welchen <lb/>verſchiedene Pflanzen ſich ausbilden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6786" xml:space="preserve">Man iſt deshalb zu der <lb/>Annahme gezwungen, daß jede Zelle einer beſtimmten Pflanze <lb/>auch den neu ſich bildenden Zellen eine Anregung verleiht, ſich <lb/>in beſtimmter Form zu entwickeln, und daher rühren die ver-<lb/>ſchiedenen Formen, welche den verſchiedenen Pflanzen auch ihr <lb/>verſchiedenes Anſehen geben.</s>
  <s xml:id="echoid-s6787" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6788" xml:space="preserve">Betrachten wir demnach die Pflanzenarten, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s6789" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s6790" xml:space="preserve">die Bäume, <lb/>ſo ſehen wir, daß jede Art auch eine verſchiedene Geſtalt be-<lb/>ſitzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6791" xml:space="preserve">Selbſt im Winter, wo das Laub des Baumes abgefallen <lb/>iſt, wird jeder Aufmerkſame die Eiche von der Kaſtanie, den <lb/>Apfelbaum vom Kirſchbaum zu unterſcheiden wiſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6792" xml:space="preserve">Die <lb/>Stellung des Stammes, die Ausbreitung ſeiner Zweige, die <lb/>Beſchaffenheit der Rinde iſt an jeder Baumart anders als an <lb/>der andern. </s>
  <s xml:id="echoid-s6793" xml:space="preserve">Dies rührt offenbar von den Kräften her, welche <lb/>bereits im Keime liegen, alſo von den Vererbungstendenzen, <lb/>von Kräften, die man wiſſenſchaftlich noch nicht zu erforſchen <lb/>imſtande geweſen iſt, deren Wirkung man jedoch der Beob-<lb/>achtung unterworfen hat, und die man, ſo verſchieden ſie auch <lb/>auftreten, doch auf einfache und auf die über den Haushalt <lb/>und das Leben der Pflanze in Folgendem feſtgeſtellten Geſetze <lb/>zurückzuführen vermocht hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s6794" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6795" xml:space="preserve">Während die Pflanzen niederer Organiſation von Zellen <lb/>gebildet werden, von denen jede das ganze Geſchäft der Pflanze <lb/>beſorgt, findet in der Pflanze höherer Organiſation eine wirk-<lb/>liche Teilung der Arbeit ſtatt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6796" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6797" xml:space="preserve">Die Wurzeln eines Baumes verrichten die Arbeit der <lb/>Ernährung. </s>
  <s xml:id="echoid-s6798" xml:space="preserve">Die Zellen der Wurzel nehmen die Speiſe aus <lb/>der Erde in ſich auf und vermehren ſich. </s>
  <s xml:id="echoid-s6799" xml:space="preserve">Aber ſie bilden <lb/>nicht einzig und allein Zellen ihres Gleichen, ſondern es ent-<lb/>wickeln ſich auch die Zellen, welche den Stamm des Baumes
<pb o="36" file="520" n="520"/>
bilden, der aufwärts ſtrebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6800" xml:space="preserve">Dieſe Zellen ſind nicht nur mehr <lb/>oder minder in ihrer Beſtimmung, ſondern auch in ihrer Form <lb/>verſchieden von den Wurzelzellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6801" xml:space="preserve">Dieſe Zellen dehnen ſich oft <lb/>zu großer Länge aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s6802" xml:space="preserve">Sie bilden ſtatt hohler Kügelchen lange, <lb/>feine Röhrchen, die freilich oben und unten geſchloſſen ſind. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6803" xml:space="preserve">Die Röhrchen liegen dicht bei einander mit ihren Wänden und <lb/>tauſchen durch dieſe ihre Säfte aus, ganz ſo, wie es die kugeligen <lb/>Zellen thun. </s>
  <s xml:id="echoid-s6804" xml:space="preserve">Sie ſind in der That nur langgeſtreckte Zellen, <lb/>die den Stamm eines Baumes zum Teil bilden helfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6805" xml:space="preserve">Je <lb/>mehr ſolche längliche Zellen vorhanden ſind, deſto feſter iſt der <lb/>Stamm.</s>
  <s xml:id="echoid-s6806" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div239" type="section" level="1" n="171">
<head xml:id="echoid-head197" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIV. Genaueres über den inneren Bau der</emph> <lb/><emph style="bf">Pflanzen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6807" xml:space="preserve">Die dem Laien bekannteſten Pflanzen ſind die mehrzelligen, <lb/>und zwar unter dieſen die am höchſten organiſierten, die am <lb/>komplizierteſten gebauten, bei denen die Gewebe aus ganz ver-<lb/>ſchiedenen Arten von Zellen beſtehen, die denn auch ganz ver-<lb/>ſchiedenen Verrichtungen im Dienſte der Lebenserhaltung der <lb/>Geſamtpflanze obliegen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6808" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6809" xml:space="preserve">Wir können hier unmöglich dieſe hohe Organiſation im <lb/>Einzelnen verfolgen, das hieße ein Lehrbuch der Pflanzen-<lb/>Anatomie ſchreiben, wollen aber, um eine Anſchauung von dem <lb/>inneren Bau der höchſten Pflanzen und den Lebensverrichtungen <lb/>der einzelnen Gewebe zu geben, die hauptſächlichſten derſelben <lb/>kurz bezeichnen und zwar an der Hand der ausführlicheren <lb/>Betrachtung eines von denſelben. </s>
  <s xml:id="echoid-s6810" xml:space="preserve">Wir werden hierzu das <lb/>Skelett der Pflanzen benutzen, weil auch dem Laien die Be-<lb/>deutung desſelben ohne weiteres einleuchtet: </s>
  <s xml:id="echoid-s6811" xml:space="preserve">bedürfen doch die <lb/>größeren Pflanzen ebenſogut der körperlichen Feſtigkeit wie der <lb/>Menſch, der dieſelbe in ſeinen Knochen findet.</s>
  <s xml:id="echoid-s6812" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="37" file="521" n="521"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6813" xml:space="preserve">Der freundliche Leſer wird ſchon gemerkt haben, daß die <lb/>in dem vorigen Abſchnitt erwähnten faſerförmigen Zellen im <lb/>Holze der Bäume Skelettzellen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s6814" xml:space="preserve">Sehen wir uns dieſelben <lb/>und ihre Anordnung in den Pflanzen-Organen alſo etwas <lb/>näher an.</s>
  <s xml:id="echoid-s6815" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6816" xml:space="preserve">Je komplizierter ein Lebeweſen geſtaltet iſt, je verwickelter <lb/>es gebaut erſcheint, um ſo ſtörender müſſen mechaniſche Ein-<lb/>griffe auf dasſelbe wirken. </s>
  <s xml:id="echoid-s6817" xml:space="preserve">Namentlich müßten die weicheren <lb/>und daher wenig widerſtandsfähigen Gewebe in erſter Linie <lb/>unter den mechaniſchen Einwirkungen der Außenwelt leiden, <lb/>wenn ſie nicht durch beſondere Vorkehrungen geſchützt ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s6818" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6819" xml:space="preserve">Jede Pflanze, wie überhaupt jedes irdiſche Gebilde wird <lb/>mechaniſch in der mannichfaltigſten Weiſe in Anſpruch genommen, <lb/>und es muß alſo auch jede Pflanze eine genügende Feſtigkeit <lb/>beſitzen, um dieſen Einflüſſen nicht zu unterliegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6820" xml:space="preserve">Die Pflanzen <lb/>werden auf Biegungs-, Zug-, Stütz-, Schub- und Druckfeſtig-<lb/>keit in Anſpruch genommen, wie auch jeder menſchliche Bau, <lb/>bei deſſen Errichtung dieſen verſchiedenen Kräften durch eigene <lb/>Bauweiſen entgegen zu wirken iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6821" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6822" xml:space="preserve">Man lieſt wohl hier und da — namentlich in Werken <lb/>über Architektur —, daß der Menſch ſeine Baukonſtruktion der <lb/>Natur abgelauſcht habe. </s>
  <s xml:id="echoid-s6823" xml:space="preserve">Stillſchweigend nimmt man alſo an, <lb/>daß die ſich uns darbietenden organiſchen Geſtaltungen auf das <lb/>Zweckmäßigſte konſtruiert ſeien, ſo daß der Menſch nur dieſe Vor-<lb/>bilder zu kopieren nötig hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s6824" xml:space="preserve">Es iſt jedoch merkwürdig, daß <lb/>wir trotz dieſer oft gebrauchten Bemerkungen über die Harmonie <lb/>in der Geſtaltung der Pflanzen thatſächlich gar nichts über <lb/>ihren mechaniſchen Aufbau, der doch für die Architektur allein <lb/>in Frage kommen kann, bis 1874 hin wußten. </s>
  <s xml:id="echoid-s6825" xml:space="preserve">Es iſt wahr, <lb/>daß die Gewächſe außerordentlich viel vollkommener geſtaltet ſind, <lb/>als die großartigſten Bauwerke, welche der Menſch zu erſchaffen <lb/>vermochte: </s>
  <s xml:id="echoid-s6826" xml:space="preserve">keines der letzteren darf ſich in dieſer Beziehung <lb/>mit einem Grashalm vergleichen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6827" xml:space="preserve">Wir haben aber erſt in
<pb o="38" file="522" n="522"/>
allerneuſter Zeit eine Einſicht in die mechaniſchen Konſtruktions-<lb/>teile der Pflanzen gewonnen, ſodaß die erwähnten Behaup-<lb/>tungen durchweg unbegründet ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s6828" xml:space="preserve">Das Verdienſt, den me-<lb/>chaniſchen Apparat, das Skelett der Pflanzen, kennen gelehrt zu <lb/>haben, gebührt Simon <emph style="sp">Schwendener</emph> in Berlin.</s>
  <s xml:id="echoid-s6829" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6830" xml:space="preserve">Man hat ſich zwar auch früher bemüht, die Bedeutung <lb/>der Pflanzengewebe für das Leben der Gewächſe zu erkennen, <lb/>aber im ganzen bewegte ſich die Wiſſenſchaft in höchſt lang-<lb/>weiligen, unfruchtbaren Beſchreibungen und Klaſſifizierungen <lb/>der Formen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6831" xml:space="preserve">Schwendener hat durch eigene, großartige Arbeiten <lb/>und durch ſeine Schule mächtig weiter gewirkt: </s>
  <s xml:id="echoid-s6832" xml:space="preserve">das Lehrgebäude <lb/>der Pflanzenanatomie geiſtig durchleuchtet und zu einer Einheit <lb/>zuſammengefügt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6833" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div240" type="section" level="1" n="172">
<head xml:id="echoid-head198" xml:space="preserve"><emph style="bf">XV. Mittel zur Erreichung der Feſtigkeit bei</emph> <lb/><emph style="bf">den Pflanzen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6834" xml:space="preserve">Schon die Zellteilung pflanzlicher Weſen, die Trennung <lb/>des protoplasmatiſchen Körpers durch feſte Wandungen hat <lb/>wohl in vielen Fällen — namentlich bei den niedrigen Gewächſen <lb/>— die alleinige Aufgabe, die Pflanzen gegen äußere mechaniſche <lb/>Einflüſſe widerſtandsfähiger zu machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6835" xml:space="preserve">Durch die Bildung <lb/>von Querwänden in einem Algen- oder Pilzfaden wird derſelbe <lb/>ausgeſteift und ein Einknicken desſelben verhindert. </s>
  <s xml:id="echoid-s6836" xml:space="preserve">Die einzellige <lb/>oder ſcheidewandloſe Algengattung Caulerpa, aus welcher ge-<lb/>wiſſe Arten eine Größe wie ein gewöhnliches Laubblatt erreichen <lb/>können, verwendet zur Ausſteifung ihrer ſchlauchförmigen Hülle <lb/>durch den Innenraum ausgeſpannte Fäden oder Balken, die <lb/>aus demſelben Material beſtehen wie die Wandung. </s>
  <s xml:id="echoid-s6837" xml:space="preserve">Wird alſo <lb/>durch äußere Einflüſſe eine Caulerpa einſeitig gedrückt, ſo
<pb o="39" file="523" n="523"/>
ſuchen die beiden nicht gedrückten, gegenüberliegenden Teile <lb/>auszuweichen, ſich von einander zu entfernen, wodurch die Quer-<lb/>ſchnittsform des Organes verändert werden würde. </s>
  <s xml:id="echoid-s6838" xml:space="preserve">Allein die <lb/>erwähnten feſten, durch den Innenraum der Algenzelle aus-<lb/>geſpannten Balken, welche die gegenüberliegenden Wandungen <lb/>mit einander verbinden, verhindern dies.</s>
  <s xml:id="echoid-s6839" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6840" xml:space="preserve">Ein anderes Mittel, namentlich ſaftige Gewebe aus dünn-<lb/>wandigen Zellen zu feſtigen, iſt ſehr verbreitet. </s>
  <s xml:id="echoid-s6841" xml:space="preserve">Die Zellen <lb/>ſolchen Gewebes ſind derartig mit Zellſaft angefüllt, daß der-<lb/>ſelbe auf die Zellwandungen von innen aus einen ſtarken Druck <lb/>ausübt; </s>
  <s xml:id="echoid-s6842" xml:space="preserve">hierdurch wird die Zellenwand geſpannt wie ein voll <lb/>Waſſer gepumpter Kautſchukſchlauch oder wie ein mit Gas ge-<lb/>füllter Luftballon. </s>
  <s xml:id="echoid-s6843" xml:space="preserve">Nach Entfernung des Waſſers reſp. </s>
  <s xml:id="echoid-s6844" xml:space="preserve">des <lb/>Gaſes verlieren dieſe Apparate ſofort ihre Feſtigkeit; </s>
  <s xml:id="echoid-s6845" xml:space="preserve">das Gleiche <lb/>iſt auch bei den in Rede ſtehenden Pflanzengeweben der Fall, <lb/>wenn ſie, durch Austrocknung etwa, einen größeren Vorrat von <lb/>ihrem Zellſafte verlieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s6846" xml:space="preserve">Sind daher die äußeren Verhältniſſe <lb/>ungünſtig und verdunſtet die Pflanze, beiſpielsweiſe bei ſtarker <lb/>Sonnenglut, mehr Waſſer, als ihr durch die Wurzeln zugeführt <lb/>werden kann, ſo erfolgt ein Erſchlaffen der Blätter, falls die-<lb/>ſelben nicht durch anderweitige mechaniſche Vorkehrungen in <lb/>der früheren Lage erhalten bleiben und ſie hängen dann wie <lb/>naſſe Tücher in Falten an ihren Stielen herab. </s>
  <s xml:id="echoid-s6847" xml:space="preserve">Beſonders <lb/>ſchön läßt ſich dieſe Erſcheinung z. </s>
  <s xml:id="echoid-s6848" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s6849" xml:space="preserve">bei dem Buchweizen be-<lb/>obachten.</s>
  <s xml:id="echoid-s6850" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6851" xml:space="preserve">Im allgemeinen wird die Feſtigkeit des ganzen Körpers <lb/>bei den höheren Pflanzen genau wie bei den höheren Tieren durch <lb/>ein wohlkonſtruiertes, beſonderes Skelett hergeſtellt, deſſen Ele-<lb/>mentarkonſtruktionsteile aus beſonders gebauten und für den <lb/>Zweck der Feſtigkeit beſonders befähigten Zellen, “<emph style="sp">Stereïden</emph>“, <lb/>beſtehen, die wir zunächſt näher betrachten wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6852" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="40" file="524" n="524"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div241" type="section" level="1" n="173">
<head xml:id="echoid-head199" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVI. Die Zellen des Skelettgewebes.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6853" xml:space="preserve">Die Zellen des Skelettgewebes (“<emph style="sp">Stereoms</emph>“) der Pflanzen, <lb/>welches für das Leben derſelben alſo dem Knochengerüſt der <lb/>Wirbeltiere und dem feſten Panzer der Inſekten entſpricht, ſind, <lb/>wie man ſchon von vornherein vermuten wird, ausgezeichnet <lb/>dickwandig, zuweilen ſo ſtark, daß die Höhlung vollſtändig ver-<lb/>ſchwindet (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6854" xml:space="preserve">1). </s>
  <s xml:id="echoid-s6855" xml:space="preserve">Die Zellen ſind meiſt von ſehr langgeſtreckter <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-524-01a" xlink:href="fig-524-01"/>
ſpindelförmiger Geſtalt, mit pfrie-<lb/>menförmig zugeſpitzten Enden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6856" xml:space="preserve">Sie <lb/>erreichen gewöhnlich die Länge von <lb/>{1/2} bis 1 Millimeter, in ſeltenen <lb/>Fällen ſogar von 220 Millimetern <lb/>bei einer größten Breite von einigen <lb/>Zehnteln eines Millimeters. </s>
  <s xml:id="echoid-s6857" xml:space="preserve">Dieſe <lb/>Zellen ſind alſo langfaſerförmige <lb/>Gebilde. </s>
  <s xml:id="echoid-s6858" xml:space="preserve">Die ſcharf zugeſpitzten <lb/>Enden der typiſchen mechaniſchen <lb/>Zellen keilen ſich zwiſchen die <lb/>gleichen Enden anderer Skelettzellen <lb/>ein, wodurch die Feſtigkeit des Gan-<lb/>zen außerordentlich erhöht wird. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6859" xml:space="preserve">Der Bau der Elementarorgane entſpricht alſo in recht vollkom-<lb/>mener Weiſe ihrer Funktion. </s>
  <s xml:id="echoid-s6860" xml:space="preserve">Die eben beſprochenen, gewöhnlich <lb/>als <emph style="sp">Baſtzellen oder als echte Holzzellen</emph> bezeichneten <lb/>Elementargebilde kommen jedoch, da ſie, ſobald ſie einmal ihre <lb/>Endform erreicht haben, nicht mehr zu wachſen vermögen, nur <lb/>in fertig entwickelten Organen vor. </s>
  <s xml:id="echoid-s6861" xml:space="preserve">Allein auch die noch in der <lb/>Entwickelung begriffenen Organe bedürfen häufig eines Schutzes <lb/>durch Skelettteile. </s>
  <s xml:id="echoid-s6862" xml:space="preserve">In dieſen Fällen wendet nun die Pflanze <lb/>ein beſonderes, noch wachstumfähiges, mechaniſches Gewebe, <lb/>das <emph style="sp">Collenchym</emph>, an, das übrigens auch vielfach in fertigen
<pb o="41" file="525" n="525"/>
Organen auftritt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6863" xml:space="preserve">Die Baſtzellen ſelbſt ſind in der Jugend oft <lb/>collenchymatiſch, ſpäter jedoch treten ſie aus dieſem wachstums-<lb/>fähigen Zuſtand heraus. </s>
  <s xml:id="echoid-s6864" xml:space="preserve">In denjenigen Pflanzenteilen, in <lb/>welchen ein dauerndes Wachstum ſtattfindet, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s6865" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s6866" xml:space="preserve">in den <lb/>Knoten der Grashalme, beſteht das mechaniſche Gewebe zeit-<lb/>lebens aus Collenchym. </s>
  <s xml:id="echoid-s6867" xml:space="preserve">Die Collenchymzellen ſind ebenfalls <lb/>— wie die vorerwähnten Baſt- oder echten Holzzellen — lang-<lb/>geſtreckt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6868" xml:space="preserve">Ihre Wandungen ſind jedoch nur vorzugsweiſe in <lb/>den Kanten ungleichmäßig verdickt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6869" xml:space="preserve">Während der Inhalt der <lb/>Baſt- reſp. </s>
  <s xml:id="echoid-s6870" xml:space="preserve">echten Holzzellen nun meiſt in Luft beſteht, führt <lb/>das im Gegenſatz zum Baſt alſo lebensfähige Collenchym ſtets <lb/>einen ſehr reichlichen Saft, der die Zellenwandungen ſtraff hält. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6871" xml:space="preserve">Das Collenchym kann man mit dem Knorpel und die Baſt-<lb/>oder Holzzellen mit den Knochenzellen der Tiere vergleichen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6872" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div241" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-524-01" xlink:href="fig-524-01a">
<caption xml:id="echoid-caption84" xml:space="preserve">Fig. 1. <lb/>Stark vergrößertes Gewebe von <lb/>Faſer-Stereiden im Querſchnitt.</caption>
</figure>
</div>
</div>
<div xml:id="echoid-div243" type="section" level="1" n="174">
<head xml:id="echoid-head200" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVII. Die Bedeutung der Steinkörper im Frucht-</emph> <lb/><emph style="bf">fleiſche der Birnen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6873" xml:space="preserve">In der Birne (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6874" xml:space="preserve">2 a) fallen kleine Gruppen von ſo-<lb/>genannten <emph style="sp">Steinzellen (= Hartgewebezellen, Skleren-<lb/>chymzellen)</emph> auf, die beim Verſpeiſen im Fruchtfleiſche als <lb/>harte, ſteinartige Körperchen ſich gern zwiſchen die Zähne <lb/>ſetzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6875" xml:space="preserve">Je nach der Sorte des Obſtes treten ſie in größerer <lb/>oder geringerer Menge im Fleiſche zerſtreut in die Erſcheinung. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6876" xml:space="preserve">Jedes dieſer Körperchen beſteht aus mehreren Zellen, welche <lb/>verhältnismäßig ſtarke, von Kanälen durchſetzte Wandungen <lb/>beſitzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6877" xml:space="preserve">Die Steinzellen finden ſich nicht in den Birnen allein, <lb/>ſondern ſind im Pflanzenreich ſehr verbreitet; </s>
  <s xml:id="echoid-s6878" xml:space="preserve">ſie treten vor-<lb/>zugsweiſe als die Elementarbeſtandteile ſolcher Gewebe auf, <lb/>die dazu dienen, gewiſſen Pflanzenteilen Feſtigkeit zu verleihen
<pb o="42" file="526" n="526"/>
und benachbarte empfindliche Gewebe gegen äußere ſtörende <lb/>mechaniſche Einflüſſe zu ſchützen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6879" xml:space="preserve">Auch die Zellen, aus denen <lb/>die tieriſchen Knochen beſtehen, zeigen dicke Wände mit radial <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-526-01a" xlink:href="fig-526-01"/>
<pb o="43" file="527" n="527"/>
verlaufenden Kanälen (Teil IX, S. </s>
  <s xml:id="echoid-s6880" xml:space="preserve">30, Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6881" xml:space="preserve">10), und auch ſie <lb/>ſind bekanntlich die Feſtigungsvorrichtungen im tieriſchen Körper. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6882" xml:space="preserve">Kurz, in vielen Fällen haben bei den Pflanzen die Steinzellen-<lb/>gewebe — wie bei den Tieren die Knochenzellen — mechaniſche <lb/>Verrichtung. </s>
  <s xml:id="echoid-s6883" xml:space="preserve">Es iſt dies underkennbar in den Fällen, wo die <lb/>Steinzellen Stränge in länglichen Organen zuſammenſetzen, <lb/>namentlich Leitbündel begleitend, und ebenſo da, wo ſie, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s6884" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s6885" xml:space="preserve"><lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-527-01a" xlink:href="fig-527-01"/>
bei der Pflaume, dem Pfirſich (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6886" xml:space="preserve">3 <lb/>und 4) die harte Kernſchicht bilden, <lb/>welche dem Samen Schutz verleiht; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6887" xml:space="preserve">aber wenn ſie nur zu wenigen ver-<lb/>einigt kleine, ſteinartige, untereinander <lb/>unverbundene Körperchen darſtellen, <lb/>wie im Fruchtfleiſch der Birne, in der <lb/>Rinde und in den Markſtrahlen u. </s>
  <s xml:id="echoid-s6888" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s6889" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s6890" xml:space="preserve"><lb/>mancher Laubbäume, ſo kann von <lb/>einer mechaniſchen Funktion wohl kaum <lb/>noch die Rede ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s6891" xml:space="preserve">Um einen Ver-<lb/>gleich anzuwenden: </s>
  <s xml:id="echoid-s6892" xml:space="preserve">die Steinkörperchen <lb/>tragen dann ebenſowenig zur Feſtig-<lb/>keit der Teile, in denen ſie ſich vor-<lb/>finden, bei, wie Felsſtücke ohne ſtarre <lb/>Verbindung einem feinkörnigen Sand-<lb/>haufen größeren Halt zu gewähren <lb/>vermögen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6893" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div243" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-526-01" xlink:href="fig-526-01a">
<caption xml:id="echoid-caption85" xml:space="preserve">Fig. 2. <lb/>Links Längsſchnitt durch eine Kochbirne, viele Steinkörperchen im Innern zeigend, <lb/>rechts Längsſchnitt durch die Frucht eines wilden reſp. verwilderten Birnbaumes <lb/>mit einer harten, kontinuierlichen Schicht aus Steinkörperchen um das Kernhaus <lb/>herum.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables16" xml:space="preserve">a b</variables>
</figure>
<figure xlink:label="fig-527-01" xlink:href="fig-527-01a">
<caption xml:id="echoid-caption86" xml:space="preserve">Fig. 3. <lb/>Ein Pftrſichkern, der Länge <lb/>nach durchſchnitten.</caption>
<description xml:id="echoid-description14" xml:space="preserve">can = Kanal in der Skelett-<lb/>hülle, durch welchen der <lb/>nahrungleitende Strang (das <lb/>Leitbündel) zum Samen läuft.</description>
<variables xml:id="echoid-variables17" xml:space="preserve">can</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6894" xml:space="preserve">Können wir nun auch im allgemeinen über die Funktion <lb/>von unverbundenen, in Pflanzengeweben zerſtreuten Stein-<lb/>körpern nichts ausſagen, ſo ſcheint doch, daß ſich im beſonderen <lb/>für die Steinkörper in der Birnenfrucht eine Anſicht aus der <lb/>Betrachtung gewiſſer Thatſachen ziemlich von ſelbſt ergiebt: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6895" xml:space="preserve">nämlich die, daß die im Fruchtfleiſche der kultivierten und ver-<lb/>wilderten Birnenſorten vorkommenden Zellhaufen die Über-<lb/>bleibſel (Rudimente) einer bei den Vorfahren unſerer Birne vor-
<pb o="44" file="528" n="528"/>
handen geweſenen Steinhülle ſind, welche letztere ebenſo zum <lb/>Schutze der Samen diente, wie in anderen Fällen noch jetzt die <lb/>um Samen entwickelten Steinſchichten, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s6896" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s6897" xml:space="preserve">bei der Pflaume oder <lb/>der der Birne verwandteren Miſpel, deren Frucht bekanntlich <lb/>fünf Steine enthält. </s>
  <s xml:id="echoid-s6898" xml:space="preserve">Die Berechtigung der erwähnten Auf-<lb/>faſſung geht aus Folgendem hervor.</s>
  <s xml:id="echoid-s6899" xml:space="preserve"/>
</p>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption87" xml:space="preserve">Fig. 4. <lb/>Turchſchnitt durch die holzige Schicht des Pflaumenſteins unter dem Mikroſkop <lb/>geſehen.</caption>
<description xml:id="echoid-description15" xml:space="preserve">r = die Hohlräume der Zellen. a = die Verdicktungsſchichten der Zellhäute.<lb/>t = die verzweigten, die Zellwände durchlaufenden Kanäle quer durchſchnitten <lb/>geſehen.</description>
<variables xml:id="echoid-variables18" xml:space="preserve">T a E a T</variables>
</figure>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6900" xml:space="preserve">Außer der ſchon erwähnten Ubereinſtimmung im ana-<lb/>tomiſchen Bau der Steinkörper und der die Samen ſchützenden <lb/>Steinſchicht bei Früchten anderer Pflanzen ſpricht für unſere <lb/>(P.</s>
  <s xml:id="echoid-s6901" xml:space="preserve">’s.) </s>
  <s xml:id="echoid-s6902" xml:space="preserve">Auffaſſung die Anordnung der Steinkörperchen in dem <lb/>Fruchtfleiſche. </s>
  <s xml:id="echoid-s6903" xml:space="preserve">Achtet man auf dieſelbe in den verſchiedenen <lb/>Birnenraſſen, ſo findet man, daß die Steinkörper keineswegs <lb/>gleichmäßig durch das ganze Fruchtfleiſch verteilt ſind, ſondern
<pb o="45" file="529" n="529"/>
vielmehr vorzugsweiſe in einer konzentriſch das Kernhaus <lb/>umgebenden Zone Platz greifen, während nach der Peripherie <lb/>hin die Zahl der Körperchen bedeutend abnimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6904" xml:space="preserve">Sie ſind <lb/>alſo da am reichlichſten vertreten, wo wir die kontinuierliche <lb/>Steinſchicht erwarten würden, wenn wir uns die Birnenfrucht, <lb/>die man botaniſch zweckmäßig zu den Beeren rechnet, in eine <lb/>Steinfrucht verwandelt denken. </s>
  <s xml:id="echoid-s6905" xml:space="preserve">Vergleichen wir nun darauf-<lb/>hin die Kulturbirnen mit den Früchten der nicht kultivierten, <lb/>nicht unter menſchlichem Schutze wachſenden Birnen, den Holz-<lb/>birnen, ſo können wir eine Formenreihe von Früchten auf-<lb/>ſtellen, welche von dem einen Extrem mit nur ganz wenigen <lb/>Steinkörperchen in der um das Kernhaus ſich herumziehenden <lb/>Zone hindurchgeht durch verſchiedene Stadien bis zu einer Frucht, <lb/>die in der nämlichen Zone ſo dicht mit Steinkörperchen beſetzt <lb/>iſt, daß dieſe ſich gegenſeitig berühren und nach dem Aus-<lb/>trocknen der Frucht ſo feſt aneinander haften, daß auch das <lb/>ſchärfſte Meſſer die Zone nicht durchzuſchneiden vermag. </s>
  <s xml:id="echoid-s6906" xml:space="preserve">Vgl. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6907" xml:space="preserve">zu dem Geſagten die Abbildung Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6908" xml:space="preserve">2 b.</s>
  <s xml:id="echoid-s6909" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6910" xml:space="preserve">Schließlich wird unſere Anſicht dadurch unterſtützt, daß <lb/>die nächſtverwandten Gattungen der Birne wirklich Stein-<lb/>früchte beſitzen, und zwar iſt entweder, wie bei der Miſpel, <lb/>jedes Fruchtfach von einer Steinſchicht für ſich umgeben, ſo <lb/>daß mehrere getrennte Kerne vorhanden ſind, oder es findet <lb/>ſich in der Frucht durch Verſchmelzung der Steinſchichten unter-<lb/>einander nur ein einziger Kern, wie bei einigen Weiß-<lb/>dornarten, oder endlich es wird das ganze Kernhaus von einer <lb/>gemeinſamen Steinſchicht umſchloſſen, wie es hier für die <lb/>Urbirne angenommen wird, und dieſen Fall zeigen z. </s>
  <s xml:id="echoid-s6911" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s6912" xml:space="preserve">die <lb/>Früchte der oſtindiſchen Gattung Stranvaesia. </s>
  <s xml:id="echoid-s6913" xml:space="preserve">Wichtig iſt es <lb/>nun, daß ſich auch für die pergamentartige, innerſte Schicht der <lb/>Fruchtfächer der Birnen Schichten nachweiſen laſſen, welche die <lb/>inneren Flächen der Fruchtfächer der Miſpel, des Weißdorns <lb/>und von Stranvaesia bekleiden; </s>
  <s xml:id="echoid-s6914" xml:space="preserve">ſie beſtehen in allen Fällen
<pb o="46" file="530" n="530"/>
aus dickwandigen, geſtreckten Zellen, während, wie ſchon geſagt, <lb/>die reichlicher entwickelte, äußere Schicht des Kernes aus genau <lb/>denſelben Zellen zuſammengeſetzt iſt, wie die der Steinkörper <lb/>im Fleiſch der Birnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6915" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6916" xml:space="preserve">Die Bedeutung der Steinkörperchen, die wir ſo ſpeziell <lb/>für die Birne wahrſcheinlich gemacht zu haben glauben, läßt <lb/>ſich ungezwungen auf alle apfelfrüchtigen Pflanzen, ſowie <lb/>überhaupt auf alle diejenigen Pflanzen übertragen, die im <lb/>Fruchtfleiſche Steinkörper beſitzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6917" xml:space="preserve">Die Anordnung der Stein-<lb/>körper iſt immer dieſelbe, wie die vorhin bei der Birne an-<lb/>gegebene. </s>
  <s xml:id="echoid-s6918" xml:space="preserve">Ja, es giebt Quitten, deren Früchte wie die in <lb/>Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6919" xml:space="preserve">2 b dargeſtellte Birne gebaut ſind: </s>
  <s xml:id="echoid-s6920" xml:space="preserve">um das Kernhaus <lb/>findet ſich eine aus dicht gedrängten Steinkörpern beſtehende <lb/>Schicht, die ihrerſeits von einer verhältnismäßig ſchwach ent-<lb/>wickelten Fleiſchſchicht umgeben iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6921" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div245" type="section" level="1" n="175">
<head xml:id="echoid-head201" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVIII. Die Eigenſchaften der Skelettzellen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6922" xml:space="preserve">Die Eigenſchaften der Skelettzellen entſprechen natürlich <lb/>ihrer Funktion. </s>
  <s xml:id="echoid-s6923" xml:space="preserve">Sie ſind vor allen Dingen das feſteſte Gewebe, <lb/>welches die Pflanzen überhaupt entwickeln.</s>
  <s xml:id="echoid-s6924" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6925" xml:space="preserve">Um die Feſtigkeit und die Elaſtizitätsverhältniſſe des Skelett-<lb/>gewebes zu prüfen, entfernt man aus baſtreichen Geweben, alſo <lb/>ſolchen, die viel Skelettgewebe enthalten, einen Streifen aus <lb/>Baſt reſp. </s>
  <s xml:id="echoid-s6926" xml:space="preserve">Collenchymzellen von beſtimmter Dicke. </s>
  <s xml:id="echoid-s6927" xml:space="preserve">Ein ſolcher <lb/>Streifen wird an dem einen Ende befeſtigt und an dem frei <lb/>herabhängenden Ende mit einer Vorrichtung zur Aufnahme <lb/>von Gewichten verſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6928" xml:space="preserve">Aus ſolchen Experimenten hat ſich <lb/>ergeben, daß ein Faden friſcher Baſtzellen von einem Quadrat-<lb/>millimeter Querſchnitt 15—20, zuweilen ſogar 25 kg zu tragen <lb/>vermag, ohne daß die Elaſtizitätsgrenze überſchritten würde,
<pb o="47" file="531" n="531"/>
d. </s>
  <s xml:id="echoid-s6929" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s6930" xml:space="preserve">ohne daß nach der Entfernung der Gewichte eine bleibende <lb/>Verlängerung die Folge wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s6931" xml:space="preserve">Wenn man dieſes Tragver-<lb/>mögen mit demjenigen des Eiſens vergleicht, welches bei gleichem <lb/>Querſchnitt 13,13 bis 24,6 kg beträgt, ſo ergiebt ſich die über-<lb/>raſchende Thatſache, daß das Tragvermögen des ſtärkſten <lb/>Skelettgewebes demjenigen des Eiſens nicht nachſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6932" xml:space="preserve">Allein <lb/>ſobald die Elaſtizitätsgrenze des Baſtes um ein ganz Geringes <lb/>überſchritten wird, tritt nicht wie beim Eiſen eine dauernde <lb/>Verlängerung ein, ſondern er reißt ſofort. </s>
  <s xml:id="echoid-s6933" xml:space="preserve">Hierin alſo liegt <lb/>der Unterſchied zwiſchen Eiſen und Baſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6934" xml:space="preserve">Die Zugfeſtigkeit <lb/>des Collenchyms ſteht der des Baſtes nur um ein Geringes <lb/>nach. </s>
  <s xml:id="echoid-s6935" xml:space="preserve">Bei dieſem Gewebe wird die Elaſtizitätsgrenze ſchon bei <lb/>1 {1/2} bis 2 kg überſchritten und es tritt eine dauernde Ver-<lb/>längerung ein, eine Eigenſchaft, die mit der Wachstumsfähigkeit <lb/>des Collenchyms im Zuſammenhang ſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s6936" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6937" xml:space="preserve">Ein weiterer weſentlicher, mechaniſcher Unterſchied zwiſchen <lb/>dem Baſt und dem Eiſen iſt der, daß die Dehubarkeit inner-<lb/>halb der Elaſtizitätsgrenze bei den genannten beiden Mate-<lb/>rialien eine durchaus verſchiedene iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6938" xml:space="preserve">Während nämlich die <lb/>ohne Überſchreitung der Elaſtizitätsgrenze zuläſſige Belaſtung <lb/>des Eiſens dasſelbe nur um {1/1000} ausdehnt, erfahren die Baſt-<lb/>zellen unter gleichen Bedingungen eine Dehnung von wenigſtens <lb/>1 pCt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6939" xml:space="preserve">Es iſt wichtig, ſich klar zu machen, daß auf die Differenz <lb/>der Dehnbarkeit die ſchöne und angenehme und, wir dürfen <lb/>auch wohl ſagen, zweckmäßige Biegſamkeit der pflanzlichen <lb/>Konſtruktionen beruht; </s>
  <s xml:id="echoid-s6940" xml:space="preserve">andernfalls wären alle mit einem Skelett <lb/>verſehenen Gewächſe ſo ſtarr und unbeugſam wie eiſerne Gerüſte. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6941" xml:space="preserve">Das Spielen des Windes mit einer Baumkrone wäre dann <lb/>gar nicht möglich, und ein Spaziergang durch Wieſe und Wald <lb/>wäre ziemlich gewiß mit Unannehmlichkeiten verknüpft, wenn man <lb/>es unterließe, ſich durch eine beſondere feſte Fuß- und Bein-<lb/>kleidung gegen die dann wie Nadeln ſtechenden Grasblätter und <lb/>Halme zu ſchützen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6942" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="48" file="532" n="532"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6943" xml:space="preserve">Ein weiterer, höchſt vorteilhafter Umſtand beſteht in dem <lb/>geringen ſpezifiſchen Gewicht der Subſtanz der Pflanzenſkelette, <lb/>welche eine Leichtigkeit und Schlankheit der pflanzlichen Kon-<lb/>ſtruktionsformen ermöglicht, wie ſie der Menſch aus Mangel an <lb/>ſo vorzüglichem Material auch nicht einmal annähernd zu er-<lb/>reichen vermag. </s>
  <s xml:id="echoid-s6944" xml:space="preserve">Denn das Eiſen iſt ungefähr 5 Mal ſchwerer <lb/>als das Material des Pflanzenſkelettes, und dies bedingt die <lb/>gedrungene Konſtruktion der menſchlichen Bauten gegenüber den <lb/>pflanzlichen Geſtaltungen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6945" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6946" xml:space="preserve">Um einem Mißverſtändniſſe vorzubeugen, ſei ausdrücklich <lb/>erwähnt, daß das dem Menſchen vom Pflanzenreich gelieferte, <lb/>ihm unentbehrliche Holz zwar allerdings ſeine Feſtigkeit und <lb/>Brauchbarkeit dem in demſelben vorhandenen Skelettgewebe ver-<lb/>dankt, aber doch nicht ausſchließlich aus Skelettgewebe, aus <lb/>echten Holzzellen beſteht, ſondern daneben noch andere pflanzliche <lb/>Gewebe enthält. </s>
  <s xml:id="echoid-s6947" xml:space="preserve">Stände uns reines Skelettgewebe in ſo großen <lb/>Stücken — wie wir das Holz erhalten können — zur Ver-<lb/>fügung, ſo wäre uns das unſchätzbarſte Baumaterial geboten, <lb/>welches dem Eiſen den Rang ſtreitig machen würde.</s>
  <s xml:id="echoid-s6948" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6949" xml:space="preserve">Aus dem Geſagten geht hervor, daß es eine außerordent-<lb/>liche Errungenſchaft wäre, wenn es dem Menſchen gelänge, die <lb/>Subſtanz des Pflanzenſkelettes zu kompakten Maſſen zu ver-<lb/>arbeiten, um alſo als Material für Bauten und Apparate ver-<lb/>wendet zu werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s6950" xml:space="preserve">denn das Material iſt — um kurz zu re-<lb/>kapitulieren — weit leichter als Eiſen und ſteht dieſem trotzdem <lb/>in Bezug auf ſein Tragvermögen nicht nach.</s>
  <s xml:id="echoid-s6951" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div246" type="section" level="1" n="176">
<head xml:id="echoid-head202" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIX. Anordnung des Skelettgewebes im Pflanzen-</emph> <lb/><emph style="bf">körper.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6952" xml:space="preserve">Die Pflanze ordnet nun ihre Skelettgewebe nach denſelben <lb/>Bauprinzipien an, welche auch der Techniker als zweckmäßig
<pb o="49" file="533" n="533"/>
erkannt hat und daher bei ſeinen Bauten zur Anwendung bringt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6953" xml:space="preserve">Je nach der verſchiedenen mechaniſchen Inanſpruchnahme eines <lb/>Gliedes erfährt das widerſtandsfähige Material eine beſondere <lb/>Anordnung. </s>
  <s xml:id="echoid-s6954" xml:space="preserve">Es handelt ſich hierbei immer darum, mit möglichſt <lb/>geringem Materialaufwande die erforderliche Feſtigkeit zu er-<lb/>reichen, und man kann dies natürlich mehr oder minder zweck-<lb/>mäßig ausführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6955" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6956" xml:space="preserve">Die Bauprinzipien, welche bei den Pflanzen ganz beſonders <lb/>in Betracht kommen, ſind diejenigen, welche bei biegungsfeſten, <lb/>alſo bei Gebilden, die gebogen werden, zugfeſten und druck-<lb/>feſten Konſtruktionen Verwendung finden.</s>
  <s xml:id="echoid-s6957" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6958" xml:space="preserve">Schon ein flüchtiger Blick lehrt, daß viele Organe auf <lb/>Biegungsfeſtigkeit in Anſpruch genommen werden: </s>
  <s xml:id="echoid-s6959" xml:space="preserve">der Stamm <lb/>wird vom Winde ſeitlich, der Blattſtiel durch die Schwere der an <lb/>demſelben ſitzenden Blattſpreite herab gebogen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6960" xml:space="preserve">Zur Herſtellung <lb/>der Biegungsfeſtigkeit ordnet der Ingenieur das feſte Material <lb/>nach außen, und zwar aus folgenden Gründen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6961" xml:space="preserve">Wird ein langer <lb/>Gegenſtand, etwa ein Balken gebogen, ſo erleidet — wie man <lb/>ſich leicht vorſtellen kann — die konvex werdende Seite <lb/>einen Zug, während die konkave Seite gedrückt wird, zwiſchen <lb/>dieſen beiden am ſtärkſten in Anſpruch genommenen Teilen <lb/>nimmt von außen nach innen die Spannung allmählich ab und <lb/>in der Mitte iſt ſie gleich Null. </s>
  <s xml:id="echoid-s6962" xml:space="preserve">Dieſe mittlere Lage wird als <lb/><emph style="sp">die neutrale</emph> Faſer bezeichnet. </s>
  <s xml:id="echoid-s6963" xml:space="preserve">Es iſt daher zweckmäßig, das <lb/>feſteſte und beſte Material an die Stellen der ſtärkſten mecha-<lb/>niſchen Inanſpruchnahme, alſo nach außen hin zu verlegen, <lb/>und dieſe beiden Teile irgendwie miteinander zu verbinden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6964" xml:space="preserve">Den gezogenen Teil nennt man dann die <emph style="sp">Zuggurtung</emph>, den <lb/>gedrückten die <emph style="sp">Druckgurtung</emph>, und das Verbindungsmaterial <lb/>zwiſchen den beiden Gurtungen wird als <emph style="sp">Füllung</emph> bezeichnet. </s>
  <s xml:id="echoid-s6965" xml:space="preserve"><lb/>Wegen der Querſchnittsform, die man gewöhnlich einem ſolchen <lb/>Apparat zu geben pflegt, welche einem Doppel-T gleich iſt, <lb/>nennt man denſelben T-Träger; </s>
  <s xml:id="echoid-s6966" xml:space="preserve">ſind die Gurtungen weniger</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6967" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s6968" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s6969" xml:space="preserve">Volksbücher X.</s>
  <s xml:id="echoid-s6970" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="50" file="534" n="534"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6971" xml:space="preserve">breit, ſo ſagt man I-Träger. </s>
  <s xml:id="echoid-s6972" xml:space="preserve">Da die Druckgurtung, wenn ſie <lb/>ſtark gedrückt wird, leicht ſeitlich ausbiegt oder einknickt, ſo giebt <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-534-01a" xlink:href="fig-534-01"/>
man ihr die Querſchnittsform eines liegenden <lb/>I-Trägers (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6973" xml:space="preserve">5).</s>
  <s xml:id="echoid-s6974" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div246" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-534-01" xlink:href="fig-534-01a">
<caption xml:id="echoid-caption88" xml:space="preserve">Fig. 5.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6975" xml:space="preserve">Es iſt klar, daß die geſchilderte Konſtruk-<lb/>tion nur bei vorzugsweiſe einſeitig biegungs-<lb/>feſten Apparaten Wert hat, und in dieſer Weiſe <lb/>in Anſpruch genommene Organe giebt es auch <lb/>bei den Pflanzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6976" xml:space="preserve">Es giebt ja ſehr viele <lb/>wagerecht oder nahezu wagerecht abſtehende <lb/>Pflanzenteile, deren Eigengewicht immer in derſelben Richtung <lb/>wirkt, die alſo einen vorzugsweiſe einſeitig-biegungsfeſten <lb/>Apparat bilden; </s>
  <s xml:id="echoid-s6977" xml:space="preserve">auch eine mehr oder minder aufrechte Blatt-<lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-534-02a" xlink:href="fig-534-02"/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-534-03a" xlink:href="fig-534-03"/>
<anchor type="note" xlink:label="note-534-01a" xlink:href="note-534-01"/>
<pb o="51" file="535" n="535"/>
ſläche wird ihren Stiel vorwiegend einſeitig biegen, da der <lb/>Wind begreiflicherweiſe ſenkrecht zur Blattfläche am ſtärkſten <lb/>wirkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6978" xml:space="preserve">Die Unterſuchung ſolcher auf mehr einſeitige Biegung <lb/>in Anſpruch genommener Organe zeigt in der That oftmals <lb/>die für ſolche Fälle typiſche, zweckmäßigſte mechaniſche Kon-<lb/>ſtruktion: </s>
  <s xml:id="echoid-s6979" xml:space="preserve">T-Träger, wie ſie wohlentwickelter kaum gedacht <lb/>werden können. </s>
  <s xml:id="echoid-s6980" xml:space="preserve">Man vergleiche z. </s>
  <s xml:id="echoid-s6981" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s6982" xml:space="preserve">nur die Figuren 6 u. </s>
  <s xml:id="echoid-s6983" xml:space="preserve">7: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6984" xml:space="preserve">beide zeigen deutlich T-Träger mit unterſchiedenen Druck-<lb/>und Zuggurtungen, ganz wie der Ingenieur es verlangt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6985" xml:space="preserve">In <lb/>Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6986" xml:space="preserve">6 beſitzt der obere Teil des Skelettgewebes, der die Zug-<lb/>gurtung vorſtellt, die Form einer einfachen Lamelle, während <lb/>die Druckgurtung auf dem Querſchnitt faſt hufeiſenförmig er-<lb/>ſcheint. </s>
  <s xml:id="echoid-s6987" xml:space="preserve">Der ſo entſtehende Träger läßt ſich auf das Schema <lb/>Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6988" xml:space="preserve">5 zurückführen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6989" xml:space="preserve">Auch Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6990" xml:space="preserve">7 zeigt formverſchiedene Zug-<lb/>und Druckgurtungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6991" xml:space="preserve">Als Füllungen der Träger dienen oft-<lb/>mals nahrungleitende Bündel (Meſtombündel), denen in dieſer <lb/>Weiſe durch Anlehnung an die eine oder an die beiden <lb/>Gurtungen ein mechaniſcher Schutz zu teil wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s6992" xml:space="preserve">Meſtom-<lb/>bündel ordnen ſich gern in der neutralen Schicht, weil ſie dort <lb/>— wie wir ſahen — am wenigſten mechaniſchen Angriffen <lb/>ausgeſetzt ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s6993" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div247" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-534-02" xlink:href="fig-534-02a">
<caption xml:id="echoid-caption89" xml:space="preserve">Fig. 6. <lb/>Fig. 6. Querſchnitt durch den Blattſtiel von Polypodium vulgare. Die <lb/>3 centralen punktierten Partieen ſtellen Meſtombündel dar. Das dieſelben um-<lb/>gebende Gewebe berührt an zwei ſymmetriſch gelegenen Stellen die Haut, wo-<lb/>durch der ſchraffiert dargeſtellte Skelettcylinder in eine obere Zuggurtung und eine <lb/>untere hufeiſenförmige Druckgurtung geteilt wird. <anchor type="note" xlink:href="" symbol="*)"/> — 24 mal vergrößert.</caption>
</figure>
<figure xlink:label="fig-534-03" xlink:href="fig-534-03a">
<caption xml:id="echoid-caption90" xml:space="preserve">Fig. 7. <lb/>Fig. 7. Querſchnitt durch einen Teil des Blattes (Blattſcheide) von Saccha-<lb/>rum strictum. Die 4 unteren Druckgurtungen enthalten je ein Meſtombündel. <lb/>Im Centrum ſowie rechts und links drei große Luftlücken, von welchen die beiden <lb/>letzteren nur zum Teil angedeutet ſind. — Etwa 50 mal vergrößert.</caption>
</figure>
<note symbol="*" position="foot" xlink:label="note-534-01" xlink:href="note-534-01a" xml:space="preserve"> Wie in Fig. 6 iſt auch in den folgenden Figuren das Skelett-<lb/>gewebe ſchraffiert, das Meſtom punktiert dargeſtellt worden.</note>
</div>
</div>
<div xml:id="echoid-div249" type="section" level="1" n="177">
<head xml:id="echoid-head203" xml:space="preserve"><emph style="bf">XX. Allſeitig biegungsfeſte Organe.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6994" xml:space="preserve">Denken wir uns mehrere T- und I-Träger derartig ver-<lb/>einigt, daß ſie ihre neutrale Achſe gemeinſam haben (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6995" xml:space="preserve">8), <lb/>ſo erhalten wir einen mehrſeitig biegungsfeſten Apparat. </s>
  <s xml:id="echoid-s6996" xml:space="preserve">Die <lb/>beſte, allſeitig-biegungsfeſte Konſtruktion, nämlich den hohlen <lb/>Cylinder reſp. </s>
  <s xml:id="echoid-s6997" xml:space="preserve">die hohle Säule, erhält man hieraus durch eine <lb/>einfache Ableitung.</s>
  <s xml:id="echoid-s6998" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6999" xml:space="preserve">Nach dem Prinzip der hohlen Säule ſind nun auch die
<pb o="52" file="536" n="536"/>
allſeitig-biegungsfeſten Stämme und Stengel der Pflanzen ge-<lb/>baut. </s>
  <s xml:id="echoid-s7000" xml:space="preserve">Schon die hohlen Blütenſchäfte und hohlen Grashalme <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-536-01a" xlink:href="fig-536-01"/>
deuten, ohne daß man mikroſkopiſche Unter-<lb/>ſuchungen anzuſtellen braucht, auf den er-<lb/>wähnten Bau. </s>
  <s xml:id="echoid-s7001" xml:space="preserve">Eine eingehendere Prüfung <lb/>jedoch zeigt, daß die Pflanze in der mannig-<lb/>faltigſten Art und Weiſe baut, daß ſie <lb/>verſchiedenartige Konſtruktionsſyſteme aus-<lb/>bildet, von denen wir einige Beiſpiele be-<lb/>trachten wollen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7002" xml:space="preserve">Es ſei gleich vorausge-<lb/>ſchickt, daß unſere in die Dicke wachſenden <lb/>Bäume wegen der komplizierten Verhält-<lb/>niſſe beſonders beſprochen werden ſollen und daß ſie vorläufig <lb/>unberückſichtigt bleiben.</s>
  <s xml:id="echoid-s7003" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div249" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-536-01" xlink:href="fig-536-01a">
<caption xml:id="echoid-caption91" xml:space="preserve">Fig. 8. <lb/>Mehrſeitig biegungs-<lb/>feſte Konſtruktion.</caption>
</figure>
</div>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption92" xml:space="preserve">Fig. 9. <lb/>Halber Querſchnitt durch den hohlen <lb/>Stengel von Molinia coerulea. — In den <lb/>gerippten Skelett-Hohlcylinder ſind klei-<lb/>nere Meſtombündel eingebettet. Die ſich <lb/>an die Innenfläche des Cylinders anleh-<lb/>nenden größeren Bündel ſind von Stereom <lb/>umgeben, welches mit dem Cylinder in <lb/>Verbindung ſteht. — Etwa 20 mal ver-<lb/>größert.</caption>
</figure>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7004" xml:space="preserve">Wie eben geſagt, wenden <lb/>alſo die Pflanzen in ihren <lb/>Organen, um einen beſtimm-<lb/>ten mechaniſchen Effekt zu <lb/>erzielen, die mannigfaltigſten <lb/>Konſtruktionen ihrer Skelett-<lb/>teile an. </s>
  <s xml:id="echoid-s7005" xml:space="preserve">Man kann ja über-<lb/>haupt in vielen Fällen, um <lb/>dasſelbe zu erreichen, ver-<lb/>ſchiedene Wege einſchlagen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7006" xml:space="preserve">Auch die Ingenieure wenden <lb/>verſchiedene Konſtruktions-<lb/>arten, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7007" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7008" xml:space="preserve">beim Brückenbau <lb/>an: </s>
  <s xml:id="echoid-s7009" xml:space="preserve">es giebt außer den ge-<lb/>wöhnlichen Brücken noch <lb/>Hängebrücken, ſchwimmende Brücken u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7010" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s7011" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s7012" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7013" xml:space="preserve">Betrachten wir unter dem Mikroſkop den Querſchnitt eines <lb/>Grashalmes (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s7014" xml:space="preserve">9), ſo finden wir ſein mechaniſches Gewebe <lb/>in der Peripherie angeordnet, und die Meſtombündel legen ſich
<pb o="53" file="537" n="537"/>
innen an den Skelettcylinder an oder ſind auch oft in dem-<lb/>ſelben eingebettet, wodurch ihnen alſo ein beſonderer Schutz zu <lb/>teil wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s7015" xml:space="preserve">Die peripheriſche Skelettröhre berührt jedoch nicht <lb/>die Oberfläche des Organes unmittelbar. </s>
  <s xml:id="echoid-s7016" xml:space="preserve">In vielen Fällen <lb/>wird dieſelbe allerdings, wie in dem abgebildeten Fall, mit <lb/>derſelben durch längsverlaufende Rippen aus Skelettgewebe <lb/>verbunden, und in den außen von der Organoberfläche, innen <lb/>vom Skelettcylinder und ſeitlich von den Rippen begrenzten <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-537-01a" xlink:href="fig-537-01"/>
Längsſtreifen befindet <lb/>ſich ein Gewebe, welches <lb/>die Aufgabe hat, die <lb/>aus der Luft aufge-<lb/>nommene, gasförmige <lb/>Nahrung, nämlich Koh-<lb/>lenſäure, in organiſche <lb/>Subſtanz umzuarbeiten: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7017" xml:space="preserve">zu aſſimilieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s7018" xml:space="preserve">Man <lb/>könnte nun die berech-<lb/>tigte Frage auſwerfen, <lb/>warum nicht ſtets, wie <lb/>z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7019" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7020" xml:space="preserve">in Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s7021" xml:space="preserve">10, das <lb/>Skelettgewebe die äu-<lb/>ßerſte Peripherie einnimmt, wie dies nach dem Vorher-<lb/>gehenden für biegungsfeſte Organe mechaniſch am günſtigſten <lb/>iſt, ſondern warum dasſelbe vielmehr in Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s7022" xml:space="preserve">9 zum Teil einem <lb/>anderen Gewebe Platz macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7023" xml:space="preserve">Nun, man muß bedenken, daß <lb/>die Pflanze ja nicht bloß ein mechaniſches Gerüſt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7024" xml:space="preserve">Die <lb/>Gewächſe haben nicht allein für die Herſtellung der nötigen <lb/>Feſtigkeit zu ſorgen, ſondern ſie müſſen ſich auch, wenn ſie <lb/>beſtehen bleiben ſollen, ernähren, und haben außerdem für die <lb/>Fortpflanzung u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7025" xml:space="preserve">a. </s>
  <s xml:id="echoid-s7026" xml:space="preserve">Sorge zu tragen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7027" xml:space="preserve">Solche Lebensverrichtungen <lb/>ſind aber bei den höheren Gewächſen, welche ſich durch eine <lb/>weitgehende Arbeitsteilung in den Funktionen auszeichnen,
<pb o="54" file="538" n="538"/>
eigenen Organen übertragen, deren räumliche Anordnung in <lb/>den Pflanzengliedern in vielen Fällen für eine ausgiebige und <lb/>genügende Leiſtungsfähigkeit ebenſowenig gleichgültig iſt, wie <lb/>für die ſpezifiſch mechaniſchen Konſtruktionsteile. </s>
  <s xml:id="echoid-s7028" xml:space="preserve">Nun aber <lb/>erfordert gerade das aſſimilierende, grüne Gewebe bei ſeiner <lb/>Funktion den Einfluß des Lichtes, weil die Produktion organi-<lb/>ſcher Subſtanzen aus der Kohlenſäure und dem Waſſer nur <lb/>bei einer hinreichenden Beleuchtung geſchieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7029" xml:space="preserve">Am ergiebigſten <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-538-01a" xlink:href="fig-538-01"/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-538-02a" xlink:href="fig-538-02"/>
werden aber die zu äußerſt gelegenen Partieen der Organe <lb/>beleuchtet, und aus dem Lichtbedürfnis des Aſſimilations-<lb/>gewebes erklärt es ſich, daß dasſelbe die peripheriſchen Orte <lb/>aufſucht.</s>
  <s xml:id="echoid-s7030" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div250" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-537-01" xlink:href="fig-537-01a">
<caption xml:id="echoid-caption93" xml:space="preserve">Fig. 10. <lb/>Halber Querſchnitt durch den hohlen Stengel <lb/>von Equisetum hiemale. Skelettcylinder ganz <lb/>peripheriſch gelegen. — Etwa 20 mal vergrößert.</caption>
</figure>
<figure xlink:label="fig-538-01" xlink:href="fig-538-01a">
<caption xml:id="echoid-caption94" xml:space="preserve">Fig. 11. <lb/>Fig. 11. Hälfte des Querſchnitts durch den Blütenſchaft von Anthericus <lb/>Liliago. — Zwiſchen der Skelettpartie und der Epidermis befindet ſich ein Ring <lb/>von Aſſimilationsgewebe. Im Grundparenchym finden ſich Meſtombündel, von <lb/>denen ſich einige an die Innenflächen des Skelettcylinders anlegen. — Etwa 15 mal <lb/>vergrößert.</caption>
</figure>
<figure xlink:label="fig-538-02" xlink:href="fig-538-02a">
<caption xml:id="echoid-caption95" xml:space="preserve">Fig. 12. <lb/>Fig. 12. Hälfte des Querdurchſchnitts durch den Blütenſchaft von Arum <lb/>maculatum mit mit peripheriſchen Stereomſträngen. Über den ganzen Querſchnitt <lb/>zerſtreut nahrungleitende Stränge. — Etwa 10 mal vergrößert.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7031" xml:space="preserve">Das Skelettgewebe beanſprucht alſo in biegungsfeſten <lb/>Organen die peripheriſchen Orte aus den früher dargelegten <lb/>mechaniſchen, das Aſſimilationsgewebe aus den eben erörterten <lb/>Gründen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7032" xml:space="preserve">Beide alſo machen ſich die gleichen Orte im Orga-<lb/>nismus ſtreitig, und es entſteht ſomit zwiſchen ihnen eine Kon-
<pb o="55" file="539" n="539"/>
kurrenz um dieſelben Plätze. </s>
  <s xml:id="echoid-s7033" xml:space="preserve">Entweder regelt ſich dies dadurch, <lb/>daß ſich die in Rede ſtehenden Gewebeſyſteme ungefähr gleich-<lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-539-01a" xlink:href="fig-539-01"/>
mäßig in den Raum <lb/>zunächſt der Oberfläche <lb/>teilen, oder aber die <lb/>Anſprüche der Aſſimi-<lb/>lation wiegen vor, und <lb/>das Aſſimilationsge-<lb/>webe drängt das Ske-<lb/>lettgewebe etwas von <lb/>der Oberfläche zurück: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7034" xml:space="preserve">Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s7035" xml:space="preserve">11.</s>
  <s xml:id="echoid-s7036" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div251" type="float" level="2" n="3">
<figure xlink:label="fig-539-01" xlink:href="fig-539-01a">
<caption xml:id="echoid-caption96" xml:space="preserve">Fig. 13. <lb/>Hälfte des Querſchnitts durch einen die Blüten-<lb/>ſtände tragenden Stengelteil von Calamus specta-<lb/>cilis, einer Schling-Palmen-Art. — Etwa 15 mal <lb/>vergrößert.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7037" xml:space="preserve">Nicht immer bil-<lb/>det das Stereomgewebe <lb/>einen kontinuierlichen <lb/>Cylinder, wie in den <lb/>betrachteten Fällen, oftmals ſind es peripheriſch angeordnete <lb/>Pfoſten, welche das feſte Gerüſt darſtellen, wie in Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s7038" xml:space="preserve">12.</s>
  <s xml:id="echoid-s7039" xml:space="preserve"/>
</p>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption97" xml:space="preserve">Fig. 14. <lb/>Hälfte des Querſchnitts durch den Stengel <lb/>von Scirpus caespitosus. — Etwa 60 mal <lb/>vergrößert.</caption>
</figure>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7040" xml:space="preserve">Die Meſtombündel ver-<lb/>laufen hier allein im zen-<lb/>tralen Teil des Stengels. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7041" xml:space="preserve">Oftmals lehnen ſich aber <lb/>— wie dies der Querſchnitt <lb/>Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s7042" xml:space="preserve">13 durch den Stengel-<lb/>teil einer Palme zeigt — <lb/>die Meſtombündel zu ihrem <lb/>Schutze an die Skelettſtränge, <lb/>ſie in ihrem Verlaufe be-<lb/>gleitend. </s>
  <s xml:id="echoid-s7043" xml:space="preserve">In Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s7044" xml:space="preserve">14 endlich <lb/>wird jedes Meſtombündel <lb/>von je zwei gegenüberliegenden Skelettſträngen umſchloſſen und <lb/>hierdurch ebenſo geſchützt wie das Rückenmark in der Wirbel-<lb/>ſäule. </s>
  <s xml:id="echoid-s7045" xml:space="preserve">In den beiden letztbeſchriebenen Fällen (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s7046" xml:space="preserve">13 und 14)
<pb o="56" file="540" n="540"/>
bilden, wie man ſofort ſieht, die Skelettſtränge gleichzeitig das <lb/>biegungsfeſte Gerüſt der ganzen Stengel.</s>
  <s xml:id="echoid-s7047" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7048" xml:space="preserve">Beſonders bemerkenswert erſcheint die Anordnung des <lb/>Stereoms in einer Form, die — worauf Potonié aufmerkſam <lb/>gemacht hat — an die Wellblechkonſtruktionen der Ingenieure <lb/>erinnert. </s>
  <s xml:id="echoid-s7049" xml:space="preserve">Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s7050" xml:space="preserve">15 zeigt den Querſchnitt durch den aufrechten <lb/>Stamm eines Baumfarn aus der Familie der Cyatheaceen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7051" xml:space="preserve">Die peripheriſch angeordneten V-förmigen Meſtombündel ſind <lb/>von ſtarken Stereomſchichten umgeben, die zuſammengenommen <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-540-01a" xlink:href="fig-540-01"/>
einen doppelten “Well-<lb/>blechmantel” herſtellen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7052" xml:space="preserve">Daß die Anwendung <lb/>des widerſtandsfähigen <lb/>Materials in dieſer <lb/>Art ſehr zweckmäßig <lb/>iſt, geht aus der Well-<lb/>blechtheorie hervor. </s>
  <s xml:id="echoid-s7053" xml:space="preserve"><lb/>Dieſe beſagt, daß der <lb/>Widerſtand, welchen <lb/>eine wellenförmig ge-<lb/>bogene Platte von <lb/>einer gewiſſen Wand-<lb/>dicke einer biegenden Kraft entgegenſetzt, bedeutend größer iſt <lb/>als der Widerſtand, den bei demſelben Materialaufwand eine <lb/>ebenſolche, jedoch ungewellte Platte derſelben Kraft entgegen-<lb/>ſetzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7054" xml:space="preserve">Die Widerſtandsfähigkeit ſteigert ſich mit der Höhe der <lb/>Wellenberge und der Tiefe der Wellenthäler. </s>
  <s xml:id="echoid-s7055" xml:space="preserve">Es folgt hieraus, <lb/>daß zur Erzielung des nämlichen Effektes der wellenförmige <lb/>Körper weniger Material gebraucht als der ungewellte. </s>
  <s xml:id="echoid-s7056" xml:space="preserve">Natür-<lb/>lich muß der gewellte Körper dabei der einwirkenden Kraft <lb/>eine ſeiner beiden Wellenflächen zuwenden.</s>
  <s xml:id="echoid-s7057" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div252" type="float" level="2" n="4">
<figure xlink:label="fig-540-01" xlink:href="fig-540-01a">
<caption xml:id="echoid-caption98" xml:space="preserve">Fig. 15. <lb/>Hälfte des Querſchnitts durch den aufrechten, <lb/>ziemlich hohen Stamm eines Baumfarn aus der <lb/>Familie der Cyatheaceen. — Etwa um {1/2} ver-<lb/>kleinert.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7058" xml:space="preserve">Was nun unſere nachträglich in die Dicke wachſenden <lb/>Pflanzen, alſo unſere Laub- und Nadelhölzer angeht, ſo iſt ja
<pb o="57" file="541" n="541"/>
bei dieſen das widerstandsfähige Material im Holze durch den <lb/>ganzen Stamm verbreitet. </s>
  <s xml:id="echoid-s7059" xml:space="preserve">Im erſten Jahre werden allerdings <lb/>auch hier öfter peripheriſche Skelettrippen oder Skelettcylinder <lb/>gebildet, die das vorläufige biegungsfeſte Syſtem darſtellen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7060" xml:space="preserve">ſobald jedoch die Pflanze anfängt in die Dicke zu wachſen, <lb/>wird durch Korkbildung meiſt dieſes ganze Syſtem abgeworfen, <lb/>da von dem Cambiumring im Holze neue Stereïden, die nun-<lb/>mehr die Feſtigung des Ganzen übernehmen, gebildet werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7061" xml:space="preserve"><lb/>Das Holz der Laubhölzer beſteht 1. </s>
  <s xml:id="echoid-s7062" xml:space="preserve">aus Stereïden (Libriform-<lb/>zellen), 2. </s>
  <s xml:id="echoid-s7063" xml:space="preserve">einem ſtärkeleitenden und ſpeichernden Gewebe: </s>
  <s xml:id="echoid-s7064" xml:space="preserve"><lb/>Amylom (Holzparenchym und Markſtrahlen), ſowie endlich <lb/>3. </s>
  <s xml:id="echoid-s7065" xml:space="preserve">aus dem Hydrom (Gefäße), welches der Waſſerzirkulation <lb/>dient. </s>
  <s xml:id="echoid-s7066" xml:space="preserve">Die Nadelhölzer hingegen haben in ihrem Holz eine <lb/>einfachere Zuſammenſetzung, indem die Funktion der Stereïden <lb/>und des Hydroms den Hydroſtereïden (Tracheïden) zufällt und <lb/>zwar in der Weiſe, daß die im Frühjahr gebildeten Zellen <lb/>mehr der Waſſerzirkulation dienen, alſo Hydroïdennatur zeigen, <lb/>die im Herbſt gebildeten hingegen vermöge ihrer Dickwandig-<lb/>keit Stereïdencharakter beſitzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7067" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div254" type="section" level="1" n="178">
<head xml:id="echoid-head204" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXI. Bau der auf Zug in Anſpruch genommenen</emph> <lb/><emph style="bf">Organe.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7068" xml:space="preserve">Zugfeſte Organe ſind ſehr häufig. </s>
  <s xml:id="echoid-s7069" xml:space="preserve">Wurzeln und unter-<lb/>irdiſche Organe überhaupt haben oft einen bedeutenden Zug <lb/>auszuhalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7070" xml:space="preserve">Eine ſeitliche Baumwurzel wird mächtig gezogen, <lb/>wenn der zugehörige Stamm vom Winde gebogen wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s7071" xml:space="preserve">Die <lb/>Anordnung der mechaniſchen Elemente wäre in ſolchen Organen <lb/>aus theoretiſchen Gründen gleichgültig, da es für zugfeſte Kon-<lb/>ſtruktionen einzig auf die Querſchnittgröße des verwandten,
<pb o="58" file="542" n="542"/>
widerſtandsfähigen Materiales ankommt; </s>
  <s xml:id="echoid-s7072" xml:space="preserve">aber es iſt wichtig, <lb/>die Einrichtung ſo zu treffen, daß eine möglichſt gleichmäßige <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-542-01a" xlink:href="fig-542-01"/>
Einwirkung der Zugkraft <lb/>auf alle vorhandenen Ste-<lb/>reompartieen erreicht wird. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7073" xml:space="preserve">Die Erfahrung der Techniker <lb/>lehrt, daß für ſolche Fälle <lb/>die Anwendung eines ſo-<lb/>liden, kompakten Stranges <lb/>vor zerſtreuten Strängen <lb/>den Vorzug verdient.</s>
  <s xml:id="echoid-s7074" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div254" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-542-01" xlink:href="fig-542-01a">
<caption xml:id="echoid-caption99" xml:space="preserve">Fig. 16. <lb/>Größerer Teil des Querſchnitts durch die <lb/>Wurzel von Chamaedorea oblongata. <lb/>Die centrale Skelettpartie wird von <lb/>Meſtom-Elementen umgeben, die bis zu <lb/>der durch einen einfachen kreisförmigen <lb/>Strich angedeuteten Umgrenzung reichen. <lb/>— Etwa 30 mal vergrößert.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7075" xml:space="preserve">Aus dem Geſagten er-<lb/>giebt ſich, daß die auf Zug <lb/>in Anſpruch genommenen <lb/>Organe, im Gegenſatz zu <lb/>den auf Biegung in An-<lb/>ſpruch genommenen, ihre <lb/>Skelettteile mehr dem Centrum nahe oder im Centrum ſelbſt <lb/>anzubringen beſtrebt ſein werden, um die mechaniſch wirkſamen <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-542-02a" xlink:href="fig-542-02"/>
Elemente möglichſt <lb/>dicht aneinander zu <lb/>bringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7076" xml:space="preserve">Die Unter-<lb/>ſuchung maßgebender <lb/>Fälle zeigt in der That <lb/>die geforderten Quer-<lb/>ſchnittsanſichten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7077" xml:space="preserve">Man <lb/>vergleiche zu dem Ge-<lb/>ſagten nur die Figuren <lb/>16 und 17. </s>
  <s xml:id="echoid-s7078" xml:space="preserve">Die äuße-<lb/>ren Skelettcylinder in <lb/>den beiden Figuren <lb/>ſind Schutzmittel gegen den Druck des die Organe umgebenden <lb/>Bodens, alſo druckfeſte Konſtruktionen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7079" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div255" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-542-02" xlink:href="fig-542-02a">
<caption xml:id="echoid-caption100" xml:space="preserve">Fig. 17. <lb/>Hälfte des Querſchnitts durch das Rhizom einer <lb/>Carex-Art. — Etwa 40 mal vergrößert.</caption>
</figure>
</div>
<pb o="59" file="543" n="543"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7080" xml:space="preserve">Daß Skelettzellen außer den angeführten Hauptfällen noch <lb/>mannigfache Verwendung finden und auch oft lokalmechaniſchen <lb/>Zwecken dienen, iſt ſelbſtverſtändlich. </s>
  <s xml:id="echoid-s7081" xml:space="preserve">Die Leitbündel werden <lb/>oftmals von Skelettſträngen begleitet, die die Feſtigkeit der <lb/>ganzen Pflanze kaum unterſtützen: </s>
  <s xml:id="echoid-s7082" xml:space="preserve">in anderen Fällen ſind ſolche <lb/>Bündelbelege, wie wir geſehen haben, allerdings gleichzeitig das <lb/>biegungsfeſte Gerüſt des Organs, in welchem die Bündel ver-<lb/>laufen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7083" xml:space="preserve">Daß in Fruchtwandungen zum Schutz der Samen <lb/>häufig mechaniſche Zellen vorkommen, haben wir bereits er-<lb/>wähnt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7084" xml:space="preserve">In vielen Fällen ermöglichen ſie eine beſtimmte Art <lb/>des Aufſpringens der Früchte (dynamiſche Zellen).</s>
  <s xml:id="echoid-s7085" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div257" type="section" level="1" n="179">
<head xml:id="echoid-head205" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXII. Das Leben eines Baumes.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7086" xml:space="preserve">Das Leben eines Baumes iſt dem Leben einer einzelligen <lb/>Pflanze ganz gleich; </s>
  <s xml:id="echoid-s7087" xml:space="preserve">es findet nur der Unterſchied ſtatt, daß <lb/>in einem Baume gewiſſermaßen ein ganzer großer Staat von <lb/>vielen Millionen Zellen vorhanden iſt, die gemeinſam leben, <lb/>und in welchen deshalb eine höhere Organiſation eintritt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7088" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7089" xml:space="preserve">Ein einfaches Pflänzchen, das nur aus einer einzigen Zelle <lb/>beſteht, nimmt ebenſo gut Speiſen in ſich auf, wie ein großer <lb/>Baum, wächſt ebenſo wie dieſer und bildet gleich dieſem auch <lb/>neue Zellen, welche neue Pflänzchen hervorrufen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7090" xml:space="preserve">Aber es <lb/>gleicht das Leben eines ſolchen Pflänzchens dem Leben eines <lb/>einzelnen Menſchen auf einer wüſten Inſel, während das Zellen-<lb/>leben in einem Baume, wie uns die vorausgehenden Abſchnitte <lb/>klar gemacht haben, dem Leben des Einzelnen in einem großen <lb/>Staate gleicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7091" xml:space="preserve">Ein Einſiedler muß alles, was er zum Leben <lb/>bedarf, ſich ſelber zu beſchaffen ſuchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7092" xml:space="preserve">Er muß für ſich ſelber <lb/>Bäcker und Koch, Baumeiſter, Schneider, Schuhmacher, Arzt
<pb o="60" file="544" n="544"/>
u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7093" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s7094" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s7095" xml:space="preserve">, alles in einer Perſon ſein; </s>
  <s xml:id="echoid-s7096" xml:space="preserve">in einer geordneten Staats-<lb/>geſellſchaft iſt dies nicht nötig, hier verrichtet der Einzelne nur <lb/>eine Art Arbeit, die allen Übrigen zu Gute kommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7097" xml:space="preserve">Die <lb/>Menſchen teilen ſich in die Arbeiten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7098" xml:space="preserve">Einige übernehmen das <lb/>Backen für alle Übrigen, andere übernehmen das Schneidern, <lb/>wieder andere verſorgen alle Übrigen mit Schuhwerk, und dieſe <lb/>Teilung all’ der Arbeiten, die eigentlich jeder für ſich ſelber <lb/>machen müßte, geht ſo weit, daß ein Menſch ſich ſehr wohl <lb/>befindet, ſobald er ſich nur die Fertigkeit in einer einzelnen <lb/>Arbeit erworben hat und dieſe auch ausübt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7099" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7100" xml:space="preserve">Den Zellen eines Baumes geht es ebenſo.</s>
  <s xml:id="echoid-s7101" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7102" xml:space="preserve">Wurzelzellen nehmen die Nahrung aus dem Boden; </s>
  <s xml:id="echoid-s7103" xml:space="preserve">aber <lb/>nicht für ſich allein, ſondern für alle Zellen des Baumes. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7104" xml:space="preserve">Sie verrichten eine Arbeit, die die übrigen Zellen nicht ver-<lb/>ſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7105" xml:space="preserve">Die Nahrung teilt ſich den Zellen des Stammes mit, <lb/>und dieſe leiſten dafür eine andere Arbeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s7106" xml:space="preserve">Sie bilden ſich <lb/>zu maſſiven Trägern der Krone des Baumes aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s7107" xml:space="preserve">Die <lb/>Zellen des Stammes führen ein ganz eigenes Leben und ver-<lb/>richten eine ganz eigentümliche Arbeit, die wir in Kürze kennen <lb/>gelernt haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s7108" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7109" xml:space="preserve">Wer ſchon einmal beobachtet hat, wie es Bäume in <lb/>Wäldern giebt, welche inwendig ganz und gar ausgefault <lb/>und hohl ſind, die aber trotzdem Blätter und Früchte tragen, <lb/>der wird ſchon die Bemerkung gemacht haben, daß eigentlich <lb/>die Nahrung des Baumes nicht durch den ganzen, dicken <lb/>Stamm aufſteigt, ſondern nur durch die unter der Borke des <lb/>Stammes liegende Schicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7110" xml:space="preserve">Und ſo iſt es auch. </s>
  <s xml:id="echoid-s7111" xml:space="preserve">Ein Baum <lb/>ſtirbt ab, ſobald man an irgend einer Stelle des Stammes <lb/>einen Schnitt rings durch die Borke und die unter ihr liegende <lb/>Schicht macht.</s>
  <s xml:id="echoid-s7112" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7113" xml:space="preserve">In der That nimmt an dem eigentlichen Leben des Baumes <lb/>nur immer die äußere Schicht des Stammes teil. </s>
  <s xml:id="echoid-s7114" xml:space="preserve">Die Zellen <lb/>dieſer Schicht befinden ſich in Thätigkeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s7115" xml:space="preserve">Die früher gebildeten,
<pb o="61" file="545" n="545"/>
nun innen liegenden Schichten, Jahresholzringe, dienen nur <lb/>dazu, den ganzen Bau zu tragen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7116" xml:space="preserve">Durchſchneidet man einen <lb/>Baumſtamm, ſo kann man auf der Schnittfläche ſehr deutlich <lb/>die Kreiſe ſehen, welche mit jedem Jahr entſtanden ſind, ſo daß <lb/>man an der Zahl derſelben das Alter des Baumes ab-<lb/>zählen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s7117" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7118" xml:space="preserve">Verrichten ſo die Zellen des Stammes eine ganz andere <lb/>Arbeit als die der Wurzeln, und kann man die Hauptmaſſe <lb/>derſelben als die feſten Stützen des ganzen Zellenſtaates an-<lb/>ſehen, ſo haben die Blätter wieder eine ganz andere Arbeit zu <lb/>verrichten, die Beſtimmung ihres Lebens iſt wiederum eine <lb/>andere.</s>
  <s xml:id="echoid-s7119" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7120" xml:space="preserve">Ein Baum zieht ſeine Nahrung einerſeits aus der Erde, <lb/>anderſeits, und zwar einen Hauptnahrungsſtoff, die Kohlen-<lb/>ſäure, entnimmt er der Luft, und dies geſchieht vornehmlich <lb/>durch die grünen Blätter.</s>
  <s xml:id="echoid-s7121" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7122" xml:space="preserve">Der Luft iſt ja immer ein kleiner Teil Kohlenſäure bei-<lb/>gemiſcht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7123" xml:space="preserve">Dieſe Kohlenſäure bildet eine höchſt wichtige Speiſe <lb/>der Pflanze, und zu dieſem Behuf beſitzen die Blätter außer-<lb/>ordentlich feine Öffnungen, durch welche die Kohlenſäure von <lb/>den Pflanzen aufgenommen wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s7124" xml:space="preserve">(Vergl. </s>
  <s xml:id="echoid-s7125" xml:space="preserve">Teil VII, S. </s>
  <s xml:id="echoid-s7126" xml:space="preserve">14 <lb/>und 15, Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s7127" xml:space="preserve">3 und 4.) </s>
  <s xml:id="echoid-s7128" xml:space="preserve">Der große Reichtum an Blättern, <lb/>welche jeder Baum beſitzt, iſt deshalb nötig, damit der Baum <lb/>ſtets von einer großen Maſſe Luft umgeben iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7129" xml:space="preserve">Jedes einzelne <lb/>Blatt eines Baumes iſt mit unzähligen Öffnungen zur Ein-<lb/>nahme der Kohlenſäure ausgeſtattet, und es vermag daher ein <lb/>Baum hinreichend dieſe ſeine Speiſe aus der Luft zu beziehen, <lb/>obwohl die Kohlenſäure nur in ſehr geringer Portion der <lb/>Luft beigemiſcht iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7130" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7131" xml:space="preserve">Aber auch eine Ausſcheidung unbrauchbarer Stoffe geſchieht <lb/>durch die Blätter. </s>
  <s xml:id="echoid-s7132" xml:space="preserve">Die Blätter dunſten Waſſer aus und geben <lb/>Sauerſtoff von ſich. </s>
  <s xml:id="echoid-s7133" xml:space="preserve">Die Blätter alſo, die ebenfalls nichts ſind <lb/>als aneinandergefügte, feine Zellen, verrichten eine beſondere
<pb o="62" file="546" n="546"/>
Arbeit, die dem ganzen Baum zu gute kommt, und bilden <lb/>daher den nützlichen und thätigen Bürger im Haushalt des <lb/>großen, ganzen Zellenſtaates, den ein Baum darſtellt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7134" xml:space="preserve">—</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div258" type="section" level="1" n="180">
<head xml:id="echoid-head206" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXIII. Das Wunder der Blüte.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7135" xml:space="preserve">Das Leben eines Baumes iſt von ſeiner Entſtehung bis <lb/>zur Zeit ſeiner Blüte und Befruchtung einigermaßen erklärlich <lb/>durch das gemeinſame Leben der Zellen, aus welchen er beſteht. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7136" xml:space="preserve">Das Rätſelhafte im Leben eines Baumes iſt nicht viel größer <lb/>als das Rätſel im Leben einer einzelnen Zelle. </s>
  <s xml:id="echoid-s7137" xml:space="preserve">Denn ein <lb/>Baum iſt nichts als ein Staat einzelner Zellen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7138" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7139" xml:space="preserve">Bei der Blüte und Befruchtung aber tritt ein neues Rätſel <lb/>ein, deſſen Löſung ſchon bei weitem ſchwieriger iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7140" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7141" xml:space="preserve">Ein jeder Baum, ſowie jede höhere Pflanze überhaupt, <lb/>entwickelt zu einer beſtimmten Zeit eigentümliche Blüten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7142" xml:space="preserve">Dieſe <lb/>Blüten ſind in Wahrheit auch nur ein Gewebe von Zellen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7143" xml:space="preserve">So verſchieden ſie auch an Farbe, Geſtalt, Geruch und Inhalt <lb/>ſind, ſo entſtehen ſie doch an ſich nicht anders als diejenigen <lb/>Zellen, die etwa die als Laubblätter bezeichneten grünen Blätter <lb/>bilden; </s>
  <s xml:id="echoid-s7144" xml:space="preserve">aber in der Blüte liegt ein beſtimmter Zweck, wenn <lb/>man ſo ſagen darf, der nicht mehr mit dem Leben des Baumes <lb/>in Verbindung ſteht, ſondern einzig und allein darauf ausgeht, <lb/>einen Teil des Baumes vom Baume zu trennen und einen <lb/>neuen Baum entſtehen zu laſſen, der mit dem alten nicht mehr <lb/>im Zuſammenhang iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7145" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7146" xml:space="preserve">So lange man von dem Zweck der Blüte abſieht, kann <lb/>man ſich vorſtellen, daß in jeder Zelle des Baumes einzig und <lb/>allein Kräfte thätig ſind, durch welche neue Zellen gebildet <lb/>werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7147" xml:space="preserve">Entſtänden auch aus dieſen Zellen ohne weiteres Blüten
<pb o="63" file="547" n="547"/>
und Früchte, ſo würde man ſich vorſtellen können, daß ein <lb/>gewiſſer Überſchuß, den der Baum an Säften und Kräften <lb/>habe, durch die Früchte abgethan werde. </s>
  <s xml:id="echoid-s7148" xml:space="preserve">Allein das iſt nicht <lb/>der Fall; </s>
  <s xml:id="echoid-s7149" xml:space="preserve">es geht vielmehr mit einer Blüte, die Frucht werden <lb/>ſoll, etwas Rätſelhaftes vor, das nicht mehr in der Zelle ſelber <lb/>ſteckt, ſondern von außen her in ſie zu dieſem beſtimmten Zweck <lb/>hineingetragen wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s7150" xml:space="preserve">Wir meinen <emph style="sp">die Befruchtung</emph>.</s>
  <s xml:id="echoid-s7151" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7152" xml:space="preserve">Um dieſes Rätſelhafte ſo recht einzuſehen, müſſen wir noch <lb/>an Folgendes erinnern.</s>
  <s xml:id="echoid-s7153" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7154" xml:space="preserve">Jedermann weiß es ſicherlich, daß man von einem Baum <lb/>nur einen kleinen Zweig abzuſchneiden und dieſen in die Erde <lb/>zu ſtecken braucht, um einen jungen Baum entſtehen zu laſſen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7155" xml:space="preserve">In der Rinde des Zweiges ſitzen nämlich Wurzelzellen, in dem <lb/>Zweige ſelbſt exiſtieren Stammzellen, an dieſen befinden ſich <lb/>auch Stengel- und Blattzelleu, ſo daß ein kleiner Zweig eigent-<lb/>lich ein kleiner Baum iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7156" xml:space="preserve">Steckt man ihn in die Erde, ſo <lb/>giebt man ihm Gelegenheit, ſeine Wurzelzellen reicher zu ent-<lb/>wickeln und ſchlägt er erſt Wurzel, ſo vermehren ſich ſeine <lb/>übrigen Zellen ganz naturgemäß; </s>
  <s xml:id="echoid-s7157" xml:space="preserve">er wächſt alſo und wird ein <lb/>neuer Baum.</s>
  <s xml:id="echoid-s7158" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7159" xml:space="preserve">Durch ſolche “Ableger” könnte ſich alſo das Daſein der <lb/>Pflanzen ganz gut fortpflanzen und vermehren; </s>
  <s xml:id="echoid-s7160" xml:space="preserve">und in der <lb/>That geſchieht dies auch ſo, ſowohl künſtlich wie natürlich. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7161" xml:space="preserve">Sowohl Menſchenhände, wie auch viele Pflanzen und Bäume <lb/>ſelber bilden ſolche “Ableger”.</s>
  <s xml:id="echoid-s7162" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7163" xml:space="preserve">Gewiſſe Blüten tragen zwar die Möglichkeit in ſich, zu <lb/>Früchten zu werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s7164" xml:space="preserve">aber ſie werden dies nun und nimmer-<lb/>mehr, ſobald nicht noch etwas Eigentümliches dazu kommt, <lb/>nämlich die Befruchtung.</s>
  <s xml:id="echoid-s7165" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7166" xml:space="preserve">Wie dies zuſtande kommt, hat man ſehr genau beobachtet; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7167" xml:space="preserve">was aber noch dahinterſteckt, das iſt bis jetzt nur geahnt, und <lb/>wir haben in Teil I S. </s>
  <s xml:id="echoid-s7168" xml:space="preserve">118 das Nötige hierüber geſagt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7169" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7170" xml:space="preserve">Es giebt verſchiedene Blüten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7171" xml:space="preserve">Es giebt Blüten, welche
<pb o="64" file="548" n="548"/>
in der Mitte ihres Kelches einen Teil haben, der befruchtet <lb/>werden muß, dieſen nennt man den <emph style="sp">weiblichen</emph> Teil der <lb/>Blüte; </s>
  <s xml:id="echoid-s7172" xml:space="preserve">rings um dieſen Teil befinden ſich feine Staubbehälter, <lb/>welche man den männlichen Teil der Blüte nennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7173" xml:space="preserve">Dieſer <lb/>Blütenſtaub beſteht wiederum auch nur aus einzelnen Zellen, <lb/>Bläschen, die Protoplasma in ſich einſchließen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7174" xml:space="preserve">Soll nun der <lb/>weibliche Teil der Blüte zur Frucht werden, ſo muß durchaus <lb/>ſolch’ ein männliches Blütenſtäubchen zu ihm gelangen und es <lb/>— wie man es nennt — <emph style="sp">befruchten</emph>.</s>
 </p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7175" xml:space="preserve">Es giebt aber auch Blüten, die an ſich keinen ſogenannten <lb/>männlichen Teil haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s7176" xml:space="preserve">dafür aber wachſen auf demſelben <lb/>Baum noch andere Blüten, die nur männlich ſind, und der <lb/>Fruchtſtaub muß hier von dieſer männlichen Blüte zur andern <lb/>gelangen, um dieſe zu befruchten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7177" xml:space="preserve">Es giebt aber auch Bäume, <lb/>die nur weibliche Blüten tragen; </s>
  <s xml:id="echoid-s7178" xml:space="preserve">ſie werden aber befruchtet <lb/>durch Bäume derſelben Gattung, welche nur männliche Blüten <lb/>haben, und deren Blütenſtaub durch Inſekten u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7179" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s7180" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s7181" xml:space="preserve">zu den <lb/>weiblichen Bäumen getragen wird, in der Weiſe, wir wie das <lb/>in Teil I S. </s>
  <s xml:id="echoid-s7182" xml:space="preserve">94—118 eingehend auseinandergeſetzt haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s7183" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7184" xml:space="preserve">Sehen wir auch von all den oft ſehr wunderbaren Um-<lb/>ſtänden ab, durch welche eine Zelle, der Blütenſtaub, zur andern <lb/>Zelle, den weiblichen Fruchtknoten, gelangt, ſo findet man feſt-<lb/>ſtehend, daß jede weibliche Blüte den Zweck hat, eine Frucht <lb/>zu werden, daß aber in ihr nicht die Kraft liegt, dieſen Zweck <lb/>zu erreichen, ſobald ihr nicht von einer andern, mit ihr gar <lb/>nicht in Verbindung ſtehenden Zelle, die ſogar oft erſt von einem <lb/>andern Baume herkommen muß, noch etwas hinzugetragen wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s7185" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7186" xml:space="preserve">Hier ſehen wir alſo nicht mehr das Entwickelungsleben <lb/>einer Zelle, ſondern die weit weniger erklärliche Einwirkung <lb/>zweier Zellen von verſchiedener Natur und Beſchaffenheit zu <lb/>einem beſtimmten Zwecke.</s>
  <s xml:id="echoid-s7187" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7188" xml:space="preserve">Dies iſt ein neues Moment im Pflanzenleben, das wir <lb/>näher betrachten müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7189" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="65" file="549" n="549"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div259" type="section" level="1" n="181">
<head xml:id="echoid-head207" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXIV. Ein ſich klärendes Rätſel.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7190" xml:space="preserve">Das Rätſelhafte in dem Daſein einer Blüte beſteht darin, <lb/>daß ebenſo die männliche Blüte wie die weibliche Blüte für <lb/>ſich ſelber ganz zwecklos erſcheinen oder — anders ausgedrückt — <lb/>weder den Pflanzen-Individuen noch der Pflanzenart (d. </s>
  <s xml:id="echoid-s7191" xml:space="preserve">h. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7192" xml:space="preserve">der Erhaltung derſelben) irgendwie nützen, und daß ſie gleich-<lb/>wohl einen ganz beſtimmten Zweck haben, der nur dann erreicht <lb/>wird, ſobald ein Teil der männlichen Blüte zur weiblichen <lb/>gelangt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7193" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7194" xml:space="preserve">Denken wir uns nun den vielfach in der Pflanzenwelt <lb/>vorkommenden Fall, daß weibliche und männliche Blüten nicht <lb/>auf einem und demſelben Baume, ſondern getrennt auf zwei <lb/>oft weit von einander entfernten Bäumen wachſen, ſo ſehen <lb/>wir auf jedem dieſer Bäume eine Schöpfung, die allein ihren <lb/>ganz beſtimmten Zweck, eine Frucht zu erzeugen, nicht er-<lb/>reichen kann und des andern Baumes bedarf, um ihren Zweck <lb/>zu erfüllen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7195" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7196" xml:space="preserve">Dies iſt aber etwas, das nur in <emph style="sp">der lebenden</emph> Natur <lb/>vorkommt; </s>
  <s xml:id="echoid-s7197" xml:space="preserve">in der <emph style="sp">nichtlebenden</emph> Natur finden wir nichts <lb/>dergleichen, ja nicht einmal eine Erſcheinung, die nur entfernt <lb/>eine Ähnlichkeit damit hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s7198" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7199" xml:space="preserve">Die männlichen Blüten ſind außerordenlich reich an Blüten-<lb/>ſtaub, und viele Billionen Körner dieſes Staubes gehen ver-<lb/>loren, ohne zu befruchten; </s>
  <s xml:id="echoid-s7200" xml:space="preserve">es genügt, wenn nur ein einziges <lb/>ſolches Stäubchen auf eine weibliche Blüte gelangt, um daſelbſt <lb/>eine Frucht zu erzeugen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7201" xml:space="preserve">Dieſer Umſtand iſt zwar wunderbar <lb/>genug, aber es läßt ſich doch mindeſtens begreifen, und man <lb/>braucht für die Wanderung eines ſolchen Blütenſtäubchens <lb/>keine geheime beſondere Kraft anzunehmen, ſondern kann ſie <lb/>auf Rechnung des Windes, der Inſekten u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7202" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s7203" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s7204" xml:space="preserve">ſchreiben, die <lb/>die Stäubchen von Blüte zu Blüte tragen, was auch wirklich <lb/>der Fall iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7205" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7206" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s7207" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s7208" xml:space="preserve">Volksbücher X.</s>
  <s xml:id="echoid-s7209" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="66" file="550" n="550"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7210" xml:space="preserve">Aber hierdurch iſt keineswegs das Rätſel gelöſt, daß auf <lb/>dem einen Baume ein Ding ſich ausbildet, welches ganz un-<lb/>zweifelhaft keinen andern Zweck hat, als eine Frucht zu werden, <lb/>daß aber dieſer Zweck nicht erreicht werden kann, wenn nicht <lb/>auf einem andern, oft meilenweit entfernten Baume etwas <lb/>wächſt, das zu dieſem Zweck verhilft!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7211" xml:space="preserve">Die Naturwiſſenſchaft bemühte ſich bisher vergeblich, eine <lb/>Auflöſung dieſes Rätſels zu finden; </s>
  <s xml:id="echoid-s7212" xml:space="preserve">ja, man war nicht einmal <lb/>imſtande, ein richtiges Wort für dieſen unbegreiflichen Zu-<lb/>ſammenhang zwiſchen zwei ganz von einander getrennten <lb/>Bäumen zu erſinnen, aber wir ſind jetzt der Löſung nahe, da <lb/>ſchon durch die Annahme, daß die Vererbungstendenzen der <lb/>beiden ſich durch die Befruchtung vermiſchenden Individuen, <lb/>lebenſtörende Eigentümlichkeiten ausgelöſcht werden können, der <lb/>Vorgang durchaus begreiflich wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s7213" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div260" type="section" level="1" n="182">
<head xml:id="echoid-head208" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXV. Das Rätſel des Lebens und das Rätſel</emph> <lb/><emph style="bf">des Todes.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7214" xml:space="preserve">Auch derjenige, der nur oberflächlich die Natur betrachtet, <lb/>wird bereits wahrgenommen haben, daß das Blühen und Früchte-<lb/>erzeugen ſo eigentlich der Kern des Lebens der Pflanze iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7215" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7216" xml:space="preserve">Wenn die Pflanze die Zeit der Blüte hat, dann iſt ſie <lb/>am friſcheſten und kräftigſten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7217" xml:space="preserve">Wenn die Blüte ſich zur Frucht <lb/>ausbildet, beginnt ein Stillſtand im Wachstum der Pflanze. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7218" xml:space="preserve">Wenn die Frucht ſtark zunimmt, merkt man es der Pflanze an, <lb/>daß ſie an Kraft verliert. </s>
  <s xml:id="echoid-s7219" xml:space="preserve">Wenn die Frucht reif geworden iſt, <lb/>dann fällt ſie ab und mit dieſem Moment beginnt auch die <lb/>Pflanze abzuſterben, ein großer Teil der Pflanzen für immer, <lb/>ein anderer Teil, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7220" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7221" xml:space="preserve">die Bäume, dieſes Jahr oder min-
<pb o="67" file="551" n="551"/>
deſtens doch für einige Zeit, ſodaß es ſich hier genauer <lb/>ausgedrückt nur um eine Herabſetzung der Lebensthätigkeit <lb/>handelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7222" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7223" xml:space="preserve">Wir beobachten alſo an einer Pflanze eine ganze Ge-<lb/>ſchichte. </s>
  <s xml:id="echoid-s7224" xml:space="preserve">Zuerſt erwacht in ihr das Leben, und ſie wächſt für <lb/>ſich ſelber; </s>
  <s xml:id="echoid-s7225" xml:space="preserve">ſodann, wenn ſie eine gewiſſe Stufe ihrer Ent-<lb/>wickelung erreicht hat, treibt ſie Blüten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7226" xml:space="preserve">Sind dieſe ausgebildet, <lb/>ſo findet die Begattung derſelben ſtatt, die die Blüte fähig <lb/>macht, zur Frucht zu werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7227" xml:space="preserve">Iſt es ſo weit gekommen, ſo <lb/>hat die Pflanze meiſt aufgehört, für ſich zu leben; </s>
  <s xml:id="echoid-s7228" xml:space="preserve">ihre Haupt-<lb/>fähigkeit iſt der Ausbildung der Frucht gewidmet. </s>
  <s xml:id="echoid-s7229" xml:space="preserve">Iſt die <lb/>Frucht fertig, ſo iſt auch die Geſchichte der Pflanze, oder min-<lb/>deſtens ein zeitweiliger Abſchnitt derſelben beendet.</s>
  <s xml:id="echoid-s7230" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7231" xml:space="preserve">Da aber die Frucht an ſich noch nicht die Hauptſache, <lb/>ſondern der in ihr enthaltene Samen der unverkennbar wichtigſte <lb/>Teil der Frucht iſt, da dieſer Samen wiederum die Beſtimmung <lb/>hat, die ganze Geſchichte der vorhergegangenen Pflanze zu <lb/>wiederholen, ſo iſt es vollkommen richtig, wenn man ſagt, daß <lb/>die Pflanzen einen gewiſſen Lebenslauf fort und fort wieder-<lb/>holen, einen Lebenslauf, der ein Entſtehen, ein Heranbilden, <lb/>ein Ableben und ein Vergehen in ſich trägt; </s>
  <s xml:id="echoid-s7232" xml:space="preserve">aber zugleich dafür <lb/>ſorgt, daß, ehe noch das Abſterben erfolgt, ein neuer Keim <lb/>des künftigen Lebens vorhanden iſt, der eine ganz gleiche Ge-<lb/>ſchichte des Lebens zu durchlaufen haben wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s7233" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7234" xml:space="preserve">Auch der Tod der Pflanze iſt eifrig beobachtet worden; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7235" xml:space="preserve">man kennt die Erſcheinungen desſelben ziemlich genau.</s>
  <s xml:id="echoid-s7236" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7237" xml:space="preserve">Die Wurzelzellen fangen an unwirkſam zu werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7238" xml:space="preserve">Stamm <lb/>und Blätter der Pflanzen dunſten reichlicher Waſſer aus und <lb/>vertrocknen deshalb. </s>
  <s xml:id="echoid-s7239" xml:space="preserve">Zum Teil werden ſie zu Holz, zum Teil <lb/>zu Stroh, zum Teil fallen ſie welk zuſammen, ſodaß nicht nur <lb/>das Waſſer verdunſtet, ſondern auch die Luftarten, aus welchen <lb/>ſie beſtehen, entweichen und nur der nicht luftartige Beſtand-<lb/>teil als ſtaubig mürbe Maſſe übrig bleibt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7240" xml:space="preserve">Die ehemalige
<pb o="68" file="552" n="552"/>
Fabrik der Pflanze, in welcher aus Kohlenſäure, Waſſer u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7241" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s7242" xml:space="preserve">w. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7243" xml:space="preserve">der organiſche Pflanzenſaft fabriziert wurde, gerät ins Stocken. </s>
  <s xml:id="echoid-s7244" xml:space="preserve"><lb/>Das Protoplasma verliert ſeine ehemalige Kraft, und mit ihnen <lb/>ſtirbt alles andere ab.</s>
  <s xml:id="echoid-s7245" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7246" xml:space="preserve">So weit kennt man den Vorgang; </s>
  <s xml:id="echoid-s7247" xml:space="preserve">aber man kennt den <lb/>Grund desſelben nicht!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7248" xml:space="preserve">Die Wiſſenſchaft weiß nicht zu ſagen, was der Entwicke-<lb/>lung einer Pflanze ein Halt! zuruft, ſobald ſie ſoweit iſt, <lb/>Früchte hervorzubringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7249" xml:space="preserve">Man ſchließt nur aus all den Er-<lb/>ſcheinungen, daß die reife Frucht der Zweck des Lebens der <lb/>Pflanze iſt, und daß ihr Tod erfolgt, wenn ihr Zweck erfüllt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7250" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7251" xml:space="preserve">Es erfolgt der Tod der Pflanze, wenn ſie für das fernere <lb/>Leben der Nachkommenſchaft, und zwar nur einmal in ihrem <lb/>Leben oder wiederholt, wie bei unſeren Bäumen, geſorgt hat. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7252" xml:space="preserve">An der Wiege des künftigen Lebens baut ſich der Sarg des <lb/>gegenwärtigen auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s7253" xml:space="preserve">Die Pflanze ſtirbt, aber nicht die Pflanzen-<lb/>welt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7254" xml:space="preserve">Der Zweck der Pflanze, die Frucht der Pflanze, das <lb/>Kind der Pflanze hat von der Mutter einen neuen Lebens-<lb/>zweck geerbt; </s>
  <s xml:id="echoid-s7255" xml:space="preserve">es wird ſich bemühen, ebenfalls dieſen Zweck zu <lb/>erfüllen, ebenfalls ſterben und ebenfalls denſelben Zweck weiter <lb/>vererben!</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div261" type="section" level="1" n="183">
<head xml:id="echoid-head209" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXVI. Vom Leben des Tieres.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7256" xml:space="preserve">Wir kommen jetzt zum Leben der Tiere, müſſen aber vor-<lb/>erſt den innigen Zuſammenhang, welcher zwiſchen dem Daſein <lb/>der Tiere und der Pflanzen ſtattfindet, recht deutlich zu machen <lb/>ſuchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7257" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7258" xml:space="preserve">Alle Welt weiß, daß es Tiere giebt, welche Pflanzenkoſt <lb/>allein e<unsure/>ſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7259" xml:space="preserve">Hierzu gehören u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7260" xml:space="preserve">a. </s>
  <s xml:id="echoid-s7261" xml:space="preserve">im Weſentlichen unſere Haus-<lb/>tiere. </s>
  <s xml:id="echoid-s7262" xml:space="preserve">Es giebt auch andere Tiere, welche man Fleiſcheſſer nennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7263" xml:space="preserve">
<pb o="69" file="553" n="553"/>
Unter dieſen verſteht man meiſtens die wilden Tiere. </s>
  <s xml:id="echoid-s7264" xml:space="preserve">Sie <lb/>eſſen nicht nur Fleiſch allein, ſondern überhaupt tieriſche Stoffe, <lb/>wie Milch, Eier u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7265" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s7266" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s7267" xml:space="preserve">Endlich giebt es Tiere, die gemiſchte <lb/>K<unsure/>oſt verzehren, das heißt zum Teil Pflanzenkoſt, zum Teil <lb/>Tierſtoffe. </s>
  <s xml:id="echoid-s7268" xml:space="preserve">Ein Tier dieſer Art iſt namentlich der Menſch.</s>
  <s xml:id="echoid-s7269" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7270" xml:space="preserve">Pflanzenſtoffe ſowohl wie Tierſtoffe ſind, wie wir bereits <lb/>wiſſen, organiſche Stoffe. </s>
  <s xml:id="echoid-s7271" xml:space="preserve">Es ſind Stoffe, die nur durch lebende <lb/>Weſen gebildet werden, entweder durch Pflanzen oder durch <lb/>Tiere; </s>
  <s xml:id="echoid-s7272" xml:space="preserve">und ſolche, bereits dem Leben angehörige Stoffe können <lb/>zur Speiſe für Tiere dienen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7273" xml:space="preserve">Es giebt aber kein typiſches <lb/>Tier, das unbelebte, oder einfacher ausgedrückt, unorganiſche <lb/>Stoffe als ausſchließliche Speiſe zu ſich nimmt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7274" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7275" xml:space="preserve">Nur Pflanzen leben von unorganiſchen Stoffen allein; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7276" xml:space="preserve">ſie ſpeiſen Waſſer, Kohlenſäure, Salze (mineraliſche Beſtand-<lb/>teile), die im Waſſer der @Erde gelöſt ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s7277" xml:space="preserve">Ein Tier kann <lb/>jedoch von ſolcher Speiſe allein nicht leben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7278" xml:space="preserve">Der Voll-<lb/>ſtändigkeit halber ſei noch erwähnt, daß es Pflanzen giebt, <lb/>deren Nahrung ebenfalls der organiſchen Natur entſtammt; </s>
  <s xml:id="echoid-s7279" xml:space="preserve"><lb/>die Pilze z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7280" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7281" xml:space="preserve">leben entweder als <emph style="sp">Schmarotzer</emph> (Paraſiten) <lb/>auf oder in anderen Organismen, oder aber von Teilen bereits <lb/>geſtorbener Lebeweſen, die letzteren nennt man Fäulnis-<lb/>bewohner (Saprophyten). </s>
  <s xml:id="echoid-s7282" xml:space="preserve">Beiſpiele bietet die Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s7283" xml:space="preserve">18<emph style="super">1—6</emph>; </s>
  <s xml:id="echoid-s7284" xml:space="preserve"><lb/>wir ſehen Inſektenkörper, aus denen Pilze herauswachſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7285" xml:space="preserve"><lb/>Die Tiere werden zu ihren Lebzeiten von den Pilzen befallen, <lb/>die den Tieren den Tod bringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7286" xml:space="preserve">Hier haben wir den Fall, <lb/>daß ſich die Pilze zuerſt von lebender, dann von toter orga-<lb/>niſcher Subſtanz nähren, ſodaß wir alſo Übergänge zwiſchen <lb/>Paraſiten und Saprophyten vor uns haben: </s>
  <s xml:id="echoid-s7287" xml:space="preserve">nirgends in der <lb/>Natur giebt es eben ſcharfe Grenzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7288" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7289" xml:space="preserve">Der Einfachheit wegen wollen wir für jetzt nur ein Tier <lb/>betrachten, das nichts als Pflanzenſtoff genießt, alſo irgend ein <lb/>Haustier, ein Pferd, einen Ochſen u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7290" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s7291" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s7292" xml:space="preserve">, und einmal zeigen, <lb/>in welchem Verhältnis ſolch ein Tier zur Pflanzenwelt ſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7293" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<pb o="70" file="554" n="554"/>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption101" xml:space="preserve">Fig. 18.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables19" xml:space="preserve">3 1 2 5 4 6</variables>
</figure>
<pb o="71" file="555" n="555"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7294" xml:space="preserve">Ein ſolches Tier hat einen Verdauungsapparat (Magen und <lb/>Darm) in ſich, der die Speiſen verdaut, das heißt in einen Brei <lb/>umwandelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7295" xml:space="preserve">Vom Magen geht dieſer Brei in den Darm, in <lb/>welchem derſelbe noch feiner verarbeitet und eine Art Milch-<lb/>ſaft wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s7296" xml:space="preserve">Alles, was zur Ernährung nicht tauglich iſt, wie <lb/>die unverdaulichen Teile der Speiſe, ſcheidet der Darm durch <lb/>ſeine untere Öffnung, den After, wieder aus, während der <lb/>Milchſaft durch die Haut des Darmes hindurch in feine Kanäle <lb/>einſtrömt, die ſich zu einem einzigen Schlauch vereinigen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7297" xml:space="preserve">Dieſer Schlauch führt aber in eine Hauptader, in welcher ſich <lb/>Blut befindet, das zum Herzen ſtrömt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7298" xml:space="preserve">Der milchähnliche Saft <lb/>(Lymphe oder Chylus genannt) geht alſo ins Blut über und <lb/>wird ſchließlich wirkliches Blut.</s>
  <s xml:id="echoid-s7299" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7300" xml:space="preserve">So wird denn aus Speiſe wirklich Blut. </s>
  <s xml:id="echoid-s7301" xml:space="preserve">Nun aber wird <lb/>durch die Thätigkeit des Herzens das Blut in alle Teile des <lb/>Körpers getrieben, und hier entſteht an jeder Stelle aus dem <lb/>Blut tieriſcher Körper. </s>
  <s xml:id="echoid-s7302" xml:space="preserve">Aus den in dem Blut enthaltenen <lb/>Beſtandteilen werden Fleiſch, Knochen, Auge, Gehirn, Sehne, <lb/>Haut, Haare, Hufe u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7303" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s7304" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s7305" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7306" xml:space="preserve">So iſt es; </s>
  <s xml:id="echoid-s7307" xml:space="preserve">wahr und wirklich. </s>
  <s xml:id="echoid-s7308" xml:space="preserve">So lehrt es die gewiſſen-<lb/>hafteſte Forſchung des Lebens, die Phyſiologie; </s>
  <s xml:id="echoid-s7309" xml:space="preserve">ſo beſtätigt ſie <lb/>die Erfahrungen der Chemie, die wir bereits erwähnt haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s7310" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div262" type="section" level="1" n="184">
<head xml:id="echoid-head210" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXVII. Der Übergang von den Pflanzen zur</emph> <lb/><emph style="bf">Tierwelt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7311" xml:space="preserve">Bekanntlich giebt es auch Tiere, welche nur Fleiſch eſſen, <lb/>und man könnte von ſolchem Tiere meinen, daß es mit der <lb/>Pflanzenwelt nicht im Zuſammenhange ſtehe. </s>
  <s xml:id="echoid-s7312" xml:space="preserve">Allein, wenn man <lb/>erwägt, daß der Löwe, der ein Lamm verzehrt, im Grunde <lb/>genommen kein anderes Fleiſch zu eſſen bekommt als ſolches,
<pb o="72" file="556" n="556"/>
woraus das Lamm beſteht; </s>
  <s xml:id="echoid-s7313" xml:space="preserve">wenn wir hierzu bedenken, daß <lb/>das Lamm ſein Fleiſch nur aus der Pflanzenkoſt erhalten hat, <lb/>die es gegeſſen, ſo liegt es klar am Tage, daß der fleiſch-<lb/>freſſende Löwe zwar nicht direkt Pflanze gegeſſen hat, aber <lb/>doch nichts als verwandelte Pflanze, die Lamm-Körper ge-<lb/>worden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7314" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7315" xml:space="preserve">Noch einfacher läßt ſich einſehen, daß ein Tier, welches <lb/>von gemiſchter Koſt, alſo zum Teil von tieriſchen, zum Teil <lb/>von Pflanzenſtoffen lebt, im Grunde genommen auch nichts iſt <lb/>als ein Weſen, das ſein Leben und ſeinen Leib der Pflanze <lb/>zu verdanken hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s7316" xml:space="preserve">oder was dasſelbe iſt: </s>
  <s xml:id="echoid-s7317" xml:space="preserve">ein Weſen, das man <lb/>als verwandelte Pflanze anſehen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s7318" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7319" xml:space="preserve">Hieraus aber ergiebt ſich der innigſte Zuſammenhang <lb/>zwiſchen der Pflanzenwelt und der Tierwelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7320" xml:space="preserve">Die Tierwelt <lb/>kann ohne die Pflanzenwelt nicht exiſtieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s7321" xml:space="preserve">Das Leben des <lb/>Tieres iſt vom Leben der Pflanze abhängig. </s>
  <s xml:id="echoid-s7322" xml:space="preserve">Es knüpft ſich <lb/>hier Leben an Leben, es zeigt ſich eine naturgemäße Ent-<lb/>wickelung, die bis zum höchſten Leben in ſeiner höchſten Form <lb/>aufſteigt, bis zum Leben des Menſchen, deſſen Weſen ſo <lb/>himmelweit vom Weſen einer Pflanze verſchieden erſcheint.</s>
  <s xml:id="echoid-s7323" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7324" xml:space="preserve">Demjenigen, dem dieſer Gedanke trotz all’ der ſicherſten <lb/>Ergebniſſe der Wiſſenſchaft fremdartig, ja ſogar unwahr vor-<lb/>kommt, dem wird er hoffentlich näher geführt werden, wenn <lb/>wir nunmehr zeigen, wie es ſelbſt in der Tierwelt Weſen <lb/>giebt, die kaum von den Pflanzen unterſchieden werden können, <lb/>und was wir ſpäter ſehen werden, — wie ſelbſt wir Menſchen <lb/>im bedeutendſten Teil unſeres Daſeins eine Art Pflanzenleben <lb/>führen, was man wiſſenſchaftlich mit dem Namen “das vegetative <lb/>Leben” bezeichnet.</s>
  <s xml:id="echoid-s7325" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7326" xml:space="preserve">Daß eine Katze ein ganz anderes Weſen iſt als eine <lb/>Mohrrübe, das brauchen wir ſchwerlich jemandem zu ſagen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7327" xml:space="preserve">aber es giebt wirklich Weſen, von denen ſelbſt die bedeutendſten <lb/>Naturforſcher nicht zu ſagen wiſſen, ob ſie Pflanze oder
<pb o="73" file="557" n="557"/>
Tier ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s7328" xml:space="preserve">Mit anderen Worten: </s>
  <s xml:id="echoid-s7329" xml:space="preserve">es giebt Weſen, die genau <lb/>ihrem ganzen Weſen nach die Mitte zwiſchen echten, zweifel-<lb/>loſen Tieren und echten, zweifelloſen Pflanzen halten.</s>
  <s xml:id="echoid-s7330" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7331" xml:space="preserve">Sie ſind weder vollſtändig Tier noch vollſtändig Pflanze, <lb/>ſondern ſtehen auf der Stufe zwiſchen beiden Lebensformen, die <lb/>ſich in ihnen vereinigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7332" xml:space="preserve"/>
</p>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption102" xml:space="preserve">Fig. 19. <lb/>Geſtielte Infuſorien, ſtark <lb/>vergrößert.</caption>
</figure>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7333" xml:space="preserve">Sollte einer oder der andere un-<lb/>ſerer Leſer meinen, die mit ſelbſt-<lb/>ſtändiger Bewegung begabten Lebe-<lb/>weſen müßten wohl ſtets Tiere ſein, <lb/>weil ſie ſonſt irgendwo angewachſen <lb/>wären, wie dies bei den Landpflanzen <lb/>der Fall iſt, ſo wollen wir durch einige <lb/>Beiſpiele zeigen, wie es wirkliche <lb/>Tiere giebt, welche feſt angewachſen <lb/>ſind und wie Pflanzen nach Tierart <lb/>leben.</s>
  <s xml:id="echoid-s7334" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7335" xml:space="preserve">Es giebt ganze Maſſen kleiner <lb/>Tierchen, die man zu den Infuſorien <lb/>zählt, welche an feine Fäden ange-<lb/>wachſen ſind, die ſich pfropfenzieher-<lb/>artig zuſammenziehen und wieder <lb/>fadenartig ausdehnen können (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s7336" xml:space="preserve">19). <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7337" xml:space="preserve">Durch dieſes Zuſammenziehen und <lb/>Dehnen iſt es den Tieren gegönnt, ſich eine kleine Strecke im <lb/>Waſſer hin und zurück zu bewegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7338" xml:space="preserve">Sie vermögen ſich auch <lb/>nach rechts und links hin zu begeben, ſoweit es ihnen der Faden, <lb/>an dem ſie angekettet ſind, geſtattet. </s>
  <s xml:id="echoid-s7339" xml:space="preserve">Meiſthin ſind mehrere <lb/>ſolcher Tierchen mit ihren Fäden an einen gemeinſchaftlichen <lb/>Faden gefeſſelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7340" xml:space="preserve">Sie bilden alſo eine Kolonie, eine Familie, <lb/>eine Geſellſchaft, oder wenn man will, einen Staat, und führen <lb/>ein höchſt ſozialiſtiſches Leben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7341" xml:space="preserve">— Genug, ſie ſind feſtgewachſen <lb/>und ſind nach jetziger Anſicht aller Gelehrten doch keine Pflanzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7342" xml:space="preserve">
<pb o="74" file="558" n="558"/>
Sie ſind unverkennbar Tiere, und doch von Lebensbedingungen <lb/>gefeſſelt, die ſonſt den Pflanzen eigen ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s7343" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7344" xml:space="preserve">Es iſt zwiſchen Tier und Pflanze gar nicht ſo leicht zu <lb/>unterſcheiden, als man glauben ſollte, und man hat daher ein <lb/>Reich, das man das <emph style="sp">Protiſtenreich</emph> nennt, neben dem Tier-<lb/>und Pflanzenreich aufgeſtellt, in welchem man alle Übergangs-<lb/>weſen unterbringt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7345" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div263" type="section" level="1" n="185">
<head xml:id="echoid-head211" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXVIII. Die Entwickelung der Tierwelt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7346" xml:space="preserve">Nicht allein in dem faſt unſichtbaren Reich der Infuſorien <lb/>giebt es Tiere, die gleich Pflanzen feſtgewachſen an einem <lb/>Orte leben, ſondern reiche Tiergattungen, deren Daſein von <lb/>der größten Bedeutung für die Bildung des feſten Landes <lb/>vieler Inſeln iſt, teilen ein gleiches Schickſal.</s>
  <s xml:id="echoid-s7347" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7348" xml:space="preserve">Im Meere, und namentlich in warmen Ländern giebt es <lb/>großartige Inſeln, bewohnbar und oft auch bewohnt, welche <lb/>ihr Fundament von dem Wirken der Polypen erhalten haben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7349" xml:space="preserve">Die Polypen nämlich ſind Tierchen, welche aus ihrem Körper <lb/>eine Subſtanz abſondern, die zu einem ſteinartigen, feſten Gerüſt <lb/>erhärtet. </s>
  <s xml:id="echoid-s7350" xml:space="preserve">Die Tierchen leben aber in einzelnen Kolonien, und <lb/>ihr Geſteins-Gerüſt iſt verbunden, ſodaß viele Millionen <lb/>eigentlich einen Stein bilden, an deſſen Rinde die Einzel-<lb/>tierchen angewachſen ſind (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s7351" xml:space="preserve">20). </s>
  <s xml:id="echoid-s7352" xml:space="preserve">Bei der Vermehrung der <lb/>Tierchen wächſt der Stein baumartig in wunderlichen Zweigen, <lb/>und da der Stein zurückbleibt, wenn die älteren Geſchlechter <lb/>der Tierchen abſterben, ſo wächſt das neue Geſchlecht ſtets auf <lb/>dieſen Leichenſteinen der alten Geſchlechter und vermehrt die <lb/>Steinzweige derart, daß ſie vom Grunde des Meeres bis zur <lb/>Oberfläche aufſteigen, daß ſie ſich meilenweit ins Meer er-<lb/>ſtrecken und die gefürchteten Korallenfelſen bilden, an denen <lb/>Schiffe zerſchellen können.</s>
  <s xml:id="echoid-s7353" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="75" file="559" n="559"/>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption103" xml:space="preserve">Fig. 20. <lb/>Vier verſchiedenartige Korallen.</caption>
</figure>
<pb o="76" file="560" n="560"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7354" xml:space="preserve">Ganze Inſelgruppen ſind auf ſolchen Korallenfelſen ent-<lb/>ſtanden, deren Spitzen bis an die Oberfläche des Meeres empor-<lb/>geſtiegen ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s7355" xml:space="preserve">und ſie entſtehen, ſie bilden ſich noch immer <lb/>weiter, denn dieſe Felſen ſind in ihrem ganzen Umfang der <lb/>Sitz von Polypen, die mit ihrem Leibe an den Felſen an-<lb/>gewachſen ſind, und die nur den vorderen Teil, woſelbſt ſich <lb/>der Mund mit ſeinen Fangwerkzeugen befindet, hin und her <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-560-01a" xlink:href="fig-560-01"/>
bewegen können, um ihre Speiſe <lb/>im Meerwaſſer zu erhaſchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7356" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div263" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-560-01" xlink:href="fig-560-01a">
<caption xml:id="echoid-caption104" xml:space="preserve">Fig. 21. <lb/>Schema eines Atolls.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7357" xml:space="preserve">Beſonders auffallend und da-<lb/>her bekannt ſind die ringförmigen <lb/>Koralleninſeln, die Atolle (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s7358" xml:space="preserve">21). <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7359" xml:space="preserve"><emph style="sp">Charles Darwin</emph> ſprach nach <lb/>ſeiner berühmten Reiſe um die <lb/>Erde die Vermutung aus, daß <lb/>die Korallen ſich zunächſt an <lb/>ſeichten Stellen anſiedeln; </s>
  <s xml:id="echoid-s7360" xml:space="preserve">während <lb/>dann der Boden ſich <lb/>unter ihnen ſenkt, <lb/>werden die neuen Ge-<lb/>nerationen gezwun-<lb/>gen, um im warmen <lb/>und klaren Waſſer <lb/>zu bleiben, auf den <lb/>oberen Rändern des <lb/>Korallenriffes weiter zu bauen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7361" xml:space="preserve">Durch weitere Senkung ent-<lb/>ſtanden dann die verſchiedenen Arten von Koralleninſeln, die <lb/>wir als Saumriffe, Barrièreriffe und Atolle unterſcheiden.</s>
  <s xml:id="echoid-s7362" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7363" xml:space="preserve">Vergleicht man einen Baumzweig mit einem Korallen-<lb/>zweig, ſo findet man eine bedeutende Ähnlichkeit zwiſchen beiden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7364" xml:space="preserve">In einem dicken Baumzweig leben die älteſten, innerſten Zellen <lb/>auch nicht mehr, ſie ſind verholzt und bilden nur die Träger <lb/>lebender Zellen an der Oberfläche; </s>
  <s xml:id="echoid-s7365" xml:space="preserve">ganz ſo iſt es mit dem
<pb o="77" file="561" n="561"/>
Korallenzweig der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s7366" xml:space="preserve">Sie ſind an der Oberfläche mit <lb/>lebenden Tierchen beſetzt, während die geſtorbenen Tierchen aus <lb/>älterer Zeit nur ihr ſteinernes Gehäuſe zurückgelaſſen haben, <lb/>um die Träger der jungen Geſchlechter zu bilden.</s>
  <s xml:id="echoid-s7367" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7368" xml:space="preserve">Erwägt man hierzu, was wir bereits ausgeſprochen haben, <lb/>daß ſelbſt die ausgebildeten Tiere, die ſich ganz unverkennbar <lb/>von den Pflanzen unterſcheiden, doch aus den verſpeiſten <lb/>Pflanzen erſt gebildet werden, daß der Leib aller lebenden <lb/>Tiere nur aufgebaut iſt aus den Pflanzenſtoffen, die die Tiere <lb/>verzehren, ſo wird ein wenig Nachdenken jeden unſerer Leſer <lb/>einſehen laſſen, daß man die ganze Tierwelt als eine ent-<lb/>wickeltere Lebenserſcheinung des Pflanzenreiches anſehen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s7369" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7370" xml:space="preserve">Hält man an dieſem Gedanken feſt, ſo drängt ſich jedem <lb/>Denkenden die Frage auf, ob nicht vielleicht die ganze Tier-<lb/>welt erſt aus der Entwickelung einer Pflanzenwelt entſtanden <lb/>ſein mag?</s>
  <s xml:id="echoid-s7371" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7372" xml:space="preserve">So auffallend dieſe Frage im erſten Augenblick klingen <lb/>mag, ſo ſehr hat ſie doch die ſcharfſinnigſten Forſcher ernſtlich <lb/>beſchäftigt; </s>
  <s xml:id="echoid-s7373" xml:space="preserve">weshalb wir ſie auch hier nicht mit Stillſchweigen <lb/>übergehen wollen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7374" xml:space="preserve">Dieſe Frage erhielt durch manche Umſtände <lb/>eine weſentliche Stütze; </s>
  <s xml:id="echoid-s7375" xml:space="preserve">wir haben ja bereits in Teil I bei <lb/>Beſprechung der Abſtammungslehre auf den Gegenſtand hin-<lb/>gewieſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7376" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div265" type="section" level="1" n="186">
<head xml:id="echoid-head212" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXIX. Die Selbſtzeugung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7377" xml:space="preserve">Obwohl die gründliche Beobachtung und Unterſuchung, <lb/>z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7378" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7379" xml:space="preserve">der Infuſorien gezeigt hat, daß ſelbſt die kleinſten <lb/>tieriſchen Weſen nicht, wie man ehedem glaubte, aus zerfallenden <lb/>Pflanzenſtoffen entſtehen, ſondern aus Keimen hervorgehen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7380" xml:space="preserve">obwohl es bewieſen iſt, daß die Vermehrung der Infuſorien
<pb o="78" file="562" n="562"/>
nur eine Folge der Teilung oder Begattung derſelben iſt (vgl. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7381" xml:space="preserve">Teil IX, S. </s>
  <s xml:id="echoid-s7382" xml:space="preserve">3 u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7383" xml:space="preserve">4), haben dennoch lange einige Thatſachen <lb/>zu dem Glauben veranlaßt, daß es trotzdem Tiere gebe, welche <lb/>ohne elterliche Zeugung in Folge unbekannter Einwirkungen <lb/>von ſelber entſtehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7384" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7385" xml:space="preserve">Es giebt nämlich eigentümliche Würmer, die einzig und <lb/>allein in den Eingeweiden anderer Tiere oder in beſonderen <lb/>Körperteilen derſelben leben, Würmer, deren Entſtehung lange <lb/>unerklärt war. </s>
  <s xml:id="echoid-s7386" xml:space="preserve">Es iſt eine bekannte Thatſache, daß viele <lb/>Kinder an Würmern leiden, die ſich im Darm derſelben be-<lb/>finden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7387" xml:space="preserve">Man findet in Darm-Ausleerungen dieſer Kinder nicht <lb/>nur feine Würmchen, ſondern auch oft mehrere Zoll lange <lb/>Spulwürmer; </s>
  <s xml:id="echoid-s7388" xml:space="preserve">ja der Bandwurm, der eine bekannte Krankheit <lb/>einzelner Menſchen iſt, iſt ein viele Meter langes Tier, das <lb/>nirgend als im Darm des Menſchen und von Tieren vorkommt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7389" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7390" xml:space="preserve">Bedenkt man, daß der Weg zum Darm nur durch den <lb/>Mund und den Magen geht, daß in dem Magen namentlich <lb/>die Erweichung und Verdauung alles deſſen, was in denſelben <lb/>hineinkommt, ſtattfindet, ſo iſt es freilich rätſelhaft, wie ſolche <lb/>Tiere lebend in den Darm gelangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7391" xml:space="preserve">Erwägt man ferner, <lb/>daß z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7392" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7393" xml:space="preserve">der im Menſchen vorkommende Bandwurm nirgend <lb/>ſonſt lebend angetroffen wird, ſo iſt es natürlich, daß man auf <lb/>den Gedanken kam, er werde in dem Darm ſelber erzeugt, und <lb/>zwar ohne daß Eltern ſich urſprünglich in ihm befinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7394" xml:space="preserve">Man <lb/>hätte alſo hier eine elternloſe Zeugung, alſo die Entſtehung <lb/>eines Tieres und eines Lebens, das einer Neuſchöpfung gleich-<lb/>käme.</s>
  <s xml:id="echoid-s7395" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7396" xml:space="preserve">Wenn ſolche Eingeweide-Tiere noch die Erklärung zuließen, <lb/>daß ſie vielleicht trotzdem von außen her in den Darm gelangen, <lb/>ſo diente der Umſtand, daß auch Würmer in anderen Tieren <lb/>lebend gefunden werden, und zwar in Teilen, die nirgend eine <lb/>nach der Außenwelt führende Öffnung haben, bisher als Be-<lb/>weis, daß wirklich lebende Weſen von ſelber ohne Eltern und
<pb o="79" file="563" n="563"/>
Eier entſtehen könnten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7397" xml:space="preserve">Man findet nicht nur in der Leber <lb/>vieler Tiere ſolche Würmer, ſondern auch im Gehirn und im <lb/>Fleiſch. </s>
  <s xml:id="echoid-s7398" xml:space="preserve">Die Drehkrankheit der Schafe, eine Krankheit, die ſich <lb/>unter anderem dadurch äußert, daß die geplagten Schafe ſich <lb/>fortwährend nach einer Richtung hin herumdrehen, rührt be-<lb/>kanntlich von Würmern her, die man im Gehirn derſelben <lb/>findet. </s>
  <s xml:id="echoid-s7399" xml:space="preserve">Nun aber iſt ſowohl die Leber wie das Gehirn der <lb/>Tiere nirgend mit der Außenwelt in Verbindung; </s>
  <s xml:id="echoid-s7400" xml:space="preserve">weder durch <lb/>Mund, Naſe, Augen, Ohr und ſonſt eine Öffnung kann man <lb/>zur Gehirnmaſſe oder der Leber gelangen, wenn man nicht <lb/>durch Körper und Häute ein Loch bohrt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7401" xml:space="preserve">Dasſelbe iſt von <lb/>der <emph style="sp">Trichine</emph> zu ſagen, die mitten im Fleiſch ſitzend ſich vorfindet. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7402" xml:space="preserve">Da ſich nun trotz ſorgfältiger Unterſuchungen kein Loch fand, <lb/>ſo mußte man ſchließen, daß dieſe Würmer, die man ſonſt <lb/>nirgend lebend antrifft, hier geſchaffen, alſo ohne Eltern, als <lb/>neue Schöpfung entſtanden ſein müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7403" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7404" xml:space="preserve">Wäre dieſe Vorausſetzung gegründet, ſo wäre dies nicht <lb/>allein für die Geſchichte der Würmer von Bedeutung, ſondern <lb/>man würde berechtigt ſein, den Schluß zu ziehen, daß über-<lb/>haupt unter gewiſſen Umſtänden lebendige Tiere ohne Eltern <lb/>entſtehen können, und dies würde auf die Möglichkeit hinführen, <lb/>daß die erſten lebendigen Geſchöpfe in ähnlicher Weiſe ent-<lb/>ſtanden ſein könnten.</s>
  <s xml:id="echoid-s7405" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7406" xml:space="preserve">Allein die Unterſuchungen des Naturforſchers <emph style="sp">Siebold</emph> <lb/>(1804—85), die im höchſten Grade intereſſant ſind, haben den <lb/>Beweis geführt, daß auch die Eingeweidewürmer aus Eiern <lb/>entſtehen, die in der wunderbarſten Weiſe Wanderungen durch-<lb/>machen, bevor ſie an einen Ort gelangen, wo ſie ſich zu wirklichen <lb/>lebenden Würmern ausbilden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7407" xml:space="preserve">Siebold hat künſtlich in Hunden <lb/>Bandwürmer erzeugt, indem er ſie Schafshirn verzehren ließ, <lb/>das mit den Würmern behaftet war, welche die Drehkrankheit <lb/>erzeugen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7408" xml:space="preserve">Er führte aufs ſorgfältigſte den Beweis, daß dasſelbe <lb/>Tier, welches im Gehirn des Schafes oder in der Leber eines
<pb o="80" file="564" n="564"/>
Ochſen kaum wie ein Nadelknopf groß iſt und dort nur eine <lb/>von einer harten Schale umſchloſſene Finne bildet, im Darm <lb/>des Hundes ein vollſtändiger Bandwurm wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s7409" xml:space="preserve">Ja, er zeigte, <lb/>daß es die Beſtimmung dieſes Tieres iſt, auf ſolche oder ähn-<lb/>liche Weiſe durch den Magen des Hundes unverdaut und un-<lb/>verletzt zu wandern, bis es in den Darm gelangt, woſelbſt es <lb/>ſich in ſeiner wahren Geſtalt entwickeln kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s7410" xml:space="preserve">Wenn man den <lb/>Bandwurm des Hundes bisher nirgend ſonſt lebend fand und <lb/>deshalb glaubte, er müſſe erſt hier erzeugt, neu geſchaffen <lb/>werden, ſo war das nur deshalb der Fall, weil man dasſelbe <lb/>Tier nicht wiedererkannte, wenn man es unentwickelt an anderen <lb/>Stellen fand.</s>
  <s xml:id="echoid-s7411" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7412" xml:space="preserve">Verfolgen wir einmal den Lebenslauf eines dieſer Tiere <lb/>etwas genauer.</s>
  <s xml:id="echoid-s7413" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7414" xml:space="preserve">Die Bandwürmer, die ein fein verſchmälertes Ende be-<lb/>ſitzen, welches in den ſogenannten “Kopf” von Sandkorn- bis <lb/>Stecknadelknopfgröße ausgeht, und aus einer langen Kette gegen <lb/>das andere Ende größer werdender “Glieder” beſteht, leben <lb/>alſo ſtets im Darme höherer Tiere, in welchem die Würmer <lb/>ihre Nahrung durch Aufſaugung durch die äußere Körperhaut <lb/>aufnehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7415" xml:space="preserve">Der Kopf iſt mit Haftorganen (Saugnäpfen und <lb/>Haken) verſehen, womit er ſich in den Därmen des Tieres, das <lb/>der Wurm bewohnt, des “Wirttieres”, befeſtigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7416" xml:space="preserve">In den Glie-<lb/>dern werden ſehr kleine, zahlreiche Eier gebildet, die dadurch <lb/>nach außen gelangen, daß die älteſten Glieder am freien Ende <lb/>der Wurmkette ſich löſen und durch den After des Wirttieres <lb/>ins Freie gebracht werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7417" xml:space="preserve">Sie können ſo unter Umſtänden <lb/>z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7418" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7419" xml:space="preserve">mit der Nahrung in den Darmkanal anderer Tiere ge-<lb/>langen, und die aus den Bandwurmeiern ſchlüpfenden Jungen <lb/>durchbohren hier die Darmwandungen des nunmehrigen Wirt-<lb/>tieres, gelangen in die Blutbahnen desſelben und erreichen <lb/>durch Vermittelung derſelben die Stellen im Körper, wo die <lb/>betreffende Bandwurmart ihre weitere Entwickelung findet.</s>
  <s xml:id="echoid-s7420" xml:space="preserve">
<pb o="81" file="565" n="565"/>
Hier bilden ſie ſich zu Würmern aus, <emph style="sp">Blaſenwürmern</emph> oder <lb/><emph style="sp">Finnen</emph>, ſo genannt, weil ſie einer mit Flüſſigkeit gefüllten <lb/>Blaſe gleichen, auf deren Wand ein oder mehrere Bandwurm-<lb/>köpfe erſcheinen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7421" xml:space="preserve">Die Finnen, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7422" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7423" xml:space="preserve">im Gehirn der Schafe, <lb/>müſſen nun von den erſten Wirten, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7424" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7425" xml:space="preserve">den Hunden, gefreſſen <lb/>werden, um ſo viele Bandwürmer zu erzeugen, als die Finne <lb/>Köpfe beſaß.</s>
  <s xml:id="echoid-s7426" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7427" xml:space="preserve">Für unſer Thema iſt es im übrigen hinreichend zu wiſſen, <lb/>daß auch die Eingeweide-Würmer Tiere ſind, die nicht von <lb/>ſelber entſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7428" xml:space="preserve">Sie geben alſo über die Entſtehung des <lb/>tieriſchen Lebens keineswegs den Aufſchluß, den man früher <lb/>bei ihnen ſuchte.</s>
  <s xml:id="echoid-s7429" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div266" type="section" level="1" n="187">
<head xml:id="echoid-head213" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXX. Zur Geſchichte des Tierlebens auf der Erde.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7430" xml:space="preserve">Auf die Frage: </s>
  <s xml:id="echoid-s7431" xml:space="preserve">wie das tieriſche Leben auf der Erde <lb/>entſtanden iſt? </s>
  <s xml:id="echoid-s7432" xml:space="preserve">bleibt die Wiſſenſchaft die Antwort ſchuldig. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7433" xml:space="preserve">Ein lebendes Tier entſteht nach allen neueſten Zeugniſſen der <lb/>gewiſſenhafteſten Forſchung immer nur durch Zeugung von <lb/>vorhandenen Eltern, und deshalb iſt man in neueſter Zeit, wo <lb/>die Vorausſetzung einer unelterlichen Entſtehung ganz und <lb/>gar ſchwindet, im tiefſten Dunkel über die Entſtehung der <lb/>erſten Tiere.</s>
  <s xml:id="echoid-s7434" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7435" xml:space="preserve">Gleichwohl giebt es ja alſo andererſeits Unterſuchungen, <lb/>welche beweiſen, daß nicht alle jetzt lebenden Tiere urſprünglich <lb/>vorhanden waren, ſondern daß die verſchiedenen Gattungen zu <lb/>verſchiedenen Zeiten entſtanden ſein müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7436" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7437" xml:space="preserve">Daß das Menſchengeſchlecht zu den jüngſten, das heißt, <lb/>den am ſpäteſten entſtandenen Gattungen auf Erden gehört, <lb/>hat man ſchon in den älteſten Zeiten geahnt und iſt durch <lb/>Forſchungen der neueſten Zeit zur Gewißheit geworden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7438" xml:space="preserve">Man</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7439" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s7440" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s7441" xml:space="preserve">Volksbücher X.</s>
  <s xml:id="echoid-s7442" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="82" file="566" n="566"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7443" xml:space="preserve">hat aber aus gründlichen Unterſuchungen überhaupt die Uber-<lb/>zeugung gewonnen, daß eine geordnete Reihenfolge in der <lb/>Entſtehung der verſchiedenen Tiergeſchlechter auf Erden ſtatt-<lb/>gefunden haben müſſe.</s>
  <s xml:id="echoid-s7444" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7445" xml:space="preserve">Die Erdrinde nämlich, dieſes Grab alles Lebenden, birgt <lb/>in ihrer Tiefe die Spuren und die Überreſte mancher Weſen, <lb/>die einſt auf Erden gelebt haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7446" xml:space="preserve">Man findet Abdrücke, ver-<lb/>ſteinerte Schalen, Schuppen, Zähne und Knochen der ver-<lb/>ſchiedenſten Tiere in jetzt feſten Geſteinen, die aber ehedem <lb/>weicher Erd- und Meeresboden geweſen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s7447" xml:space="preserve">Endlich finden <lb/>ſich auch Inſekten, welche z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7448" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7449" xml:space="preserve">in Bernſtein eingeſchloſſen <lb/>wurden, als er noch flüſſig war.</s>
  <s xml:id="echoid-s7450" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7451" xml:space="preserve">Die Geſteine der Erdſchichten, in welchen man dieſe Über-<lb/>reſte von Tieren findet, ſind ſehr verſchiedenen Alters und ſehr <lb/>verſchiedener Natur. </s>
  <s xml:id="echoid-s7452" xml:space="preserve">Wäre die Erde eine allenthalben gleich-<lb/>mäßige Kugel, ſo würden wir ſelbſt durch Nachgrabungen nicht <lb/>tief genug eindringen können, um dieſe verſchiedenen Schichten <lb/>kennen zu lernen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7453" xml:space="preserve">Zum Glück für den Forſchergeiſt der Men-<lb/>ſchen ſind jedoch auf der Erde Gebirge, und zwar, wie wir an <lb/>anderer Stelle ſahen, durch die Schrumpfung der Erdkruſte <lb/>entſtanden, wodurch vielfach das, was tief verborgen war, ans <lb/>Tageslicht oder mindeſtens in erreichbare Tiefe gebracht wor-<lb/>den iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7454" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7455" xml:space="preserve">Eine genaue Unterſuchung der Gebirge hat nun gelehrt, <lb/>die älteren Steine von den jüngeren zu unterſcheiden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7456" xml:space="preserve">Sondert <lb/>man nun ſo die Geſteine nach ihrem Alter — und dieſes reicht <lb/>für jedes einzelne Geſtein oft bis auf viele Millionen Jahre <lb/>hinaus — ſo findet man mit ziemlicher Sicherheit heraus, <lb/>welcher Art die Pflanzen und Tiere waren, die auf den älteſten <lb/>Geſteinen lebten, welche zu den Bewohnern der jüngeren Ge-<lb/>ſteine gehören, und welche Gattung von Tieren auf den neueren <lb/>und jüngſten Geſteinsſchichten ihr Daſein hatte.</s>
  <s xml:id="echoid-s7457" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7458" xml:space="preserve">Man beſitzt alſo an dieſen Geſteinen eine Art Geſchichte
<pb o="83" file="567" n="567"/>
der Tierwelt und Pflanzenwelt; </s>
  <s xml:id="echoid-s7459" xml:space="preserve">und aus dieſer Geſchichte er-<lb/>giebt ſich, daß in den älteſten Zeiten Pflanzen und Tiere <lb/>niedrigerer Gattung lebten, daß erſt mit den ſpäteren Zeiten <lb/>Pflanzen und Tiere höherer Gattung ſich zeigen, und daß end-<lb/>lich erſt in den oberſten Geſteinen die Spuren von Tieren und <lb/>Pflanzen der Gattung ſich finden, die gegenwärtig leben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7460" xml:space="preserve">Reſte <lb/>menſchlicher Weſen finden ſich erſt in der Erdſchicht, welche <lb/>jetzt noch die Oberfläche der Erde bildet, zum Zeichen, daß die <lb/>Entſtehung des Menſchen am ſpäteſten vor ſich ging.</s>
  <s xml:id="echoid-s7461" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7462" xml:space="preserve">Freilich herrſchen im Einzelnen noch Zweifel und Dunkel-<lb/>heiten über dieſe Geſchichte der Entwickelung des tieriſchen <lb/>Lebens; </s>
  <s xml:id="echoid-s7463" xml:space="preserve">allein im allgemeinen ſteht es ganz unzweifelhaft feſt, <lb/>daß die Entſtehung der Tiergattungen ſtets aufſteigt vom Nie-<lb/>drigen zum Höheren, das heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s7464" xml:space="preserve">daß Tiere niederer Gattung <lb/>zuerſt exiſtierten, bevor die höhere Gattung ins Leben gerufen <lb/>wurde.</s>
  <s xml:id="echoid-s7465" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7466" xml:space="preserve">Nun aber ſind Tiere niederer Gattung ſolche, die pflanzen-<lb/>artig leben, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7467" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7468" xml:space="preserve">die Polypen, deren wir ſchon gedacht <lb/>haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7469" xml:space="preserve">Es ſind dies Tiere, die fortleben, wenn man ſie zer-<lb/>ſchneidet, wie das bei Pflanzen unter Umſtänden der Fall iſt, <lb/>von denen jeder Zweig einen Ableger bilden kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s7470" xml:space="preserve">Erſt ſpäter <lb/>treten höhere Tiere auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s7471" xml:space="preserve">Aus etwas ſpäterer Zeit erſt ſtammen <lb/>Tiere mit Knochengerüſten im Innern, die Wirbeltiere, Fiſche, <lb/>Fröſche, Schildkröten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7472" xml:space="preserve">Dann erſt entſtand das Vogelgeſchlecht; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7473" xml:space="preserve">wiederum ſpäter erſt das Säugetier, das lebende Junge gebärt, <lb/>und endlich in der ſpäteſten Zeit der Menſch.</s>
  <s xml:id="echoid-s7474" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7475" xml:space="preserve">Die Betrachtung dieſer Entwickelungsgeſchichte gewährt <lb/>höchſt wundervolle und intereſſante Ergebniſſe der Forſchung, <lb/>und berührt ſehr innig die Frage über die Entwickelung der <lb/>lebenden Tiere. </s>
  <s xml:id="echoid-s7476" xml:space="preserve">Für unſer ſpezielles Thema jedoch würde ein <lb/>näheres Eingehen zu weit führen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7477" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7478" xml:space="preserve">Jedenfalls alſo iſt es klar, daß die Entſtehung der Tier-<lb/>welt eine Geſchichte hat, die vom Niedern zum Höhern auf-
<pb o="84" file="568" n="568"/>
ſteigt, die unzweifelhaft beweiſt, daß niedere Gattungen mehr-<lb/>fach untergegangen ſind, um höheren Weſen Platz zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7479" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7480" xml:space="preserve">Wir wiſſen zwar mit voller Sicherheit, daß eine Geſchichte <lb/>des Lebens und der Entwickelung der Tierwelt vorhanden iſt; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7481" xml:space="preserve">aber wir kennen die Kräfte und auch die Urſachen nicht, oder <lb/>doch nicht genügend, durch welche ſie bewirkt worden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7482" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7483" xml:space="preserve">Nach dieſen flüchtigen Vorbetrachtungen ſehr wichtiger <lb/>Fragen wollen wir nun zum Charakteriſtiſchen des Tierlebens <lb/>kommen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7484" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div267" type="section" level="1" n="188">
<head xml:id="echoid-head214" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXI. Empfindungen und Bewegungen der Tiere.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7485" xml:space="preserve">Die. </s>
  <s xml:id="echoid-s7486" xml:space="preserve">Grenzen zwiſchen der Tier- und Pflanzenwelt ſind, <lb/>wie wir bereits gezeigt haben, nicht ſo entſchieden ausgeſprochen, <lb/>als man im gewöhnlichen Leben annimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7487" xml:space="preserve">Es giebt, wie wir <lb/>geſehen haben, Tiere, die den Namen Pflanzentiere führen und <lb/>auch nach ihren äußeren Verhältniſſen verdienen; </s>
  <s xml:id="echoid-s7488" xml:space="preserve">ja es giebt <lb/>Weſen, von denen man nicht einmal weiß, ob ſie Tiere oder <lb/>Pflanzen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s7489" xml:space="preserve">— Gleichwohl jedoch iſt das Leben der Pflanzen-<lb/>welt und das Leben der Tierwelt, wenn wir von ſolchen Zwiſchen-<lb/>formen abſehen, deutlich unterſchieden.</s>
  <s xml:id="echoid-s7490" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7491" xml:space="preserve">Das Leben der Pflanze beſteht in der Ernährung und in <lb/>der Vermehrung. </s>
  <s xml:id="echoid-s7492" xml:space="preserve">Ein Baum kann nur wachſen und ſich fort-<lb/>pflanzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7493" xml:space="preserve">Das Leben des Tieres beſteht in zwei höheren <lb/>Eigenſchaften, die zu dieſen Eigenſchaften der Pflanzen noch <lb/>hinzukommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7494" xml:space="preserve">Das Leben des Tieres beſteht nicht nur in der <lb/>Ernährung und der Vermehrung, ſondern es kommt noch hierzu <lb/>Empfindung und Bewegung, freilich iſt dabei zu berückſichtigen, <lb/>daß die beiden letztgenannten Eigenſchaften im Dienſte der Er-<lb/>nährung und Fortpflanzung ſtehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7495" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7496" xml:space="preserve">Empfindung und Bewegung ſind die hauptſächlichſten und
<pb o="85" file="569" n="569"/>
allgemeinſten Unterſchiede des lebenden Tieres von der Pflanze; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7497" xml:space="preserve">aus dieſen zwei Eigenſchaften aber entwickeln ſich noch höhere <lb/>Begabungen, die ſich in ſolchem Maße ſteigern, daß ſie beim <lb/>Menſchen, dem vorzüglichſten Tiere auf Erden, alles über-<lb/>ragen, was man ſonſt als Vorzüge lebender Weſen kennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7498" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7499" xml:space="preserve">Empfindung und Bewegung finden ſich zwar in unter-<lb/>geordnetem Grade auch bei den Pflanzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7500" xml:space="preserve">Die Pflanzen ſind <lb/>für das Licht empfindlich; </s>
  <s xml:id="echoid-s7501" xml:space="preserve">es übt einen Reiz auf ſie aus, <lb/>welcher die Blätter und Zweige dahin richtet, wo das Licht <lb/>herkommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7502" xml:space="preserve">Die Pflanzen bewegen ſich auch aus inneren Kräften <lb/>getrieben, wie dies z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7503" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7504" xml:space="preserve">bei den Blüten ſtattfindet, wo ſich <lb/>die Staubfäden zur Zeit der Befruchtung oft in höchſt wunder-<lb/>barer Weiſe bewegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7505" xml:space="preserve">Allein dieſe Empfindlichkeit iſt inſofern <lb/>nicht die tieriſche Empfindung, als nur die letztere mit ſeeliſchen <lb/>Werten verknüpft iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7506" xml:space="preserve">Mit anderen Worten: </s>
  <s xml:id="echoid-s7507" xml:space="preserve">Die Empfindung <lb/>des Tieres iſt anderer Art als die Reizbarkeit einer Pflanze, <lb/>denn ſie iſt beim Tier mit einem Bewußtſein verbunden; </s>
  <s xml:id="echoid-s7508" xml:space="preserve">die <lb/>Bewegung des Tieres iſt anderer Art als die der Pflanze, <lb/>denn ſie iſt vom Willen des Tieres abhängig, die Bewegung <lb/>iſt beim Tier eine “willkürliche”.</s>
  <s xml:id="echoid-s7509" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7510" xml:space="preserve">Wer über das, was wir hier geſagt haben, ein wenig <lb/>nachdenkt, der wird von ſelbſt auf den Gedanken geführt, daß <lb/>Empfindung und Bewegung eigentlich nur die Kennzeichen <lb/>anderer Vorzüge ſind, die das Tier beſitzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7511" xml:space="preserve">Wenn die Haupt-<lb/>ſache bei der Empfindung das Bewußtwerden derſelben iſt, ſo <lb/>hätten wir eigentlich ſagen ſollen, daß die Tiere mit Bewußt-<lb/>ſein begabt ſind und die Pflanzen nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7512" xml:space="preserve">Wenn der Wille die <lb/>Hauptſache an der tieriſchen Bewegung iſt, ſo hätten wir gewiß <lb/>richtiger gethan, wenn wir geſagt hätten, daß der Vorzug des <lb/>Tieres vor den Pflanzen im Beſitz eines Willens liege. </s>
  <s xml:id="echoid-s7513" xml:space="preserve">Allein <lb/>Wille und Bewußtſein ſind Dinge, die jedermann zwar aus <lb/>Erfahrung kennt, die aber, offen geſtanden, der Erkenntnis der <lb/>Naturwiſſenſchaft noch völlig verſchloſſen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s7514" xml:space="preserve">Es ſind Dinge,
<pb o="86" file="570" n="570"/>
über die wir uns gern den Kopf zerbrechen würden, wenn <lb/>nicht die Philoſophie ſie in Beſchlag genommen hätte, die <lb/>Philoſophie, die bekanntlich immer dort anfängt, wo das <lb/>menſchliche Wiſſen aufhört. </s>
  <s xml:id="echoid-s7515" xml:space="preserve">Da es aber eine Thatſache iſt, <lb/>die man nicht laut genug verkünden kann, daß die Natur-<lb/>wiſſenſchaft nur an der Hand der Unterſuchung und Erfahrung <lb/>ihren hohen Wert erhalten hat, während auf dem Wege der <lb/>Philoſophie nicht viel gewonnen worden iſt, ſo werden es <lb/>unſere Leſer verzeihen, wenn wir etwas unphiloſophiſch zu <lb/>Werke gehen, und — ſo weit es ſich nur thun läßt, — lieber <lb/>von der Empfindung als vom bloßen Bewußtſein, lieber von <lb/>der Bewegung als vom freien Willen ſprechen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7516" xml:space="preserve">Zum Troſt <lb/>für diejenigen, die dem verzeihlichen Drang nicht widerſtehen <lb/>können, ſich in dieſe ſehr rätſelhaften Gebiete zu begeben, <lb/>wollen wir hier nur ſagen, daß wir beim Leben des Menſchen <lb/>oder der ſogenannten Seelenthätigkeit desſelben noch zeitig <lb/>genug Ausflüge in dieſes Gebiet werden machen müſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7517" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7518" xml:space="preserve">Wenn wir von der Empfindung ſprechen, welche Tiere <lb/>beſitzen, ſo meinen wir, wie geſagt, die bewußte Empfindung; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7519" xml:space="preserve">wenn wir von den Bewegungen der Tiere ſprechen, ſo ver-<lb/>ſtehen wir darunter die willkürlichen Bewegungen, Eigentüm-<lb/>lichkeiten, die die Pflanzen nicht beſitzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7520" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7521" xml:space="preserve">Eine Pflanze lebt, aber ſie lebt, ohne daß ſie es weiß, <lb/>und ohne daß ſie zu leben verlangt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7522" xml:space="preserve">Sie wächſt, ſie gedeiht, <lb/>ſie verkümmert und ſtirbt ab, ohne etwas davon zu empfinden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7523" xml:space="preserve">Sie hat weder Luſt noch Schmerz, ſie empfindet weder Hunger <lb/>noch Durſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7524" xml:space="preserve">Ein Tier, ſelbſt das niedrigſte, ja ſogar das <lb/>Kind im Mutterleibe empfindet Schmerz. </s>
  <s xml:id="echoid-s7525" xml:space="preserve">Ein Tier ſucht das <lb/>Leben, flieht den Tod, und hat hierbei eine Beziehung zur <lb/>Welt außer ihm, die förderlich oder zerſtörend auf dasſelbe <lb/>einwirkt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7526" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7527" xml:space="preserve">Eine Pflanze lebt; </s>
  <s xml:id="echoid-s7528" xml:space="preserve">aber ſie bewegt ſich nicht aus eigenem <lb/>Willen, nach eigenem Wohlgefallen; </s>
  <s xml:id="echoid-s7529" xml:space="preserve">das Tier, namentlich das
<pb o="87" file="571" n="571"/>
Tier höherer Gattung beſitzt das Vermögen, ſich nach ſeinent <lb/>Willen, nach ſeiner Luſt und Neigung von Ort zu Ort zu be-<lb/>wegen und iſt mit Organen ausgeſtattet, die dieſe Bewegung <lb/>ihm in gewiſſen Grenzen geſtattet und möglich macht.</s>
  <s xml:id="echoid-s7530" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7531" xml:space="preserve">Die Grundquelle dieſer Eigentümlichkeiten kennt man nicht. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7532" xml:space="preserve">Wenn man ſich nicht in philoſophiſche Redensarten einlaſſen <lb/>will, ſo muß man ſagen, man weiß nicht, woher Empfindungen <lb/>ſtammen; </s>
  <s xml:id="echoid-s7533" xml:space="preserve">auch iſt es eine Thatſache, daß die Naturforſcher <lb/>ſehr genau die Bewegungen eines Planeten um die Sonne <lb/>berechnen können, aber nicht imſtande ſind, die Bewegungen <lb/>einer Fliege über den Tiſch vorauszuſagen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7534" xml:space="preserve">— Man hat es <lb/>jedoch durch gründliche Unterſuchungen — und ganz und gar <lb/>ohne Philoſophie — herausgebracht, wo der Hauptſitz dieſer <lb/>Eigentümlichkeiten im Tiere iſt, und von dieſen Unterſuchungen <lb/>und ſehr lehrreichen Entdeckungen wollen wir nun ein Näheres <lb/>unſeren Leſern vorführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7535" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div268" type="section" level="1" n="189">
<head xml:id="echoid-head215" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXII. Der Wohuſitz der Empfindung im Tiere.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7536" xml:space="preserve">Der Hauptſitz der Empfindungen wie der Bewegungen der <lb/>Tiere iſt in den Nerven und vornehmlich in dem Orte, wo <lb/>alle durch den ganzen Körper verteilte Nerven ſich zur Bildung <lb/>eines einzigen Organs vereinigen, in dem Gehirn.</s>
  <s xml:id="echoid-s7537" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7538" xml:space="preserve">Will man daher den Unterſchied zwiſchen dem Tierleben <lb/>und Pflanzenleben in der verſchiedenen leiblichen Beſchaffen-<lb/>heit derſelben ſuchen, ſo kann man mit Recht ſagen: </s>
  <s xml:id="echoid-s7539" xml:space="preserve">die <lb/>Pflanzen ſind Weſen ohne Nerven, ohne Gehirn; </s>
  <s xml:id="echoid-s7540" xml:space="preserve">die meiſten <lb/>Tiere dagegen ſind mit Nerven und mindeſtens die Tiere <lb/>höherer Gattung mit einem Gehirn begabt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7541" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7542" xml:space="preserve">Es klingt für den Uneingeweihten gewiß ſehr ſonderbar,
<pb o="88" file="572" n="572"/>
daß das Gehirn es ſein ſoll, welches Schmerz, Luſt, Hunger, <lb/>Durſt u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7543" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s7544" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s7545" xml:space="preserve">empfindet, ja es hat ſogar vor nicht langer <lb/>Zeit noch Naturforſcher gegeben, welche dieſe Behauptung in <lb/>Abrede geſtellt und die Vorſtellung ins Lächerliche gezogen <lb/>haben, daß man ſeine Leibſchmerzen im Kopfe haben ſolle. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7546" xml:space="preserve">Und doch iſt es ſo; </s>
  <s xml:id="echoid-s7547" xml:space="preserve">Verſuche der neueren Zeit haben dies voll-<lb/>ſtändig zur Gewißheit erhoben.</s>
  <s xml:id="echoid-s7548" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7549" xml:space="preserve">Nur das Gehirn empfindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s7550" xml:space="preserve">Bei Tieren, die ein weniger <lb/>ausgebildetes Gehirn als die Säugetiere haben, vertritt unter <lb/>Umſtänden das Rückenmark in dieſer Beziehung die Stelle des <lb/>Gehirns; </s>
  <s xml:id="echoid-s7551" xml:space="preserve">aber es ſteht immer ſo viel feſt, daß die Empfindung <lb/>nur in dieſen Centralteilen der Nerven ihren Sitz hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s7552" xml:space="preserve">obgleich <lb/>jeder, der einen ſchlimmen Finger hat, darauf ſchwören möchte, <lb/>daß er den Schmerz im Finger habe.</s>
  <s xml:id="echoid-s7553" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7554" xml:space="preserve">Die Verſuche, die das gelehrt haben, ſind ſo überzeugend <lb/>wie nur irgend möglich.</s>
  <s xml:id="echoid-s7555" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7556" xml:space="preserve">In allen bedeutenden Krankenanſtalten werden alltäglich <lb/>Menſchen, an denen man ſchmerzhafte Operationen vollziehen <lb/>will, durch Dämpfe von Chloroform bewegungs- und em-<lb/>pfindungslos gemacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7557" xml:space="preserve">Das Chloroform iſt eine chemiſche <lb/>Flüſſigkeit, die man auf ein Tuch gießt und dem Patienten <lb/>vor Mund und Naſe bringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7558" xml:space="preserve">Dieſe Flüſſigkeit verdampft, und <lb/>der Patient atmet dieſen Dampf oder richtiger dieſes Gas ein. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7559" xml:space="preserve">Es gelangt ſomit das Gas in die Lunge; </s>
  <s xml:id="echoid-s7560" xml:space="preserve">aber es geniert dieſe <lb/>nicht, und die Atmung geht ungeſtört fort. </s>
  <s xml:id="echoid-s7561" xml:space="preserve">In den Lungen <lb/>tritt dieſes Gas ins Blut über; </s>
  <s xml:id="echoid-s7562" xml:space="preserve">aber auch das Blut wird <lb/>davon nicht ſichtbar angegriffen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7563" xml:space="preserve">Es wandert ſeinen vorge-<lb/>ſchriebenen Weg zurück zum Herzen und bringt das Gas mit, <lb/>ohne den Pulsſchlag des Herzens zu vernichten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7564" xml:space="preserve">Vom Herzen <lb/>wandelt das Blut vermittelſt der Schlagadern durch den ganzen <lb/>Körper, und mit dem Blute macht auch das Chloroform-Gas <lb/>dieſen Rundlauf; </s>
  <s xml:id="echoid-s7565" xml:space="preserve">aber kein Teil des Körpers wird direkt durch <lb/>das Gas irgendwie beläſtigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7566" xml:space="preserve">Allein mit dem Blute wandert
<pb o="89" file="573" n="573"/>
das Gas auch nach dem Gehirn, und hier bringt es eine <lb/>Wirkung hervor, deren Grund man ſich nicht wiſſenſchaftlich <lb/>klar machen kann, die aber zur Folge hat, daß der Menſch das <lb/>Vermögen verliert, zu empfinden und ſich zu bewegen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7567" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7568" xml:space="preserve">Iſt der Patient ſo weit, ſo kann man ihm mit der größten <lb/>Gemütlichkeit Arme oder Beine abſchneiden, Knochen zerſägen, <lb/>in ſeinem Fleiſche mit Meſſern herumwühlen; </s>
  <s xml:id="echoid-s7569" xml:space="preserve">er fühlt davon <lb/>nichts; </s>
  <s xml:id="echoid-s7570" xml:space="preserve">er iſt wie eine Pflanze, er lebt während dieſer Zeit <lb/>wie eine Pflanze; </s>
  <s xml:id="echoid-s7571" xml:space="preserve">er hat ebenſowenig Schmerz von all dem, <lb/>ſo wenig wie eine Pflanze irgend welchen hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s7572" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7573" xml:space="preserve">Treibt man es mit dem Chloroform nicht zu weit, was <lb/>lebensgefährlich werden kann, und läßt man den Patienten <lb/>nun ein anderes Gas riechen, das Ammoniak-Gas, ſo erwacht <lb/>er wie aus ſchwerem Schlaf, und wundert ſich über die Über-<lb/>raſchungen, die man ihm bereitet hat, und behielte er nicht <lb/>Wunden zurück, die freilich während der Heilung Schmerz, ja <lb/>auch Wundfieber verurſachen, ſo könnte man wirklich einem <lb/>Operierten zumuten, er möge ſeine Glieder aufnehmen und <lb/>damit heimwandern. </s>
  <s xml:id="echoid-s7574" xml:space="preserve">Wäre man nur imſtande, in ſo kurzer <lb/>Zeit, wie man einen Patienten ohne Nachteil chloroformieren <lb/>kann, auch zugleich die gemachten Wunden zu heilen, — wozu <lb/>freilich keine Ausſicht iſt — ſo gäbe es weder Schmerz noch <lb/>Gefahr nach vorſichtig unternommenen Operationen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7575" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7576" xml:space="preserve">Freilich hört man Viele die Behauptung aufſtellen, daß <lb/>der Patient wohl Schmerz habe; </s>
  <s xml:id="echoid-s7577" xml:space="preserve">aber er fühle ihn nur nicht; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7578" xml:space="preserve">das Schneiden in ſein Fleiſch und Gebein thue ihm wehe; </s>
  <s xml:id="echoid-s7579" xml:space="preserve"><lb/>aber er ſchlafe einen feſten Schlaf, und wiſſe es nur nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7580" xml:space="preserve"><lb/>Dies jedoch iſt nichts als Wortklauberei: </s>
  <s xml:id="echoid-s7581" xml:space="preserve">in Wahrheit iſt der <lb/>Schmerz nicht vorhanden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7582" xml:space="preserve">Es wird niemandem einfallen zu <lb/>behaupten, daß man einem feſt Schlafenden ein Vergnügen <lb/>macht, wenn man ihm ein ſchönes Buch vorlieſt, oder ein <lb/>hübſches Bild vor die Naſe hält. </s>
  <s xml:id="echoid-s7583" xml:space="preserve">Das Vergnügen iſt nicht <lb/>vorhanden, weil die Fähigkeit es zu empfinden, dem Schla-
<pb o="90" file="574" n="574"/>
fenden fehlt; </s>
  <s xml:id="echoid-s7584" xml:space="preserve">ganz ebenſo iſt der Schmerz nicht vorhanden, <lb/>wenn das Gehirn in einen Zuſtand verſetzt wird, in welchem <lb/>es die Fähigkeit zu empfinden zeitweiſe verliert.</s>
  <s xml:id="echoid-s7585" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7586" xml:space="preserve">Man hat aber noch ſchlagendere Beweiſe, daß die Em-<lb/>pfindungen ihren Sitz nur im Gehirn haben, daß der Zuſtand <lb/>eines ſchlimmen Fingers nur die Urſache iſt, daß man Schmerz <lb/>im Gehirn empfindet, und daß es nur durch einen beſondern <lb/>Umſtand, den wir noch näher kennen lernen werden, hervor-<lb/>gebracht wird, daß der Menſch ſeinen Schmerz in dem Finger <lb/>glaubt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7587" xml:space="preserve">Von dieſen höchſt auffallenden Beweiſen, die man <lb/>ſehr leicht zu führen imſtande iſt, wollen wir im nächſten Ab-<lb/>ſchuitt ſprechen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7588" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div269" type="section" level="1" n="190">
<head xml:id="echoid-head216" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXIII. Wo man die Schmerzen hat.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7589" xml:space="preserve">Es kommt ſehr oft vor, daß Bleſſierte oder Operierte, die <lb/>einen Fuß nebſt Knie und halbem Oberſchenkel verloren haben, <lb/>über heftige Schmerzen klagen, die ſie in den Zehen, in der <lb/>Sohle, oder ſonſt einem Teil ihres gar nicht mehr exiſtierenden <lb/>Beines empfinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7590" xml:space="preserve">— In früheren Zeiten hatte man davon <lb/>abergläubiſche Vorſtellungen und redete ſich die ſonderbarſten <lb/>Dinge ein von den Gliedern, die auch nach der Trennung vom <lb/>Leibe in gewiſſer geiſterhafter Beziehung zum Leibe ſtänden; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7591" xml:space="preserve">wer ſolchen Aberglauben nicht teilte, der meinte, daß die <lb/>Klagenden nur an Einbildungen litten, oder ihre Umgebung <lb/>belögen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7592" xml:space="preserve">Jetzt weiß man es anders und richtiger.</s>
  <s xml:id="echoid-s7593" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7594" xml:space="preserve">Die Verletzung irgend einer Stelle des Körpers, ein <lb/>Schnitt im Finger zum Beiſpiel, iſt die Urſache eines Schmerzes, <lb/>und zwar deshalb, weil mit der Verletzung auch Nerven ver-<lb/>letzt worden ſind, die ſich in allen Teilen des Körpers in <lb/>äußerſt feinen Fädchen verteilt befinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7595" xml:space="preserve">Dieſe Nerven laufen
<pb o="91" file="575" n="575"/>
alle nach dem Gehirn, und führen demſelben jede Art von <lb/>Reiz, der auf die Nerven ausgeübt wird, zu. </s>
  <s xml:id="echoid-s7596" xml:space="preserve">Hier im Gehirn <lb/>entſteht erſt die Empfindung deſſen, was Schmerzhaftes auf <lb/>irgend ein Glied ausgeübt worden iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s7597" xml:space="preserve">der Schmerz hat alſo <lb/>ſeinen Sitz wirklich im Gehirn, und nur die Gewohnheit, die <lb/>fortwährende Erfahrung, daß das betreffende Glied die Urſache <lb/>des Schmerzes iſt, verurſacht in uns die unüberwindliche Vor-<lb/>ſtellung, daß auch der Schmerz dort in dem Gliede ſeinen Sitz <lb/>habe.</s>
  <s xml:id="echoid-s7598" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7599" xml:space="preserve">Es geht uns hiermit wie mit dem Sehen und Hören. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7600" xml:space="preserve">Wer den Bau des Auges kennt, der weiß, daß dasſelbe ſo <lb/>eingerichtet iſt, daß auf der Hinterwand des Auges ein kleines <lb/>Bildchen aller Gegenſtände, die ihre Lichtſtrahlen ins Auge <lb/>ſenden, entſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7601" xml:space="preserve">Dieſe Hinterwand iſt eine Art Tapete aus <lb/>lauter feinen Nervenfäſerchen, welche vereinigt in einem Nerven-<lb/>zweig bis zum Gehirn gehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7602" xml:space="preserve">Durch dieſen Nerv gelangt der <lb/>Eindruck jenes kleinen Bildchens, das im Auge exiſtiert, zum <lb/>Gehirn. </s>
  <s xml:id="echoid-s7603" xml:space="preserve">Man ſieht alſo eigentlich nicht die Gegenſtände <lb/>draußen, ſondern nur das Bildchen der Gegenſtände, das auf <lb/>der Hinterwand des Auges eriſtiert. </s>
  <s xml:id="echoid-s7604" xml:space="preserve">Gleichwohl iſt die Ge-<lb/>wohnheit, die unausgeſetzte Erfahrung, daß die Gegenſtände <lb/>draußen die Urſache von dem ſind, was wir im Gehirn wahr-<lb/>nehmen, hinreichend, um uns zu belehren, daß das, was wir <lb/>ſehen, nicht im Auge vorgeht, ſondern in der Welt um uns.</s>
  <s xml:id="echoid-s7605" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7606" xml:space="preserve">Ähnlich iſt es mit allem, was wir hören. </s>
  <s xml:id="echoid-s7607" xml:space="preserve">Eine Muſik <lb/>zum Beiſpiel wird nur deshalb vernommen, weil jeder Ton <lb/>das Trommelfell unſeres Ohrs nebſt den anderen Gehör-<lb/>werkzeugen erſchüttert. </s>
  <s xml:id="echoid-s7608" xml:space="preserve">Wir hören alſo eigentlich nur die ver-<lb/>ſchiedenartigen Erſchütterungen, die im Innern des Ohrs vor-<lb/>gehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s7609" xml:space="preserve">gleichwohl wiſſen wir durch Gewohnheit und Erfahrung, <lb/>daß die Muſikanten nicht in unſerem Ohr ſtecken, ſondern <lb/>außerhalb desſelben exiſtieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s7610" xml:space="preserve">Wir verſetzen das, was wir <lb/>eigentlich im Innern des Ohres hören, im Innern des Auges
<pb o="92" file="576" n="576"/>
ſehen, an den Ort, von welchem die Urſache des Gehörten und <lb/>Geſehenen herrührt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7611" xml:space="preserve">Ganz in derſelben Weiſe verſetzen wir <lb/>auch den Schmerz eines ſchlimmen Fingers, der eigentlich nur <lb/>im Gehirn empfunden wird, an die Stelle der Urſache, das <lb/>heißt an die Stelle, wo die Nerven des Fingers verletzt ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s7612" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7613" xml:space="preserve">Hat man nun auch einem Menſchen den ganzen Fuß ab-<lb/>geſchnitten, ſo exiſtiert in ſeinem Körper immer ein Stück des <lb/>Nerven, der früher vom Gehirn hinunterlief bis zur Zehe des <lb/>einſtmaligen Fußes. </s>
  <s xml:id="echoid-s7614" xml:space="preserve">Verurſacht nun irgend etwas einen Reiz <lb/>auf dieſen Nervenfaden, ſo kann er ebenſo Schmerz im Gehirn <lb/>verurſachen, wie in früherer Zeit, wo der Faden bis zur Zehe <lb/>lief; </s>
  <s xml:id="echoid-s7615" xml:space="preserve">der Bleſſierte und Operierte wird alſo ganz ebendenſelben <lb/>Schmerz haben, als ob er noch ſeinen ganzen Fuß beſäße, <lb/>und ganz in Wahrheit über Schmerz in ſeiner längſt nicht <lb/>mehr exiſtierenden Fußzehe klagen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7616" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7617" xml:space="preserve">Der intereſſanteſte Verſuch über den Sitz der Empfindungen <lb/>iſt jedoch folgender, der von den Operateuren ſo oft angeſtellt <lb/>wird, als ſich nur die Gelegenheit dazu darbietet. </s>
  <s xml:id="echoid-s7618" xml:space="preserve">Das Reſultat <lb/>iſt bisher immer dasſelbe geweſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7619" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7620" xml:space="preserve">Es kommt nämlich oft vor, daß man Menſchen eine künſt-<lb/>liche Naſe macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7621" xml:space="preserve">Zu dieſem Zweck ſchält man von der Stirn <lb/>über der Naſe einen hinreichenden Lappen der Haut ab, und <lb/>läßt dieſen Lappen nur an der Stelle, wo die Augenbrauen <lb/>zuſammenlaufen, hängen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7622" xml:space="preserve">Hier dreht man den Lappen um, <lb/>ſodaß die blutige Seite desſelben auf die Stelle der Naſe <lb/>kommt, und näht ihn ſo geſchickt vorläufig an, daß er eine <lb/>Naſe vorſtellt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7623" xml:space="preserve">Später wächſt wirklich dieſe Haut ſo an, daß <lb/>ſie die Naſe bildet, während die Wunde an der Stirn ausheilt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7624" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7625" xml:space="preserve">Hat man den Patienten während derOperation mit Chloro-<lb/>form behandelt, ſo weiß er, wenn er erwacht, nichts davon, <lb/>was mit ihm vorgegangen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7626" xml:space="preserve">Man läßt ihn nun die Augen <lb/>ſchließen und ſtellt mit ihm folgenden Verſuch an.</s>
  <s xml:id="echoid-s7627" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7628" xml:space="preserve">Man berührt mit einer Nadel ſeine neue Naſenſpitze und
<pb o="93" file="577" n="577"/>
fragt ihn, wo er Schmerz emfinde. </s>
  <s xml:id="echoid-s7629" xml:space="preserve">Die Antwort lautet: </s>
  <s xml:id="echoid-s7630" xml:space="preserve">“oben <lb/>auf der Stirn am Haar!” Man geht nun mit der Nadel <lb/>immer weiter hinauf an ſeiner neuen Naſe, und der Patient <lb/>giebt auf Befragen die Antwort, daß er die Nadel immer <lb/>tiefer abwärts an der Stirn fühle. </s>
  <s xml:id="echoid-s7631" xml:space="preserve">Man kann dies nun ſo <lb/>oft man will wiederholen, immer fühlt der Patient jeden Reiz, <lb/>der an ſeiner Naſe verſucht wird, an der Stirn, und zwar <lb/>deshalb, weil er von jeher gewohnt iſt, jeden Reiz dieſer <lb/>Nerven, die man mit der Nadel berührt, an der Stirn zu <lb/>empfinden und die Urſache des Schmerzes dorthin zu ver-<lb/>ſetzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7632" xml:space="preserve">— Erſt dann, wenn die neue Naſe wirklich vollſtändig <lb/>verwächſt mit ihrer neuen Umgebung, und man auch die Stelle <lb/>zwiſchen den Augenbrauen durchſchneidet, welche die Haut <lb/>noch mit der Stirn in Verbindung erhielt, hört für ihn die <lb/>Empfindung auf, als ob er ſeine Naſe umgekehrt auf der <lb/>Stirn trage. </s>
  <s xml:id="echoid-s7633" xml:space="preserve">—</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div270" type="section" level="1" n="191">
<head xml:id="echoid-head217" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXIV. Weitere Verſuche über die Empfindungen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7634" xml:space="preserve">Wir wollen hier noch einen Verſuch anführen, den jeder <lb/>ſelber anzuſtellen vermag, und der hinreicht zu beweiſen, wie <lb/>das, was wir empfinden, oder richtiger: </s>
  <s xml:id="echoid-s7635" xml:space="preserve">fühlen, vom Urteil <lb/>des Gehirns abhängt, woſelbſt der wahre Sitz der bewußten <lb/>Empfindung iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7636" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7637" xml:space="preserve">Man verſuche es, den Mittelfinger, alſo den größten <lb/>Finger der Hand, ſo über den Zeigefinger derſelben Hand zu <lb/>legen, daß die Fingerſpitzen ſich kreuzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7638" xml:space="preserve">In dieſer Lage <lb/>wird die Spitze des Mittelfingers dem Daumen näher ſein als <lb/>die Spitze des Zeigefingers. </s>
  <s xml:id="echoid-s7639" xml:space="preserve">In dieſer Stellung lege man <lb/>eine Erbſe oder ein etwa ebenſo großes Brotkügelchen oder
<pb o="94" file="578" n="578"/>
Papierkügelchen auf den Tiſch, und verſuche, das Kügelchen <lb/>mit den beiden gekreuzten Fingerſpitzen auf dem Tiſch herum-<lb/>zurollen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7640" xml:space="preserve">Nach einiger Übung gelingt dies ganz gut; </s>
  <s xml:id="echoid-s7641" xml:space="preserve">aber <lb/>jeder, der dies richtig anſtellt, wird, nach ſeinem Gefühl zu <lb/>urteilen, darauf ſchwören mögen, daß er <emph style="sp">zwei</emph> Erbſen oder <lb/>Kügelchen unter ſeinen Fingern habe. </s>
  <s xml:id="echoid-s7642" xml:space="preserve">Man wiederhole den <lb/>Verſuch; </s>
  <s xml:id="echoid-s7643" xml:space="preserve">jedesmal wird man ſich durch den Augenſchein über-<lb/>zeugen, daß man in der That nur ein einziges Kügelchen <lb/>unter den Fingern habe, und doch fühlt man ganz deutlich in <lb/>den Fingern, daß es zwei ſein müſſen, die ſogar nahe einen <lb/>halben Zoll weit von einander lägen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7644" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7645" xml:space="preserve">Man verſuche es nun, das Kügelchen mit denſelben Fingern <lb/>auf dem Tiſch zu rollen, ohne daß man dieſe Finger kreuzt, <lb/>und man wird ganz deutlich nur ein einziges Kügelchen fühlen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7646" xml:space="preserve">ſobald man aber die Finger in die bezeichnete ungewohnte Lage <lb/>bringt, fühlt man das Kügelchen wiederum doppelt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7647" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7648" xml:space="preserve">Daß hier eine Täuſchung im Spiel iſt, das iſt klar; </s>
  <s xml:id="echoid-s7649" xml:space="preserve">aber <lb/>woher kommt dieſe Täuſchung?</s>
  <s xml:id="echoid-s7650" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7651" xml:space="preserve">Der Grund derſelben iſt folgender.</s>
  <s xml:id="echoid-s7652" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7653" xml:space="preserve">Wenn wir einen Gegenſtand mit dem Finger berühren, ſo <lb/>verurſacht der Druck auf denſelben einen Reiz auf die feinſten <lb/>Nervenfäden des Fingers, und da jeder dieſer Fäden hinauf-<lb/>geht bis zum Gehirn, ſo wird dieſer Reiz daſelbſt in bewußter <lb/>Weiſe empfunden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7654" xml:space="preserve">Berührt man nun mit zwei Fingern einen <lb/>und denſelben Gegenſtand, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7655" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7656" xml:space="preserve">ein Kügelchen, ſo kommen <lb/>aus den Nervenfäden beider Finger zwei Rapporte nach dem <lb/>Gehirn, und man ſollte eigentlich auch hier die Empfindung <lb/>haben, als ob man zwei Kügelchen berührte. </s>
  <s xml:id="echoid-s7657" xml:space="preserve">Allein die Er-<lb/>fahrung und die Gewohuheit macht es, daß man die beiden <lb/>Eindrücke für einen hält, und bei uatürlicher Stellung der <lb/>Finger nur ein Kügelchen fühlt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7658" xml:space="preserve">Kreuzt man aber die Finger <lb/>in der angegebenen Weiſe, ſo nimmt man eine ungewohnte <lb/>Stellung derſelben an, in welcher man noch keine Erfahrungen
<pb o="95" file="579" n="579"/>
gemacht hat, und man erhält deshalb den Eindruck von beiden <lb/>Fingern, als ob er von zwei Kügelchen herrührte.</s>
  <s xml:id="echoid-s7659" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7660" xml:space="preserve">Bei wiederholten Verſuchen und einigem Nachdenken wird <lb/>man das, was wir meinen, richtiger herausfühlen, als wir <lb/>durch viele Worte hier beſchreiben können. </s>
  <s xml:id="echoid-s7661" xml:space="preserve">Man wird ſich <lb/>überzeugen, daß man alles, was man empfindet, durch die <lb/>Thätigkeit des Gehirus empfindet, das über die Eindrücke auf <lb/>die Nerven ein Urteil fällt, und dann die Empfindung dorthin <lb/>verſetzt, wo die Urſache derſelben vorhanden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7662" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7663" xml:space="preserve">Liegt nun der Unterſchied des Pflanzen- und Tierlebens <lb/>darin, daß die Pflanzen nichts empfinden, während die Tiere <lb/>Empfindung beſitzen, ſo muß man — weil man das eigentliche <lb/>Weſen der Empfindung naturwiſſenſchaftlich nicht zu ergründen <lb/>imſtande iſt — ſagen, daß die Tiere nervenbegabte und mit <lb/>Gehirn verſehene Weſen ſind, während die Pflanzen weder <lb/>Nerven noch Gehirn beſitzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7664" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7665" xml:space="preserve">Indem aber, wie bereits geſagt, zwiſchen Tier und Pflanze <lb/>noch der Unterſchied beſteht, daß die Tiere im allgemeinen ſich <lb/>willkürlich von Ort zu Ort bewegen können, während dies den <lb/>Pflanzen nicht möglich iſt, werden wir noch nachzuweiſen <lb/>haben, daß dies ebenfalls von dem Daſein der Nerven in den <lb/>Tieren abhängt, — wir wollen jedoch für jetzt nur noch Eins <lb/>hervorheben, worin ſich Tier und Pflanze unterſcheiden, ſelbſt <lb/>wenn man von Empfindung und Bewegung abſieht.</s>
  <s xml:id="echoid-s7666" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7667" xml:space="preserve">Jedes Tier verfällt naturgemäß in einen Zuſtand, worin <lb/>es für einige Zeit weder empfinden noch ſich willkürlich be-<lb/>wegen kann; </s>
  <s xml:id="echoid-s7668" xml:space="preserve">wir meinen den Schlaf. </s>
  <s xml:id="echoid-s7669" xml:space="preserve">Das Tier wird in dieſem <lb/>Zuſtand einer Pflanze inſofern ähnlich, als es dann lebt, ohne <lb/>das Vermögen zu empfinden und ſich zu bewegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7670" xml:space="preserve">Noch mehr <lb/>Ähnlichkeit erhält dieſer Zuſtand mit dem der Pflanze, wenn <lb/>die Empfindungs- und Bewegungsloſigkeit durch einen Druck <lb/>auf das Gehirn verurſacht wird, durch welchen die Thätigkeit <lb/>des Gehirns geſtört iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7671" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="96" file="580" n="580"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7672" xml:space="preserve">Es kommt im Kriege öfter vor, daß einem Menſchen eine <lb/>Kugel durch den Schädel geht und auf dem Gehirn liegen <lb/>bleibt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7673" xml:space="preserve">In ſolchem Zuſtande ſtürzt der Getroffene nieder, und <lb/>wenn er zeitig noch ins Lazarett gebracht wird, lebt er mit <lb/>der Kugel im Kopfe, aber ohne zu empfinden oder ſich be-<lb/>wegen zu kön@. </s>
  <s xml:id="echoid-s7674" xml:space="preserve">Er lebt wirklich wie eine Pflanze. </s>
  <s xml:id="echoid-s7675" xml:space="preserve">Er ver-<lb/>langt nicht nach Speiſe und Trank, bringt man ihm etwas in <lb/>den hinteren Teil des Mundes, ſo ſchlingt er es hinab; </s>
  <s xml:id="echoid-s7676" xml:space="preserve">thut <lb/>man dies nicht, ſo ſtirbt er nach Tagen, ganz ſo wie eine <lb/>Pflanze abſtirbt, die keine Nahrung erhält. </s>
  <s xml:id="echoid-s7677" xml:space="preserve">Er atmet, er ver-<lb/>daut, ſcheidet auch Stoffe von ſich aus, was auch die Pflanze thut.</s>
  <s xml:id="echoid-s7678" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7679" xml:space="preserve">Zieht man aber die Kugel aus dem Kopfe, ſo geſchieht es <lb/>zuweilen, daß er ſofort die Augen öffnet, um ſich blickt und <lb/>fragt, wo er ſich befinde?</s>
  <s xml:id="echoid-s7680" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7681" xml:space="preserve">Offenbar hat er in dieſer Unglückszeit eine Art Pflanzen-<lb/>leben geführt; </s>
  <s xml:id="echoid-s7682" xml:space="preserve">aber dennoch iſt ein bedeutender Unterſchied <lb/>zwiſchen dieſem Leben und dem Pflanzenleben, und dieſen <lb/>Unterſchied müſſen wir jetzt näher betrachten.</s>
  <s xml:id="echoid-s7683" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div271" type="section" level="1" n="192">
<head xml:id="echoid-head218" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXV. Das Pflanzenleben der Tiere.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7684" xml:space="preserve">Haben wir geſehen, daß das tieriſche Leben eine Art <lb/>Pflanzenleben in ſich begreift, haben wir durch ein Beiſpiel <lb/>dargethan, daß ein Menſch, der durch einen Druck auf das <lb/>Gehirn der Empfindung und der Bewegung beraubt iſt, dennoch <lb/>lebt, und zwar wie eine Art Pflanze lebt, ſo wollen wir nun-<lb/>mehr zeigen, daß einerſeits ſelbſt im geſunden Zuſtand dieſes <lb/>Pflanzenleben im Tiere vorhanden iſt, und andererſeits, daß <lb/>dennoch ein weſentlicher Unterſchied zwiſchen dieſem Leben und <lb/>dem wirklichen Leben der Pflanze beſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s7685" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="97" file="581" n="581"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7686" xml:space="preserve">Das Tier unterſcheidet ſich hauptſächlich von der Pflanze <lb/>dadurch, daß es fähig iſt zur bewußten Empfindung und will-<lb/>kürlichen Bewegung; </s>
  <s xml:id="echoid-s7687" xml:space="preserve">dennoch giebt es eine ganze Maſchinerie <lb/>im Körper des Tieres, die thätig iſt, ohne daß das Tier etwas <lb/>davon empfindet, und ohne daß die Bewegungen dieſer Ma-<lb/>ſchine und ihre Thätigkeit vom Willen des Tieres abhängen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7688" xml:space="preserve">— <lb/>Man nennt dieſe Maſchinerie, oder richtiger deren Lebens-<lb/>thätigkeit im Tierkörper, das vegetative Leben.</s>
  <s xml:id="echoid-s7689" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7690" xml:space="preserve">Da der Menſch in dieſer Beziehung dem Tiere gleicht, ſo <lb/>wollen wir die Beiſpiele hierfür aus dem Leben des menſch-<lb/>lichen Körpers entnehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7691" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7692" xml:space="preserve">Jeder Menſch muß z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7693" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7694" xml:space="preserve">eſſen, trinken, atmen und auch <lb/>gewiſſe Stoffe von ſich ausſcheiden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7695" xml:space="preserve">Während des Eſſens hat <lb/>er die bewußte Empfindung von dem, was er thut, und thut <lb/>dies auch mit freiem Willen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7696" xml:space="preserve">Er kann ſich eine Zeitlang des <lb/>Eſſens und Trinkens enthalten, ja er kann ſogar eine kurze <lb/>Weile den Atem einhalten, er vermag die Ausſcheidung der <lb/>Stoffe bis zu einem gewiſſen Punkte zu unterdrücken. </s>
  <s xml:id="echoid-s7697" xml:space="preserve">Aber <lb/>dauernd iſt dies nicht möglich; </s>
  <s xml:id="echoid-s7698" xml:space="preserve">er wird vielmehr von einer <lb/>inneren Kraft, der er keinen Widerſtand leiſten kann, ge-<lb/>zwungen zu dieſen Lebensthätigkeiten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7699" xml:space="preserve">Man ſieht, daß Eſſen, <lb/>Trinken, Atmen und Ausſcheiden gewiſſer Stoffe bis zu einer <lb/>gewiſſen Grenze von ſeinem Willen abhängen, und daß er dies <lb/>auch mit bewußter Empfindung thun oder laſſen kann; </s>
  <s xml:id="echoid-s7700" xml:space="preserve">iſt dieſe <lb/>Grenze aber überſchritten, ſo nötigt ihn eine innere Maſchinerie, <lb/>dies ſelbſt und ohne ſein Bewußtſein und, noch mehr, ſelbſt <lb/>gegen ſeinen Willen zu thun.</s>
  <s xml:id="echoid-s7701" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7702" xml:space="preserve">Schon in dieſen Beziehungen iſt das Tier, und auch der <lb/>Menſch, halb und halb, das heißt über eine gewiſſe Grenze <lb/>hinaus, der Pflanze gleich, die ohne Bewußtſein und Willen <lb/>leben muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s7703" xml:space="preserve">Es geht dies aber mit der inneren Maſchinerie <lb/>noch weiter. </s>
  <s xml:id="echoid-s7704" xml:space="preserve">Haben wir z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7705" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7706" xml:space="preserve">einen Biſſen im Munde, ſo <lb/>können wir denſelben mit Bewußtſein und Willen wieder aus-</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7707" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s7708" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s7709" xml:space="preserve">Volksbücher X.</s>
  <s xml:id="echoid-s7710" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="98" file="582" n="582"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7711" xml:space="preserve">ſpucken, ſo lange er nicht bis zu einer gewiſſen Stelle an den <lb/>Schlund gelangt iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s7712" xml:space="preserve">hat der Biſſen jedoch dieſe Stelle erreicht, <lb/>ſo müſſen wir ihn verſchlucken, wir mögen wollen oder nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7713" xml:space="preserve">— <lb/>Haben wir dies nun gethan, ſo gehört der Biſſen der inneren <lb/>Maſchinerie an, über die wir nicht mehr Herr ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s7714" xml:space="preserve">Er geht <lb/>durch die Speiſeröhre in den Magen, ohne unſer Wiſſen und <lb/>ohne unſeren Willen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7715" xml:space="preserve">Der Magen verdaut ihn, ohne nach <lb/>unſerem Wiſſen und Willen zu fragen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7716" xml:space="preserve">Er verrichtet alſo eine <lb/>Arbeit, die wir nicht befehlen und nicht hindern können. </s>
  <s xml:id="echoid-s7717" xml:space="preserve">Der <lb/>verdaute Biſſen geht in den Darm, ohne ſich um unſer Wiſſen <lb/>und Wollen zu bekümmern. </s>
  <s xml:id="echoid-s7718" xml:space="preserve">Der Darm iſt in fortwährenden, <lb/>wurmförmigen Windungen und Bewegungen, und verrichtet <lb/>ſein Geſchäft nach einer Lebensvorſchrift, über die wir nichts <lb/>zu befehlen haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7719" xml:space="preserve">Er verwandelt den Biſſen teils in un-<lb/>verdauliche Stoffe, die er, ohne uns zu fragen, ausſondert, <lb/>teils in einen Milchſaft, der ſeiner Beſchaffenheit nach dem <lb/>Blute gleicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7720" xml:space="preserve">Dieſer Milchſaft wird von feinen Röhrchen, die <lb/>von außen um den Darm liegen, durch die Darmwand auf-<lb/>geſogen und in einen Schlauch geführt, der aus der Bauch-<lb/>höhle hinauf in die Bruſthöhle zu einer Hauptader des Herzens <lb/>führt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7721" xml:space="preserve">Dieſes Geſchäft wird verrichtet, ohne daß unſer Be-<lb/>wußtſein oder Wille eine Rolle dabei mitſpielt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7722" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7723" xml:space="preserve">Durch dieſe Hauptader geht der Milchſaft, in wirkliches <lb/>Blut verwandelt, zum Herzen, das wiederum ein Teil der <lb/>inneren Maſchine iſt, die ſich fortwährend in unausgeſetzter <lb/>Thätigkeit befindet, die Tag und Nacht von der Geburt bis <lb/>zum Tode, bei manchen Menſchen alſo über hundert Jahre ar-<lb/>beitet, und ganz gewaltig wie eine äußerſt ſtarke Saug- und <lb/>Druckpumpe arbeitet, auch ohne daß wir es wiſſen und ohne <lb/>daß wir es wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7724" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7725" xml:space="preserve">Eine andere Abteilung des Herzens drückt das Blut in <lb/>die feinſten Äderchen der Lunge und nötigt uns hier zu atmen, <lb/>um ohne unſer Wiſſen und Wollen dem Blute Sauerſtoff bei-
<pb o="99" file="583" n="583"/>
zumiſchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7726" xml:space="preserve">Iſt dies geſchehen, ſo ſaugt eine dritte Abteilung <lb/>des Herzens das Blut wieder aus der Lunge, und preßt es <lb/>in eine vierte Abteilung, die es aufnimmt, um es durch einen <lb/>gewaltigen Druck durch alle Schlagadern des Leibes und deren <lb/>feinſte Zweige, die den ganzen Leib durchweben, zu treiben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7727" xml:space="preserve">— <lb/>Hier in dieſen feinſten Zweigen des Gewebes findet die eigent-<lb/>liche Ernährung des ganzen Leibes ſtatt, durch welche wir an <lb/>Körperfülle zunehmen und wachſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7728" xml:space="preserve">— Hier nimmt das Blut <lb/>auch verbrauchte Stoffe auf, um ſie wieder zur erſten Abteilung <lb/>des Herzens zu führen, das ſein Geſchäft in angegebener Weiſe <lb/>fortwährend fortſetzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7729" xml:space="preserve">Und all’ das: </s>
  <s xml:id="echoid-s7730" xml:space="preserve">Ernährung, Säfte-Umtrieb, <lb/>Stoffwechſel, Wachstum u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7731" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s7732" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s7733" xml:space="preserve">geſchieht von einer inneren <lb/>Maſchinerie, ganz ohne daß wir dabei was zu ſagen haben, <lb/>ohne unſere Empfindung, ohne unſeren Willen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7734" xml:space="preserve">Es iſt ein <lb/>Leben, das dem Pflanzendaſein ſehr ähnlich iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7735" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7736" xml:space="preserve">Und doch beſteht, wie geſagt, ein großer Unterſchied ſelbſt <lb/>zwiſchen dieſer vegetativen Lebensthätigkeit und der Thätigkeit <lb/>des Pflanzenlebens, und dieſer Unterſchied beſteht darin, daß <lb/>auch dieſe innere Maſchinerie des Tierlebens von einer eigen-<lb/>tümlichen Nerventhätigkeit abhängig iſt, was wir bei den <lb/>Pflanzen nicht finden.</s>
  <s xml:id="echoid-s7737" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div272" type="section" level="1" n="193">
<head xml:id="echoid-head219" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXVI. Das ſympathiſche Nervenſyſtem.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7738" xml:space="preserve">Man nennt dieſes Nervenſyſtem, welches ohne unſer Be-<lb/>wußtſein und unſeren Willen die innere Maſchinerie erhält, <lb/>das “ſympathiſche Nervenſyſtem”, und hat ſeinen Hauptſitz aus-<lb/>findig gemacht in gewiſſen Nervenknoten, die ſich in verſchiedenen <lb/>Stellen der Bruſt- und Leibhöhle befinden.</s>
  <s xml:id="echoid-s7739" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7740" xml:space="preserve">Während man alſo im Gehirn den Hauptſitz des Nerven-
<pb o="100" file="584" n="584"/>
ſyſtems findet, von welchem die bewußte Empfindung und die <lb/>willkürliche Bewegung abhängt, während die ganze Maſchinerie <lb/>des Leibes, ſoweit ſie empfunden wird, und ſoweit ſie aus <lb/>Gliedern beſteht, die man nach Willkür bewegen kann, ihren <lb/>Hauptdirektor im Gehirn hat, beſitzt man für das Leben, <lb/>welches man das Pflanzenleben des Tieres nennt, keinen ſolchen <lb/>einzigen Hauptdirektor an einer einzigen Stelle, ſondern dieſe <lb/>innere Maſchinerie, die ohne Empfindung und Willen thätig <lb/>iſt, wird von einer ſehr zerſtreuten Direktion geleitet, die in <lb/>der Nähe jedes wichtigen Organs ihren beſonderen Sitz hat. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7741" xml:space="preserve">Am Unterleib, am Magen, an den Lungen, mitten im Herzen <lb/>und an anderen Stellen findet man ſolche Nervenknoten, die <lb/>man ſympathiſche nennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7742" xml:space="preserve">Aus ihrer Geſtalt und Lage kann <lb/>man ſie zwar von den anderen Nervenfäden wohl unterſcheiden; </s>
  <s xml:id="echoid-s7743" xml:space="preserve"><lb/>allein ihr innerſtes Weſen iſt ſehr geheimnisvoll, und es iſt <lb/>nicht erſichtlich, daß ſie an irgend einer Stelle ein Haupt-<lb/>Bureau haben, wie dies bei den anderen Nerven der Fall iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7744" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7745" xml:space="preserve">Dieſe ſehr rätſelhaften Nervenknoten, die den Namen <lb/>“Ganglien” führen, ſtehen zwar unter einander durch Nerven-<lb/>fäden in Verbindung, auch ſind ſie ſo mit anderen Nerven-<lb/>fäden verflochten, daß ſie bis zum Gehirn hinaufführen; </s>
  <s xml:id="echoid-s7746" xml:space="preserve">allein <lb/>die innere Maſchinerie, die ſie treibt, iſt offenbar ſehr ſelbſtändig <lb/>vom Gehirn; </s>
  <s xml:id="echoid-s7747" xml:space="preserve">denn wir haben ſchon dargethan, wie dieſe Ma-<lb/>ſchinerie auch fortfährt, thätig zu ſein, ſelbſt wenn die Thätig-<lb/>keit des Gehirns, durch einen Druck z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7748" xml:space="preserve">B.</s>
  <s xml:id="echoid-s7749" xml:space="preserve">, zeitweiſe aufhört.</s>
  <s xml:id="echoid-s7750" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7751" xml:space="preserve">Gleichwohl genügt dieſe Verbindung des ſympathiſchen <lb/>Nervenſyſtems, um unter Umſtänden den Einfluß des Gehirns <lb/>auf die Thätigkeit dieſer eigentümlichen Nerven zu bewirken. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7752" xml:space="preserve">Wir wollen einige auffallende Beiſpiele hiervon unſeren Leſern <lb/>vorführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7753" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7754" xml:space="preserve">Wie wir bereits wiſſen, iſt die Thätigkeit des Magens <lb/>nicht von unſerem Bewußtſein und unſerem Willen abhängig. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7755" xml:space="preserve">Der Magen verrichtet ſein Geſchäft, die Verdauung, ohne daß
<pb o="101" file="585" n="585"/>
wir es wiſſen, und ohne daß wir es durch unſeren Willen <lb/>hindern können. </s>
  <s xml:id="echoid-s7756" xml:space="preserve">Eigentlich ſollten wir auch hiernach gar nicht <lb/>das Gefühl des Hungers haben, und würden dieſen auch nicht <lb/>haben, wenn wir nicht einen beſonderen Nervenfaden beſäßen, <lb/>der vom Gehirn ausläuft, und in auffallender Weiſe ver-<lb/>ſchiedene Organe der inneren Maſchinerie des Leibes und auch <lb/>unter dieſen den Magen berührt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7757" xml:space="preserve">Wir haben früher (Teil II) <lb/>geſehen, daß die Nervenfäden große Ähnlichkeit mit den Drähten <lb/>des elektriſchen Telegraphen haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7758" xml:space="preserve">Dieſer Nerv, von dem wir <lb/>eben ſprechen, und der von Organ zu Organ hinſtreift, und <lb/>deshalb der “Vagus”, das heißt ſo viel, wie der “Herumtreiber” <lb/>genannt wird, iſt der elektriſche Draht, welcher dem Gehirn <lb/>den Rapport bringt, wie es mit dem Magen ſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7759" xml:space="preserve">Wenn es <lb/>dem Magen gut geht, erzählt er dem Gehirn gar nichts; </s>
  <s xml:id="echoid-s7760" xml:space="preserve">aber <lb/>wenn er Speiſe verlangt — und der Magen iſt in dieſem <lb/>Punkte durchaus nicht beſcheiden —, ſo ſtattet dieſer Nerv <lb/>ſeinen Rapport dem Gehirn ab, und wir empfinden und werden <lb/>uns eines Gefühles bewußt, das man Hunger nennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7761" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7762" xml:space="preserve">Hätte dieſer Nervenfaden nicht außerdem viel zu thun, <lb/>und würde ſeine Verletzung nicht den Tod herbeiführen, ſo <lb/>würde man einem Menſchen allen Appetit, allen Hunger be-<lb/>nehmen, wenn man den Faden in irgend einem Punkte ſeines <lb/>Verlaufes, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7763" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7764" xml:space="preserve">am Halſe, durchſchnitte.</s>
  <s xml:id="echoid-s7765" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7766" xml:space="preserve">An dieſem Faden, oder richtiger an deſſen Thätigkeit hängt <lb/>ſo zu ſagen wirklich das Leben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7767" xml:space="preserve">Er ſteht mit der Lunge in <lb/>Verbindung, und deshalb iſt die Lunge, die im gewöhnlichen <lb/>Zuſtand nichts nach dem Gehirn zu fragen hat, in außer-<lb/>ordentlichen Zuſtänden dem Gehirn unterworfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7768" xml:space="preserve">Bei einem <lb/>entſetzlichen Anblick, der ja eigentlich nur durch das Auge und <lb/>deſſen Nerv zum Gehirn rapportiert wird, ſtockt der Atem, <lb/>wobei freilich noch andere Umſtände mit einwirken.</s>
  <s xml:id="echoid-s7769" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7770" xml:space="preserve">Auch zum Herzen, das ſein Saug- und Druck-Geſchäft im <lb/>gewöhnlichen Zuſtand ganz unabhängig vom Gehirn betreibt,
<pb o="102" file="586" n="586"/>
geht der herumſtreifende Nerv hin; </s>
  <s xml:id="echoid-s7771" xml:space="preserve">und dies bewirkt, daß <lb/>dieſer Nerv die Herzbewegung fortdauernd reguliert. </s>
  <s xml:id="echoid-s7772" xml:space="preserve">Denn <lb/>durchſchneidet man einem lebenden Tiere denſelben zu beiden <lb/>Seiten des Halſes, ſo entſteht ein ſtürmiſches Herzpochen, in <lb/>welchem ſich das Herz bis zum Tode erſchöpft. </s>
  <s xml:id="echoid-s7773" xml:space="preserve">Wenn man <lb/>ihn aber galvaniſch reizt, ſo kann man dadurch das Herz <lb/>ganz zum Stillſtand bringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7774" xml:space="preserve">Daraus geht denn hervor, daß <lb/>das Gehirn durch dieſen Nerven dem Herzen gleichſam einen <lb/>Zügel anlegt, und ſeine Bewegung ſo lenkt wie etwa ein <lb/>Wagenlenker den Lauf der mutigen Roſſe, damit ſie nicht allzu <lb/>ſtürmiſch davonjagen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7775" xml:space="preserve">Und ſo erklärt es ſich auch, daß Herz <lb/>und Gehirn häufig in Rapport treten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7776" xml:space="preserve">Freude, Schreck, Auf-<lb/>regung, lauter Dinge, die nur im Gehirn vorgehen, erregen <lb/>Herzpochen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7777" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7778" xml:space="preserve">Aus all’ dem Geſagten entnehmen wir für unſer Thema <lb/>jedenfalls als unbeſtrittene Hauptſache, daß ſelbſt in jenen <lb/>Lebensthätigkeiten, wo ſcheinbar das Tier ein Pflanzenleben <lb/>führt, doch ein beſonderes Nervenſyſtem dieſe Thätigkeit leitet <lb/>und dirigiert. </s>
  <s xml:id="echoid-s7779" xml:space="preserve">Daß ferner dieſes Nervenſyſtem mit den be-<lb/>wußten und willensfreien Bewegungen des Tieres nicht in <lb/>direkter Verbindung ſteht; </s>
  <s xml:id="echoid-s7780" xml:space="preserve">daß aber gleichwohl für außer-<lb/>ordentliche Fälle telegraphiſche Korreſpondenzen nach dem <lb/>Gehirn gebracht werden und von hier aus gewiſſe Kabinets-<lb/>ordres auf das vegetative Leben ihren Einfluß ausüben.</s>
  <s xml:id="echoid-s7781" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div273" type="section" level="1" n="194">
<head xml:id="echoid-head220" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXVII. Von der Innen- und Außenwelt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7782" xml:space="preserve">Aus all’ dem Vorhergehenden wird wohl jedermann ent-<lb/>nehmen können, daß man auf die Natur und Wirkſamkeit der <lb/>Nerven ſein Augenmerk zu richten habe, wenn man den
<pb o="103" file="587" n="587"/>
weſentlichen Unterſchied zwiſchen dem Leben des Tieres und <lb/>der Pflanze genauer verſtehen will.</s>
  <s xml:id="echoid-s7783" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7784" xml:space="preserve">Leider aber befinden wir uns hier wiederum vor einer <lb/>verſchloſſenen Pforte, welche die Wiſſenſchaft noch nicht zu <lb/>öffnen vermocht hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s7785" xml:space="preserve">— Über die Natur der Nerven und <lb/>namentlich des Gehirns weiß die Wiſſenſchaft nur ſehr wenig <lb/>zu ſagen; </s>
  <s xml:id="echoid-s7786" xml:space="preserve">dafür aber hat man über die Wirkſamkeit der Nerven <lb/>und des Gehirns reichhaltige Beobachtungen angeſtellt und ſehr <lb/>wichtige Schlüſſe gezogen, ſo daß man über die Rolle, die ſie <lb/>im Körper des Tieres ſpielen, im allgemeinen im Klaren iſt, <lb/>wenn auch über Einzelheiten noch Zweifel obwalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s7787" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7788" xml:space="preserve">Will man von der Wirkſamkeit des geſamten Nerven-<lb/>ſyſtems, von der wir ſogleich ein Näheres unſern Leſern vor-<lb/>führen werden, auf die Natur der Nerven, auf ihr innerſtes <lb/>Weſen einen Schluß ziehen, ſo wird man leicht geneigt, die <lb/>Nerven für das eigentliche Lebensprinzip zu halten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7789" xml:space="preserve">Es hat <lb/>auch nicht wenige Forſcher gegeben, die in den Nerven die <lb/>Grundquelle des Lebens geſucht haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7790" xml:space="preserve">Betrachtet man <lb/>indeſſen das Daſein der Pflanzen als die Grundlage des <lb/>tieriſchen Daſeins, und erwägt man, daß die Pflanzen ohne <lb/>Nervenſyſtem leben, ſo wird man dahin geführt, die Nerven <lb/>zwar als die Hauptorgane des tieriſchen Lebens, aber keines-<lb/>wegs das Leben als eine bloße Wirkung der Nerven zu be-<lb/>trachten.</s>
  <s xml:id="echoid-s7791" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7792" xml:space="preserve">Auch eine unbeſtreitbare Beobachtung an der Entwickelung <lb/>des tieriſchen Lebens führt zu dem Schluß, daß eine Lebens-<lb/>thätigkeit ſchon im Ei vorhanden iſt, bevor noch Nerven <lb/>exiſtieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s7793" xml:space="preserve">In einem Hühner-Ei ſtellt ſich’s zwar ſchon nach <lb/>wenigen Stunden der Bebrütung heraus, daß Rückenmark und <lb/>Hirn des Hühnchens die erſten Dinge ſind, auf welche es bei <lb/>der Entwickelung abgeſehen iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s7794" xml:space="preserve">aber es iſt unbeſtreitbar, daß <lb/>eine Lebensthätigkeit im Ei wirkſam iſt, bevor dieſe Hauptſitze <lb/>des Nervenſyſtems ſich zu bilden anfangen, daß alſo das
<pb o="104" file="588" n="588"/>
Leben nicht eine bloße Wirkſamkeit eines vorhandenen Nerven-<lb/>ſyſtems ſein könne.</s>
  <s xml:id="echoid-s7795" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7796" xml:space="preserve">Das innerſte Weſen der Nerven iſt nicht minder dunkel <lb/>als das innerſte Weſen des Lebens; </s>
  <s xml:id="echoid-s7797" xml:space="preserve">wir wollen daher unſere <lb/>Leſer nicht mit dieſen tiefen Rätſeln behelligen, und ſie lieber <lb/>auf das Gebiet führen, auf dem die Beobachtung bereits <lb/>reichliche Erfahrungen und ergiebige Reſultate geſammelt hat, <lb/>auf das Gebiet jenes Teils der Wiſſenſchaft, welcher von der <lb/>Wirkſamkeit der Nerven handelt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7798" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7799" xml:space="preserve">Wir haben bereits gezeigt, daß ſelbſt das Pflanzenleben <lb/>des Tieres, daß das Wachstum, die Ernährung, der Säfte-<lb/>Umlauf, die Atmung, die Ausſcheidung unbrauchbarer Stoffe <lb/>u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7800" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s7801" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s7802" xml:space="preserve">von einem Nervenſyſtem dirigiert werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7803" xml:space="preserve">Wir wiſſen <lb/>auch ferner, daß Empfindung und Bewegung von der Wirk-<lb/>ſamkeit des Gehirns abhängen, welches das Zentral-Bureau <lb/>des Nervenſyſtems iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7804" xml:space="preserve">Man hat nun ſehr ſorgſame Unter-<lb/>ſuchungen angeſtellt, um dieſer Wirkſamkeit etwas näher auf <lb/>die Spur zu kommen, und iſt, namentlich in neuerer Zeit, <lb/>ziemlich glücklich in dieſen Forſchungen geweſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7805" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7806" xml:space="preserve">Bevor wir jedoch von dieſen Forſchungen ſpeziell ſprechen, <lb/>müſſen wir auf die Verſchiedenartigkeit der Empfindungen und <lb/>auf die Natur der Bewegungen des lebenden Tieres einen <lb/>kurzen Blick werfen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7807" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7808" xml:space="preserve">Von allem, was im Innern des Tieres vorgeht, hat das <lb/>Tier im gewöhnlichen Zuſtand keine Empfindung. </s>
  <s xml:id="echoid-s7809" xml:space="preserve">Wir Menſchen, <lb/>die wir die klügſten Tiere ſind, ſpüren in geſunden Verhält-<lb/>niſſen nichts von dem Herzſchlag, nichts von der Arbeit der <lb/>Lungen, des Magens, des Darms, der Thätigkeit der Leber, <lb/>der Nieren u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7810" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s7811" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s7812" xml:space="preserve">Was man von dieſen Dingen weiß, hat <lb/>man erſt durch weitläufige Forſchungen herausſtudieren müſſen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7813" xml:space="preserve">Ja, man beſitzt unter anderm im Leibe ein Ding, daß den <lb/>Namen Milz trägt, und das gewiß etwas zu thun hat, da es <lb/>ſchwerlich ohne Lebenszweck exiſtieren würde; </s>
  <s xml:id="echoid-s7814" xml:space="preserve">aber alle
<pb o="105" file="589" n="589"/>
Forſchungen haben es bisher noch nicht herausgebracht, wozu <lb/>dies Ding da iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7815" xml:space="preserve">Hätte man Empfindung vom Wirken der <lb/>inneren Organe des Leibes, ſo würden wir ganz unzweifelhaft <lb/>ſpüren, wann und unter welchen Umſtänden die Milz ihr <lb/>Geſchäft treibt, und würden ſicherlich über dieſes Rätſel voll-<lb/>gültigen Aufſchluß erhalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7816" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7817" xml:space="preserve">Und ebenſo wie wir von dem, was im Innern des Leibes <lb/>vorgeht, nichts empfinden, ſo ſind wir auch nicht imſtande, die <lb/>inneren Organe nach unſerem Willen zu bewegen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7818" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7819" xml:space="preserve">Empfindung und Bewegung des Tieres hat alſo ſeine <lb/>Beziehung nicht zum Innern des Tieres, ſondern zur Welt <lb/>draußen, zur Außenwelt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7820" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7821" xml:space="preserve">Wir empfinden oder richtiger wir empfangen Eindrücke <lb/>von den Dingen, die draußen, außerhalb unſeres Körpers vor-<lb/>gehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7822" xml:space="preserve">Wir bewegen unſere Glieder! aber dieſes Kunſtſtück <lb/>können wir im allgemeinen nur mit denjenigen Teilen unſeres <lb/>Leibes vollſtrecken, die mit der Außenwelt in Berührung ſtehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7823" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7824" xml:space="preserve">Iſt aber Empfindung und Bewegung wirklich das, was <lb/>hauptſächlich das Tier von der Pflanze unterſcheidet, ſo wird <lb/>jeder einſehen, daß das Tierleben einen hauptſächlichen Wert <lb/>in der Beziehung zur Außenwelt hat, während in dem Pflanzen-<lb/>leben mehr die Innenwelt wirkſam iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7825" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7826" xml:space="preserve">Dies iſt nun wiederum ein Gedanke, dem wir ein wenig <lb/>nachſpüren müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7827" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div274" type="section" level="1" n="195">
<head xml:id="echoid-head221" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXVIII. Das Tier und die Außenwelt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7828" xml:space="preserve">Ein Baum weiß nicht, daß er exiſtiert; </s>
  <s xml:id="echoid-s7829" xml:space="preserve">aber in ihm geht <lb/>ein Wirken und Schaffen vor, das ganz zur Sicherung ſeiner <lb/>Exiſtenz nötig iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s7830" xml:space="preserve">und ſo iſt es in der ganzen Pflanzenwelt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7831" xml:space="preserve">Ein Tier iſt aber ſchon ein anderes Ding, es iſt offenbar dazu
<pb o="106" file="590" n="590"/>
eingerichtet, die Welt außer ihm kennen zu lernen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7832" xml:space="preserve">Ja, der <lb/>Bau des Tieres iſt ſo beſchaffen, daß es genötigt iſt, eine Art <lb/>Kenntnis der Welt in ſich aufzunehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7833" xml:space="preserve">Die innere Maſchinerie <lb/>des Tieres, ſein vegetatives Leben, wäre rein unmöglich, wenn <lb/>das Tier nicht Werkzeuge in ſeinem Körper beſäße, durch <lb/>welche es imſtande iſt, Eindrücke der Außenwelt ſich zu merken.</s>
  <s xml:id="echoid-s7834" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7835" xml:space="preserve">Ein Baum z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7836" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7837" xml:space="preserve">iſt feſtgewurzelt in der Erde. </s>
  <s xml:id="echoid-s7838" xml:space="preserve">Seine <lb/>Wurzeln ſind gewiſſermaßen die Ketten, die ihn an einer Stelle <lb/>gefeſſelt halten, ſelbſt wenn er ſonſt imſtande wäre, ſich von <lb/>Ort zu Ort zu bewegen; </s>
  <s xml:id="echoid-s7839" xml:space="preserve">aber gerade ſeine Wurzeln ſind <lb/>die Kanäle, durch welche ſeine Nahrung einſtrömt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7840" xml:space="preserve">Er braucht <lb/>ſich nicht von der Stelle zu bewegen, um Nahrung zu empfangen <lb/>und zu leben, und deshalb weiß er nichts, und braucht auch <lb/>nichts davon zu wiſſen, ob und was mit ihm los iſt, und ob <lb/>und wo noch Dinge außer ihm vorhanden ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s7841" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7842" xml:space="preserve">Ein Tier hat keine ſolche Wurzeln, die ihm Nahrung zu-<lb/>führen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7843" xml:space="preserve">Es muß ſich die Nahrung ſelber herbeiſchaffen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7844" xml:space="preserve">Darum muß es ſich von Ort zu Ort bewegen können, darum <lb/>muß es alſo mit der Welt außer ihm in Beziehung treten, und <lb/>deshalb bedarf es einer Leibeseinrichtung, die es in den Stand <lb/>ſetzt, etwas von der Welt kennen zu lernen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7845" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7846" xml:space="preserve">Ein Tier iſt ein Weſen, das ſofort genötigt iſt, ſich mit <lb/>der Welt bekannt zu machen, ſobald es nur in die Welt hinein <lb/>verſetzt wird, und welches deshalb auch eingerichtet iſt zu dieſer <lb/>Bekanntſchaft.</s>
  <s xml:id="echoid-s7847" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7848" xml:space="preserve">Wer ein Tier beobachtet im Moment, wo es aus dem <lb/>Mutterleibe, oder aus dem Ei herauskommt, der hat am beſten <lb/>Gelegenheit wahrzunehmen, wie ſich in dieſem Moment ge-<lb/>wiſſermaßen ein Pflanzen-Leben in ein Tier-Leben umwandelt, <lb/>und in welch’ wunderbarer Weiſe dieſe Umwandlung vor <lb/>ſich geht.</s>
  <s xml:id="echoid-s7849" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7850" xml:space="preserve">Ein Tier im Mutterleib — und auch der Menſch iſt in <lb/>dieſer Beziehung nicht beſſer — lebt wie eine Pflanze. </s>
  <s xml:id="echoid-s7851" xml:space="preserve">Das
<pb o="107" file="591" n="591"/>
Tier iſt durch die Nabelſchnur mit dem Mutterleib verwachſen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7852" xml:space="preserve">Die Nahrung ſtrömt zu ihm ein durch den Nabel. </s>
  <s xml:id="echoid-s7853" xml:space="preserve">Einem <lb/>Hühnchen im Ei geht es ebenſo. </s>
  <s xml:id="echoid-s7854" xml:space="preserve">Es iſt zwar nicht mit der <lb/>Mutter verwachſen, aber es beſitzt am Ei einen Speiſevorrat, <lb/>der ebenfalls durch den Nabel in den Leib des Hühnchens <lb/>einſtrömt, und der ausreicht, bis das Tierchen ans Tageslicht <lb/>treten kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s7855" xml:space="preserve">— Man ſieht alſo beim neugebornen Tier eine <lb/>Art Pflanzen-Daſein, wenigſtens ſo weit es das Einſtrömen <lb/>der Nahrung betrifft. </s>
  <s xml:id="echoid-s7856" xml:space="preserve">Man nennt es mit Recht eine Frucht, <lb/>denn es lebt an der Nabelſchnur wie eine Frucht an einem <lb/>Stengel. </s>
  <s xml:id="echoid-s7857" xml:space="preserve">Mit dem Moment jedoch, wo das Tier in die Welt <lb/>hinaustritt, hört dies Pflanzenleben auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s7858" xml:space="preserve">Die Nabelſchnur <lb/>wird mit dem erſten Aufatmen des jungen Geſchöpfes un-<lb/>wirkſam. </s>
  <s xml:id="echoid-s7859" xml:space="preserve">Das Muttertier beißt auch, geſchickter als manche <lb/>Hebeamme, und beſſer unterrichtet als Millionen von Menſchen, <lb/>die überflüſſig gewordene Nabelſchnur entzwei und überläßt <lb/>das junge Tier der Welt als einen Weltbürger; </s>
  <s xml:id="echoid-s7860" xml:space="preserve">und dieſes <lb/>Tier, es weiß ſofort, daß eine Welt außer ihm da iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7861" xml:space="preserve">Das <lb/>Kälbchen geht, ohne zu zweifeln, auf die Mutter zu, um den <lb/>Mund, der noch niemals Speiſe empfangen hat, an die Zitzen <lb/>derſelben zu legen und Muttermilch zu ſaugen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7862" xml:space="preserve">Es wartet <lb/>nicht ab, wie die Pflanze, daß die Nahrung ihm noch ferner <lb/>zufließe, ſondern ſucht ſie in der Umgebung außerhalb.</s>
  <s xml:id="echoid-s7863" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7864" xml:space="preserve">Es iſt für die Wiſſenſchaft äußerſt ſchwierig, für dieſes <lb/>ſofortige Erkennen des Tieres, für die ſofortige richtige Be-<lb/>nutzung ſeiner Füße, ſeines Mundes, ſeiner Saugwerkzeuge die <lb/>Erklärung zu geben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7865" xml:space="preserve">Man hat all’ dies mit dem Namen <lb/>“Inſtinkt” bezeichnet, und verſteht darunter eine angeborene <lb/>Kenntnis und Geſchicklichkeit ſolcher Verrichtungen, die dem <lb/>Tiere unumgänglich nötig ſind zum Leben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7866" xml:space="preserve">Durch dieſe Be-<lb/>zeichnung eines unbekannten Dinges mit einem nicht ſehr <lb/>klaren Namen iſt aber leider wiſſenſchaftlich ſo gut wie nichts <lb/>erklärt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7867" xml:space="preserve">Es läßt ſich im allgemeinen nur ſagen: </s>
  <s xml:id="echoid-s7868" xml:space="preserve">Ein jedes
<pb o="108" file="592" n="592"/>
Tier iſt beſtimmt, ein Leben zu führen, das mit der Außen-<lb/>welt in Beziehung ſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7869" xml:space="preserve">Dieſe Beſtimmung liegt in ſeiner <lb/>ganzen Leibesbeſchaffenheit ausgeprägt, und es tritt in bis jetzt <lb/>nicht erklärter Weiſe mit der Außenwelt in Verkehr, ſobald es <lb/>in die Welt geſetzt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7870" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div275" type="section" level="1" n="196">
<head xml:id="echoid-head222" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXIX. Wie die Eindrücke der Außenwelt den</emph> <lb/><emph style="bf">Weg zum Gehirn finden.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7871" xml:space="preserve">Ein Tier tritt überhaupt in die Welt, ausgeſtattet für eine <lb/>große Reihe von Eindrücken, die die Außenwelt auf dasſelbe <lb/>macht; </s>
  <s xml:id="echoid-s7872" xml:space="preserve">ein Tier, das aus dem Mutterleibe kommt, iſt ausge-<lb/>rüſtet für das Leben in einer Außenwelt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7873" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7874" xml:space="preserve">Ein Tier hat Augen, um zu ſehen, was außerhalb ſeines <lb/>Leibes vorgeht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7875" xml:space="preserve">Was in ſeinem Leibe paſſiert, weiß es nicht, <lb/>es hat kein Auge, kein Organ, das ihm dies zum Bewußtſein <lb/>bringen ſoll. </s>
  <s xml:id="echoid-s7876" xml:space="preserve">Es empfängt einen Eindruck des Lichtes von <lb/>Sternen, die viele, viele Millionen Meilen von ihm entfernt <lb/>ſind, und wird ſich deſſen mehr oder weniger klar bewußt, daß <lb/>dieſer Eindruck von außen her auf es einwirkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7877" xml:space="preserve">Das Auge iſt <lb/>ein Organ zum Verkehr mit der Außenwelt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7878" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7879" xml:space="preserve">Bedenken wir, daß das Auge im Mutterleibe ausgebildet <lb/>wird, woſelbſt kein Sonnenlicht eindringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7880" xml:space="preserve">Bedenken wir, daß <lb/>ein Auge ein ganz zweckloſes Ding wäre, wenn es keine Sonne <lb/>gäbe, ſo ſehen wir im Auge eines Tieres eine innige Be-<lb/>ziehung eines ſolchen Geſchöpfes zu einem Himmelskörper, der <lb/>zwanzig Millionen Meilen von ihm entfernt iſt, ein Band, das <lb/>Leib und Leben eines Würmchens mit der Exiſtenz der unend-<lb/>lich fernen Himmelskörper verknüpft.</s>
  <s xml:id="echoid-s7881" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7882" xml:space="preserve">Nicht minder iſt das Ohr ein Organ zum Verkehr mit der
<pb o="109" file="593" n="593"/>
Außenwelt, wenn auch deſſen Wirkungskreis nicht ſoweit reicht <lb/>wie der des Auges. </s>
  <s xml:id="echoid-s7883" xml:space="preserve">Wir hören höchſtens nur Botſchaften <lb/>ſolcher Vorgänge, die im Bereich der Luft vorgehen, die die <lb/>Erde umgiebt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7884" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7885" xml:space="preserve">Der Geruch ſetzt ebenfalls das Tier in Verkehr mit der <lb/>Außenwelt; </s>
  <s xml:id="echoid-s7886" xml:space="preserve">aber das Bereich dieſes Organs iſt im allgemeinen <lb/>noch kleiner als das des Ohres.</s>
  <s xml:id="echoid-s7887" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7888" xml:space="preserve">Der Geſchmack macht uns ebenfalls mit Eigenſchaften von <lb/>Dingen bekannt, die außer uns exiſtieren; </s>
  <s xml:id="echoid-s7889" xml:space="preserve">aber dieſe Dinge <lb/>müſſen ſchon in nahe Berührung mit Zunge und Gaumen <lb/>treten.</s>
  <s xml:id="echoid-s7890" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7891" xml:space="preserve">Endlich giebt uns das Gefühl oder der Taſtſinn gleich-<lb/>falls eine Kenntnis von Dingen, die außerhalb unſers Leibes <lb/>exiſtieren; </s>
  <s xml:id="echoid-s7892" xml:space="preserve">aber hierzu iſt ſchon nötig, daß der Eindruck durch <lb/>eine unſern ganzen Leib überziehende Oberhaut hindurchdringt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7893" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7894" xml:space="preserve">Gleichwohl ſind alle dieſe genannten angebornen Eigen-<lb/>tümlichkeiten des Tieres, die man die fünf Sinne desſelben <lb/>nennt, Werkzeuge, um dem Tier einen Einfluß der Außenwelt <lb/>zum Bewußtſein zu bringen, eine Beziehung des Tieres zu der <lb/>Außenwelt zu unterhalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s7895" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7896" xml:space="preserve">Den Pflanzen fehlen die Sinne. </s>
  <s xml:id="echoid-s7897" xml:space="preserve">Sie haben nur ein <lb/>innerliches Leben; </s>
  <s xml:id="echoid-s7898" xml:space="preserve">und die Tiere, ſoweit ihr innerliches Leben <lb/>reicht, haben auch mit den fünf Sinnen nichts zu thun. </s>
  <s xml:id="echoid-s7899" xml:space="preserve">Es <lb/>giebt auch untergeordnete Tiere, bei denen man weder Augen <lb/>noch Ohren oder einen Erſatz dieſer Organe bemerkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7900" xml:space="preserve">Aber <lb/>ebenſo wie wir bereits dargethan haben, daß das innere Leben <lb/>des Tieres ſich dadurch unterſcheidet von einem wirklichen <lb/>Pflanzenleben, daß das Tierleben von einem Syſtem von <lb/>Nerven dirigiert wird, ſo iſt auch die Thätigkeit der fünf Sinne <lb/>des Tieres, dieſer höhere Vorzug derſelben vor den Pflanzen, <lb/>von den Nerven abhängig, die mit den Organen der fünf Sinne <lb/>in Verbindung ſtehen und die Eindrücke der Sinne zum Gehirn <lb/>leiten.</s>
  <s xml:id="echoid-s7901" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="110" file="594" n="594"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7902" xml:space="preserve">Von der Hinterwand des Auges geht ein Nerv, ein weißer, <lb/>fettartig ausſehender Strang, bis an eine gewiſſe Stelle des <lb/>Gehirns. </s>
  <s xml:id="echoid-s7903" xml:space="preserve">Hier iſt der Nerv mit dem Gehirn verwachſen, <lb/>während er am andern Ende mit der Hinterwand des Auges <lb/>verwachſen iſt, welche von feinen Fäden dieſer Nerven aus-<lb/>tapeziert iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7904" xml:space="preserve">Auge, Nervenfaden und Hirn ſind alſo in un-<lb/>mittelbarem Zuſammenhang, und wenn dies der Fall iſt, <lb/>erregt irgend ein leuchtender oder beleuchteter Gegenſtand, deſſen <lb/>Strahlen ein Bildchen auf der Hinterwand des Anges erzeugen, <lb/>das Bewußtſein des Sehens. </s>
  <s xml:id="echoid-s7905" xml:space="preserve">Das heißt, ſo lange Auge und <lb/>Gehirn durch den Nerven in Verbindung ſtehen, ſo lange macht <lb/>jeder Lichteindruck auf das Auge einen bewußten Eindruck auf <lb/>das Gehirn; </s>
  <s xml:id="echoid-s7906" xml:space="preserve">durchſchneidet man aber den Nerven, ſo fällt zwar <lb/>das Licht ins Auge; </s>
  <s xml:id="echoid-s7907" xml:space="preserve">aber weil die Verbindung mit dem Ge-<lb/>hirn zerſtört iſt, hört auch jede Art von Sehen auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s7908" xml:space="preserve">Das <lb/>Sehen geſchieht nur im Gehirn, nur an der Stätte des Be-<lb/>wußtſeins, und der Weg vom Bild des Auges zum Gehirn <lb/>geht nur durch dieſen beſtimmten Nerven.</s>
  <s xml:id="echoid-s7909" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7910" xml:space="preserve">Man nennt dieſen Nerven den Seh-Nerven und er iſt <lb/>auch in der That zu nichts anderm da, als Lichteindrücke ins <lb/>Gehirn zu leiten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7911" xml:space="preserve">Verſetzt man Jemandem einen Schlag aufs <lb/>geſchloſſene Auge, ſo reizt man dieſen Nerven und macht, daß <lb/>der Mißhandelte Flammen, Funken zu ſehen glaubt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7912" xml:space="preserve">Es rührt <lb/>dies daher, daß dieſer Nerv jede Art Reiz, den man auf ihn <lb/>ausübt, mag man ihn ſtoßen, ſtechen, brennen, drücken oder <lb/>elektriſieren, immer nur als einen Licht-Eindruck zum Gehirn <lb/>bringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7913" xml:space="preserve">Der Nerv verurſacht keine andere Empfindung als <lb/>Licht; </s>
  <s xml:id="echoid-s7914" xml:space="preserve">er verurſacht beim Durchſchneiden keinen Schmerz, ſon-<lb/>dern läßt den Operierten nur einen blendenden Blitz ſehen, <lb/>auf den für ihn ewige Finſternis folgt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7915" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7916" xml:space="preserve">In ganz gleicher Weiſe geht ein Nerv von einer be-<lb/>ſtimmten Stelle des Gehirns nach der Naſe, und verbreitet ſich <lb/>hier in ſeinen Zweigen in der Naſenhöhle. </s>
  <s xml:id="echoid-s7917" xml:space="preserve">Es iſt dies der
<pb o="111" file="595" n="595"/>
Riech-Nerv, der es vermittelt, daß die der Luft beigemiſchten <lb/>feinen Teilchen verdunſtender Dinge, welche mit dem Ein-<lb/>atmen durch die Naſe die Nervenzweige berühren, den Nerven <lb/>reizen, und ſo eine Geruchs-Empfindung zum Hirn leiten. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7918" xml:space="preserve">Unterbricht man die Leitung, verletzt man dieſen Nerven, ſo <lb/>hört die Gabe des Riechens vollkommen auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s7919" xml:space="preserve"><anchor type="note" xlink:href="" symbol="*)"/></s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7920" xml:space="preserve">Wir werden ſehen, daß es mit den übrigen Sinnen ebenſo <lb/>iſt, und wie die Nerven im Tiere die Fäden bilden, welche die <lb/>Außenwelt mit der Innenwelt verbinden.</s>
  <s xml:id="echoid-s7921" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div276" type="section" level="1" n="197">
<head xml:id="echoid-head223" xml:space="preserve"><emph style="bf">XL. Von den übrigen Sinnesnerven.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7922" xml:space="preserve">Ganz ſo wie es mit den Seh-Nerven und Riech-Nerven <lb/>beſchaffen iſt, ſo iſt es auch mit den Gehör-, Geſchmacks- und <lb/>den Gefühlsnerven der Fall.</s>
  <s xml:id="echoid-s7923" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7924" xml:space="preserve">Nicht allzu fern von der Stelle des Gehirus, wo der <lb/>Seh-Nerv und Geruchs-Nerv nach Auge und Na@e abgehen, <lb/>geht der Hör-Nerv zum Ohr. </s>
  <s xml:id="echoid-s7925" xml:space="preserve">Das Ohr iſt nur ein Werkzeug, <lb/>um den Schall, der außerhalb entſteht, aufzunehmen; </s>
  <s xml:id="echoid-s7926" xml:space="preserve">der Nerv <lb/>wird durch den Schall angeregt und leitet ihn zum Gehirn, in <lb/>welchem er erſt mit Bewußtſein vernommen wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s7927" xml:space="preserve">Auch auf <lb/>dieſen Nerven wirkt jede Art Reiz als Schall; </s>
  <s xml:id="echoid-s7928" xml:space="preserve">wird er durch-<lb/>ſchnitten, ſo hört der Operierte im Augenblick des Durch-<lb/>ſchneidens einen Schall, auf welchen ewige Stille einer ſtummen <lb/>Welt folgt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7929" xml:space="preserve"/>
</p>
<note symbol="*)" position="foot" xml:space="preserve"> Es ſei übrigens bemerkt, daß der Geruchsſinn vielleicht als der <lb/>feinſte Sinn betrachtet werden muß, den wir überhaupt beſitzen: wie fein <lb/>er iſt, erhellt aus der Thatſache, daß wir von einem der fürchterlichſten <lb/>Stinkſtoffe, dem ſogenannten Mercaptan, noch ein dreihundertundſechzig <lb/>Millionſtel Milligramm durch den Geruch wahrnehmen können.</note>
<pb o="112" file="596" n="596"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7930" xml:space="preserve">Merkwürdig iſt noch beim Hören Folgendes.</s>
  <s xml:id="echoid-s7931" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7932" xml:space="preserve">Vom Lichte wiſſen wir, daß es nicht in die undurchſichti-<lb/>gen Körper eindringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7933" xml:space="preserve">Es läßt ſich alſo erklären, daß, wenn <lb/>der dazu eingerichtete Seh-Nerv den Eindruck des Lichtes nicht <lb/>nach dem Gehirn führt, auch dort das Bewußtſein des Lichtes <lb/>nicht entſtehen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s7934" xml:space="preserve">Beim Schall dagegen iſt es anders. </s>
  <s xml:id="echoid-s7935" xml:space="preserve">Der <lb/>Schall wird zwar durch dicke Mauern und noch mehr durch <lb/>weiche Maſſen, die er durchdringen muß, gedämpft, aber er <lb/>durchdringt ſie dennoch, ſobald er nur ſtark genug iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7936" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7937" xml:space="preserve">Daher kommt es, daß wenn auch durch eine Verletzung <lb/>oder Mißbildung des Ohrs und ſeiner Einrichtung der Schall <lb/>nicht auf dieſem Wege zum Gehör-Nerv dringt, das Gehirn <lb/>dennoch hören kann, weil dann der Schall durch die Schädel-<lb/>wände zum innern Ohre geht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7938" xml:space="preserve">So hört der Taube, ſo lange <lb/>ſein Gehörnerv unverletzt iſt, das Ticken einer Uhr, wenn er <lb/>ſie in den Mund nimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7939" xml:space="preserve">Er vernimmt die Töne eines Klaviers, <lb/>wenn er mit den Zähnen einen ſtählernen Stab feſthält, der <lb/>das Inſtrument berührt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7940" xml:space="preserve">Ja jeder Geſunde kann ſich davon <lb/>überzeugen, daß der Schall zum Gehirn gelangt ohne ſeinen <lb/>Weg durch das Ohr zu nehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7941" xml:space="preserve">Hält man nämlich eine an-<lb/>geſchlagene Stimmgabel vor ſich, ſo vernimmt man gar nichts, <lb/>oder nur ein ſehr ſchwaches Tönen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7942" xml:space="preserve">Sowie man aber die <lb/>Stimmgabel auf den Kopf ſetzt und den Stiel feſt gegen die <lb/>Kopfknochen andrückt, hört man den Ton ſehr laut und deutlich.</s>
  <s xml:id="echoid-s7943" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7944" xml:space="preserve">Ähnlich wie mit den bisher erwähnten Nerven iſt es mit <lb/>dem Geſchmacksnerven der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s7945" xml:space="preserve">Auch dieſer geht in der Nähe <lb/>der Stelle, wo die andern Sinnesnerven vom Gehirn aus ent-<lb/>ſpringen, nach den Organen des Geſchmacks, nach Zunge und <lb/>Gaumen, und verbreitet ſich hier in feine Äſte. </s>
  <s xml:id="echoid-s7946" xml:space="preserve">Vernichtet <lb/>man dieſen Nerv, ſo verliert man das Vermögen, den ver-<lb/>ſchiedenen Geſchmack verſchiedener Dinge zu empfinden, obwohl <lb/>ſonſt Zunge und Gaumen zu allen andern Dingen, die ſie ver-<lb/>richten, noch die Fähigkeit behalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s7947" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="113" file="597" n="597"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7948" xml:space="preserve">Nicht ganz wie mit dieſen Nerven iſt es mit den Gefühls-<lb/>Nerven.</s>
  <s xml:id="echoid-s7949" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7950" xml:space="preserve">Das Gefühl hat nicht ſeinen Sitz an einem beſtimmten <lb/>Organ des Körpers, ſondern iſt, wenn auch ſehr verſchieden, <lb/>auf der ganzen Oberfläche des Körpers verbreitet; </s>
  <s xml:id="echoid-s7951" xml:space="preserve">und deshalb <lb/>iſt auch die Zahl der Gefühlsnerven größer und ihre Ver-<lb/>teilung im Körper verſchieden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7952" xml:space="preserve">Die Gefühls-Nerven entſpringen <lb/>zwar alle aus dem Gehirn, aber ſie gehen nicht alle direkt von <lb/>dort ab bis zu allen Teilen des Körpers, in welchen man Ge-<lb/>fühl beſitzt; </s>
  <s xml:id="echoid-s7953" xml:space="preserve">es iſt vielmehr die Einrichtung getroffen, daß die <lb/>Teile des Kopfes mit Gefühlsnerven verſorgt werden, welche <lb/>direkt vom Gehirn abgehen, während der Rumpf mit Nerven-<lb/>fäden verſehen wird, die, gemeinſam in einem dicken Nerven-<lb/>ſtrang vereinigt, das Rückenmark bilden, welches durch das <lb/>hohle Rohr der Wirbelſäule durch Hals- und Rücken hinab-<lb/>läuft bis in die Tiefe der Bauchhöhle.</s>
  <s xml:id="echoid-s7954" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7955" xml:space="preserve">Das Rückgrat, deſſen Knochenwirbel wir ſehr deutlich mit <lb/>der Hand fühlen können, beſteht nämlich aus eigentümlichen <lb/>Knochenringen, die aufeinander liegend ein hohles Rohr bilden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7956" xml:space="preserve">Dieſes hohle Rohr geht hinauf bis an den Schädel, woſelbſt <lb/>im Knochen ein ziemlich großes Loch iſt, durch dieſes Loch <lb/>hängt ein dicker Nervenſtrang, der oben mit dem Gehirn ver-<lb/>wachſen iſt, herunter, der eben das Rückenmark heißt, und der <lb/>das hohle Rohr faſt bis hinab ausfüllt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7957" xml:space="preserve">Das Rückenmark iſt <lb/>alſo eine Fortſetzung des Gehirns, oder richtiger ein dickes <lb/>Bündel einzelner Nerven, die eingeſchloſſen von der knochigen <lb/>Wirbelſäule gemeinſam dem Rücken entlang abwärts gehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7958" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7959" xml:space="preserve">In der Wirbelſäule aber ſind zu beiden Seiten jedes <lb/>Wirbels Löcher, durch welche Nervenfäden vom gemeinſamen <lb/>Strang ſich entfernen und nach den nächſten Gliedern des <lb/>Leibes gehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s7960" xml:space="preserve">und dieſe Nerven bewirken es, daß wir im <lb/>ganzen Körper Gefühl haben, das heißt, wir werden durch <lb/>die Nerven, die äußerſt fein an der Oberfläche des ganzen</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7961" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s7962" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s7963" xml:space="preserve">Volksbücher X.</s>
  <s xml:id="echoid-s7964" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="114" file="598" n="598"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7965" xml:space="preserve">Leibes verteilt ſind, uns im Gehirn bewußt, wenn irgend ein <lb/>Gegenſtand außer uns unſern Körper berührt, wir empfinden <lb/>Kälte, Wärme, Hitze, Stechen, Brennen und ſo weiter durch <lb/>dieſe Nervenfäden, die von den Gliedern zum Rückenmark, von <lb/>dort zum Gehirn führen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7966" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div277" type="section" level="1" n="198">
<head xml:id="echoid-head224" xml:space="preserve"><emph style="bf">XLI. Die Fähigkeit der Bewegung des Tierleibes.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7967" xml:space="preserve">Wir ſehen, wie das ganze Tierleben, ſo weit es ſich vom <lb/>Leben der Pflanze unterſcheidet, dirigiert wird von der Exiſtenz <lb/>eines Gehirns und der von ihm auslaufenden Nerven; </s>
  <s xml:id="echoid-s7968" xml:space="preserve">wie <lb/>ſowohl Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen her-<lb/>rühren von einer Thätigkeit des Gehirns und einer Leitung <lb/>der Nerven, welche die Eindrücke der Außenwelt dem Tiere <lb/>zum Bewußtſein bringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7969" xml:space="preserve">Wir wollen nunmehr zeigen, wie <lb/>auch das Tier ebenfalls durch das Gehirn und durch Nerven <lb/>in den Stand geſetzt iſt, ſich mit der Außenwelt in ein Ver-<lb/>hältnis zu ſetzen, wie es nicht nur Eindrücke von außen her <lb/>empfängt, ſondern auf die Außenwelt mit mehr oder weniger <lb/>freiem Willen einwirken kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s7970" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7971" xml:space="preserve">Dieſe Einwirkung geſchieht durch die Fähigkeit des Tieres, <lb/>ſich in der Welt zu bewegen und thätig zu ſein, ſoweit es zum <lb/>Leben in der Außenwelt nötig iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7972" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7973" xml:space="preserve">Ein jedes Tier iſt ſo gebaut, daß es Körperteile beſitzt, <lb/>welche es nach eigenem Willen zuſammenziehen und wieder in <lb/>die natürliche Lage der Erſchlaffung übergehen laſſen kann; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7974" xml:space="preserve">und auf dieſer einzigen Fähigkeit, die im Grunde genommen <lb/>äußerſt einfach iſt, beruht die ganze Maſchinerie, durch welche <lb/>ein Tier ſich in Bewegung zu ſetzen vermag, und zwar geſchickter <lb/>und durchdachter als alle künſtlichen Maſchinerien der Welt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7975" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="115" file="599" n="599"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7976" xml:space="preserve">Wir wollen der Deutlichkeit halber den Menſchen als <lb/>Beiſpiel anführen, inſoweit er hierin dem Tiere gleicht; </s>
  <s xml:id="echoid-s7977" xml:space="preserve">denn <lb/>das Gehen, Stehen, Hinlegen, Aufrichten, Laufen, Springen, <lb/>Schwimmen und Hantieren des Menſchen iſt in allen natur-<lb/>gemäßen Fällen dem des Tieres gleich. </s>
  <s xml:id="echoid-s7978" xml:space="preserve">Das Prinzip iſt das-<lb/>ſelbe, wenn auch die menſchliche Fähigkeit in den meiſten <lb/>Dingen eine ſehr geſteigerte iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7979" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7980" xml:space="preserve">Alle Bewegungen, die wir auszuführen imſtande ſind, <lb/>beruhen nur darauf, daß wir Muskeln beſitzen, das ſind die <lb/>Partieen, die man gewöhnlich unter dem Namen Fleiſch <lb/>bezeichnet. </s>
  <s xml:id="echoid-s7981" xml:space="preserve">Viele Menſchen glauben freilich, daß das Fleiſch <lb/>eine Art empfindliches Polſter um die Knochen iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s7982" xml:space="preserve">das iſt <lb/>aber ein Irrtum. </s>
  <s xml:id="echoid-s7983" xml:space="preserve">Das Fleiſch iſt Muskel, ein Stück Fleiſch, <lb/>das auf unſern Tiſch gebracht wird, und das wir uns wohl-<lb/>ſchmecken laſſen, iſt ein Stück Muskel des Tieres, welches uns <lb/>zur Nahrung dient, das aber dem Tiere als das Hauptwerkzeug <lb/>der Bewegung gedient hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s7984" xml:space="preserve">Die Muskeln ſind ſehr ver-<lb/>ſchieden geformt, und es giebt Stellen, wo eine Partie Muskeln <lb/>ſich auf einem kleinen Raum befinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7985" xml:space="preserve">Wenn wir jemanden <lb/>gefällig in die Backen kneifen, ſo haben wir nicht etwa ein <lb/>einziges Stück Fleiſch zwiſchen den Fingern, ſondern eine <lb/>ganze Partie Muskeln, zwiſchen denen Fett gelagert iſt, und <lb/>die gemeinſchaftlich von der Haut überzogen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s7986" xml:space="preserve">Die Muskeln <lb/>ſelber ſind kleinere oder längere, dickere oder zartere, ſchmalere <lb/>oder breitere fleiſchige Lappen, die meiſt von einem Knochen <lb/>zum andern laufen und mit dem einen Ende an dem einen, <lb/>mit dem andern an dem zweiten Knochen angewachſen ſind, <lb/>ohne jedoch in ihrer Länge mit den Knochen verwachſen zu ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s7987" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7988" xml:space="preserve">Dadurch nun, daß man mit ſeinem Willen dieſe mit den <lb/>Enden an zwei Knochen angewachſenen Muskeln zuſammen-<lb/>ziehen, verkürzen kann, zwingt man die Knochen, ſich im Gelenk, <lb/>wie eine Thür in ihrer Angel, zu bewegen, und hierauf einzig <lb/>und allein, auf dieſem äußerſt einfachen Mechanismus beruht
<pb o="116" file="600" n="600"/>
jede natürliche und künſtliche Bewegung, die wir mit dem <lb/>Körper vornehmen können.</s>
  <s xml:id="echoid-s7989" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7990" xml:space="preserve">Ein einziges Beiſpiel wird das, was wir hiermit meinen, <lb/>deutlich machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7991" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7992" xml:space="preserve">Man laſſe den linken Arm ruhig hängen, und man wird <lb/>mit der rechten Hand fühlen können, daß der dicke Muskel in <lb/>der Mitte des linken Oberarms weich und ſchlaff iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7993" xml:space="preserve">Sowie <lb/>man aber die Hand nach der Schulter bringen will, alſo ge-<lb/>nötigt iſt, den ruhenden Arm im Ellenbogen wie in einem <lb/>Gelenk zu bewegen, ſo wird man mit der rechten Hand fühlen, <lb/>auch mit dem Auge ſehen können, daß der dicke Muskel des <lb/>linken Oberarms ſich zuſammenzieht, daß er bauchiger, dicker <lb/>und deshalb kürzer und feſter wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s7994" xml:space="preserve">Viele werden nun glauben, <lb/>daß dies nur geſchehen iſt, weil man den Arm im Ellenbogen <lb/>bewegt habe; </s>
  <s xml:id="echoid-s7995" xml:space="preserve">ſie werden die Bewegung als die Urſache, und <lb/>das Dickwerden des Muskels als die Folge betrachten; </s>
  <s xml:id="echoid-s7996" xml:space="preserve">dies <lb/>iſt aber umgekehrt der Fall.</s>
  <s xml:id="echoid-s7997" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7998" xml:space="preserve">Wir haben den Unterarm nur zu heben vermocht, weil <lb/>wir den Muskel des Oberarms zuſammengezogen haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7999" xml:space="preserve">Das <lb/>untere Ende des dicken Muskels iſt nämlich an den Knochen <lb/>des Unterarmes angewachſen, und indem wir den Muskel zu-<lb/>ſammengezogen, alſo kürzer gemacht haben, haben wir den <lb/>Unterarm gezwungen, ſich dem Oberarm zu nähern, ſich zu <lb/>heben und im Ellenbogen-Gelenk zu drehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8000" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8001" xml:space="preserve">Freilich haben wir beim Heben des Unterarmes garnicht <lb/>an den dicken Muskel über ihm gedacht, und es kommt uns <lb/>auch ſo vor, als hätte ſich dieſer Muskel garnicht um den <lb/>Unterarm zu kümmern, und doch beweiſen es die tauſend-<lb/>fältigen Verſuche, daß nur, wenn wir dieſen Muskel zuſammen-<lb/>ziehen können, wir imſtande ſind, den Unterarm zu heben; </s>
  <s xml:id="echoid-s8002" xml:space="preserve">iſt <lb/>der Muskel bedeutend verwundet, ſo daß wir ihn nicht zu-<lb/>ſammenziehen können, ſo iſt es rein unmöglich, die Bewegung <lb/>des Unterarmes auszuführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8003" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="117" file="601" n="601"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8004" xml:space="preserve">Da aber ein ähnliches Verhältnis im ganzen Körper ſtatt-<lb/>findet, ſo iſt es durch tauſendfältige Unterſuchungen nach-<lb/>gewieſen, daß alle Bewegungen unſerer Glieder nur bewerk-<lb/>ſtelligt werden durch die Fähigkeit, die Muskeln zuſammen-<lb/>zuziehen, ſo daß hauptſächlich hierauf die ganze Maſchinerie <lb/>der Beweglichkeit beruht.</s>
  <s xml:id="echoid-s8005" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8006" xml:space="preserve">Wir werden aber ſogleich ſehen, daß auch hierbei das <lb/>Gehirn und die Nerven die eigentliche Hauptrolle ſpielen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8007" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div278" type="section" level="1" n="199">
<head xml:id="echoid-head225" xml:space="preserve"><emph style="bf">XLII. Wie die Muskeln zur Bewegung angereizt</emph> <lb/><emph style="bf">werden.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8008" xml:space="preserve">Die Fähigkeit der einzelnen Muskeln, ſich zuſammen-<lb/>zuziehen, und dadurch Bewegungen der Glieder des Tieres zu <lb/>veranlaſſen, liegt zwar in der Beſchaffenheit der Muskeln ſelbſt; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8009" xml:space="preserve">es haben jedoch unzählige Verſuche den Beweis geführt, daß <lb/>ſich ein Muskel durchaus nur infolge eines Reizes zuſammen-<lb/>zieht, der ihm vom Gehirn zukommt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8010" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8011" xml:space="preserve">Außer den Nerven, welche die Eindrücke der fünf Sinne <lb/>zum Gehirn führen, gehen nämlich vom Gehirn noch andere <lb/>Nerven ab, und zwar nach jedem Muskel unſeres Leibes; </s>
  <s xml:id="echoid-s8012" xml:space="preserve">und <lb/>dieſe Nerven bringen vom Gehirn den Reiz zu den Muskeln, <lb/>auf welchen ſie ſich zuſammenziehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8013" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8014" xml:space="preserve">Der Weg, den dieſe Nerven vom Gehirn zu den Muskeln <lb/>nehmen, iſt ebenſo wie der der Gefühlsnerven verſchieden für <lb/>Kopf und Rumpf. </s>
  <s xml:id="echoid-s8015" xml:space="preserve">Die Muskeln des Kopfes werden von <lb/>Bewegungsnerven verſorgt, die direkt vom Gehirn zu ihnen ab-<lb/>gehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s8016" xml:space="preserve">die Muskeln des Rumpfes werden von Bewegungsnerven <lb/>durchwebt, welche gemeinſam einen Teil des Rückenmarks <lb/>bilden, das vom Gehirn abwärts der Wirbelſäule entlanggeht,
<pb o="118" file="602" n="602"/>
und von hier Nervenfäden nach jedem Muskel des Leibes <lb/>abſendet.</s>
  <s xml:id="echoid-s8017" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8018" xml:space="preserve">Man nennt dieſe Nerven mit Recht: </s>
  <s xml:id="echoid-s8019" xml:space="preserve">“Bewegungs-Nerven”, <lb/>denn nur ſie ſind es, welche vom Gehirn aus den Befehl nach <lb/>jedem beſonderen Muskel bringen, wenn dieſer ſich zuſammen-<lb/>ziehen ſoll. </s>
  <s xml:id="echoid-s8020" xml:space="preserve">Iſt das Gehirn nicht imſtande, ſolche Befehle zu <lb/>erteilen, ſo z. </s>
  <s xml:id="echoid-s8021" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s8022" xml:space="preserve">im Schlafe, in Ohnmachten, während der <lb/>Betäubung durch Chloroform u. </s>
  <s xml:id="echoid-s8023" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s8024" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s8025" xml:space="preserve">, ſo ruhen die Muskeln <lb/>und bewegen ſich nicht aus eigenem Antrieb. </s>
  <s xml:id="echoid-s8026" xml:space="preserve">Der Patient, <lb/>der wegen einer vorzunehmenden Operation mit Chloroform <lb/>ſtark betäubt wird, fühlt nicht nur keinen Schmerz, ſondern er <lb/>iſt auch nicht imſtande, die Glieder zu bewegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8027" xml:space="preserve">Die Betäubung <lb/>des Gehirns bewirkt, daß dieſes nicht jenen Reiz auf die <lb/>Muskeln ausüben kann, den es ſonſt vermittelſt der Nerven <lb/>ausübt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8028" xml:space="preserve">Nach einem heftigen Schlage auf den Schädel, der <lb/>imſtande iſt, das Gehirn zu erſchüttern, ſtürzen die kräftigſten <lb/>Tiere nieder; </s>
  <s xml:id="echoid-s8029" xml:space="preserve">ſie vermögen ſich nicht auf den Beinen zu erhalten, <lb/>denn ihre Muskeln erſchlaffen ſofort, ſobald das Gehirn in <lb/>ſeiner Thätigkeit geſtört iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8030" xml:space="preserve">Ein ſchrecklicher, entſetzenvoller <lb/>Anblick vermag die vollkommen geſunden Glieder eines Menſchen <lb/>erſchlaffen zu machen, zu lähmen, ja ſogar dauernd zu lähmen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8031" xml:space="preserve">Der Anblick hat zwar nur durch das Auge auf das Gehirn <lb/>gewirkt; </s>
  <s xml:id="echoid-s8032" xml:space="preserve">aber die Erſchütterung, die dieſes hierbei erlitten hat, <lb/>iſt oft groß genug, um die Einwirkung des Gehirns auf die <lb/>Nerven und Muskeln des Leibes zu unterbrechen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8033" xml:space="preserve">Iſt die <lb/>Unterbrechung nur ſehr kurz, ſo zuckt der ganze Leib bloß zu-<lb/>ſammen und richtet ſich bald wieder auf, wie dies beim <lb/>heftigen Erſchrecken gewöhnlich iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8034" xml:space="preserve">Dauert die Unterbrechung <lb/>der Gehirnthätigkeit länger, ſo erſchlaffen die Muskeln, die <lb/>Füße knicken ein, und der Menſch wird ohnmächtig, das heißt, <lb/>zeitweiſe an allen Gliedern gelähmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8035" xml:space="preserve">Iſt der ſtörende Eindruck <lb/>auf das Gehirn noch heftiger geweſen, war er z. </s>
  <s xml:id="echoid-s8036" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s8037" xml:space="preserve">ſo ſtark, daß <lb/>er mittelſt des herumſchweifenden Nerven, des Vagus, deſſen wir
<pb o="119" file="603" n="603"/>
bereits früher erwähnt haben, auch die Herzthätigkeit ſtört, ſo <lb/>kann ebenſowohl eine Blut-Entleerung, wie auch das Gegenteil, <lb/>ein Bluterguß im Gehirn ſtattfinden, und eine dauernde Lähmung, <lb/>oder gar den Tod zur Folge haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8038" xml:space="preserve">Man nennt dies vom <lb/>Gehirn-Schlage getroffen werden, weil wirklich der erſchütternde <lb/>Eindruck auf das Gehirn die Haupturſache dieſer unglücklichen <lb/>Vorfälle iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8039" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8040" xml:space="preserve">Aus all’ dem aber ergiebt ſich, daß die Bewegung der <lb/>Glieder, der Muskeln alſo, nur durch die Thätigkeit des Gehirns <lb/>erfolgt, und daß alle Glieder ſamt und ſonders unbeweglich <lb/>ſind, wenn ſie nicht vom Gehirn aus zur Bewegung angeregt <lb/>werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s8041" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8042" xml:space="preserve">Und dieſe Anregung eben geſchieht durch die Boten des <lb/>Gehirns, durch die Nerven, die wie elektriſche Drähte vom <lb/>Gehirn, dem Zentralbureau, nach jedem Muskel gehen, und <lb/>auf eine Anreizung das Zuſammenziehen der Muskeln in <lb/>zweckmäßiger Weiſe anordnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8043" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div279" type="section" level="1" n="200">
<head xml:id="echoid-head226" xml:space="preserve"><emph style="bf">XLIII. Eine Nervendurchſchneidung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8044" xml:space="preserve">Den mächtigen Einfluß, welchen die Nerven auf diejenigen <lb/>Körperteile ausüben, in denen ſie ſich ausbreiten, kann man <lb/>auf eine ſehr überraſchende Weiſe zur Anſchauung bringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8045" xml:space="preserve">Es <lb/>iſt dazu nur nötig, an einem lebendigen Tiere einen Verſuch <lb/>anzuſtellen, der in ſeiner Ausführung allerdings nicht ſehr zart <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8046" xml:space="preserve">Mag auch manche nervöſe Seele vor dieſem Gedanken er-<lb/>zittern, die Wiſſenſchaft darf ſich durch keinen Skrupel von den <lb/>Verſuchen an lebenden Weſen abſchrecken laſſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s8047" xml:space="preserve">denn dies iſt <lb/>der einzige Weg, auf welchem ſie zur Erkenntnis der Lebens-<lb/>vorgänge gelangt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8048" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="120" file="604" n="604"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8049" xml:space="preserve">Wir durchſchneiden nämlich an einem lebenden Tiere einen <lb/>Nerven und ſehen zu, welche Veränderungen in demjenigen <lb/>Körperteile eintreten, der von dem durchſchnittenen Nerven <lb/>verſorgt wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s8050" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8051" xml:space="preserve">Wir wählen als Opfer unſerer Wißbegierde einen Froſch, <lb/>der ſolche Operationen außerordentlich gut verträgt und deshalb <lb/>ſchon ſeit langer Zeit das Opferlamm der Phyſiologie iſt, und <lb/>durchſchneiden ihm denjenigen Nerven, welcher in das rechte <lb/>Hinterbein hineingeht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8052" xml:space="preserve">Der operierte Froſch, nachdem wir ihn <lb/>freigelaſſen, ſucht mit gewaltigen Sprüngen den Händen ſeines <lb/>Peinigers zu entfliehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s8053" xml:space="preserve">aber, ſiehe da, während er mit dem <lb/>linken Beine kräftig vom Boden abſtößt, verſagt das rechte <lb/>ſeinen Dienſt vollſtändig. </s>
  <s xml:id="echoid-s8054" xml:space="preserve">Auch nicht ein einziger Muskel <lb/>ſetzt ſich in Bewegung, um der Flucht ſeines Herrn zu Hülfe <lb/>zu kommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8055" xml:space="preserve">Vielmehr liegt das Bein ſchlaff da und wird <lb/>von dem hüpfenden Froſch wie ein toter Gegenſtand nach-<lb/>geſchleppt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8056" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8057" xml:space="preserve">Dieſe auffallende Erſcheinung, welche die Nervendurch-<lb/>ſchneidung hervorruft, giebt uns eine Vorſtellung von einer <lb/>wichtigen Leiſtung, welche dem Nerven im Körper auferlegt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8058" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8059" xml:space="preserve">Ohne Zweifel hat nämlich der operierte Froſch ebenſo wie <lb/>vor der Operation den Willen, das rechte Bein in derſelben <lb/>Weiſe zu bewegen wie das linke. </s>
  <s xml:id="echoid-s8060" xml:space="preserve">Das rechte Bein aber <lb/>unterwirft ſich dieſem Befehle nicht mehr, ſondern bleibt <lb/>unbeweglich und es iſt daher klar, daß dieſer Befehl nicht in <lb/>dem Beine ſelber, ſonder außerhalb desſelben ſeinen Urſprung <lb/>haben muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s8061" xml:space="preserve">Nun wiſſen wir, daß der Wille, der ſolche Befehle <lb/>austeilt, im Gehirn ſeinen Sitz hat, und wenn derſelbe zur <lb/>Ausführung kommen ſoll, was ja in den entfernteſten Teilen <lb/>des Körpers geſchieht, ſo muß auf irgend eine Weiſe der <lb/>Befehl dorthin überbracht werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8062" xml:space="preserve">Der bloße Wille des Tieres, <lb/>das Bein zu bewegen, genügt keineswegs, damit dies in <lb/>Wirklichkeit geſchehe, ebenſowenig wie der Wille des Reiters
<pb o="121" file="605" n="605"/>
ausreicht, das Roß zu lenken. </s>
  <s xml:id="echoid-s8063" xml:space="preserve">Vielmehr exiſtiert zwiſchen Roß <lb/>und Reiter ein Zwiſchenglied, der Zügel, das der Vollſtrecker <lb/>des gefaßten Willens iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8064" xml:space="preserve">Eine ähnliche Rolle nun wie die <lb/>des Zügels übernehmen im Körper die Nerven. </s>
  <s xml:id="echoid-s8065" xml:space="preserve">Sie gehen <lb/>vom Gehirn aus und ſetzen ſich ununterbrochen fort bis zu <lb/>dem Muskel, für den ſie beſtimmt ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s8066" xml:space="preserve">Dieſem überbringen ſie <lb/>den Befehl, ſich in Bewegung zu ſetzen und ſogleich geſchieht <lb/>dies. </s>
  <s xml:id="echoid-s8067" xml:space="preserve">Sie ſind die willigen und ergebenen Diener des Gehirns, <lb/>das ſich ihrer zu allen Lebensäußerungen bedient, ſie ſind die <lb/>Zügel, mit denen es nach ſeinem Willen den Körper lenkt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8068" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8069" xml:space="preserve">Wenn die Nerven zu dieſem Zwecke gebraucht werden, <lb/>ſieht man an ihnen allerdings nicht die Spur einer Benutzung, <lb/>wie man dies vielleicht vermutet. </s>
  <s xml:id="echoid-s8070" xml:space="preserve">So grob mechaniſch iſt alſo <lb/>in ihnen der Vorgang nicht wie in dem Zügel des Roſſes, der <lb/>durch Zug wirkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8071" xml:space="preserve">Daß aber nichts deſto weniger ein geheim-<lb/>nisvoller Bote vom Gehirn durch die Nerven zu den Muskeln <lb/>hinabeilt, das können wir ganz ſicher aus dem operierten <lb/>Froſche ſchließen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8072" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8073" xml:space="preserve">Auch hier wird im Gehirn der Befehl ausgeteilt: </s>
  <s xml:id="echoid-s8074" xml:space="preserve">das <lb/>rechte Bein ſoll ſich bewegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8075" xml:space="preserve">Der Bote geht auch ab, fährt <lb/>das Rückenmark entlang und kommt in dem Beinnerven an. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8076" xml:space="preserve">Während er nun in dieſem ſeinem Beſtimmungsorte zueilt, <lb/>ſtellt ſich ihm ein ganz unerwartetes Hindernis entgegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8077" xml:space="preserve">Der <lb/>ſchöne, geebnete Weg, auf dem er bis dahin gefahren, iſt <lb/>plötzlich durch eine tiefe Kluft geſpalten, über die ihn kein <lb/>Steg nach dem jenſeitigen Ufer führt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8078" xml:space="preserve">Vergebens kommt ein <lb/>Bote hinter dem andern an, denn das Gehirn wundert ſich, <lb/>was da los iſt, aber es ergeht keinem beſſer. </s>
  <s xml:id="echoid-s8079" xml:space="preserve">Sie bleiben <lb/>alle an derſelben Stelle ſtecken.</s>
  <s xml:id="echoid-s8080" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8081" xml:space="preserve">Dieſe Boten können nämlich nur in Nervenſubſtanz vor-<lb/>wärts kommen, alle anderen Gebilde des Körpers ſind für ſie <lb/>unwegſame und unüberſteigbare Felſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8082" xml:space="preserve">Sie ſind dabei ſo be-<lb/>quem, daß ſelbſt die kleinſte Unterbrechung der Nervenſubſtanz
<pb o="122" file="606" n="606"/>
ſie trotzig macht und zum Stillſtand zwingt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8083" xml:space="preserve">Und wenn wir <lb/>auch die durchſchnittenen Nervenenden noch ſo nahe an einander <lb/>brächten, daß kaum ein Härchen dazwiſchen kann, ſo würden <lb/>die Boten des Gehirns, die wahrſcheinlich nicht Turnen gelernt <lb/>haben, doch nicht von einem Ende zum anderen hinüberſpringen <lb/>können.</s>
  <s xml:id="echoid-s8084" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8085" xml:space="preserve">Der angeſtellte Verſuch belehrt uns alſo über die ſehr <lb/>wichtige Thatſache, daß die Nerven die Aufgabe haben, den <lb/>Befehl zur Bewegung vom Gehirn den Muskeln zu über-<lb/>tragen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8086" xml:space="preserve">Wir werden ſehen, daß ſie außerdem noch andere <lb/>wichtige Dienſte leiſten.</s>
  <s xml:id="echoid-s8087" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div280" type="section" level="1" n="201">
<head xml:id="echoid-head227" xml:space="preserve"><emph style="bf">XLIV. Eine weitere Folge der Nerven-</emph> <lb/><emph style="bf">durchſchneidung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8088" xml:space="preserve">Der Froſch, dem wir einen Nerven durchſchuitten haben, <lb/>bietet uns noch eine andere intereſſante Erſcheinung dar, die <lb/>uns weiteren Aufſchluß über das Leben und Treiben der <lb/>Nerven giebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8089" xml:space="preserve">Wir bemerken nämlich, daß das Bein der <lb/>operierten Seite nicht allein bewegungslos daliegt, ſondern <lb/>daß es auch vollſtändig gefühllos geworden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8090" xml:space="preserve">Wenn wir <lb/>den Froſch an irgend einer anderen Hautſtelle kneipen oder <lb/>ſtechen, ſo erfolgt eine ſehr kräftige Reaktion des Tieres, indem <lb/>es entweder das Bein gegen das angreifende Inſtrument ſtemmt <lb/>oder ſich durch die Flucht dem Angriffe zu entziehen ſucht. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8091" xml:space="preserve">Verſuchen wir dies dagegen an dem gelähmten Beine, ſo <lb/>kümmert ſich der Froſch nicht im Geringſten darum. </s>
  <s xml:id="echoid-s8092" xml:space="preserve">Mögen <lb/>wir es noch ſo ſehr kneipen und quetſchen, ja ſelbſt das ganze <lb/>Bein mit der Scheere abſchneiden, es erfolgt darauf nicht die <lb/>mindeſte Schmerzensäußerung von ſeiten des Froſches.</s>
  <s xml:id="echoid-s8093" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8094" xml:space="preserve">Dieſe auffallende Erſcheinung läßt ſich nur in einer Weiſe
<pb o="123" file="607" n="607"/>
erklären. </s>
  <s xml:id="echoid-s8095" xml:space="preserve">Vor allen Dingen wird es uns auf den erſten Blick <lb/>nicht zweifelhaft ſein, daß die Nerven, außer daß ſie die Be-<lb/>wegung leiten, auch noch einen bedeutenden Anteil an dem <lb/>Zuſtandekommen der Empfindung nehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8096" xml:space="preserve">Denn dieſelbe wird <lb/>vollkommen aufgehoben in einem Gliede, deſſen Nerv durch-<lb/>ſchnitten iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8097" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8098" xml:space="preserve">Bei unſerem operierten Froſch liegt nun die Sache ſehr <lb/>einfach. </s>
  <s xml:id="echoid-s8099" xml:space="preserve">Hier findet in der Haut des rechten Schenkels, deſſen <lb/>Nerv durchſchnitten iſt, derſelbe Vorgang ſtatt, wenn wir ſie <lb/>kneipen, als in der des linken. </s>
  <s xml:id="echoid-s8100" xml:space="preserve">Auch hier werden die Aus-<lb/>breitungen der Hautnerven erregt, auch hier geht ſofort ein <lb/>Bote ab, der durch den Verlauf der Nerven ſeinen Weg zum <lb/>Gehirn einſchlägt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8101" xml:space="preserve">Allein er kommt ebenfalls wie jene Gehirn-<lb/>boten an die Stelle, über die ihm keine mitleidige Kraft hin-<lb/>weghilft. </s>
  <s xml:id="echoid-s8102" xml:space="preserve">Da, wo wir den Nerven durchſchnitten haben, bleibt <lb/>er unfehlbar ſtecken und hat vielleicht nicht einmal den Troſt <lb/>zu ſehen, daß es ſeinen Kollegen am jenſeitigen Rande des <lb/>unüberſteigbaren Abgrundes ebenſo ergeht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8103" xml:space="preserve">Das Gehirn er-<lb/>hält alſo keine Nachrichten von dem, was mit dem operierten <lb/>Schenkel vor ſich geht, und kümmert ſich auch nicht darum, <lb/>was wir mit demſelben vornehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8104" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8105" xml:space="preserve">In den Nerven laufen demnach Erregungen zwiefacher <lb/>Art auf und ab. </s>
  <s xml:id="echoid-s8106" xml:space="preserve">Die eine beginnt im Gehirn und endet in <lb/>den Muskeln, wo ſie Bewegung hervorruft, die andere nimmt <lb/>in entgegengeſetzter Richtung von äußeren Teilen des Körpers <lb/>ihren Lauf nach dem Gehirn und erzeugt dort Empfindung.</s>
  <s xml:id="echoid-s8107" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div281" type="section" level="1" n="202">
<head xml:id="echoid-head228" xml:space="preserve"><emph style="bf">XLV. Die Teilung der Nervenarbeit.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8108" xml:space="preserve">Die Nerven, welche in die Glieder unſeres Körpers ein-<lb/>treten, verrichten dort, wenn ſie unverſehrt ſind, ihre Dienſte
<pb o="124" file="608" n="608"/>
mit wunderbarer Genauigkeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s8109" xml:space="preserve">Wir wiſſen jetzt, daß ihre Lei-<lb/>ſtung zwiefacher Natur iſt, indem ſie einmal Empfindung, das <lb/>andere Mal Bewegung vermitteln. </s>
  <s xml:id="echoid-s8110" xml:space="preserve">Wir wiſſen auch, daß beide <lb/>Erregungen in ein und demſelben Nervenſtamme zu gleicher <lb/>Zeit aneinander vorbeigleiten können, ohne daß ſie ſich im Ge-<lb/>ringſten aufhalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8111" xml:space="preserve">Dies ſcheint auf den erſten Blick höchſt <lb/>ſonderbar und rätſelhaft. </s>
  <s xml:id="echoid-s8112" xml:space="preserve">Denn wenn wir uns jene Boten, <lb/>welche die Nervenbahn auf- und ablaufen, noch ſo geiſterhaft <lb/>vorſtellen, ſo iſt es doch nicht recht denkbar, daß ihre Be-<lb/>gegnung in ein und demſelben Nerven ohne Einfluß auf ihren <lb/>Lauf ſein ſollte.</s>
  <s xml:id="echoid-s8113" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8114" xml:space="preserve">Nichts iſt indes einfacher als dies, und es wird ſich zeigen, <lb/>daß die Natur auch hier ein Prinzip zur Geltung gebracht hat, <lb/>das jetzt im ſozialen Leben eine große Anwendung findet, das <lb/>Prinzip der Arbeitsteilung. </s>
  <s xml:id="echoid-s8115" xml:space="preserve">Nehmen wir wieder einen Froſch <lb/>zur Hand und betrachten einmal genau die Stelle, wo jener <lb/>Nerv, mit dem wir bereits ſchon ein Experiment gemacht haben, <lb/>aus dem Rückenmark heraus kommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8116" xml:space="preserve">Wir bemerken ſogleich, <lb/>daß hier eine ganz eigentümliche Anordnung getroffen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8117" xml:space="preserve">Der <lb/>Nerv entſpringt nämlich nicht einfach, ſondern gleichſam aus <lb/>zwei Wurzeln, die ſich ſehr bald zu einem einzigen Stamme <lb/>vereinigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8118" xml:space="preserve">Die eine Wurzel kommt von der vorderen, die <lb/>andere von der hinteren Seite des Rückenmarks, und ſie be-<lb/>ſitzen bis zu ihrer Vereinigung nur eine geringe Länge. </s>
  <s xml:id="echoid-s8119" xml:space="preserve">Dieſe <lb/>Wurzeln werden uns über das Weſen der Nerven weiteren <lb/>Aufſchluß geben.</s>
  <s xml:id="echoid-s8120" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8121" xml:space="preserve">Um zu erfahren, welche Bedeutung die Wurzeln haben, <lb/>machen wir folgendes Experiment. </s>
  <s xml:id="echoid-s8122" xml:space="preserve">Wir durchſchneiden dem <lb/>Froſch an der rechten Seite die vordere Wurzel und an der <lb/>linken Seite die hintere Wurzel und ſehen nun zu, was ſich <lb/>darauf ereignet.</s>
  <s xml:id="echoid-s8123" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8124" xml:space="preserve">Wenn wir den Froſch nur oberflächlich betrachten, ſo <lb/>könnten wir meinen, daß ſich ſein Zuſtand von dem im vorigen
<pb o="125" file="609" n="609"/>
Experimente gar nicht unterſcheidet. </s>
  <s xml:id="echoid-s8125" xml:space="preserve">Denn während er beim <lb/>Hüpfen mit dem linken Beine kräftig vom Boden abſtößt, <lb/>ſchleppt er das rechte Bein ſchlaff hinter ſich her, ohne es nur <lb/>im Mindeſten zu bewegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8126" xml:space="preserve">Aber wenn wir die Sache ge-<lb/>nauer prüfen, ſo werden wir einen Unterſchied herausfinden, <lb/>der höchſt merkwürdiger Natur iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8127" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8128" xml:space="preserve">Wir bemerken nämlich, daß, wenn wir wieder das rechte <lb/>Bein, welches unbeweglich daliegt, kneipen oder ſtechen, der <lb/>Froſch wunderbarer Weiſe durchaus nicht gleichgültig dagegen iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8129" xml:space="preserve">Vielmehr ſucht er mit allen Kräften dem Angriff zu entfliehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8130" xml:space="preserve"><lb/>Nur vermag er nicht das angegriffene Bein ſelbſt durch direkte <lb/>Bewegungen desſelben dem Reize zu entziehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8131" xml:space="preserve">Aber noch <lb/>ſeltſamer, wenn wir jetzt das linke Bein, das der Froſch ſehr <lb/>gut bewegen kann, irgend einer Reizung ausſetzen, ſo hat dies <lb/>auch nicht den geringſten Einfluß auf das Tier. </s>
  <s xml:id="echoid-s8132" xml:space="preserve">Wir können <lb/>ſelbſt, wie wir es damals an dem gelähmten Beine gemacht <lb/>haben, dasſelbe ganz abſchneiden, der Froſch hat davon auch <lb/>nicht die leiſeſte Empfindung.</s>
  <s xml:id="echoid-s8133" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8134" xml:space="preserve">Dieſer Zuſtand des Froſches iſt ſehr ſonderbar. </s>
  <s xml:id="echoid-s8135" xml:space="preserve">Im linken <lb/>Bein, das er ungeſtört bewegen kann, fühlt er nichts, und das <lb/>rechte Bein, in welchem er Alles fühlt, kann er nicht bewegen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8136" xml:space="preserve">Wie geht das zu?</s>
  <s xml:id="echoid-s8137" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8138" xml:space="preserve">Hierfür giebt es nur eine Erklärung. </s>
  <s xml:id="echoid-s8139" xml:space="preserve">Die Boten, welche <lb/>vom Gehirn kommen und Bewegung erzeugen, können nur <lb/>durch die vorderen Wurzeln aus dem Rückenmark heraus-<lb/>kommen, und die Boten, welche zum Gehirn gehen und Empfin-<lb/>dung hervorrufen, können nur durch die hintere Wurzel ins <lb/>Rückenmark hineingelangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8140" xml:space="preserve">Auf der rechten Seite, wo wir <lb/>die vordere Wurzel durchſchnitten haben, iſt daher die Be-<lb/>wegung nicht möglich, weil der Befehl des Gehirns über die <lb/>Durchſchneidung nicht fort kann, wohl aber wird die Empfin-<lb/>dung durch die unverſehrte hintere Wurzel weiter geleitet. </s>
  <s xml:id="echoid-s8141" xml:space="preserve">Auf <lb/>der linken Seite dagegen, wo die hintere Wurzel durchſchnitten
<pb o="126" file="610" n="610"/>
iſt, iſt umgekehrt die Empfindung unmöglich, weil jede Nach-<lb/>richt ſchon im unteren Schnittende ſtecken bleibt, während die <lb/>Bewegung ungeſtört durch die vordere Wurzel vermittelt wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s8142" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8143" xml:space="preserve">Ausgang und Eingang zum Rückenmark ſind alſo wohl <lb/>von einander geſchieden, und dieſe Einrichtung iſt immer da <lb/>praktiſch, wo Gedränge und Verwirrung entſtehen könnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s8144" xml:space="preserve">Eine <lb/>ſolche Teilung der Arbeit findet jedoch nicht bloß hier in den <lb/>Wurzeln ſtatt, ſondern reicht noch weiter über die ganzen <lb/>Nerven hinaus. </s>
  <s xml:id="echoid-s8145" xml:space="preserve">All’ die vielen, feinen Nervenfaſern nämlich, <lb/>welche in den Wurzeln enthalten ſind, vereinigen ſich zwar in <lb/>einen Stamm, bleiben aber darin ſtreng von einander getrennt, <lb/>und nur die der vorderen gehen zu den Muskeln, während die <lb/>der hinteren nur zur Haut gehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8146" xml:space="preserve">Was in den erſteren vor-<lb/>geht, davon erfahren die letzteren Nichts und umgekehrt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8147" xml:space="preserve">So <lb/>giebt es denn zwei Arten von Nervenfaſern, Bewegungsnerven <lb/>und Gefühlsnerven, die einen entſpringen aus den vorderen, <lb/>die anderen aus den hinteren Wurzeln des Rückenmarks.</s>
  <s xml:id="echoid-s8148" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div282" type="section" level="1" n="203">
<head xml:id="echoid-head229" xml:space="preserve"><emph style="bf">XLVI. Gin Nervengift.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8149" xml:space="preserve">Die Thätigkeit der Nerven iſt ſo unerläßlich für das Be-<lb/>ſtehen des Organismus, daß das Leben ſehr bald erliſcht, <lb/>wenn ſie aufhören zu wirken. </s>
  <s xml:id="echoid-s8150" xml:space="preserve">Doch kommt ein ſolcher Fall <lb/>nicht vor, wo plötzlich alle Nerven des Körpers durch irgend <lb/>eine krankhafte Veränderung ihren Dienſt verſagten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8151" xml:space="preserve">Denn <lb/>das, was man gewöhnlich Nervenſchlag nennt, hat ſeine Ur-<lb/>ſache im Gehirn und nicht in den Nerven. </s>
  <s xml:id="echoid-s8152" xml:space="preserve">Dagegen giebt es <lb/>ein eigentümliches Gift, das ganz beſonders auf die Nerven <lb/>ſchädlich einwirkt und höchſt intereſſante Erſcheinungen an ihnen <lb/>hervorruft, die wir hier betrachten wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8153" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="127" file="611" n="611"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8154" xml:space="preserve">Die indianiſchen Volksſtämme Nord-Amerikas bereiten aus <lb/>dem Saft von Pflanzen auf noch unbekannte Weiſe ein Gift, <lb/>in welches ſie die Spitzen ihrer Pfeile tauchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8155" xml:space="preserve">Dieſes Gift, <lb/>Pfeilgift genannt, tötet, wenn es auch nur in ſehr kleiner <lb/>Menge in eine Hautwunde eindringt, in wenigen Minuten. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8156" xml:space="preserve">Der Tod tritt anſcheinend in ſehr milder Form auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s8157" xml:space="preserve">Denn <lb/>der Getroffene ſinkt lautlos zuſammen, ohne das geringſte <lb/>Zeichen des Schmerzes von ſich zu geben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8158" xml:space="preserve">Kein Zucken und <lb/>kein Stöhnen verrät einen inneren Kampf zwiſchen Tod und <lb/>Leben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8159" xml:space="preserve">Dieſes fürchterliche und geheimnisvolle Gift iſt nach <lb/>Europa gebracht und hier unterſucht worden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8160" xml:space="preserve">Es hat ſich <lb/>hierbei ergeben, daß dasſelbe ein Nervengift ſei. </s>
  <s xml:id="echoid-s8161" xml:space="preserve">Zugleich <lb/>aber hat die Wiſſenſchaft dabei den Triumph gefeiert, ein <lb/>Mittel ausfindig zu machen, durch welches das ſonſt unrettbar <lb/>verlorene Leben eines Vergifteten ſicher erhalten werden kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s8162" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8163" xml:space="preserve">Um die Wirkungen des Pfeilgiftes näher kennen zu lernen, <lb/>vergiften wir einen Froſch damit. </s>
  <s xml:id="echoid-s8164" xml:space="preserve">Wir bringen ihm eine <lb/>äußerſt geringe Menge davon durch eine kleine Wunde unter <lb/>die Rückenhaut und ſehen nun zu, was ſich darauf ereignen <lb/>wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s8165" xml:space="preserve">Der Froſch bietet uns dasſelbe Bild dar, wie es von <lb/>jenen Unglücklichen geſchildert wird, die von einem vergifteten <lb/>Pfeile getroffen wurden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8166" xml:space="preserve">Seine Bewegungen werden ſchwächer <lb/>und ſchwächer, das Atmen hört ganz auf und bald merken <lb/>wir, daß er nicht mehr imſtande iſt, die geringſte Bewegung <lb/>auszuführen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8167" xml:space="preserve">Wir können ihn kneipen und ſtechen, wo wir <lb/>wollen und ſo ſtark wir wollen, es erfolgt darauf nicht das <lb/>leiſeſte Zeichen irgend einer Schmerzempfindung.</s>
  <s xml:id="echoid-s8168" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8169" xml:space="preserve">Man ſollte nun meinen, daß der Froſch tot ſei. </s>
  <s xml:id="echoid-s8170" xml:space="preserve">Keines-<lb/>wegs. </s>
  <s xml:id="echoid-s8171" xml:space="preserve">— Unſer Froſch lebt noch, er iſt nur ſcheintot. </s>
  <s xml:id="echoid-s8172" xml:space="preserve">Trotz-<lb/>dem kein Zeichen des Lebens an ihm wahrzunehmen iſt, iſt <lb/>dieſes dennoch nicht in ihm erloſchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8173" xml:space="preserve">Es iſt nur in einer <lb/>höchſt ſonderbaren Weiſe gehindert, ſich auf irgend eine Art <lb/>zu äußern. </s>
  <s xml:id="echoid-s8174" xml:space="preserve">Wie dies zugeht, werden wir gleich ſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8175" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="128" file="612" n="612"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8176" xml:space="preserve">Wir müſſen nämlich wiſſen, daß das Gift aus der Wunde <lb/>in das Blut aufgeſogen wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s8177" xml:space="preserve">Mit dieſem wird es durch die <lb/>Blut-Adern dem Herzen zugeführt und aus dem Herzen ver-<lb/>breitet es ſich durch die Schlagadern, an denen wir den Puls <lb/>fühlen, in alle Teile des Körpers. </s>
  <s xml:id="echoid-s8178" xml:space="preserve">Sobald dies geſchehen iſt, <lb/>tritt die Vergiftung ein und erzeugt jene ſchnelle Wirkung, die <lb/>wir geſchildert haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s8179" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8180" xml:space="preserve">Nun nehmen wir uns einen zweiten Froſch vor, ſchnüren <lb/>ihm mit einem Faden diejenige Schlagader zu, welche das <lb/>Blut in das rechte Hinterbein hineinleitet und vergiften ihn <lb/>dann auf die vorige Weiſe mit Pfeilgift.</s>
  <s xml:id="echoid-s8181" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8182" xml:space="preserve">Bald ſehen wir auch hier ähnliche Erſcheinungen eintreten, <lb/>wie wir ſie am erſten Froſche beobachtet haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8183" xml:space="preserve">Der Froſch <lb/>hört auf zu atmen und macht keine willkürlichen Bewegungen <lb/>mehr. </s>
  <s xml:id="echoid-s8184" xml:space="preserve">Aber ſiehe da, während alle Glieder des Körpers voll-<lb/>ſtändig gelähmt daliegen, macht das rechte Hinterbein allein <lb/>eine Ausnahme. </s>
  <s xml:id="echoid-s8185" xml:space="preserve">Der Froſch zieht es an ſich heran, wenn wir <lb/>es berühren, er zuckt damit, wenn wir es drücken, ja, wenn <lb/>wir ein Tröpfchen Eſſigſäure auf die Haut des Schenkels <lb/>bringen, die dort einen brennenden Schmerz erzeugt, ſo wiſcht er <lb/>die Säure mit der Pfote ab, wie dies ein geſunder Froſch thut.</s>
  <s xml:id="echoid-s8186" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8187" xml:space="preserve">Während der Froſch alle dieſe complicirten Verrichtungen <lb/>mit dem rechten Beine ausführt, ſieht man weder im linken <lb/>Beine noch in den übrigen Teilen ſeines Körpers irgend eine <lb/>Spur der leiſeſten Bewegung. </s>
  <s xml:id="echoid-s8188" xml:space="preserve">Hier herrſcht anſcheinend die <lb/>Gewalt des Todes, während alles Leben ſich nur auf das <lb/>eine Bein zu beſchränken ſcheint, deſſen Schlagader wir unter-<lb/>bunden haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8189" xml:space="preserve">Dem iſt jedoch nicht ſo. </s>
  <s xml:id="echoid-s8190" xml:space="preserve">Auch in den übrigen <lb/>Körperteilen iſt das Leben nicht vollſtändig gewichen, ſondern <lb/>ein ſehr wichtiges Merkmal desſelben iſt noch zurückgeblieben.</s>
  <s xml:id="echoid-s8191" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8192" xml:space="preserve">Wenn wir die gelähmten Teile des Froſches irgend einem <lb/>heftigen Reize ausſetzen, ſo entſteht in dieſen zwar keine ab-<lb/>wehrende Bewegung, dafür aber erſcheinen ſolche in dem rechten
<pb o="129" file="613" n="613"/>
Hinterbeine. </s>
  <s xml:id="echoid-s8193" xml:space="preserve">In dieſem giebt der Froſch zu erkennen, daß er <lb/>jeden Schmerz wohl fühle und wir müſſen daraus ſchließen, <lb/>daß ſeine Empfindlichkeit durch das Gift keineswegs gelitten <lb/>habe. </s>
  <s xml:id="echoid-s8194" xml:space="preserve">Wir müſſen ferner zugeben, daß ſein Gehirn noch ſehr <lb/>wohl imſtande ſei, Empfindungen wahrzunehmen, ja daß es <lb/>auch die Bewegungsnerven zur Thätigkeit anzuregen vermöge, <lb/>denn das rechte Bein, welches von der allgemeinen Lähmung <lb/>ausgeſchloſſen iſt, gehorcht ſeinen Befehlen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8195" xml:space="preserve">Das Gift hat alſo <lb/>auf das Gehirn und Rückenmark keinen ſchädlichen Einfluß <lb/>ausgeübt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8196" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8197" xml:space="preserve">Nunmehr müſſen wir überzeugt ſein, daß auch unſer erſter <lb/>Froſch, den wir vergiftet haben, nicht tot ſein kann, wenn er <lb/>auch nicht imſtande iſt, ſein Leben in irgend einer Weiſe zu <lb/>verraten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8198" xml:space="preserve">Der Erfolg lehrt denn auch, daß dem wirklich ſo <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8199" xml:space="preserve">Denn wenn die Vergiftung nicht zu ſtark war, ſo nehmen <lb/>wir nach einigen Stunden mit Erſtaunen wahr, daß der Froſch <lb/>allmählich anfängt aus ſeinem Todesſchlummer zu erwachen, und <lb/>es dauert gar nicht lange, ſo hüpft er wieder eben ſo munter <lb/>herum, als wenn gar nichts geſchehen wäre.</s>
  <s xml:id="echoid-s8200" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8201" xml:space="preserve">Wie nun dieſe wunderbaren Dinge alle zu erklären ſind, <lb/>das werden wir bald ſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8202" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div283" type="section" level="1" n="204">
<head xml:id="echoid-head230" xml:space="preserve"><emph style="bf">XLVII. Das Pfeilgift und ſeine Gegenmittel.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8203" xml:space="preserve">Die Wirkungen des Pfeilgiftes ſind, wie wir geſehen haben, <lb/>höchſt ſonderbarer Natur. </s>
  <s xml:id="echoid-s8204" xml:space="preserve">Ein Froſch, welcher damit vergiftet <lb/>iſt, bietet anſcheinend das vollendete Bild des Todes dar, in-<lb/>dem er nicht imſtande iſt, die geringſte Bewegung auszuführen, <lb/>und dennoch wiſſen wir, daß er ſehr wohl jeden Schmerz fühlt, <lb/>der ihn trifft, daß ſein Gehirn imſtande iſt, ſich deſſen bewußt</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8205" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s8206" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s8207" xml:space="preserve">Volksbücher X.</s>
  <s xml:id="echoid-s8208" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="130" file="614" n="614"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8209" xml:space="preserve">zu werden und infolgedeſſen einen Entſchluß zu faſſen, in der <lb/>Abſicht dieſen Schmerz abzuwehren. </s>
  <s xml:id="echoid-s8210" xml:space="preserve">Nichtsdeſtoweniger aber <lb/>iſt es ihm unmöglich, dieſen Entſchluß zur Ausführung zu <lb/>bringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8211" xml:space="preserve">Alle Hilfsmittel verſagen ihm, denn ſeine Glieder <lb/>ſind untauglich geworden zu irgend welcher Dienſtleiſtung.</s>
  <s xml:id="echoid-s8212" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8213" xml:space="preserve">Dagegen haben wir bemerkt, daß ein Glied, von welchem <lb/>der Blutſtrom vor der Vergiftung abgeſchnitten war, in das <lb/>alſo kein Gift eindringen konnte, vollkommen bewegungsfähig <lb/>blieb; </s>
  <s xml:id="echoid-s8214" xml:space="preserve">der Froſch zuckte jedesmal mit dem nicht gelähmten <lb/>Gliede, ſobald wir in irgend einem Punkte des Körpers <lb/>Schmerz erregten, und dies war das einzige noch übrig-<lb/>gebliebene Zeichen des ſonſt überall in ſchwere Feſſeln ge-<lb/>ketteten Lebens.</s>
  <s xml:id="echoid-s8215" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8216" xml:space="preserve">Dieſe merkwürdigen Erſcheinungen laſſen ſich alle aus der <lb/>Annahme erklären, daß das Pfeilgift nur ein Gift für die Be-<lb/>wegungsnerven des Körpers iſt, daß es ihre Fähigkeit, die <lb/>Befehle des Gehirns den Muskeln zu überbringen, aufhebe, <lb/>ſie alſo vollſtändig lähme, und zwar geſchieht dieſe Lähmung <lb/>der Bewegungsnerven nicht dort, wo ſie aus dem Gehirn und <lb/>Rückenmark herauskommen, ſondern da, wo ſie in den Glied-<lb/>maßen endigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8217" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8218" xml:space="preserve">Nun iſt es klar, weshalb ein Glied des Körpers, in welches <lb/>das Gift nicht hineingekommen iſt, zu jeder Bewegung fähig <lb/>iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s8219" xml:space="preserve">denn ſeine Nerven ſind nicht gelähmt und leiten die Bot-<lb/>ſchaften des Gehirns ohne Störung zu den Muskeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s8220" xml:space="preserve">In den <lb/>übrigen Körperteilen dagegen oder in allen Körperteilen eines <lb/>Froſches, deſſen Blutſtrom das Gift überall hingetragen hat, <lb/>iſt dies nicht möglich. </s>
  <s xml:id="echoid-s8221" xml:space="preserve">Alle Bewegungen ſind hier aufgehoben, <lb/>weil die Boten des Gehirns durch die vergifteten Enden der <lb/>Bewegungsnerven nicht hindurchdringen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s8222" xml:space="preserve">Es iſt grade <lb/>ſo, als wenn alle Bewegungsnerven gleichzeitig durchſchnitten <lb/>worden wären.</s>
  <s xml:id="echoid-s8223" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8224" xml:space="preserve">Die Empfindungsnerven dagegen leiden durch das Gift
<pb o="131" file="615" n="615"/>
ebenſowenig wie das Gehirn und Rückenmark, ſie leiten jeden <lb/>Reiz zu dieſen hin und vermitteln hier die Empfindung von <lb/>Schmerz ganz ſo wie bei einem unverſehrten Tiere. </s>
  <s xml:id="echoid-s8225" xml:space="preserve">Empfindung <lb/>und Bewußtſein iſt geblieben, nur die Bewegung fehlt, in <lb/>welcher wir gewöhnlich das Daſein der beiden andern erſt zu <lb/>merken imſtande ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s8226" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8227" xml:space="preserve">So iſt denn in der That ein vergifteter Froſch nur ſchein-<lb/>tot. </s>
  <s xml:id="echoid-s8228" xml:space="preserve">Er bewegt ſich zwar nicht, aber er fühlt und empfindet, <lb/>und ſo ſehen wir denn, wenn das Gift ſich im Körper auf-<lb/>gezehrt hat, daß er von den Toten wieder auferſteht und ſich <lb/>weiter des Lebens freut.</s>
  <s xml:id="echoid-s8229" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8230" xml:space="preserve">Wie verhält ſich nun aber die Sache mit einem Menſchen, <lb/>der mit Pfeilgift vergiftet worden iſt? </s>
  <s xml:id="echoid-s8231" xml:space="preserve">Iſt ein ſolcher etwa <lb/>auch nur ſcheintot? </s>
  <s xml:id="echoid-s8232" xml:space="preserve">— Keineswegs. </s>
  <s xml:id="echoid-s8233" xml:space="preserve">Die Dinge geſtalten ſich <lb/>hier tragiſcher als bei Fröſchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8234" xml:space="preserve">Man hat ſolche Menſchen <lb/>niemals wieder aufleben ſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8235" xml:space="preserve">Der Grund, weshalb dies <lb/>nicht geſchieht, iſt ein ſehr einfacher. </s>
  <s xml:id="echoid-s8236" xml:space="preserve">Der Froſch iſt durch <lb/>ſeine Amphibiennatur vor dem drohenden Untergange geſchützt <lb/>und zwar in dieſem Falle beſonders dadurch, daß er ſtunden-<lb/>lang zubringen kann, ohne einen Atemzug zu thun. </s>
  <s xml:id="echoid-s8237" xml:space="preserve">Ja, man <lb/>kann einen Froſch in einen luftleeren Raum bringen, ohne daß <lb/>es ihm etwas ſchadet, während ein warmblütiges Tier, Ka-<lb/>ninchen oder Hund, darin ſofort aus Luftmangel ſtirbt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8238" xml:space="preserve">Und <lb/>ebenſo würde es einem Menſchen ergehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8239" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8240" xml:space="preserve">Nun hat das Pfeilgift einen ſehr weſentlichen Einfluß auf <lb/>die Atmung. </s>
  <s xml:id="echoid-s8241" xml:space="preserve">Denn bei jedem Atemzuge erweitern wir unſern <lb/>Bruſtkaſten und ſaugen dadurch Luft in die Lungen ein. </s>
  <s xml:id="echoid-s8242" xml:space="preserve">Dieſes <lb/>Erweitern der Bruſt wird durch Muskeln beſorgt und dieſe <lb/>Muskeln werden wiederum von Nerven regiert, in denen fort-<lb/>während in beſtimmten Zwiſchenpauſen Boten herbeieilen, welche <lb/>die Muskeln zur Thätigkeit erregen und dadurch einen Atemzug <lb/>veranlaſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8243" xml:space="preserve">Werden dieſe Nerven an ihren Enden von dem <lb/>Pfeilgift gelähmt, ſo ſteht die Atmung ſofort ſtill, und die
<pb o="132" file="616" n="616"/>
Folge davon iſt, daß warmblütige Tiere und ebenſo der Menſch <lb/>hierdurch unfehlbar nach wenigen Minuten an Erſtickung zu <lb/>Grunde gehen müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8244" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8245" xml:space="preserve">Im weſentlichen verhalten ſich demnach bei den höheren <lb/>Tieren die Wirkungen des Pfeilgiftes ganz ebenſo wie beim <lb/>Froſche. </s>
  <s xml:id="echoid-s8246" xml:space="preserve">Es geſchieht auch bei ihnen nichts anderes als eine <lb/>vollſtändige Lähmung aller Bewegungsnerven, die nur deshalb <lb/>den Tod herbeizieht, weil die Atmung aufhört. </s>
  <s xml:id="echoid-s8247" xml:space="preserve">Und dies <lb/>kann man folgendermaßen beweiſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8248" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8249" xml:space="preserve">Wenn es möglich iſt, das Atmen auf eine künſtliche Weiſe <lb/>zu bewerkſtelligen, ohne daß das Tier dabei irgend einen <lb/>Muskel anzuſtrengen braucht, ſo muß dasſelbe trotz der Ver-<lb/>giftung am Leben bleiben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8250" xml:space="preserve">Dies hat man verſucht, und es iſt <lb/>vollſtändig gelungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8251" xml:space="preserve">Bläſt man einem vergifteten Kaninchen <lb/>oder Hunde Luft durch die Luftröhre in die Lungen ein mit <lb/>Hilfe eines gewöhnlichen Blaſebalges, und ſetzt man dies <lb/>ſtundenlang fort, ſo ſieht man das Tier ſich allmählich in der-<lb/>ſelben Weiſe erholen wie dies beim Froſch der Fall iſt, trotz-<lb/>dem es für ein unbefangenes Auge bereits das vollendete Bild <lb/>des Todes dargeboten hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s8252" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8253" xml:space="preserve">Die künſtliche Atmung, die man mit vollkommner Sicher-<lb/>heit ausführen kann, iſt demnach ein unfehlbares Mittel gegen <lb/>dieſes ſchreckliche Gift. </s>
  <s xml:id="echoid-s8254" xml:space="preserve">Auch bei Menſchen angewendet muß <lb/>es ſchließlich über die Gewalt desſelben ſiegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8255" xml:space="preserve">Entſetzlich <lb/>aber muß der Zuſtand ſein, in welchem ſich ein vergifteter <lb/>Menſch befindet, deſſen Atmung künſtlich unterhalten wird. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8256" xml:space="preserve">Derſelbe fühlt jede Berührung der Haut, er ſieht alles, was <lb/>um ihn herum vorgeht, er hört alles, was in ſeiner Gegen-<lb/>wart geſprochen wird, aber er iſt nicht imſtande, die geringſte <lb/>Bewegung zu machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8257" xml:space="preserve">Durch keinen Laut kann er verraten, <lb/>was in dieſer Stunde der Gefahr ſeine Seele bewegt, denn <lb/>auch zum Sprechen gehört die Thätigkeit von Nerven und <lb/>Muskeln, und trotzdem hat er das volle Bewußtſein ſeiner
<pb o="133" file="617" n="617"/>
fürchterlichen Lage. </s>
  <s xml:id="echoid-s8258" xml:space="preserve">Auch ſeine Miene giebt nicht zu erkennen, <lb/>was in ſeinem Innern vorgeht, wo gewiß ein Strom von Ge-<lb/>danken ihn unabläſſig quält. </s>
  <s xml:id="echoid-s8259" xml:space="preserve">Seine Züge hängen ſchlaff herab, <lb/>wie die eines Toten, denn kein Geſichtsmuskel iſt zur Thätig-<lb/>keit fähig.</s>
  <s xml:id="echoid-s8260" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8261" xml:space="preserve">Das einzige Merkmal, an dem wir das verborgene Leben <lb/>erkennen, iſt der Pulsſchlag des Herzens. </s>
  <s xml:id="echoid-s8262" xml:space="preserve">Es iſt die einzige <lb/>Äußerung des noch nicht erloſchenen Lebensfunkens, und ſeine <lb/>Thätigkeit erhält das ganze Getriebe des menſchlichen Orga-<lb/>nismus.</s>
  <s xml:id="echoid-s8263" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8264" xml:space="preserve">Allmählich hört die lähmende Gewalt des Giftes auf, in-<lb/>dem es ſich im Körper zerſetzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8265" xml:space="preserve">Die erſte Bewegung, die wir <lb/>wahrnehmen, iſt ein Atemzug, das Zeichen der gelungenen <lb/>Rettung. </s>
  <s xml:id="echoid-s8266" xml:space="preserve">Tritt die Atmung wieder vollſtändig ein, dann iſt <lb/>alle Gefahr vorüber, und die übrigen Bewegungen ſtellen ſich <lb/>in kurzer Zeit ebenfalls ein.</s>
  <s xml:id="echoid-s8267" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8268" xml:space="preserve">Auf dieſe Weiſe iſt es möglich, ein tötliches Gift unſchäd-<lb/>lich zu machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8269" xml:space="preserve">Wie würden jene Indianer, von denen es be-<lb/>reitet wird, ſtaunen, wenn wir einen vom Pfeile Getroffenen, <lb/>den ſie für unwiderruflich tot halten, vor ihren Augen ins <lb/>Leben zurückriefen! Sie würden uns für Zauberer halten und <lb/>doch wiſſen wir, daß es nur mit natürlichen Dingen zugeht.</s>
  <s xml:id="echoid-s8270" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8271" xml:space="preserve">Die Macht der fortſchreitenden Erkenntnis verleiht uns <lb/>ſolche Gewalt über die Naturkräfte. </s>
  <s xml:id="echoid-s8272" xml:space="preserve">Wir machen ſie nicht nur <lb/>unſern Zwecken dienſtbar, ſondern wir nehmen ihnen auch <lb/>jenen Schrecken, welchen ſie einem in Aberglauben und Un-<lb/>wiſſenheit verſunkenen Menſchengeſchlecht erregen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8273" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div284" type="section" level="1" n="205">
<head xml:id="echoid-head231" xml:space="preserve"><emph style="bf">XLVIII. Die Nervenverwachſung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8274" xml:space="preserve">Die Wirkung des Pfeilgiftes iſt ein neuer Beweis dafür, <lb/>daß Gefühls- und Bewegungsnerven ſtreng von einander ge-
<pb o="134" file="618" n="618"/>
ſchieden ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s8275" xml:space="preserve">Während letztere durch das Gift zur Thätigkeit <lb/>unfähig gemacht werden, bleiben erſtere von demſelben voll-<lb/>kommen verſchont. </s>
  <s xml:id="echoid-s8276" xml:space="preserve">Sie haben mit einander nichts weiter ge-<lb/>mein, als daß ſie ſich zu einem gemeinſamen Nervenſtamm ver-<lb/>einigen, der ſie beide erhält. </s>
  <s xml:id="echoid-s8277" xml:space="preserve">An ihrem Urſprung ſowohl wie <lb/>an ihren Enden trennen ſie ſich und verfolgen verſchiedene Wege.</s>
  <s xml:id="echoid-s8278" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8279" xml:space="preserve">Wenn wir uns des Verſuchs erinnern, in welchem wir <lb/>den ganzen Nervenſtamm, der in das Hinterbein des Froſches <lb/>hineingeht, durchſchnitten, ſo wiſſen wir, daß dadurch Bewegung <lb/>und Empfindung in dieſem Gliede vernichtet wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s8280" xml:space="preserve">Denn es <lb/>wurden durch dieſe Operation beide Nervengattungen in ihrem <lb/>Zuſammenhange getrennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8281" xml:space="preserve">Wir haben aber auch damals geſehen, <lb/>daß nach einiger Zeit eine Verwachſung der beiden Schnitt-<lb/>enden eintritt, und daß dadurch die Verbindung mit dem Ge-<lb/>hirn in ganz richtiger Weiſe wieder hergeſtellt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s8282" xml:space="preserve">Nun iſt <lb/>es wunderbar, daß bei dieſer Heilung die Natur niemals einen <lb/>Irrtum begeht, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s8283" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s8284" xml:space="preserve">daß jedesmal diejenigen Nervenfaſern <lb/>wieder mit einander verwachſen, welche ſchon vorher zu ein-<lb/>ander gehörten.</s>
  <s xml:id="echoid-s8285" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8286" xml:space="preserve">Wir müſſen nämlich wiſſen, daß nicht nur Bewegungs-<lb/>und Gefühlsnerven gegenſeitig nichts davon erfahren, was in <lb/>ihnen vorgeht, ſondern daß auch jede einzelne der vielen Nerven-<lb/>faſerchen, aus denen ſie beide zuſammengeſetzt ſind, ein Ge-<lb/>heimniskrämer für ſich iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8287" xml:space="preserve">Keine Nervenfaſer geſtattet es, daß <lb/>ein Bote, der in ihr läuft, mag er vom Gehirn oder von der <lb/>Haut kommen, zu ihrer Nachbarin überginge und derſelben <lb/>verrate, was in ihr vorgeht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8288" xml:space="preserve">Vielmehr iſt dieſer Bote ge-<lb/>zwungen, ſtreng den Weg innezuhalten, der ihm innerhalb einer <lb/>Nervenfaſer vorgeſchrieben iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8289" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8290" xml:space="preserve">Das iſt der Grund, weshalb wir ſo genau wiſſen, an <lb/>welcher Hautſtelle wir eine Empfindung haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8291" xml:space="preserve">Nehmen wir <lb/>z. </s>
  <s xml:id="echoid-s8292" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s8293" xml:space="preserve">an, daß wir, ohne es zu ſehen, an der Spitze unſeres <lb/>kleinen Fingers einen Nadelſtich erhalten, ſo wird ſogleich die
<pb o="135" file="619" n="619"/>
dort endigende Nervenfaſer einen Boten abſenden, der die Nach-<lb/>richt davon zum Gehirn bringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8294" xml:space="preserve">Da, wo dieſe Nervenfaſer im <lb/>Gehirn aufhört, hat dieſer Bote ſein Ziel erreicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8295" xml:space="preserve">Nun braucht <lb/>das Gehirn den Boten nicht erſt zu fragen: </s>
  <s xml:id="echoid-s8296" xml:space="preserve">Wo kommſt du <lb/>her? </s>
  <s xml:id="echoid-s8297" xml:space="preserve">— Sondern es weiß ſchon, daß, wenn ein Bote durch <lb/>dieſe beſtimmte Nervenfaſer anlangt, er nur von der Spitze <lb/>des kleinen Fingers kommen kann und nicht von anders woher. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8298" xml:space="preserve">Hätte aber der Bote während ſeiner Reiſe ſein Geheimnis <lb/>einer Nervenfaſer verraten, die in der Spitze des Zeigefingers <lb/>endigt, ſo würden wir bei geſchloſſenen Augen unmöglich ent-<lb/>ſcheiden können, ob der Nadelſtich im Zeigefinger oder im <lb/>kleinen Finger ſtattgefunden hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s8299" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8300" xml:space="preserve">Ebenſo, wie mit den Faſern der Gefühlsnerven, verhält <lb/>es ſich auch mit denen der Bewegungsnerven. </s>
  <s xml:id="echoid-s8301" xml:space="preserve">Jeder Muskel, <lb/>der nur ſtets ein und dieſelbe Bewegung auszuführen hat, <lb/>erhält ſeine eigenen Nervenfaſern, die nur für ihn beſtimmt <lb/>ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s8302" xml:space="preserve">Will das Gehirn, daß ſich ein Muskel bewegen ſoll, ſo <lb/>weiß es ganz genau, wo diejenigen Nervenfaſern zu finden <lb/>ſind, die zu dem Muskel hingehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s8303" xml:space="preserve">es ſendet ſeine Boten durch <lb/>dieſe Nervenfaſern ab und kann ſicher ſein, daß ſie am richtigen <lb/>Orte ankommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8304" xml:space="preserve">Daher können wir einzelne Bewegungen mit <lb/>Sicherheit ausführen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8305" xml:space="preserve">Wollen wir z. </s>
  <s xml:id="echoid-s8306" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s8307" xml:space="preserve">unſern Arm beugen, <lb/>ſo wendet ſich das Gehirn an diejenigen Nervenfaſern, welche <lb/>in den Muskel hineingehen, den wir bei der Beugung am <lb/>Oberarm ſtark angeſpannt fühlen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8308" xml:space="preserve">Die Boten, welche ihm den <lb/>Befehl überbringen, bleiben genau innerhalb dieſer Nerven-<lb/>faſern. </s>
  <s xml:id="echoid-s8309" xml:space="preserve">Würden ſie allen übrigen Bewegungsfaſern des Arm-<lb/>nerven von ihrem Auftrage Mitteilung machen, ſo würde ſtatt <lb/>einer Beugung ein allgemeines Zucken des ganzen Armes ent-<lb/>ſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8310" xml:space="preserve">Das Gehirn iſt alſo ganz genau in der Verteilung <lb/>der Nerven im Körper bewandert. </s>
  <s xml:id="echoid-s8311" xml:space="preserve">Es unterſcheidet nicht nur <lb/>zwiſchen Bewegungs- und Gefühlsnerven, ſondern auch zwiſchen <lb/>den einzelnen Faſern beider Nervengattungen, — und wir
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müſſen annehmen, daß derjenige Teil des Gehirns, der dieſe <lb/>Kenntniſſe beſitzt, ſich dieſelben durch langjährige Übung und <lb/>Erfahrung erworben habe. </s>
  <s xml:id="echoid-s8312" xml:space="preserve">Dieſelben ſind auch rein praktiſcher <lb/>Natur, denn unſer Bewußtſein, das gewiß in einem andern <lb/>Teil des Gehirns ſeinen Platz hat, hat durch ſich ſelbſt keine <lb/>Ahnung von der Exiſtenz der Nerven und Muskeln überhaupt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8313" xml:space="preserve">Zu dieſer Erkenntnis iſt es erſt durch mühſame Forſchungen <lb/>geführt worden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8314" xml:space="preserve">Nun iſt es in der That ſehr merkwürdig, <lb/>wenn ein durchſchnittener Nervenſtamm, der aus unzähligen <lb/>Nervenfaſern beſteht, von denen jede eine beſondere Beſtimmung <lb/>hat, doch wieder in der Weiſe zuſammenwächſt, daß jede Faſer <lb/>das zu ihr gehörige Ende wiederfindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s8315" xml:space="preserve">Es verwachſen nicht <lb/>allein Bewegungsfaſern wieder mit Bewegungsfaſern und <lb/>Empſindungsfaſern mit Empfindungsfaſern, ſondern es ver-<lb/>wächſt auch jedes Hirnende einer durchſchnittenen Bewegungs-<lb/>faſer mit demjenigen Muskelende, mit welchem es ſchon vorher <lb/>eine einzige Faſer bildete und ebenſo jedes Hirnende einer <lb/>durchſchnittenen Empfindungsfaſer mit demjenigen Hautende, <lb/>zu dem es ſchon vorher gehörte.</s>
  <s xml:id="echoid-s8316" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8317" xml:space="preserve">Dieſe Erſcheinung iſt deshalb ſo wunderbar, weil wir <lb/>ſelber nicht einmal imſtande ſind, Bewegungsfaſern von <lb/>Empfindungsfaſern dem Anſehen nach zu unterſcheiden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8318" xml:space="preserve">Denn <lb/>die in einem Nervenſtamm enthaltenen Faſern gleichen einander <lb/>wie ein Haar dem andern. </s>
  <s xml:id="echoid-s8319" xml:space="preserve">Selbſt bei der ſtärkſten Vergröße-<lb/>rung iſt es unmöglich, einen Unterſchied zwiſchen dieſen Faſer-<lb/>gattungen zu entdecken.</s>
  <s xml:id="echoid-s8320" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8321" xml:space="preserve">Es bleibt daher noch ein Rätſel, woran die durchſchnittenen <lb/>Faſern ſich gegenſeitig wieder erkennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8322" xml:space="preserve">Sie vermögen dies, <lb/>wie die Erfahrung lehrt, ohne Mikroſkop oder ſonſtige Apparate, <lb/>deren wir uns zu Unterſuchungen bedienen müſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8323" xml:space="preserve">Welches <lb/>geheime Mittel ſie aber beſitzen, hat die Wiſſenſchaft noch nicht <lb/>herausgebracht.</s>
  <s xml:id="echoid-s8324" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="137" file="621" n="621"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div285" type="section" level="1" n="206">
<head xml:id="echoid-head232" xml:space="preserve"><emph style="bf">XLIX. Die Nervenverheilung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8325" xml:space="preserve">Die Heilung eines durchſchnittenen Nerven in derjenigen <lb/>Anordnung der einzelnen Faſern, wie ſie bereits vorher be-<lb/>ſtanden hat, iſt eine ſehr bedeutungsvolle Thatſache für den <lb/>Organismus. </s>
  <s xml:id="echoid-s8326" xml:space="preserve">Sie iſt von enormer Wichtigkeit für diejenigen <lb/>Fälle, in welchen beim Menſchen eine Durchſchneidung von <lb/>Nerven vorkommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8327" xml:space="preserve">Es ereignet ſich bei Operationen nicht <lb/>ſelten, daß Nerven durchſchnitten werden müſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8328" xml:space="preserve">Ja, man <lb/>macht ſogar abſichtlich Nervendurchſchneidungen, um dadurch <lb/>gewiſſe Arten von Schmerzen oder Krämpfen zu beſeitigen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8329" xml:space="preserve">In allen dieſen Fällen iſt die Heilung ſtets in der Weiſe er-<lb/>folgt, wie wir ſie beſchrieben haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8330" xml:space="preserve">Ginge die Heilung nicht <lb/>in der angegebenen Art vor ſich, verwachſen die einzelnen <lb/>Nervenfaſern ſo wie ſie ſich zufällig einander gegenüber liegen, <lb/>ſo würde eine heilloſe Verwirrung aller Bewegungen und <lb/>Empfindungen die Folge davon ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s8331" xml:space="preserve">Nehmen wir z. </s>
  <s xml:id="echoid-s8332" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s8333" xml:space="preserve">an, <lb/>daß nach Durchſchneidung unſeres Armnerven durch einen ſonder-<lb/>baren Zufall alle Bewegungsfaſern, die vom Hirn kommen, mit <lb/>den Nervenenden der Haut anheilten und umgekehrt alle Nerven-<lb/>enden der Muskeln mit den Empfindungsfaſern, die ins Hirn <lb/>gehen, ſo würde die ganze Verwachſung vollkommen zwecklos <lb/>ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s8334" xml:space="preserve">Denn die Befehle des Gehirns würden, anſtatt zu den <lb/>Muskeln hinzueilen, ſich in die Haut verirren, und da dieſe <lb/>ſich beim beſten Willen nicht bewegen kann, würden ſie voll-<lb/>kommen nutzlos ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s8335" xml:space="preserve">Ebenſo iſt eine Empfindung mit Hilfe <lb/>dieſes Armes unmöglich. </s>
  <s xml:id="echoid-s8336" xml:space="preserve">Die Haut nimmt zwar Eindrücke <lb/>auf wie vorher, ſendet auch ihre Boten durch die in ihr endigen-<lb/>den Faſern zum Gehirn, aber dieſe Boten geraten in der Ver-<lb/>wachſungsſtelle in die Bewegungsfaſern und werden von dieſen <lb/>in einen Teil des Gehirns geführt, das von Empfindung <lb/>nichts verſteht, weil es ſich ſtets nur mit Bewegung beſchäftigt
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hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s8337" xml:space="preserve">Dieſer Gehirnteil iſt ebenſowenig imſtande zu empfinden <lb/>wie die Haut imſtande iſt, ſich zu bewegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8338" xml:space="preserve">Derjenige <lb/>Gehirnteil aber, der empfinden kann, erhält ſeine Faſern <lb/>nicht mehr von der Haut, ſondern von den Muskeln, und da <lb/>dieſe Eindrücke von außen her empfangen, ſo laſſen ſie auch <lb/>das Gehirn ohne alle Nachricht von dem, was mit dem Arm <lb/>vorgeht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8339" xml:space="preserve">Eine ſolche Verwachſung wäre daher ebenſo gut wie <lb/>gar keine, denn der Arm bleibt dabei bewegungslos und ge-<lb/>fühllos.</s>
  <s xml:id="echoid-s8340" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8341" xml:space="preserve">Anders verhält es ſich ſchon, wenn auch nicht viel beſſer, <lb/>wenn Faſern gleicher Gattung mit einander verheilten, die <lb/>vorher nicht mit einander in Verbindung waren. </s>
  <s xml:id="echoid-s8342" xml:space="preserve">In einem <lb/>ſolchen Falle würden lauter fatale Verwachſungen in unſern <lb/>Bewegungen und Empfindungen vorkommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8343" xml:space="preserve">Nehmen wir <lb/>z. </s>
  <s xml:id="echoid-s8344" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s8345" xml:space="preserve">an, daß diejenigen Nervenfaſern, die früher in die Streck-<lb/>muskeln der Hände und Finger gingen, jetzt ihren Weg in die <lb/>Beugemuskeln dieſer Glieder nähmen und umgekehrt, ſo könnte <lb/>es ſich ereignen, daß wir in der wohlmeinenden Abſicht, die <lb/>Hand zum Gruße auszuſtrecken, ſtattdeſſen eine recht drohende <lb/>Fauſt machten, was doch wahrlich nicht gleichgiltig iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8346" xml:space="preserve">Statt <lb/>einen Gegenſtand loszulaſſen, den wir in der Hand halten, <lb/>würden wir ihn noch derber packen und was dergleichen Un-<lb/>geſchicklichkeiten mehr ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s8347" xml:space="preserve">Ebenſo unangenehm wären die <lb/>Gefühlstäuſchungen, wenn die Empfindungsfaſern nicht in ge-<lb/>höriger Ordnung wieder verheilten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8348" xml:space="preserve">Nehmen wir an, daß die-<lb/>jenigen Faſern, deren Enden früher die Haut des kleinen <lb/>Fingers verſorgten, jetzt mit denen des Zeigefingers in Ver-<lb/>bindung ſtünden, und daß umgekehrt alle Nervenenden, die im <lb/>kleinen Finger ſich ausbreiten, mit den Faſern zuſammenhängen, <lb/>die ſonſt in den Zeigefinger gingen, ſo wäre es uns unmög-<lb/>lich, mit dieſen beiden Fingern eine Empfindung richtig an-<lb/>zugeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8349" xml:space="preserve">Alles, was wir mit dem Zeigefinger fühlten, würde <lb/>als eine Empfindung des kleinen Fingers erſcheinen, und wenn
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der kleine Finger z. </s>
  <s xml:id="echoid-s8350" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s8351" xml:space="preserve">einen Nadelſtich erhielte, ſo würden <lb/>wir glauben, daß ihn der Zeigefinger bekommen hätte.</s>
  <s xml:id="echoid-s8352" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8353" xml:space="preserve">Man ſieht, daß wenn die durchſchnittenen Nervenfaſern <lb/>kunterbunt durcheinander wüchſen, wie es gerade käme, eine <lb/>Verwirrung aller Bewegungeu und Empfindungen hereinbrechen <lb/>würde, wie ſie beim babyloniſchen Turmbau unter den Völkern <lb/>verſchiedener Sprache nicht größer geweſen ſein kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s8354" xml:space="preserve">Erſt <lb/>ſehr langſam und ſehr ſchwer würde ſich das Gehirn an die <lb/>neue Ordnung der Dinge gewöhnen, indem es ſeine alten Er-<lb/>fahrungen aufgiebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8355" xml:space="preserve">Dann erſt wären wir wieder imſtande, <lb/>richtige Bewegungen auszuführen und die Empfindungen richtig <lb/>zu beurteilen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8356" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div286" type="section" level="1" n="207">
<head xml:id="echoid-head233" xml:space="preserve"><emph style="bf">L. Ein künſtlicher Nerv.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8357" xml:space="preserve">Die Verwachſung durchſchnittener Nervenfaſern geht, wie <lb/>wir geſehen haben, in bewunderungswürdiger Ordnung vor <lb/>ſich. </s>
  <s xml:id="echoid-s8358" xml:space="preserve">Jedes Nervenende ſucht ſich ſeinen alten Bekannten <lb/>wieder auf, mit dem es vor der Trennung eine einzige Faſer <lb/>bildete. </s>
  <s xml:id="echoid-s8359" xml:space="preserve">Derſelbe eilt ihm auch von der gegenüberliegenden <lb/>Seite ſchon ſehnſüchtig entgegen, und es muß wahrlich keine <lb/>geringe Anziehungskraft zwiſchen ihnen herrſchen, wenn ſie ſich <lb/>in dem ungeheuren Gewirre der Faſern mit ſo großer Sicher-<lb/>heit wiederfinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8360" xml:space="preserve">Wie wohlthätig die Einrichtung der Natur <lb/>in denjenigen Fällen iſt, in welchen beim Menſchen Nerven-<lb/>durchſchneidungen vorkommen, das haben wir aus jenen unheil-<lb/>vollen Störungen geſehen, die eintreten müßten, wenn die <lb/>durchſchnittenen Nervenfaſern aneinanderheilten, wie es gerade <lb/>der Zufall mit ſich brächte.</s>
  <s xml:id="echoid-s8361" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8362" xml:space="preserve">In der augegebenen Weiſe geht nun ſtets die Verwachſung
<pb o="140" file="624" n="624"/>
vor ſich, ſo lange man die Natur frei ſchalten und walten <lb/>läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8363" xml:space="preserve">Dann geſellen ſich die verſchiedenen Nervenfaſern jedes-<lb/>mal wieder zu ihres Gleichen, und die Natur ſchreckt vor dem <lb/>Gedanken zurück, daß eine regelwidrige Verbindung zweier <lb/>nicht gleichartiger Nervenfaſern zuſtande kommen könne.</s>
  <s xml:id="echoid-s8364" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8365" xml:space="preserve">Deſſen ungeachtet hat der Forſchergeiſt der Menſchen nicht <lb/>abgelaſſen zu probiren, ob es denn durchaus nicht möglich ſei, <lb/>Empfindungs- und Bewegungsfaſern dennoch einmal mit ein-<lb/>ander zur Verwachſung zu bringen, und nach vielen vergeblichen <lb/>Verſuchen iſt es endlich franzöſiſchen Forſchern gelungen, dieſes <lb/>Wunder zu produzieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s8366" xml:space="preserve">Sie haben es mit ſinnreichen Kunſt-<lb/>griffen ſchließlich dahin gebracht, die Natur gleichſam zu hinter-<lb/>gehen, indem ſie dieſelbe hinterliſtiger Weiſe zu dem ſchweren <lb/>Entſchluß zwangen, ihre Einwilligung zu einer Mesalliance <lb/>zwiſchen jenen beiden Faſergattungen herzugeben.</s>
  <s xml:id="echoid-s8367" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8368" xml:space="preserve">Wie iſt es nun möglich geweſen, jene Mesalliance zu er-<lb/>zwingen? </s>
  <s xml:id="echoid-s8369" xml:space="preserve">Die Verſuche, die dazu geführt haben, ſind an den-<lb/>jenigen Nerven angeſtellt worden, welche in die Zunge hinein-<lb/>gehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8370" xml:space="preserve">Die Zunge erhält nämlich vom Gehirn drei verſchieden-<lb/>artige Nerven, von denen jeder ſeine beſondere Aufgabe hat. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8371" xml:space="preserve">Der erſte iſt der Bewegungsnerv, er geht zu den Muskeln der <lb/>Zunge, welche in ſehr großer Zahl vorhanden ſind und durch <lb/>ihre mannigfaltige Anordnung dieſem Organe eine hohe Be-<lb/>weglichkeit verleihen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8372" xml:space="preserve">Dieſen Muskeln überbringt er die Be-<lb/>fehle des Gehirns und leiſtet dadurch dem Körper ſehr wichtige <lb/>Dienſte. </s>
  <s xml:id="echoid-s8373" xml:space="preserve">Der zweite Nerv iſt der Gefühlsnerv der Zunge. </s>
  <s xml:id="echoid-s8374" xml:space="preserve"><lb/>Er ſteht zu ihr in demſelben Verhältnis, wie die übrigen <lb/>Gefühlsnerven des Körpers zur Haut, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s8375" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s8376" xml:space="preserve">er vermittelt die <lb/>Wahrnehmung von Gegenſtänden, die die Zunge berühren, die <lb/>Wahrnehmung von Schmerz, von Kälte und Wärme. </s>
  <s xml:id="echoid-s8377" xml:space="preserve">Mit <lb/>ſeiner Hülfe verſchafft ſich das Gehirn ganz genaue Kenntuis <lb/>von den Lokalitäten unſerer Mundhöhle, von der Geſtalt unſerer <lb/>Zähne und dergleichen, indem er von der Oberfläche der Zunge,
<pb o="141" file="625" n="625"/>
in der er endigt, Botſchaften dem Gehirn zuſendet. </s>
  <s xml:id="echoid-s8378" xml:space="preserve">Der dritte <lb/>Nerv endlich iſt der Geſchmacksnerv. </s>
  <s xml:id="echoid-s8379" xml:space="preserve">Er ſteht einzig und allein <lb/>im Dienſte einer beſtimmten Empfindung, die wir Geſchmack <lb/>nennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8380" xml:space="preserve">Doch da wir ihn zu unſerem Verſuch nicht brauchen, <lb/>ſo laſſen wir ihn vorläufig beiſeite. </s>
  <s xml:id="echoid-s8381" xml:space="preserve">Die erſten beiden Nerven <lb/>ſind es nun, an denen jenes ſonderbare Experiment gelungen <lb/>iſt, denn ſie ſind dazu durch ihr Verhalten ganz beſonders ge-<lb/>eignet. </s>
  <s xml:id="echoid-s8382" xml:space="preserve">Sie machen nämlich eine Ausnahme von der feſt durch-<lb/>gehenden Regel, daß die Bewegungs- und Empfindungsfaſern, <lb/>welche in ein Glied des Körpers eintreten, zu einem einzigen <lb/>Stamme verſchmelzen, in welchem ſie ſich mit einander miſchen, <lb/>vielmehr verlaufen ſie vollkommen getrennt, aber doch ſo nahe <lb/>bei einander, daß man leicht den einen mit dem anderen in <lb/>Berührung bringen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s8383" xml:space="preserve">Hierdurch wird es denn nicht ſchwer, <lb/>an ihnen die erforderliche Operation auszuführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8384" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8385" xml:space="preserve">Zuerſt ſtellte man nun den Verſuch ſo an, daß man an <lb/>Hunden dieſe beiden Nerven durchſchnitt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8386" xml:space="preserve">Nun hatte man vier <lb/>Schnittenden vor ſich, zwei, welche mit dem Hirn, und zwei, <lb/>welche mit der Zunge zuſammenhingen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8387" xml:space="preserve">Darauf fügte man <lb/>durch eine Naht das Zungenende des Bewegungsnerven zu-<lb/>ſammen mit dem Hirnende des Gefühlsnerven und umgekehrt <lb/>das Hirnende des Bewegungsnerven zuſammen mit dem Zungen-<lb/>ende des Gefühlsnerven und überließ dann das Tier ſich ſelbſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8388" xml:space="preserve">Natürlich war nach der Operation zunächſt Bewegung und <lb/>Empfindung der Zunge aufgehoben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8389" xml:space="preserve">Als nun aber die Zeit <lb/>herankam, in welcher Nervenwunden zu verheilen pflegen, be-<lb/>merkte man mit großem Erſtaunen, daß wider alle Erwartung <lb/>dennoch Bewegung und Empfindung in ganz normaler Weiſe <lb/>wiederkehrte. </s>
  <s xml:id="echoid-s8390" xml:space="preserve">Was war der Grund hiervon? </s>
  <s xml:id="echoid-s8391" xml:space="preserve">Man ſah nach <lb/>und überzeugte ſich, daß trotz künſtlicher Trennung der Nerven-<lb/>enden ſich die natürliche Ordnung wiederhergeſtellt hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s8392" xml:space="preserve">Die <lb/>aneinander gefügten Nervenenden hatten ſich förmlich von ein-<lb/>ander losgeriſſen und hatten ſich wieder ſo vereinigt, daß die
<pb o="142" file="626" n="626"/>
entſprechenden Enden mit einander verwachſen waren. </s>
  <s xml:id="echoid-s8393" xml:space="preserve">So groß <lb/>war doch noch immer die Abneigung verſchiedenartiger Faſern <lb/>gegen einander oder die Neigung gleichartiger zu einander.</s>
  <s xml:id="echoid-s8394" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8395" xml:space="preserve">Um nun aber dennoch zum Ziele zu gelangen, haben es <lb/>jene Forſcher auf eine ſehr ſchlaue Weiſe angefangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8396" xml:space="preserve">Sie <lb/>ſchnitten nämlich das Hirnende des Bewegungsnerven voll-<lb/>kommen fort und ebenſo das Zungenende des Empfindungs-<lb/>nerven ſo weit, wie ſie konnten, und vereinigten dann die <lb/>zurückbleibenden zwei Nervenenden mit einander, nämlich das <lb/>Zungenende des Bewegungsnerven mit dem Hirnende des Ge-<lb/>fühlsnerven. </s>
  <s xml:id="echoid-s8397" xml:space="preserve">Nun blieb der Natur nichts weiter übrig, als <lb/>ſich in das Unvermeidliche zu fügen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8398" xml:space="preserve">Die Beweglichkeit und <lb/>die Empfindung der Zunge kehrten nicht wieder, und als jene <lb/>Forſcher nach einiger Zeit nachſahen, was geſchehen war, zeigte <lb/>es ſich, daß die beiden verſchiedenen Enden zu einem einzigen <lb/>Nerven verwachſen waren. </s>
  <s xml:id="echoid-s8399" xml:space="preserve">So war alſo das Unerhörte ge-<lb/>ſchehen, und wir werden ſehen, welche wunderbaren Reſultate <lb/>ſich daraus ergaben.</s>
  <s xml:id="echoid-s8400" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div287" type="section" level="1" n="208">
<head xml:id="echoid-head234" xml:space="preserve"><emph style="bf">LI. Nervenreize.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8401" xml:space="preserve">Das Aneinanderheilen des Gefühls- und Bewegungs-<lb/>nerven der Zunge zu einem einzigen Nerven ſcheint auf den <lb/>erſten Blick mehr eine Spielerei zu ſein als ein Experiment, <lb/>aus dem wir etwas Weſentliches über das Leben und Treiben <lb/>der in den Nerven waltenden Kräfte erfahren könnten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8402" xml:space="preserve">Denn <lb/>ein ſo zuſammengeflickter Nerv, deſſen Hirnende bis dahin der <lb/>Empfindung und deſſen Zungenende ſtets der Bewegung ge-<lb/>dient hat, iſt nicht imſtande, während des Lebens irgend eine <lb/>Wirkung zu äußern. </s>
  <s xml:id="echoid-s8403" xml:space="preserve">Der Teil des Gehirns, in welchem er
<pb o="143" file="627" n="627"/>
ſeinen Urſprung hat, beſitzt nicht die Fähigkeit, Befehle zu er-<lb/>teilen, ſondern iſt von Natur einzig und allein dazu beſtimmt, <lb/>die ihm zugeleiteten Empfindungen wahrzunehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8404" xml:space="preserve">Es werden <lb/>alſo durch unſere künſtlichen Nerven niemals Boten vom Ge-<lb/>hirn zu den Zungenmuskeln gehen, um dieſelbe in Bewegung <lb/>zu ſetzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8405" xml:space="preserve">Aber ebenſowenig wird das Gehirn durch dieſen <lb/>Nerven von den Eindrücken erfahren, welche die Zunge erleidet. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8406" xml:space="preserve">Denn dieſer Nerv ſendet ſeine letzten Ausläufer nicht zur Ober-<lb/>fläche der Zunge, wo ausſchließlich die Aufnahme von Empfin-<lb/>dungen ſtattfindet, ſondern er ſenkt dieſelben in das Innere <lb/>der zahlreichen Muskelgebilde ein, und dieſe können natürlich <lb/>hier weder den Taſtempfindungen dienen, noch irgend welches <lb/>Gefühl von außen her empfangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8407" xml:space="preserve">Daher ſehen wir auch, daß <lb/>trotz der wiederhergeſtellten Verbindung zwiſchen Gehirn und <lb/>Zunge letztere dennoch bewegungslos und gefühllos bleibt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8408" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8409" xml:space="preserve">So könnten wir denn Zweifel hegen, ob dieſer Baſtard <lb/>von Nerv, gegen deſſen Erzeugung ſich die Natur ſo gewaltig <lb/>geſträubt hat, überhaupt noch die Eigenſchaften eines gewöhn-<lb/>lichen Nerven beſitzt, da er uns vorläufig noch kein Zeichen <lb/>ſeiner Lebensfähigkeit gegeben hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s8410" xml:space="preserve">Die Hauptfrage, auf die <lb/>es hier ankommt, iſt: </s>
  <s xml:id="echoid-s8411" xml:space="preserve">Können denn auch in dieſem Nerven <lb/>Boten hinauf- und hinunterlaufen, um an ſeinem Gehirnende <lb/>Empfindung, an ſeinem Zungenende Bewegung zu erzeugen, <lb/>und — was das Wichtigſte iſt — können dieſe Boten auch <lb/>über die Verwachſungsſtelle unbehindert hinfortkommen?</s>
  <s xml:id="echoid-s8412" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8413" xml:space="preserve">Die Antwort auf dieſe Fragen lautet einfach und über-<lb/>raſchend: </s>
  <s xml:id="echoid-s8414" xml:space="preserve">Ja, ſie können es. </s>
  <s xml:id="echoid-s8415" xml:space="preserve">Denn unſer künſtlicher Nerv <lb/>unterſcheidet ſich eigentlich in ſeinem Weſen gar nicht von einem <lb/>gewöhnlichen, und wir werden ſehen, daß ſeine Unthätigkeit <lb/>während des Lebens nicht etwa auf einem Mangel an Weg-<lb/>ſamkeit, ſondern einzig und allein darauf beruht, daß weder <lb/>Gehirn noch Zunge die Fähigkeit beſitzt, ihm Aufträge zur <lb/>Ausführung zu erteilen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8416" xml:space="preserve">Durch bloße Beobachtungen des
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operierten Tieres würden wir nie zu einem ſolchen Schluß ge-<lb/>langen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s8417" xml:space="preserve">Der Nerv verharrt in ſeinem ſcheintoten Zu-<lb/>ſtande, und ſo lange wir auch warten würden, das Gehirn <lb/>vermag nicht, ihn daraus zu erwecken. </s>
  <s xml:id="echoid-s8418" xml:space="preserve">Aber wir beſitzen ein <lb/>ſehr wirkſames Mittel, mit welchem wir künſtlich ſolche ſchlum-<lb/>mernden Nervenkräfte in überraſchender Weiſe zum Vorſchein <lb/>bringen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s8419" xml:space="preserve">Dieſes Mittel erſetzt bis zu einem gewiſſen <lb/>Punkte gleichſam die befehlserteilende Gewalt des Gehirns, <lb/>indem es vermöge der Nerven die Muskeln zur Bewegung <lb/>zwingt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8420" xml:space="preserve">Dieſes Mittel iſt die Elektrizität.</s>
  <s xml:id="echoid-s8421" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8422" xml:space="preserve">Der elektriſche Schlag, den wir mit Hülfe mannigfacher <lb/>Apparate erzeugen können, iſt ein ſtarker Reiz für jeden Nerven, <lb/>mag er nun mit dem Gehirn noch zuſammenhängen oder nicht. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8423" xml:space="preserve">Von dem Punkte aus, wo der Nerv einen ſolchen Schlag em-<lb/>pfangen hat, verbreitet ſich die Nachricht der erlittenen Reizung <lb/>durch die ganze Länge des Nerven, in dem jene geheimnis-<lb/>vollen Boten ſofort ihre Reiſe innerhalb der Nervenfaſern an-<lb/>treten, die einen aufwärts zum Gehirn, die anderen abwärts <lb/>zu den Muskeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s8424" xml:space="preserve">Sobald ſie das Gehirn erreicht haben, erregen <lb/>ſie in demſelben Empfindungen und machen ihm glauben, ſie <lb/>kämen von der Haut, weil es nun einmal daran gewöhnt iſt, <lb/>ſtets nur von dort Nachrichten zu erhalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8425" xml:space="preserve">Ebenſo veranlaſſen <lb/>ſie, in den Muskeln angelangt, Bewegung, denn ſie unter-<lb/>ſcheiden ſich nicht von den Boten, welche das Gehirn ſelbſt <lb/>auszuſenden pflegt, und müſſen daher auch gleiche Wirkungen <lb/>erzeugen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8426" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8427" xml:space="preserve">Die Elektrizität iſt nicht das einzige Mittel, den Nerven <lb/>künſtlich in Thätigkeit zu verſetzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8428" xml:space="preserve">Ein viel einfacheres iſt die <lb/>mechaniſche Reizung, die darin beſteht, daß man den Nerven <lb/>mit einem ſpitzen Inſtrument ſticht, oder ihm au einer Stelle <lb/>einen leiſen Schlag verſetzt oder endlich ihn durchſchneidet. </s>
  <s xml:id="echoid-s8429" xml:space="preserve">In <lb/>allen dieſen Fällen verbreitet ſich von der gereizten Stelle aus <lb/>wie ein Lauffeuer die Botſchaft der erduldeten Mißhandlung
<pb o="145" file="629" n="629"/>
und ruft im Gehirn Schmerz, in den Muskeln Zuckung hervor. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8430" xml:space="preserve">Probieren wir dieſe Mittel erſt einmal an bereits bekannten <lb/>Verſuchsgegenſtänden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8431" xml:space="preserve">Mit Hülfe dieſer Nervenreize, deren es <lb/>noch andere giebt, würden wir nämlich imſtande ſein, in dem <lb/>gelähmten Bein jenes Froſches, deſſen Nerv durchſchnitten iſt, <lb/>Bewegungen zu erzeugen, von denen das Tier nichts weiß <lb/>und die es nicht beabſichtigt, und Empfindungen in ihm zu er-<lb/>regen, die es eigentlich nicht hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s8432" xml:space="preserve">Im erſten Falle brauchen <lb/>wir nur das Muskelende, im zweiten nur das Hirnende des <lb/>durchſchnittenen Nerven zu reizen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8433" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8434" xml:space="preserve">Stellen wir uns vor, wir hätten jenen Froſch mit dem <lb/>gelähmten Bein und dem durchſchnittenen Nerven vor uns <lb/>liegen und erteilen nun demjenigen Nervenende, das abwärts <lb/>in das Glied hineingeht, einen Nadelſtich oder, was heftiger <lb/>und ſicherer wirkt, einen elektriſchen Schlag. </s>
  <s xml:id="echoid-s8435" xml:space="preserve">In demſelben <lb/>Augenblick macht plötzlich unſer Froſch mit dem gelähmten <lb/>Beine, das ſonſt unbeweglich daliegt, einen ſo mächtigen Satz, <lb/>daß wir glauben könnten, er hätte einen heftigen Schmerz <lb/>empfunden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8436" xml:space="preserve">Wenn wir aber genauer zuſehen, ſo bemerken wir, <lb/>daß nur das gelähmte Bein an dem Sprunge aktiv teilgenommen <lb/>hat, während die übrigen Körperteile nur mechaniſch mit fort-<lb/>geſtoßen wurden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8437" xml:space="preserve">Der Vorgang beſchränkte ſich einzig und <lb/>allein auf das gelähmte Glied, und da dieſes dem Willen des <lb/>Tieres entzogen iſt, ſo hat das Gehirn hierbei offenbar keine <lb/>Rolle geſpielt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8438" xml:space="preserve">Vielmehr iſt für dieſes Glied das Gehirn <lb/>gleichſam erſetzt worden durch ein künſtliches Mittel, das mit <lb/>ihm die Eigenſchaft teilt, dem Nerven Aufträge zu erteilen, <lb/>die er auch getreulich ausführt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8439" xml:space="preserve">Der von der gereizten Stelle <lb/>forteilende Bote überbringt den Befehl innerhalb der Be-<lb/>wegungsnerven den Muskeln, die, wenn ſie Überlegung be-<lb/>ſäßen, glauben würden, er käme vom Gehirn, und in ihrer <lb/>Gewohnheit, demſelben blindlings zu gehorchen, nun nichts <lb/>Eiligeres zu thun haben, als ſich ſofort in Bewegung zu ſetzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8440" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8441" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s8442" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s8443" xml:space="preserve">Volksbücher X.</s>
  <s xml:id="echoid-s8444" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="146" file="630" n="630"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8445" xml:space="preserve">Von dieſem ganzen Vorgang aber hat das Tier ſelbſt nicht <lb/>die geringſte Ahnung und iſt wahrſcheinlich ſehr überraſcht, <lb/>daß es ohne allen Grund plötzlich eine ſo heftige Bewegung <lb/>macht.</s>
  <s xml:id="echoid-s8446" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8447" xml:space="preserve">Ähnlich verhält ſich die Sache, wenn wir dem Hirnende <lb/>des durchſchnittenen Nerven einen elektriſchen Schlag verſetzen, <lb/>doch mit dem Unterſchiede, daß hier ſofort die heftigſte Reaktion <lb/>von ſeiten des ganzen Tieres erfolgt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8448" xml:space="preserve">Es ſucht ſo ſchnell als <lb/>möglich mit Hülfe aller Muskeln, die ihm noch zur Verfügung <lb/>ſtehen, ſich unſeren Händen zu entziehen, und beweiſt dadurch, <lb/>daß eine Schmerzempfindung in ihm ſtattgefunden hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s8449" xml:space="preserve">Wie <lb/>eine ſolche zuſtande gekommen iſt, iſt nunmehr klar. </s>
  <s xml:id="echoid-s8450" xml:space="preserve">Von der <lb/>durch den Schlag erregten Stelle des Nerven hat ſich die Nach-<lb/>richt einer an ihm verübten Reizung innerhalb der Empfindungs-<lb/>faſern bis nach dem Gehirn fortgepflanzt und hat hierſelbſt <lb/>Schmerzgefühl verurſacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8451" xml:space="preserve">Zugleich aber hat dieſe Nachricht <lb/>dem Gehirn vorgetäuſcht, ſie käme von der Haut. </s>
  <s xml:id="echoid-s8452" xml:space="preserve">Denn da <lb/>bis zur Operation die Sache ſich ſo verhielt, daß ſtets nur <lb/>die Haut ſolche Nachrichten abſendete, ſo iſt das Gehirn nun <lb/>einmal der Meinung, daß dieſe die einzige Quelle der Em-<lb/>pfindungen ſei. </s>
  <s xml:id="echoid-s8453" xml:space="preserve">Und ſo fühlte auch unſer Froſch jenen Schmerz, <lb/>der ihn zum Entfliehen veranlaßte, ganz gewiß nur in der <lb/>Haut des operierten Schenkels.</s>
  <s xml:id="echoid-s8454" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8455" xml:space="preserve">Es giebt alſo außer den natürlichen auch künſtliche Mittel, <lb/>Nerven in Thätigkeit zu verſetzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8456" xml:space="preserve">Wir können durch dieſe <lb/>einerſeits die Wirkſamkeit des Gehirns, andererſeits die der <lb/>Haut entbehrlich machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8457" xml:space="preserve">Wir wollen nun ſehen, wie ſich unſer <lb/>künſtlicher Zungennerv zu ſolchen Mitteln verhält.</s>
  <s xml:id="echoid-s8458" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="147" file="631" n="631"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div288" type="section" level="1" n="209">
<head xml:id="echoid-head235" xml:space="preserve"><emph style="bf">LII. Nervenleitung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8459" xml:space="preserve">Da wir nun nicht mehr abhängig ſind von der Thätigkeit <lb/>des Gehirns oder der Haut, um Nervenerregungen zu beob-<lb/>achten, ſondern Mittel gefunden haben, dieſelben künſtlich zu <lb/>erzeugen, ſo ſind wir jetzt imſtande, unſeren künſtlichen Zungen-<lb/>nerven gründlich zu unterſuchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8460" xml:space="preserve">Ja, wir vermögen ſogar an <lb/>jeder beliebigen Stelle desſelben unſere Reizmittel wirken zu <lb/>laſſen und können von jedem Punkte aus, wohin wir wollen, <lb/>Botſchaften abſenden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8461" xml:space="preserve">Die Annahme ſolcher Depeſchen findet <lb/>überall ſtatt, die Ausgabe erfolgt nur im Gehirn oder in den <lb/>Muskeln.</s>
  <s xml:id="echoid-s8462" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8463" xml:space="preserve">Wir werden uns erinnern, daß unſer künſtlicher Zungen-<lb/>nerv zwiſchen Gehirn und Verwachſungsſtelle aus Empfindungs-<lb/>faſern und zwiſchen dieſer und der Zunge aus Bewegungs-<lb/>faſern beſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8464" xml:space="preserve">Wenn wir dieſe Empfindungsfaſern an einer <lb/>Stelle elektriſch reizen, ſo wird es uns nicht Wunder nehmen, <lb/>daß der Hund Zeichen von Schmerz dabei zu erkennen giebt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8465" xml:space="preserve">Aber mit Erſtaunen erfüllt es uns, wenn wir ſehen, daß <lb/>gleichzeitig Bewegungen in der gelähmten Zunge auftreten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8466" xml:space="preserve"><lb/>Wie ſind dieſelben entſtanden? </s>
  <s xml:id="echoid-s8467" xml:space="preserve">Es giebt hierfür nur eine Er-<lb/>klärung. </s>
  <s xml:id="echoid-s8468" xml:space="preserve">Die Botſchaft der ſtattgefundenen Reizung hat ſich <lb/>von dem gereizten Punkte aus nicht nur nach aufwärts zum <lb/>Gehirn, ſondern auch nach abwärts in dem Empfindungsnerven <lb/>fortgepflanzt und iſt an der Verwachſungsſtelle auf den Be-<lb/>wegungsnerv übergegangen, der ſie wie immer den Muskeln <lb/>der Zunge zugeleitet hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s8469" xml:space="preserve">Ohne jede Schwierigkeit iſt der <lb/>Übergang der abgeſendeten Boten von der einen Nervengattung <lb/>auf die andere bewerkſtelligt worden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8470" xml:space="preserve">Es hat an der Grenze <lb/>derſelben weder ein Aufenthalt ſtattgefunden, noch war eine <lb/>beſondere Anſtrengung nötig, um über dieſelbe hinwegzukommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8471" xml:space="preserve"><lb/>Vielmehr war der Vorgang gerade ſo, als wenn er in der
<pb o="148" file="632" n="632"/>
ununterbrochenen Bahn eines Bewegungsnerven vor ſich ge-<lb/>gangen wäre.</s>
  <s xml:id="echoid-s8472" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8473" xml:space="preserve">So ſchnell alſo haben jene ſonſt ſich abſtoßenden Naturen <lb/>der beiden Nervengattungen ſich mit einander ausgeſöhnt, und <lb/>ſo innig iſt ihre Verbindung vor ſich gegangen, daß ſie ohne <lb/>Hehl und Unterſchlagung die an ihrer Grenze ankommenden <lb/>Botſchaften zur Weiterbeförderung freundſchaftlich übergeben.</s>
  <s xml:id="echoid-s8474" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8475" xml:space="preserve">Ebenſo zuvorkommend wie der Empfindungsnerv gegen <lb/>den Bewegungsnerv, iſt auch der letztere gegen den erſteren. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8476" xml:space="preserve">Denn bringen wir zwiſchen der Verwachſung und der Zunge <lb/>irgend einen Reiz an dem Nerven an, ſo ſehen wir nicht allein <lb/>Zuckungen in der Zunge entſtehen, was ja ganz natürlich iſt, <lb/>ſondern der Hund giebt auch durch deutliche Zeichen zu ver-<lb/>ſtehen, daß dieſe Reizung ihm Schmerz verurſacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8477" xml:space="preserve">Der Be-<lb/>wegungsnerv, der diesmal allein vom Reiz getroffen wurde, <lb/>hat dieſe Schmerzempfindung veranlaßt und zwar dadurch, daß <lb/>er die ihm mitgeteilte Erregung ſowohl abwärts zu den Muskeln <lb/>als auch aufwärts zu dem Gefühlsnerv fortgeleitet hat, und <lb/>indem dieſer dem Gehirn davon Kunde gab, erzeugte er dem <lb/>Tiere den Wahn, daß ſeine Zunge einem heftigen Schmerze <lb/>ausgeſetzt ſei, während doch in Wirklichkeit dieſelbe von keinem <lb/>Gegenſtande berührt worden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8478" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8479" xml:space="preserve">Wir ſehen, unſer künſtlicher Nerv verhält ſich ganz ſo wie <lb/>ein natürlicher, denn es können Botſchaften zwiſchen Gehirn <lb/>und Zunge ganz frei hin- und herlaufen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8480" xml:space="preserve">Ja, er leiſtet noch <lb/>mehr als jeder einzelne von den Nerven, aus denen wir ihn <lb/>zuſammengeſetzt haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8481" xml:space="preserve">Während der Bewegungsnerv nur in <lb/>der Richtung zur Zunge wirkte, wo er Bewegung hervorrief, <lb/>und der Empfindungsnerv nur in der Richtung zum Gehirn, <lb/>in welchem er Empfindungen erregte, thut unſer Nerv beides <lb/>zu gleicher Zeit, wenn er an irgend einem Punkte einen Reiz <lb/>empfängt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8482" xml:space="preserve">Er könnte ſo viel leiſten als jene beiden, aus denen <lb/>er entſtanden iſt, zuſammengenommen, und dennoch leiſtet er
<pb o="149" file="633" n="633"/>
dem Tiere gar nichts, und zwar aus dem Grunde, weil nir-<lb/>gends ein natürlicher Reiz auf ihn einwirken kann, weder in <lb/>dem der Empfindung vorſtehenden Teil des Gehirns, wo er <lb/>entſpringt, noch in den Muskeln, wo er endigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8483" xml:space="preserve">Er iſt alſo <lb/>trotz ſeiner Vielſeitigkeit vollkommen ohne Nutzen für das Tier.</s>
  <s xml:id="echoid-s8484" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8485" xml:space="preserve">Wir aber wollen eine ſehr wichtige Nutzanwendung aus <lb/>ſeinem Verhalten ziehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8486" xml:space="preserve">Vor allem ſehen wir, daß eine ſo <lb/>große Verſchiedenheit zwiſchen Gefühls- und Bewegungsnerv <lb/>doch wohl nicht exiſtieren kann, wenn es möglich iſt, daß die-<lb/>ſelben ſich zu einem einzigen Nerven von ungeſtörtem Leitungs-<lb/>vermögen vereinigen können, und wenn wir ſogar durch das <lb/>Mikroſkop nachweiſen, daß die Nervenfaſern des einen mit den <lb/>Nervenfaſern des andern wirklich zu ununterbrochenen Faſern <lb/>zuſammengewachſen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s8487" xml:space="preserve">Wir ſehen aber ferner noch, daß <lb/>beide Nervengattungen die Eigenſchaft haben, in irgend einem <lb/>Punkte erregt, nach beiden Seiten hin dieſe Erregungen fort-<lb/>zupflanzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8488" xml:space="preserve">Hieraus ergeben ſich neue Anſchauungen über das <lb/>Weſen der Nerven.</s>
  <s xml:id="echoid-s8489" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8490" xml:space="preserve">Man iſt bis jetzt der Meinung geweſen, daß die Empfin-<lb/>dungsfaſern nur imſtande ſeien aufwärts zum Gehirn hin, <lb/>die Bewegungsfaſern dagegen nur abwärts vom Gehirn her <lb/>Erregungen zu leiten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8491" xml:space="preserve">Allerdings ſind die Verhältniſſe im <lb/>Körper derart, daß ſtets nur Boten von der Haut zum Gehirn <lb/>und vom Gehirn zu den Muskeln gehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8492" xml:space="preserve">Aber wir können <lb/>auf künſtliche Weiſe einen Zuſtand herſtellen, in welchem jene <lb/>Nervenboten nachweisbar den umgekehrten Weg einſchlagen, in <lb/>den Empfindungsfaſern abwärts und in den Bewegungsfaſern <lb/>aufwärts, und ſie behalten trotzdem ihre volle Wirkſamkeit. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8493" xml:space="preserve">So kann ſich der Vorgang, der bei der Thätigkeit der Nerven <lb/>ſtattfindet, nach beiden Seiten hin in ihnen fortpflanzen, und <lb/>wenn dies in natürlichem Zuſtande nicht geſchieht, ſo liegt es <lb/>nur daran, daß die einen nur an ihrem Hirnende, die andern <lb/>nur an ihrem Hautende gereizt werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s8494" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="150" file="634" n="634"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8495" xml:space="preserve">Noch einen zweiten wichtigen Schluß können wir aus jenem <lb/>Verſuch machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8496" xml:space="preserve">Wir ſehen, daß die Nervenboten unbehindert <lb/>von einer Nervengattung auf die andere übergehen, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s8497" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s8498" xml:space="preserve">der <lb/>Vorgang, welcher in einer erregten Nervenfaſer entſteht, ſetzt <lb/>ſich unmittelbar auf die mit ihr verwachſene Faſer der andern <lb/>Gattung fort. </s>
  <s xml:id="echoid-s8499" xml:space="preserve">So geheimnisvoll dieſer Vorgang auch bis jetzt <lb/>iſt, ſo leuchtet doch hiernach ein, daß er in beiden Gattungen <lb/>derſelbe ſein müſſe, denn unter künſtlich geſchaffenen Umſtänden <lb/>können ſich beide gegenſeitig vertreten.</s>
  <s xml:id="echoid-s8500" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8501" xml:space="preserve">Ob alſo ein Nadelſtich unſere Hand trifft, oder ob wir <lb/>willkürlich die Muskeln der Hand bewegen, in beiden Fällen <lb/>geht in den Bewegungs- und Empfindungsnerven der Hand <lb/>ein und derſelbe Prozeß vor ſich. </s>
  <s xml:id="echoid-s8502" xml:space="preserve">Der verſchiedene Erfolg, <lb/>den er hervorbringt, entſteht nur dadurch, daß er einmal in <lb/>den empfindenden Teilen des Gehirns anlangt und das andere <lb/>Mal in den Muskeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s8503" xml:space="preserve">In den erſteren ruft er Schmerz, in <lb/>den letzteren Bewegung hervor. </s>
  <s xml:id="echoid-s8504" xml:space="preserve">So erzeugt ein und dieſelbe <lb/>Urſache, nach demſelben Prinzip in den Nerven waltend, an <lb/>verſchiedenen Orgau<unsure/>en verſchiedene Wirkungen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8505" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div289" type="section" level="1" n="210">
<head xml:id="echoid-head236" xml:space="preserve"><emph style="bf">LIII. Fortpflanzung der Nervenleitung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8506" xml:space="preserve">Was wohl in einem Nerven vorgehen mag, wenn er auf <lb/>irgend eine Weiſe in Thätigkeit gerät, dieſe Frage beſchäftigt <lb/>den Forſchergeiſt der Menſchen ſchon ſeit langer Zeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s8507" xml:space="preserve">Weder <lb/>mit bloßem Auge vermag man eine Veränderung an demſelben <lb/>wahrzunehmen, während er Botſchaften vom und zum Gehirn <lb/>hin- und herträgt, noch hat das ſtärkſte Mikroſkop bis jetzt eine <lb/>ſolche gezeigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8508" xml:space="preserve">Die Natur dieſer geheimnisvollen Boten, welche <lb/>in den Nervenfaſern auf- und abfahren, iſt daher bis jetzt noch
<pb o="151" file="635" n="635"/>
wenig ergründet. </s>
  <s xml:id="echoid-s8509" xml:space="preserve">Wir werden indes ſpäter ſehen, wie nahe <lb/>die Vermutung liegt, daß ſie elektriſcher Natur ſeien.</s>
  <s xml:id="echoid-s8510" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8511" xml:space="preserve">Trotzdem man alſo den Vorgang der Nervenerregung noch <lb/>ſo wenig kennt, hat man doch eine Eigenſchaft derſelben er-<lb/>mittelt, die einen Einblick in das Weſen derſelben gewährt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8512" xml:space="preserve">Man hat nämlich genau die Geſchwindigkeit gemeſſen, mit <lb/>welcher ſie ſich in den Nerven fortpflanzt, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s8513" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s8514" xml:space="preserve">man hat be-<lb/>obachten können, wie ſchnell jene Boten in den Nerven entlang <lb/>laufen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8515" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8516" xml:space="preserve">Wenn wir den Entſchluß faſſen, die Hand zu bewegen, ſo <lb/>wiſſen wir jetzt, daß das Gehirn die betreffenden Nerven erregt <lb/>und daß in dieſen die Erregung als Bote hinabeilt zu den <lb/>Muskeln, welche die Hand regieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s8517" xml:space="preserve">Wir möchten nun glauben, <lb/>daß in demſelben Augenblick, in welchem die Nerven den Auf-<lb/>trag empfangen, er auch ſchon den Muskeln übergeben wird. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8518" xml:space="preserve">Dem iſt aber nicht ſo. </s>
  <s xml:id="echoid-s8519" xml:space="preserve">Es vergeht eine gewiſſe Zeit dazwiſchen, <lb/>welche die Erregung braucht, um die Länge des Nerven zu <lb/>durchlaufen, und dieſelbe iſt, wie wir ſehen werden, gar nicht <lb/>ſo klein, als man glauben ſollte. </s>
  <s xml:id="echoid-s8520" xml:space="preserve">Freilich ſind wir nicht im-<lb/>ſtande, zwiſchen Entſchluß und Ausführung desſelben irgend <lb/>einen Zeitraum mit unſern Sinnen wahrzunehmen, dennoch <lb/>aber iſt ein ſolcher ganz ſicher vorhanden.</s>
  <s xml:id="echoid-s8521" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8522" xml:space="preserve">Die Geſchwindigkeit, mit welcher die Erregung in einem <lb/>Bewegungsnerven fortſchreitet, kann man mit Hilfe eines ſehr <lb/>ſinnreichen Apparates mit großer Genauigkeit meſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8523" xml:space="preserve">Man <lb/>entlehnt die Nerven und Muskeln hierzu wiederum vom Froſch, <lb/>weil dieſelben, auch wenn ſie aus dem Körper entfernt werden, <lb/>noch lange Zeit hindurch ihre Lebenseigenſchaften beibehalten. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8524" xml:space="preserve">Man kann einen ſolchen Muskel mit dem dazugehörigen Nerven <lb/>in der Kälte tagelang aufbewahren, ohne daß ihre Erregbarkeit <lb/>verloren geht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8525" xml:space="preserve">Wenn wir dem Nerven einen elektriſchen Schlag <lb/>erteilen, ſo entſteht jedesmal eine Bewegung im Muskel. </s>
  <s xml:id="echoid-s8526" xml:space="preserve">Hier-<lb/>bei verändert derſelbe ſeine Geſtalt in auffallender Weiſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s8527" xml:space="preserve">Alle
<pb o="152" file="636" n="636"/>
Muskeln beſitzen nämlich eine begrenzte Geſtalt und ſind gleich-<lb/>ſam wie dicke, elaſtiſche Bänder von beſtimmter Länge und <lb/>Breite zwiſchen zwei Punkten des Knochengerüſtes ausgeſpannt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8528" xml:space="preserve">Gerät ein Muskel in Thätigkeit, ſo wird er plötzlich kürzer und <lb/>dicker, nähert ſeine beiden Anſatzpunkte und erzeugt dadurch <lb/>Bewegung der einzelnen Teile des Körpers. </s>
  <s xml:id="echoid-s8529" xml:space="preserve">Auf dieſe Weiſe <lb/>werden die komplizierteſten Bewegungen unſerer Gliedmaßen <lb/>nur durch Verkürzungen der Muskeln erzeugt, die in der <lb/>mannigfaltigſten Art angeordnet ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s8530" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8531" xml:space="preserve">In der einfachſten Form ſehen wir dieſen Vorgang an <lb/>einem aus dem Körper entnommenen Froſchmuskel mit ſeinem <lb/>dazugehörigen Nerven, in welchem wir die Fortpflanzungs-<lb/>Geſchwindigkeit der Erregung meſſen wollen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8532" xml:space="preserve">Wir können an <lb/>einen ſolchen Muskel ein Gewicht anhängen und werden ſehen, <lb/>daß er jedesmal, wenn der Nerv einen elektriſchen Schlag er-<lb/>hält, das Gewicht emporhebt, dadurch, daß er ſelbſt kürzer <lb/>wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s8533" xml:space="preserve">Dieſe Verkürzung entſteht mit ziemlicher Geſchwindigkeit <lb/>und verſchwindet ebenſo ſchnell wieder, indem der Muskel ſeine <lb/>frühere Länge wieder einnimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8534" xml:space="preserve">Man nennt eine ſolche Ver-<lb/>kürzung deshalb Zuckung.</s>
  <s xml:id="echoid-s8535" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8536" xml:space="preserve">Bei dieſem Verſuche iſt der Vorgang ganz derſelbe, wie <lb/>dies im Körper des lebenden Tieres der Fall iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8537" xml:space="preserve">Ein Punkt <lb/>des Nerven wird auf elektriſchem Wege gereizt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8538" xml:space="preserve">Sofort eilt <lb/>ein Bote von dort ab, oder wiſſenſchaftlicher ausgedrückt, die <lb/>Erregung, in welche der Nerv durch den Schlag verſetzt iſt, <lb/>pflanzt ſich weiter von der erregten Stelle aus fort und erreicht <lb/>ſchließlich den Muskel, wo ſie eine Zuckung erzeugt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8539" xml:space="preserve">Wenn wir <lb/>nun ein Mittel beſäßen, die ganze Zeit zu meſſen, welche ver-<lb/>ſtreicht zwiſchen dem Moment, in welchem der Nerv den <lb/>elektrſchen Schlag empfängt, und dem Moment, in welchem <lb/>der Muskel eben anfängt das Gewicht zu heben, ſo wäre unſre <lb/>Aufgabe gelöſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8540" xml:space="preserve">Dies kann man nun mit gewöhnlichen Hilfs-<lb/>mitteln nicht ausführen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8541" xml:space="preserve">Für das bloße Auge fällt der Schlag
<pb o="153" file="637" n="637"/>
mit der Zuckung unmittelbar zuſammen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8542" xml:space="preserve">Jedoch auf folgende <lb/>Weiſe kann man zeigen, daß dem nicht ſo iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8543" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8544" xml:space="preserve">Man ſtellt neben dem aufgehängten Muskel einen Cylinder <lb/>auf, der ſich um ſeine ſenkrechte Axe mit großer, genau be-<lb/>kannter Geſchwindigkeit drehen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s8545" xml:space="preserve">Der Muskel trägt außer <lb/>dem Gewicht, das ihn belaſtet, noch einen Stift in wagerechter <lb/>Richtung, deſſen Spitze den Cylinder berührt und auf dem-<lb/>ſelben zeichnet. </s>
  <s xml:id="echoid-s8546" xml:space="preserve">Dreht ſich der Cylinder um ſeine Axe, ſo ent-<lb/>ſteht auf ihm eine Kreislinie, die in ſich ſelbſt wieder zurück-<lb/>läuft, ſo lange als der Muskel dieſelbe Länge behält. </s>
  <s xml:id="echoid-s8547" xml:space="preserve">Verkürzt <lb/>ſich dieſer aber durch eine Zuckung, ſo hebt ſich der Zeichen-<lb/>Stift mit, verläßt die Kreislinie und zeichnet eine in die Höhe <lb/>gehende Linie.</s>
  <s xml:id="echoid-s8548" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8549" xml:space="preserve">An einem Punkte des Cylinders befindet ſich nun ein <lb/>kleiner Vorſprung. </s>
  <s xml:id="echoid-s8550" xml:space="preserve">Dieſer öffnet an einem Punkte der Um-<lb/>drehung durch Stoß eine elektriſche Kette und erregt ſo einen <lb/>elektriſchen Schlag. </s>
  <s xml:id="echoid-s8551" xml:space="preserve">Dieſer Schlag trifft den Nerven des auf-<lb/>gehängten Muskels, es entſteht eine Zuckung, und der Zeichen-<lb/>Stift geht in die Höhe.</s>
  <s xml:id="echoid-s8552" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8553" xml:space="preserve">Nun kann man ganz genau denjenigen Punkt der Kreis-<lb/>linie ermitteln, welchen der Stift berührt in dem Augenblick, <lb/>in welchem jener Vorſprung den Schlag erregt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8554" xml:space="preserve">Würde die <lb/>Zuckung in demſelben Momente beginnen, ſo würde die in die <lb/>Höhe ſteigende Linie an dieſem Punkte die Kreislinie verlaſſen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8555" xml:space="preserve">Das thut ſie aber nicht, wenn ſich der Cylinder mit großer <lb/>Geſchwindigkeit dreht, ſondern ſteigt erſt eine kleine Strecke <lb/>dahinter auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s8556" xml:space="preserve">Es hat ſich alſo der Cylinder nach dem Schlage <lb/>noch ein Stückchen gedreht, bevor die Zuckung begonnen hat, <lb/>und zwar können wir die Zeit, die zwiſchen dieſen beiden Mo-<lb/>menten liegt, ganz genau berechnen, da uns die Geſchwindig-<lb/>keit des Cylinders bekannt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8557" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8558" xml:space="preserve">Dies iſt nun die Zeit, welche die Erregung braucht, um <lb/>den Nerven entlang zu laufen, auf den Muskel überzugehen
<pb o="154" file="638" n="638"/>
und ihn zur Thätigkeit anzuregen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8559" xml:space="preserve">Wollen wir aber nur das <lb/>erſte wiſſen, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s8560" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s8561" xml:space="preserve">die Geſchwindigkeit der Erregung im Nerven, <lb/>ſo müſſen wir zwei Verſuche anſtellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8562" xml:space="preserve">Das eine Mal ſo, daß <lb/>der Schlag den dem Muskel nächſten Punkt des Nerven trifft, <lb/>und dann ſo, daß er den entfernteſten Punkt trifft. </s>
  <s xml:id="echoid-s8563" xml:space="preserve">Der Unter-<lb/>ſchied beider Zeiten giebt die Zeit, welche die Erregung braucht, <lb/>um die ganze Länge des Nerven zu durchlaufen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8564" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div290" type="section" level="1" n="211">
<head xml:id="echoid-head237" xml:space="preserve"><emph style="bf">LIV. Geſchwindigkeit und Nervenleitung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8565" xml:space="preserve">Die Geſchwindigkeit, mit der die Erregung ſich in den <lb/>Nerven fortpflanzt, hat man vor jener Unterſuchung für viel <lb/>größer gehalten als ſie wirklich iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8566" xml:space="preserve">Es ging hiermit ebenſo, <lb/>wie mit den Geſchwindigkeiten der phyſikaliſchen Kräfte. </s>
  <s xml:id="echoid-s8567" xml:space="preserve">Die <lb/>Schnelligkeit des Lichtes ſchien unendlich groß, und doch iſt <lb/>längſt ſicher feſtgeſtellt, daß es eine Sekunde Zeit braucht, um <lb/>40 000 Meilen zurückzulegen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8568" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8569" xml:space="preserve">Denken wir uns einen Nerven von 30 Meter Länge, ſo <lb/>würde es ungefähr eine Sekunde dauern, bis die Erregung <lb/>ihn ganz durchlaufen hätte. </s>
  <s xml:id="echoid-s8570" xml:space="preserve">Dies wäre ſchon eine ganz leicht <lb/>merkbare Zeit, wenn Nerven von dieſer Länge im Tierreiche <lb/>vorkämen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8571" xml:space="preserve">Das größte Tier, der Wallfiſch, hat eine Länge <lb/>von 12—20 Metern, und man hat in der That an ihm ſchon <lb/>lange, bevor man die Geſchwindigkeit der Nervenerregung kannte, <lb/>eine ſonderbare Erſcheinung bemerkt, die jetzt erſt vollkommen <lb/>klar geworden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8572" xml:space="preserve">Die Wallfiſchfänger werfen nämlich nach <lb/>dieſem Fiſch mit einer Harpune, einer mit einem Widerhaken <lb/>verſehenen Lanze, an der ein Strick befeſtigt iſt, mit welchem <lb/>das Tier herangezogen wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s8573" xml:space="preserve">Wenn dasſelbe getroffen iſt, <lb/>taucht es ſenkrecht unter, um zu entfliehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8574" xml:space="preserve">Dabei hat man
<pb o="155" file="639" n="639"/>
beobachtet, daß zwiſchen dem Augenblick, in welchem die Har-<lb/>pune in den Körper eindringt, und der erſten Bewegung des <lb/>Tieres eine deutlich wahrnehmbare Zeit vergeht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8575" xml:space="preserve">Dann erſt <lb/>ſchießt der Wallfiſch in die Tiefe.</s>
  <s xml:id="echoid-s8576" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8577" xml:space="preserve">Der Vorgang, der hier ſtattfindet, iſt etwas complizierter <lb/>als in dem Verſuch am Froſchnerven. </s>
  <s xml:id="echoid-s8578" xml:space="preserve">Denn wir haben hier <lb/>drei Zeiten zu unterſcheiden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8579" xml:space="preserve">Erſtens die Zeit, welche die Er-<lb/>regung braucht, um durch die getroffenen Empfindungsnerven <lb/>der Haut bis zum Gehirn hinzulaufen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8580" xml:space="preserve">Zweitens die Zeit, <lb/>welche der Vorgang im Gehirn des Wallfiſches in Anſpruch <lb/>nimmt, — denn auch dazu gehört Zeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s8581" xml:space="preserve">Und drittens die-<lb/>jenige Zeit, in welcher die Erregung in den Bewegungsverven <lb/>vom Gehirn zu den Muskeln gelangt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8582" xml:space="preserve">Dieſe drei Zeiten zu-<lb/>ſammen, die bei der Größe des Wallfiſches nicht ſo unbedeutend <lb/>ſind, geben zuſammen den ganzen Zeitraum, der zwiſchen jenen <lb/>beiden Momenten verſtreicht.</s>
  <s xml:id="echoid-s8583" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8584" xml:space="preserve">Je größer ein lebendes Weſen iſt, deſto größer müſſen <lb/>auch dieſe Zeiten ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s8585" xml:space="preserve">Stellen wir uns einen Menſchen vor <lb/>von 100 Meter Höhe, ſo werden wir an dieſem Menſchen ſehr <lb/>intereſſante Betrachtungen anſtellen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s8586" xml:space="preserve">Wir würden uns <lb/>wundern, wie lange es dauert, ehe dieſer Rieſe auf unſre <lb/>Fragen antwortet, denn ſein Gehörnerv und ſeine Zungen-<lb/>nerven ſind ſchon von ſehr beträchtlicher Länge. </s>
  <s xml:id="echoid-s8587" xml:space="preserve">Noch länger <lb/>wird es dauern, bevor er einen Eindruck merken würde, der <lb/>einen entfernten Teil ſeines Körpers trifft. </s>
  <s xml:id="echoid-s8588" xml:space="preserve">Verſetzen wir ihm <lb/>in die Fußſohle einen Stich, ſo wird es ungefähr 5 {1/2} Sekunde <lb/>dauern, bis er dieſen Stich fühlt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8589" xml:space="preserve">Und wenn er ſo unedel <lb/>wäre, dafür Rache nehmen zu wollen und uns durch einen <lb/>Fußtritt zu vernichten, ſo würde ihm dieſer Entſchluß in ſeinem <lb/>Gehirn vielleicht noch eine Sekunde Zeit koſten; </s>
  <s xml:id="echoid-s8590" xml:space="preserve">bis derſelbe <lb/>aber zur Ausführung käme, würden wiederum 5 {1/2} Sekunden <lb/>vergehen, denn ſo lange Zeit braucht die Erregung, um die <lb/>Bewegungsnerven des Fußes zu durchlaufen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8591" xml:space="preserve">Und ſo hätten
<pb o="156" file="640" n="640"/>
wir ungefähr 12 Sekunden Zeit, um unſer Leben in Sicher-<lb/>heit zu bringen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8592" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8593" xml:space="preserve">Die Zeit, in welcher die Bewegung in den Nerven fort-<lb/>ſchreitet, iſt offenbar noch zu klein, um beim Menſchen merkbar <lb/>zu werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8594" xml:space="preserve">Es ſcheint uns, als ob wir einen Stich ſofort <lb/>empfinden, wenn er unſre große Zehe trifft. </s>
  <s xml:id="echoid-s8595" xml:space="preserve">Ja, wir bezeichnen <lb/>nach dem Sprachgebrauch den kleinſten Zeitraum, den wir uns <lb/>vorſtellen können, durch das Wort Augenblick, deſſen eigentliche <lb/>Bedeutung eine Nervenerregung iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8596" xml:space="preserve">Augenblick iſt die Zeit, <lb/>welche vergeht zwiſchen dem Öffnen der Augen und einem <lb/>ſchnell darauf folgenden Schließen derſelben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8597" xml:space="preserve">Dazu gehört nicht <lb/>nur die Zeit, welche die Muskeln der Augenlider zur Bewe-<lb/>gung brauchen, ſondern auch die Zeit, in welcher die Nerven-<lb/>erregung vom Gehirn bis zu dieſen Muskeln läuft. </s>
  <s xml:id="echoid-s8598" xml:space="preserve">Und <lb/>dennoch erſcheint uns dieſe Zeit noch ſo klein, daß wir ſie nicht <lb/>mehr zu teilen vermögen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8599" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8600" xml:space="preserve">Unter gewöhnlichen Verhältniſſen iſt die Dauer der Fort-<lb/>pflanzung von Erregungen vom und zum Gehirn ohne Einfluß <lb/>auf unſre Empfindungen und Bewegungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8601" xml:space="preserve">Die Geſchwindig-<lb/>keit iſt immer noch groß genug, um keine Störungen in den <lb/>Funktionen unſerer Körperteile hervorzurufen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8602" xml:space="preserve">Aber unter ge-<lb/>wiſſen Bedingungen wird ſie ſehr wohl merkbar. </s>
  <s xml:id="echoid-s8603" xml:space="preserve">Es iſt <lb/>nämlich den Aſtronomen bei ihren Beobachtungen aufgefallen, <lb/>daß gewiſſe Zeit-Meſſungen verſchiedener Beobachter immer um <lb/>ein Beſtimmtes von einander abweichen, was nicht auf Irr-<lb/>tümer zurückgeführt werden konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s8604" xml:space="preserve">Bei dieſen Meſſungen <lb/>bedienen ſie ſich elektriſcher Uhren; </s>
  <s xml:id="echoid-s8605" xml:space="preserve">ſobald diejenige Erſcheinung <lb/>eintritt, deren Zeit beobachtet werden ſoll, ſo geben ſie dies <lb/>durch einen Fingerdruck zu erkennen, der die elektriſche Kette <lb/>öffnet, welche die Uhr treibt, und man lieſt nun die Zeit an <lb/>der Uhr ab. </s>
  <s xml:id="echoid-s8606" xml:space="preserve">Trotz dieſer exakten Einrichtung waren die Zeiten <lb/>doch nicht immer dieſelben, und es mußte daher der Grund
<pb o="157" file="641" n="641"/>
dieſer Abweichung außerhalb der Apparate, alſo in den Beob-<lb/>achtern liegen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8607" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8608" xml:space="preserve">Nun vergeht zwiſchen dem Moment, in welchem der <lb/>Aſtronom eine Erſcheinung ſieht, bis zu dem Augenblick, wo <lb/>er den Finger bewegt, in der That eine für aſtronomiſche <lb/>Meſſungen nicht unbedeutende Zeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s8609" xml:space="preserve">Die Erregung muß durch <lb/>den Sehnerven zum Gehirn, von hier ins Rückenmark hinab <lb/>zum Armnerven und kommt erſt durch dieſen zum Finger-<lb/>muskel. </s>
  <s xml:id="echoid-s8610" xml:space="preserve">Dieſe Zeit iſt nun nicht für jeden Beobachter gleich, <lb/>und zwar weichen hauptſächlich diejenigen Zeiten von einander <lb/>ab, während deren ſich der empfangene Eindruck im Gehirn <lb/>aufhält. </s>
  <s xml:id="echoid-s8611" xml:space="preserve">Ja, ſelbſt bei ein und demſelbeu Beobachter iſt ſie <lb/>nicht immer gleich, je nachdem er mehr oder weniger zur Auf-<lb/>merkſamkeit disponiert iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8612" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8613" xml:space="preserve">Auf ſehr ſinnreiche Weiſe hat man auch am lebenden <lb/>Menſchen die Geſchwindigkeit gemeſſen, mit welcher die Empfin-<lb/>dungen von der Haut aus zum Gehirn dringen, und man iſt <lb/>auf ein Reſultat gekommen, das ganz übereinſtimmt mit jenem <lb/>Verſuch, der an den Bewegungsnerven des Froſches angeſtellt <lb/>worden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8614" xml:space="preserve">Auch hier hat ſich ergeben, daß die Geſchwindig-<lb/>keit ungefähr 30 Meter in der Sekunde beträgt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8615" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div291" type="section" level="1" n="212">
<head xml:id="echoid-head238" xml:space="preserve"><emph style="bf">LV. Neueſtes über den Aufbau des Nervenſyſtems.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8616" xml:space="preserve">Wir haben in den vorausgehenden Abſchnitten nur der <lb/>Einfachheit wegen angenommen, daß die Geſamtheit von <lb/>Gehirn, Rückenmark und Nerven mit einem reichverzweigten <lb/>Telegraphenſyſtem zu vergleichen ſei, in welchem die Nerven-<lb/>faſern als die Leitungsdrähte, die Nervenzellen als die End-<lb/>und Zwiſchenſtationen funktionieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s8617" xml:space="preserve">Dies Bild dürfen wir
<pb o="158" file="642" n="642"/>
nach neueren Unterſuchungen nicht ſtreng nehmen, denn es fehlt <lb/>dem Nervenſyſtem jener Charakter des Geſchloſſenſeins, wie er <lb/>einem arbeitenden Telegraphenſyſtem notwendig zukommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8618" xml:space="preserve">So <lb/>treffen wir in den Centralorganen und zum Teil ſchon in den <lb/>Sinnesorganen neben den in eine große Leitungsbahn ein-<lb/>geſchalteten Nerveneinheiten ſolche, welche ſich den Hauptbahnen <lb/>nicht einordnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8619" xml:space="preserve">Es ſind dies Zellen kleineren oder mittleren <lb/>Kalibers, deren Nervenfortſätze den betreffenden Bezirk nicht <lb/>überſchreiten, ſondern die ſich darin verlieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s8620" xml:space="preserve">Dieſe Elemente <lb/>ſcheinen eine vorwiegend lokale Bedeutung zu haben, ſei es, <lb/>daß ſie Reizausgleichungen vermitteln, daß ſie gewiſſe all-<lb/>gemeine Stimmungen des Organes unterhalten oder in irgend <lb/>einer anderen Weiſe am Geſamtvorgang ſich beteiligen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8621" xml:space="preserve">In <lb/>manchen Centralteilen ſind dieſe Nebenapparate beſonders reich-<lb/>lich vorhanden, und ihre Bedeutung darf demnach in keiner <lb/>Weiſe unterſchätzt werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s8622" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8623" xml:space="preserve">Wir haben alſo kurz und bündig das Geſamtnervenſyſtem <lb/>thatſächlich zerfallend in eine große Anzahl nicht, wie man das <lb/>früher glaubte, direkt mit einander verbundener Einheiten, <lb/>ſondern in Teile, die keine direkten Verbindungen mit einander <lb/>haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8624" xml:space="preserve">Wollen wir daher das von der Elektrizität entnommene <lb/>Bild genauer den Verhältniſſen anpaſſen, ſo wird man die <lb/>gegenſeitige Einwirkung der in Rede ſtehenden Einheiten mit <lb/>derjenigen auf dem Wege elektriſcher Induktion vergleichen: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8625" xml:space="preserve">ein Vorgang, den wir in einem früheren Teil bei Beſprechung <lb/>der elektriſchen Erſcheinungen ausführlich beſprochen haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s8626" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8627" xml:space="preserve">Ein zutreffenderes Bild haben wir nach einem von dem <lb/>Leipziger Anatomen His gegebenen Vergleich in der Verwal-<lb/>tung eines größeren Landes, bei welcher zahlreiche Behörden <lb/>in beſtimmter Gliederung einander bei- und übergeordnet ſind. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8628" xml:space="preserve">Wohl ſendet eine Ortsbehörde in gegebenem Falle ihre Depeſche <lb/>nach der übergeordneten Inſtanz, um ſich Verwaltungsbefehle <lb/>zu erbitten; </s>
  <s xml:id="echoid-s8629" xml:space="preserve">allein die Antwort erfolgt nicht durch einfache
<pb o="159" file="643" n="643"/>
Umſchaltung einer Leitung, ſie iſt das Ergebnis einer beſon-<lb/>deren Verarbeitung innerhalb der Oberbehörde. </s>
  <s xml:id="echoid-s8630" xml:space="preserve">Oberbehörden, <lb/>Zwiſchen- und Unterbehörden umfaſſen mehr oder minder um-<lb/>fängliche Bureaux mit Beamten ungleicher Stellung. </s>
  <s xml:id="echoid-s8631" xml:space="preserve">Die Um-<lb/>wandlung einer Meldung in einen Befehl verknüpft ſich mit <lb/>verſchiedenen Nebenvorgängen, mit Protokollierungen, mit Ver-<lb/>gleichung von Präcedenzfällen, mit Rückſichtnahme auf gleich-<lb/>zeitige Vorgänge, mit ausgleichenden Nebenbefehlen an andere <lb/>Unterbehörden u. </s>
  <s xml:id="echoid-s8632" xml:space="preserve">a. </s>
  <s xml:id="echoid-s8633" xml:space="preserve">m. </s>
  <s xml:id="echoid-s8634" xml:space="preserve">Das Endergebnis einer Entſcheidung <lb/>wird durch augenblickliche Stimmungen der beanſpruchten Be-<lb/>hörde, durch vorangegangene oder gleichzeitige Befehle höher <lb/>ſtehender Behörden beeinflußt werden und was dergleichen Um-<lb/>ſtände mehr ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s8635" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8636" xml:space="preserve">Der in einander greifenden Thätigkeit der einzelnen Nerven-<lb/>elemente wird durch die neueren Unterſuchungen mehr Raum <lb/>gelaſſen, und die Individualität eines jeden Elementes kommt <lb/>mehr zu ihrem Recht.</s>
  <s xml:id="echoid-s8637" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8638" xml:space="preserve">Druck von G. </s>
  <s xml:id="echoid-s8639" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein in</emph> Berlin.</s>
  <s xml:id="echoid-s8640" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb file="644" n="644"/>
<pb file="645" n="645"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div292" type="section" level="1" n="213">
<head xml:id="echoid-head239" xml:space="preserve"><emph style="bf">Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher</emph> <lb/>von <lb/><emph style="bf">A. Bernſtein.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head240" xml:space="preserve"><emph style="sp">Fünfte, reich illuſtrierte Auflage.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head241" xml:space="preserve">Durchgeſehen und verbeſſert <lb/>von <lb/><emph style="bf">H. Potonié</emph> und <emph style="bf">R. Hennig.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head242" xml:space="preserve">Eifter Teil.</head>
  <figure>
    <image file="645-01" xlink:href="http://echo.mpiwg-berlin.mpg.de/zogilib?fn=/permanent/library/xxxxxxxx/figures/645-01"/>
  </figure>
</div>
<div xml:id="echoid-div293" type="section" level="1" n="214">
<head xml:id="echoid-head243" xml:space="preserve"><emph style="bf">Berlin.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head244" xml:space="preserve"><emph style="sp">Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.</emph></head>
<pb file="646" n="646"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8641" xml:space="preserve">Das Necht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s8642" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb file="647" n="647"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div294" type="section" level="1" n="215">
<head xml:id="echoid-head245" xml:space="preserve"><emph style="bf">Inhaltsverzeichnis.</emph></head>
<note position="right" xml:space="preserve"> <lb/># # Seite <lb/>## <emph style="bf">Vom Leben der Pſlanzen, der Tiere und der Menſchen. II.</emph> <lb/>I. # Das Band des Lebens . . . . . . . . . . . # 1 <lb/>II. # Der Zuſammenhang der drei Nervenſyſteme . . . . # 3 <lb/>III. # Beſehen wir uns einmal ein Gehirn . . . . . . . # 5 <lb/>IV. # Das Gehirn von der untern Seite . . . . . . . # 9 <lb/>V. # Ob man im Gehirn etwas von ſeinem Thätigkeits-<lb/># vermögen ſehen kann . . . . . . . . . . . # 13 <lb/>VI. # Die Thätigkeit des großen Gehirns . . . . . . . # 17 <lb/>VII. # Eine Taube ohne Gehirn . . . . . . . . . . # 19 <lb/>VIII. # Was das kleine Gehirn zu thun hat . . . . . . . # 22 <lb/>IX. # Von der Schädellehre . . . . . . . . . . . . # 25 <lb/>X. # Thätigkeit und Ruhe . . . . . . . . . . . . # 31 <lb/>XI. # Der Schlaf . . . . . . . . . . . . . . . # 37 <lb/>XII. # Einſchlafen und Aufwachen . . . . . . . . . . # 40 <lb/>XIII. # Die Träume . . . . . . . . . . . . . . . # 43 <lb/>XIV. # Die Träume durch äußerliche Anregungen . . . . . # 46 <lb/>XV. # Denken im Traum . . . . . . . . . . . . . # 49 <lb/>XVI. # Inſtinkt und Geiſtesleben . . . . . . . . . . # 52 <lb/>XVII. # Das Menſchenleben — ein Geiſtesleben . . . . . . # 53 <lb/>XVIII. # Die Sprache der Menſchen . . . . . . . . . . # 57 <lb/>XIX. # Die Herrſchaft der Menſchen . . . . . . . . . . # 59 <lb/>XX. # Der Menſchengeiſt und der Luftkreis . . . . . . . # 62 <lb/>XXI. # Was im Gehirn während des Denkens vorgeht . . . # 65 <lb/>XXII. # Der angeborene Geiſt und die Erfahrung . . . . . # 68 <lb/>XXIII. # Von den Vorſtellungen und deren Entwickelung . . . # 71 <lb/>XXIV. # Ruheloſigkeit und Ruhe der Gedanken . . . . . . # 74 <lb/>XXV. # Gedächtnis- und Erinnerungs-Vermögen . . . . . . # 77 <lb/>XXVI. # Wie ſich das Gehirn beſinnt . . . . . . . . . # 80 <lb/>XXVII. # Vom Vergeſſen alter und dem Erzeugen neuer Gedanken # 84 <lb/>XXVIII. # Wie man im Gehirn etwas überlegt . . . . . . . # 87 <lb/>XXIX. # Die Energie . . . . . . . . . . . . . . . # 90 <lb/>XXX. # Eigentümlichkeiten der Energie . . . . . . . . . # 93 <lb/></note>
<pb file="648" n="648"/>
<pb file="649" n="649"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div295" type="section" level="1" n="216">
<head xml:id="echoid-head246" xml:space="preserve"><emph style="bf">Vom Leben der Pſlanzen, der Tiere und</emph> <lb/><emph style="bf">der Menſchen. II.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head247" xml:space="preserve"><emph style="bf">I. Das Band des Lebens.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8643" xml:space="preserve">Nachdem wir bisher die Hauptunterſchiede zwiſchen dem <lb/>Tier- und Pflanzenleben aufgeführt haben, ſoweit ſich ſolche <lb/>ſtatuieren laſſen, wollen wir zunächſt an dieſe Thatſache einige <lb/>für den erſten Augenblick gewiß ſonderbar klingende Behaup-<lb/>tungen knüpfen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8644" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8645" xml:space="preserve">Wir wiſſen, daß der tieriſche Körper ſich nur aufbaut durch <lb/>das Blut, welches in demſelben herumkreiſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s8646" xml:space="preserve">wir wiſſen ferner, <lb/>daß das Blut nur die verwandelte Speiſe des Tieres iſt, und <lb/>endlich iſt es eine bereits ausgemachte Thatſache, daß die Tier-<lb/>welt nur direkt oder indirekt von Pflanzenſpeiſe leben kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s8647" xml:space="preserve">— <lb/>Ebenſo aber wie das Blut den geſamten Körper bildet, ebenſo <lb/>bildet es auch Gehirn- und Nervenmaſſe, nnd zwar in gleicher <lb/>Weiſe, wie in jedem Umlauf das Blut in den Knochen, in den <lb/>Muskeln dasjenige ablagert, was neue Knochen, neue Muskeln <lb/>zu bilden beſtimmt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8648" xml:space="preserve">Wir können daher den Ausſpruch mit <lb/>voller Sicherheit thun, daß der Stoff für Gehirn und Nerven <lb/>bereits in den Pflanzen vorhanden ſein muß, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s8649" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s8650" xml:space="preserve">die chemiſchen <lb/>Stoffe, die zur Bildung von Gehirn und Nerven nötig ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s8651" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8652" xml:space="preserve">Wenn die Exiſtenz von Gehirn und Nerven den Haupt-<lb/>unterſchied zwiſchen dem höheren tieriſchen und dem Pflanzen-<lb/>leben bildet, ſo muß man ſich nicht vorſtellen, als ob Gehirn</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8653" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s8654" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s8655" xml:space="preserve">Volksbücher XI.</s>
  <s xml:id="echoid-s8656" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="2" file="650" n="650"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8657" xml:space="preserve">und Nerven etwas ſeien, was in den Pflanzen gar nicht exiſtiere, <lb/>ſondern eine unbefangene Vetrachtung ergiebt nur, daß die <lb/>Pflanzen ſich während ihres eignen Lebens nicht ausbilden, <lb/>daß die Stoffe dazu aber unausgebildet darin liegen, und erſt <lb/>dieſe Formen und Eigenſchaften annehmen, nachdem ſie im <lb/>tieriſchen Körper zu Blut geworden ſind, und dadurch die <lb/>Fähigkeit erhalten haben, unter dem Einfluß noch weiterer <lb/>Umſtände wirklich Gehirn und Nerven zu werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s8658" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8659" xml:space="preserve">Man kann ſich vorſtellen, daß in der Pflanze ſowohl <lb/>die Gehirn- als auch Nerven-Maſſe, die ſie zu bilden fähig <lb/>iſt, ſobald ſie in den Tierleib als Speiſe gelangt iſt, nur <lb/>unentwickelt ruhe. </s>
  <s xml:id="echoid-s8660" xml:space="preserve">Inſofern als alle chemiſchen Elemente, <lb/>die die Pflanzen und Tiere zuſammenſetzen, auch in der un-<lb/>organiſchen Natur vorkommen, kann man dasſelbe freilich auch <lb/>von der letzteren ſagen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8661" xml:space="preserve">— Man hat mit vollem Recht das <lb/>Blut eines Tieres den flüſſigen Leib des Tieres genannt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8662" xml:space="preserve">Im <lb/>Blut iſt der Stoff ebenſo zu den Knochen, den Muskeln, den <lb/>Hörnern, den Nägeln, wie zu dem Gehirn und den Nerven <lb/>vorhanden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8663" xml:space="preserve">Die Stoffe haben ſich nur noch nicht geſondert <lb/>und geordnet, und ſind in der Flüſſigkeit unter einander ge-<lb/>miſcht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8664" xml:space="preserve">Das Blut iſt der allgemeine bildungsfähige Bauſtoff <lb/>für jeden Teil des tieriſchen Leibes. </s>
  <s xml:id="echoid-s8665" xml:space="preserve">— Macht man ſich aber <lb/>mit dieſem Gedanken vertraut, ſo muß man dasſelbe auch von <lb/>der Speiſe, dasſelbe auch von den Pflanzen ſagen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8666" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8667" xml:space="preserve">In dieſem Sinne kann man den Ausſpruch thun, daß <lb/>Pflanze und Tier nur zwei Weſen ſind, die auf verſchiedener <lb/>Stufe ihrer Ausbildung und Entwickelung ſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8668" xml:space="preserve">In der <lb/>Pflanze ruht der Stoff und die Möglichkeit, zu einem Weſen <lb/>umgewandelt zu werden, welches alle Eigenſchaften des tieriſchen <lb/>Lebens annimmt, um bis zu einem Leben höherer Gattung, <lb/>bis zum Leben des Tieres erhoben zu werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s8669" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="3" file="651" n="651"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div296" type="section" level="1" n="217">
<head xml:id="echoid-head248" xml:space="preserve"><emph style="bf">II. Der Zuſammenhang der drei Nervenſyſteme.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8670" xml:space="preserve">Das Eigentümliche des Tierlebens beſteht, wie wir be-<lb/>reits im Einzelnen hervorgehoben haben, im Gehirn- und <lb/>Nervenleben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8671" xml:space="preserve">Dieſes Gehirn- und Nervenleben zerfällt aber <lb/>in drei geſonderte Eigentümlichkeiten, ſo daß man wiſſenſchaft-<lb/>lich von drei verſchiedenen Arten von Nerven ſpricht.</s>
  <s xml:id="echoid-s8672" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8673" xml:space="preserve">Dieſe erſte Nervengattung bildet das vegetative Nerven-<lb/>ſyſtem oder, deutlicher ausgedrückt, eine Nervenpartie, die das <lb/>innerliche Pflanzenleben der Tiere reguliert und erhält, ſelbſt <lb/>gegen den Willen und ohne Bewußtſein des Tieres. </s>
  <s xml:id="echoid-s8674" xml:space="preserve">Die <lb/>Verdauung, der Blut-Umlauf, die Ernährung und die Ab-<lb/>ſonderung ſind ganz auf dieſem Syſtem begründet. </s>
  <s xml:id="echoid-s8675" xml:space="preserve">Es ſind <lb/>dies die innern Thätigkeiten der Maſchinerie des Leibes, von <lb/>denen ähnliche Vorgänge auch in den Pflanzen vorkommen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8676" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8677" xml:space="preserve">Die zwei andern Nerven-Gattungen beſtehen aber in dem <lb/>Verkehr mit der Außenwelt, und zwar leitet die eine Gattung <lb/>der Nerven, die Sinnesnerven, durch welche wir mit beſon-<lb/>deren Organen ſehen, hören, ſchmecken, riechen und am ganzen <lb/>Körper fühlen, die Eindrücke der Außenwelt zu unſerm Ge-<lb/>hirn, während die andere Gattung von Nerven, durch welche <lb/>wir die Glieder unſeres Leibes in Bewegung ſetzen können, <lb/>vom Gehirn Befehle hierzu nach jedem Muskel leitet.</s>
  <s xml:id="echoid-s8678" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8679" xml:space="preserve">Der innige Zuſammenhang dieſer drei Nervenſyſteme er-<lb/>giebt ſich im ganzen ſchon von ſelber, das heißt, es iſt jedes <lb/>dieſer Nervenſyſteme unumgänglich an das andere gekettet.</s>
  <s xml:id="echoid-s8680" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8681" xml:space="preserve">Ein Weſen, das ſo geſchaffen iſt, daß die Nahrung ihm <lb/>nicht von ſelber zufließt, und das dennoch nur leben kann, <lb/>wenn es Nahrung zu ſich nimmt, das muß ſelber die Nahrung <lb/>aufzuſuchen imſtande ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s8682" xml:space="preserve">Ein Tier iſt ein ſolches Weſen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8683" xml:space="preserve">Beſitzt es nun ein ſolches Nervenſyſtem, das die innere Er-<lb/>nährung reguliert, ſo muß die Natur es auch mit Organen
<pb o="4" file="652" n="652"/>
verſorgen, durch welche es imſtande iſt, in der Außenwelt ſeine <lb/>Nahrung aufzufinden, und es verſteht ſich von ſelbſt, daß es <lb/>ſich dorthin muß bewegen können, wo die Nahrung vorhanden <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8684" xml:space="preserve">— Man wird hiernach leicht einſehen, daß das Nerven-<lb/>ſyſtem, welches das Pflanzenleben des Tieres leitet, auch ein <lb/>Syſtem von Sinnesnerven, wie von Bewegungsnerven vor-<lb/>ausſetzt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8685" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8686" xml:space="preserve">Man wird es daher begreiflich finden, wie ein junges <lb/>Tier, das eben erſt den Mutterleib verlaſſen hat, von der <lb/>Natur angeleitet wird, richtig zu ſehen, wo ſeine Nahrung, <lb/>die Milch der Mutter, vorhanden iſt, und daß es auch mit <lb/>der Kenntnis von dem richtigen Gebrauch ſeiner Beine ver-<lb/>ſorgt iſt, um dort hinzugehen und die Milch einzuſaugen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8687" xml:space="preserve">Man wird begreiflich finden, daß es ſo ſein muß, wenn auch <lb/>die Wiſſenſchaft eingeſteht, daß ſie auf tauſend Rätſel ſtößt, <lb/>wenn ſie erklären ſoll, wie dies zugeht?</s>
  <s xml:id="echoid-s8688" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8689" xml:space="preserve">Wie kommt es, daß ein neugeborenes Kalb es weiß, daß <lb/>die Mutter wenige Schritte von ihm exiſtiert? </s>
  <s xml:id="echoid-s8690" xml:space="preserve">Es hat zwar <lb/>Augen, mit welchen es die Mutter, wie man ſo ſagt, ſieht; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8691" xml:space="preserve">aber es ſteht wiſſenſchaftlich feſt, daß dies ſogenannte Sehen <lb/>nur darin beſteht, daß auf dem Hintergrund des Kalbsauges <lb/>ein kleines Bildchen der Mutter ſich abbildet. </s>
  <s xml:id="echoid-s8692" xml:space="preserve">Nimmt nun <lb/>auch das Gehirn des Kalbes durch den Sehnerven dieſes <lb/>Bildchen wahr, ſo begreift man doch immer noch nicht, woher <lb/>das Kalb zu der Erkenntnis kommt, daß das, was es ſieht, <lb/>nicht in ſeinem Auge, ſondern draußen in der Welt exiſtiert. </s>
  <s xml:id="echoid-s8693" xml:space="preserve"><lb/>— Unbegreiflichkeiten dieſer Art giebt es tauſendfache, welche <lb/>die Wiſſenſchaft nicht wirklich zu erklären weiß; </s>
  <s xml:id="echoid-s8694" xml:space="preserve">es läßt ſich <lb/>hierüber nur ſo viel ſagen, daß dieſelbe angeborne innere <lb/>Direktion der Maſchine im Tierleibe, die die Thätigkeit des <lb/>Magens, des Darms, des Herzens u. </s>
  <s xml:id="echoid-s8695" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s8696" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s8697" xml:space="preserve">reguliert ohne <lb/>Willen und Bewußtſein des Tieres, beim neugebornen Kalbe <lb/>auch noch die Sinnes- und Bewegungsnerven in Thätigkeit
<pb o="5" file="653" n="653"/>
verſetzt und reguliert und dirigiert, ſo daß wichtige zweckent-<lb/>ſprechende Handlungen des Kalbes hieraus erfolgen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8698" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8699" xml:space="preserve">Über die Wirkungen und Thätigkeiten des vegetativen <lb/>Nervenſyſtems und deſſen Einfluß auf die übrigen Nerven <lb/>herrſchen überhaupt noch in der Wiſſenſchaft große Dunkelheiten. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8700" xml:space="preserve">Es rührt dies daher, daß es den Naturforſchern nicht leicht <lb/>gemacht iſt, mit dieſen Nerven Verſuche an lebenden Tieren <lb/>anzuſtellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8701" xml:space="preserve">Dieſe Nerven liegen hauptſächlich an den innerſten <lb/>Organen der Tiere, die man ohne Gefahr für das Leben <lb/>der Tiere nicht leicht bloß legen kann; </s>
  <s xml:id="echoid-s8702" xml:space="preserve">außerdem ſind die <lb/>Nervenfäden dieſes Syſtems ſo innig verzweigt mit Fäden der <lb/>andern Nerven, daß es kaum möglich iſt, auf reine Reſultate <lb/>bei den Verſuchen zu kommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8703" xml:space="preserve">Es ſind deshalb die Verſuche <lb/>über die Thätigkeit und das Gebiet der zwei andern Nerven-<lb/>gattungen viel erſprießlicher geweſen, und dieſe Verſuche haben <lb/>ergeben, daß auch die Sinnes- und Gefühlsnerven mit den <lb/>Bewegungsnerven nicht nur in den Muskeln nachbarlich ſo <lb/>gelagert ſind, daß ſie nicht mehr zu unterſcheiden ſind, ſondern <lb/>daß ſie aufeinander einwirken, ſelbſt wenn der eigentliche Ver-<lb/>einigungspunkt, das Gehirn, nicht mehr vorhanden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8704" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8705" xml:space="preserve">Aus all’ dem Geſagten aber geht trotz der vielen Rätſel, <lb/>die in dieſem Gebiete noch vorhanden ſind, ſo viel hervor, <lb/>daß das eigentliche Tierleben im Nerven- und Gehirnleben <lb/>auftritt, und es iſt deshalb Zeit, daß wir uns einmal das <lb/>Gehirn, dieſes Zentralbureau des Lebens anſehen, ob wir viel-<lb/>leicht an demſelben dem Geheimnis des Lebens näher nach-<lb/>ſpüren können.</s>
  <s xml:id="echoid-s8706" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div297" type="section" level="1" n="218">
<head xml:id="echoid-head249" xml:space="preserve"><emph style="bf">III. Beſehen wir uns einmal ein Gehirn.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8707" xml:space="preserve">Nach all dem Geſagten ſollte man wirklich meinen, es <lb/>müßte das Gehirn eines Tieres mit all ſeinen Nervenzweigen
<pb o="6" file="654" n="654"/>
etwas von dem tiefen Geheimnis des Lebens an ſich erſpähen <lb/>laſſen, wenn man es bloßgelegt vor das Auge des denkenden <lb/>Menſchen bringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8708" xml:space="preserve">Leider aber iſt dies durchaus nicht der Fall.</s>
  <s xml:id="echoid-s8709" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8710" xml:space="preserve">Man kann mit vollem Rechte ſagen, daß der Naturforſcher <lb/>vor keinem ſonſtigen Leibesteil ſo unwiſſend, oder offen geſagt, <lb/>ſo dumm daſteht, wie vor einem Gehirn.</s>
  <s xml:id="echoid-s8711" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8712" xml:space="preserve">An dem Herzen eines Tieres kann man die ſinnreiche <lb/>Einrichtung dieſer vorzüglichen Saug- und Druckpumpe leicht <lb/>nachweiſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s8713" xml:space="preserve">man verſteht ſeinen Bau, man begreift die Be-<lb/>ſchaffenheit, die Aufgabe ſeiner einzelnen Abteilungen, ſeiner <lb/>Ventile. </s>
  <s xml:id="echoid-s8714" xml:space="preserve">Man iſt imſtande, ſeine Thätigkeit ſich klar zu machen <lb/>und ſelbſt in Einzelheiten zu erläutern. </s>
  <s xml:id="echoid-s8715" xml:space="preserve">Lunge, Magen, Darm <lb/>und ſonſtige innere Werkzeuge ſind nicht nur in ihren weſent-<lb/>lichen Verrichtungen von der Naturwiſſenſchaft erforſcht, ſondern <lb/>man vermag auch ihre beſondere Beſchaffenheit und Eigentüm-<lb/>lichkeiten gründlich zu erklären. </s>
  <s xml:id="echoid-s8716" xml:space="preserve">Selbſt das Auge und deſſen <lb/>ſinnreiche Einrichtung iſt vollſtändig begreiflich. </s>
  <s xml:id="echoid-s8717" xml:space="preserve">Im Bau des <lb/>Ohres, hauptſächlich ſeiner innern Werkzeuge, iſt noch manches <lb/>unerklärt, aber im Ganzen iſt man über dasſelbe im Klaren. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8718" xml:space="preserve">Nur vor einem Gehirn, und wäre es ſelbſt das einer recht <lb/>dummen Gans, ſteht der Naturforſcher wie vor einem ver-<lb/>ſchloſſenen Rätſel und folgt nur den ſchwachen Spuren der <lb/>Erklärungen, welche bisherige unzählige Verſuche ermittelt <lb/>haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s8719" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8720" xml:space="preserve">Wer aber glaubt, daß das weit ausgebildetere Gehirn eines <lb/>Menſchen etwas mehr von der geiſtvollen Einrichtung desſelben <lb/>verraten müßte, iſt im Irrtum. </s>
  <s xml:id="echoid-s8721" xml:space="preserve">Wer ein Gehirn eines Menſchen <lb/>vor ſich hat, der wird ſelbſt unter Anleitung des gelehrteſten <lb/>Naturforſchers immer wiederum in unwillkürliches Sinnen ver-<lb/>ſinken, und trotz der augenſcheinlichſten Beweiſe ſich nicht des <lb/>Zweifels erwehren können, daß auch in ſeinem Kopfe ein <lb/>ſolches ſonderbares Gebilde ſeinen Sitz habe, und daß dies es <lb/>ſei, welches das Regiment führt über Sinnen, Trachten, Luſt,
<pb o="7" file="655" n="655"/>
Liebe, Leben, Thun, Laſſen, Wollen, Streben, Begehren, Em-<lb/>pfinden und Bewußtwerden ſeines lieben Ichs.</s>
  <s xml:id="echoid-s8722" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8723" xml:space="preserve">Die Naturwiſſenſchaft hat freilich bereits tüchtige Fort-<lb/>ſchritte in der Kenntnis des Baues, der Ausbildung und der <lb/>Beſtimmung einzelner Teile des Gehirns gemacht, aber es iſt <lb/>und blieb bisher doch noch immer ein Rätſel, das in ſeinen <lb/>Hauptſachen nicht einmal aufgelöſt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8724" xml:space="preserve">Man weiß von weſent-<lb/>lichen einzelnen Teilen des Gehirns, welche Geſchäfte ſie im <lb/>Körper zu verſorgen haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s8725" xml:space="preserve">aber wie, wodurch, in welcher <lb/>Weiſe ſie dies thun, hierüber herrſcht ſelbſt jetzt noch tiefes <lb/>Dunkel, nachdem man des einen Reſultats einigermaßen ſicher <lb/>iſt, daß die Elektrizität hierbei eine Rolle ſpielen mag.</s>
  <s xml:id="echoid-s8726" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8727" xml:space="preserve">Sehen wir uns einmal ein Menſchengehirn an, oder rich-<lb/>tiger: </s>
  <s xml:id="echoid-s8728" xml:space="preserve">verſuchen wir, ob wir hier imſtande ſind, ein ungefähres <lb/>Bild davon durch eine Beſchreibung zu geben; </s>
  <s xml:id="echoid-s8729" xml:space="preserve">wir wollen <lb/>dann in aller Kürze die weſentlichſten Reſultate vorführen, <lb/>welche die Wiſſenſchaft durch unzählige Unterſuchungen an <lb/>Gehirnkranken und durch Verſuche mit Tieren bereits ge-<lb/>wonnen hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s8730" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8731" xml:space="preserve">Ein Menſchengehirn (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s8732" xml:space="preserve">1) iſt verhältnismäßig ſehr <lb/>groß. </s>
  <s xml:id="echoid-s8733" xml:space="preserve">Wenn man es vor ſich hat, ſo ſieht man eine weiß-<lb/>graue Maſſe, von der man im gewöhnlichen Leben nicht glauben <lb/>ſollte, daß man ſie im Schädel mit ſich herumſchleppe. </s>
  <s xml:id="echoid-s8734" xml:space="preserve">Die <lb/>Maſſe iſt ſo groß, daß man merkt, ſie müſſe den ganzen Vorder-<lb/>und Hinterkopf von den Augenbrauen bis zu der Nackengrube <lb/>ausfüllen, was auch richtig der Fall iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8735" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8736" xml:space="preserve">Bei näherer Betrachtung dieſer Maſſe, die von außen auch <lb/>die Form eines Schädels hat, ergiebt es ſich, daß man ſie <lb/>naturgemäß in verſchiedene Teile ſondern kann, obgleich ſie im <lb/>ganzen eine zuſammengewachſene Maſſe bildet.</s>
  <s xml:id="echoid-s8737" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8738" xml:space="preserve">Vor allem bemerkt man, daß das Gehirn durch einen <lb/>Spalt in zwei Hälften geſondert iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8739" xml:space="preserve">Der Spalt geht von der <lb/>Stirngegend nach dem Hinterkopf zu, ſo daß die Hirnkugel in
<pb o="8" file="656" n="656"/>
eine rechte und eine linke Halbkugel geteilt erſcheint. </s>
  <s xml:id="echoid-s8740" xml:space="preserve">Allein <lb/>dieſer Spalt iſt nur vorn an der Stirngegend tief genug, um <lb/>wirklich hier die Halbkugeln von einander zu ſondern, weiter <lb/>nach oben zu wird der Spalt weniger tief, und man überzeugt <lb/>ſich leicht, daß die zwei Halbkugeln hier zwar geſpalten, aber <lb/>in der Tiefe mit einander verwachſen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s8741" xml:space="preserve">Weiter nach hinten, <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-656-01a" xlink:href="fig-656-01"/>
alſo dem Hinterkopf zu, wird der Spalt wieder tiefer und <lb/>bildet ungefähr ſo wie vorn wiederum zwei vollſtändig getrennte <lb/>Hälften.</s>
  <s xml:id="echoid-s8742" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div297" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-656-01" xlink:href="fig-656-01a">
<caption xml:id="echoid-caption105" xml:space="preserve">Fig. 1. <lb/>Gehirn des Mathematikers Gauß, von der Seite.</caption>
<description xml:id="echoid-description16" xml:space="preserve">F Stirnlappen, P Scheitellappen, O Hinterhauptslappen, T Schläfenlappen, <lb/>C Kleinhirn, PO Varolsbrücke, VM Verlängertes Mark, S Sylviſche Grube, <lb/>R Rolandoſche Furche, a<emph style="super">1</emph>, a<emph style="super">2</emph>, a<emph style="super">3</emph> Falte der Stirnwindung, b<emph style="super">1</emph>, b<emph style="super">2</emph>, b<emph style="super">3</emph> Falte der <lb/>Scheitelwindung, c<emph style="super">1</emph>, c<emph style="super">2</emph>, c<emph style="super">3</emph> Falte der Schläfenwindung, d<emph style="super">1</emph>, d<emph style="super">2</emph>, d<emph style="super">3</emph> Falte der Hinter-<lb/>hauptswindungen.</description>
<variables xml:id="echoid-variables20" xml:space="preserve">R P a<emph style="super">1</emph> b<emph style="super">1</emph> A a<emph style="super">1</emph> B b<emph style="super">1</emph> d<emph style="super">1</emph> a a<emph style="super">2</emph> a<emph style="super">2</emph> a<emph style="super">2</emph> b<emph style="super">2</emph> F B b<emph style="super">2</emph> b<emph style="super">3</emph> d<emph style="super">1</emph> a<emph style="super">2</emph> a<emph style="super">2</emph> a<emph style="super">1</emph> a<emph style="super">2</emph> d<emph style="super">2</emph> a<emph style="super">1</emph> a<emph style="super">2</emph> a<emph style="super">3</emph> A b<emph style="super">3</emph> O a<emph style="super">2</emph> B a<emph style="super">3</emph> a<emph style="super">3</emph> d<emph style="super">3</emph> a<emph style="super">3</emph> c<emph style="super">1</emph> c<emph style="super">2</emph> a a<emph style="super">3</emph> c<emph style="super">1</emph> c<emph style="super">1</emph> c<emph style="super">2</emph> c<emph style="super">2</emph> c<emph style="super">3</emph> S C T</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8743" xml:space="preserve">Dieſe zwei Halbkugeln nennt man zuſammen das große <lb/>Gehirn; </s>
  <s xml:id="echoid-s8744" xml:space="preserve">denn ſowie man ſich die Hintere Seite näher beſieht, <lb/>merkt man, daß ungefähr dort am Hinterkopf, in der Gegend,
<pb o="9" file="657" n="657"/>
wo ſich die Damen den Zopf zuſammenbinden, ein ziemlich <lb/>geſondertes Ding liegt, das man das kleine Gehirn nennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8745" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8746" xml:space="preserve">Der hintere Teil des großen Gehirns liegt wie eine Art <lb/>Mütze auf dem kleinen Gehirn. </s>
  <s xml:id="echoid-s8747" xml:space="preserve">Das kleine Gehirn iſt kaum <lb/>ein Drittel ſo groß wie das große. </s>
  <s xml:id="echoid-s8748" xml:space="preserve">Der Farbe nach ſieht es <lb/>dem großen ähnlich; </s>
  <s xml:id="echoid-s8749" xml:space="preserve">allein während das große Gehirn Win-<lb/>dungen zeigt, die wie Därme ausſehen, zeigt ſich das kleine <lb/>Gehirn in ſo regelmäßig gekniffene Furchen geſtreift, daß es <lb/>ſich wie eine hübſch gepreßte Art Muſchelſchale anſieht.</s>
  <s xml:id="echoid-s8750" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8751" xml:space="preserve">Dies ungefähr der äußere Anblick; </s>
  <s xml:id="echoid-s8752" xml:space="preserve">wir wollen nun das <lb/>Ding ein wenig inwendig und in der Tiefe anſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8753" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div299" type="section" level="1" n="219">
<head xml:id="echoid-head250" xml:space="preserve"><emph style="bf">IV. Das Gehirn von der untern Seite.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8754" xml:space="preserve">Hebt man ſolch ein Gehirn hoch, ſo ſieht man an ſeiner <lb/>untern Fläche (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s8755" xml:space="preserve">2), daß es ſo ziemlich in der Mitte einen <lb/>Stiel hat, eine Art Stamm oder Strang, der abwärts läuft <lb/>und in ſeiner Verlängerung eben das Rückenmark bildet. </s>
  <s xml:id="echoid-s8756" xml:space="preserve">Der <lb/>Anblick des Gehirns ſamt dieſem Stiel iſt dem eines großen <lb/>Pilzes ähnlich, wo eben das große Gehirn den Kopf des Pilzes <lb/>bildet, während hinten, und zwar unter demſelben in der <lb/>Gegend des Hinterkopfes noch ein Teil ſich befindet, eben das <lb/>kleine Gehirn, das ſich anſieht wie ein Auswuchs, der ebenfalls <lb/>auf dem Stiel des Pilzes angewachſen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8757" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8758" xml:space="preserve">Da dieſer Stiel, der das verlängerte Mark heißt (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s8759" xml:space="preserve">3), <lb/>noch zum Gehirn gehört und eigentlich eine Hauptrolle ſpielt, <lb/>ſo wollen wir es uns merken, daß ſeine Verlängerung nach <lb/>unten zu das Rückenmark heißt, welches mit ſeinen nach beiden <lb/>Seiten auslaufenden Nervenzweigen auch Ähnlichkeit mit einer <lb/>langen Wurzel hat, die nach zwei Seiten hin Äſte ausſendet.</s>
  <s xml:id="echoid-s8760" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="10" file="658" n="658"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8761" xml:space="preserve">Das verlängerte Mark und das Rückenmark iſt alſo eigent-<lb/>lich ein Stück; </s>
  <s xml:id="echoid-s8762" xml:space="preserve">nur nennt man das Stück, welches wir als den <lb/>Stiel bezeichnet haben, das verlängerte Mark, weil es noch <lb/>im Schädel liegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8763" xml:space="preserve">Erſt dort, wo es durch ein großes Loch des <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-658-01a" xlink:href="fig-658-01"/>
<pb o="11" file="659" n="659"/>
Schädels abwärts in die Halswirbel niederſteigt, beginnt es <lb/>den Namen Rückenmark zu führen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8764" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div299" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-658-01" xlink:href="fig-658-01a">
<caption xml:id="echoid-caption106" xml:space="preserve">Fig. 2. <lb/>Untere Fläche des Gehirns.</caption>
<description xml:id="echoid-description17" xml:space="preserve">A Stirnlappen, B Schläfenlappen, cc Balken, Cb kleines Gehirn, M verlängertes <lb/>Mark, P Hirnanhang, I Riechnerb, II Sehnerv, III, IV, VI Nerven der Augen-<lb/>muskelu, V Trigeminus, (Dreigeteilter Nerv), VII Facialis (Bewegungsnerv des <lb/>Geſichts), VIII Hörnerv, IX Zungenſchlundkopfnerv, X Lungenmagennerv, XI Bein-<lb/>nerv, XII Zungenfleiſchnerv. Zwiſchen III und IV Hirnſchenkel</description>
<variables xml:id="echoid-variables21" xml:space="preserve">A CC I II P B III IV V VI VII VIII X IX XI XII Cb M</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8765" xml:space="preserve">Sehen wir uns nun das große Gehirn von unten an, ſo <lb/>bemerken wir, daß ganz vorn ein paar weiße Schnüre hervor-<lb/>kommen, die eben nichts ſind als Nervenfäden, welche aus dem <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-659-01a" xlink:href="fig-659-01"/>
großen Gehirn im natür-<lb/>lichen Zuſtand direkt nach <lb/>vorn, nach der Naſen-<lb/>wurzel gehen und dort <lb/>die Geruchsnerven bilden.</s>
  <s xml:id="echoid-s8766" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div300" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-659-01" xlink:href="fig-659-01a">
<caption xml:id="echoid-caption107" xml:space="preserve">Fig. 3. <lb/>Hirnteile, ſchematiſch nach Lagerung und <lb/>Urſprung der Hirnnerven.</caption>
<description xml:id="echoid-description18" xml:space="preserve">H Eroßhirnhemiſphäre, CS Streifenhügel, <lb/>Th Sehhügel, P Zirbeldrüſe, Pt Hirnanhang, <lb/>CQ Vierhügel, Cb Kleinhirn, M verlängertes <lb/>Mark, I—XII die 12 Hirnnervenpaare, Sp 1, <lb/>Sp 2 die oberſten Rückeunervenpaare.</description>
<variables xml:id="echoid-variables22" xml:space="preserve">H. P C.S. C.Q. Th. I II Pt Ch. III IV VI M V VII VIII IX XI XII X Sh1 Sh2</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8767" xml:space="preserve">Man ſollte meinen, <lb/>daß ſo ein Geruchsnerv <lb/>mindeſtens hohl ſei, damit <lb/>der Geruch, wie ſich die <lb/>Leute einbilden, wirklich <lb/>ins Gehirn gehen kann; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8768" xml:space="preserve">aber dem iſt nicht ſo. </s>
  <s xml:id="echoid-s8769" xml:space="preserve">So <lb/>ein Nerv ſieht wie eine <lb/>Schnur aus, und iſt auch <lb/>durchaus nicht hohl, ja <lb/>die Stelle, wo er aus <lb/>dem Gehirn hervorkommt, <lb/>läßt ebenfalls nicht er-<lb/>kennen, wodurch gerade <lb/>dieſer Nerv das Kunſtſtück <lb/>verſteht, Gerüche, die ihm <lb/>an der Naſe begegnen, <lb/>nach dem Gehirn zu rapportieren.</s>
  <s xml:id="echoid-s8770" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8771" xml:space="preserve">Etwas tiefer hinten kommen aus beiden Seiten des großen <lb/>Gehirns die Sehnerven, die ſich zu den Augenhöhlen begeben <lb/>und dort die Hinterwand des Auges austapezieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s8772" xml:space="preserve">Auch dies <lb/>ſind Nervenſchnüre, die durchaus nicht von anderen Nerven-<lb/>ſchnüren zu unterſcheiden ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s8773" xml:space="preserve">Warum jene Geruchseindrücke
<pb o="12" file="660" n="660"/>
und dieſe Lichteindrücke zum Gehirn transportieren, läßt ſich <lb/>wahrhaftig nicht ſagen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8774" xml:space="preserve">Man weiß nur, es iſt ſo, und man <lb/>muß ſich damit beruhigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8775" xml:space="preserve">Eigentümlich iſt es, daß dieſe zwei <lb/>Nervenſchnüre auf ihrem Wege zu den Augen ſich kreuzen, das <lb/>heißt, der von der rechten Hirnhälfte geht ſcheinbar zum linken <lb/>Auge, der von der linken Hirnhälfte zum rechten Auge. </s>
  <s xml:id="echoid-s8776" xml:space="preserve">Wir <lb/>werden ſpäter ſehen, daß überhaupt ein eigentümliches Kreuzungs-<lb/>ſyſtem im Gehirn ſtattfindet, ſodaß Verletzung der rechten Seite <lb/>des Gehirns die linke Seite des Geſichts lähmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8777" xml:space="preserve">— Warum <lb/>das ſo iſt, weiß man wiederum nicht anzugeben.</s>
  <s xml:id="echoid-s8778" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8779" xml:space="preserve">In gleicher Weiſe wie dieſe Nervenſchnüre entſpringen aus <lb/>dem Gehirn und namentlich aus der Gegend, wo das ver-<lb/>längerte Mark ſowohl am großen wie am kleinen Gehirn an-<lb/>gewachſen iſt, noch weitere Nerven. </s>
  <s xml:id="echoid-s8780" xml:space="preserve">Paare, die teils Gefühls-<lb/>nerven, teils Bewegungsnerven, teils ſpezielle Sinnesnerven <lb/>ſind, die aber in ihrem Anſehen ſich durchaus nicht unter-<lb/>ſcheiden laſſen, ſodaß man ihre ganz verſchiedenartige Wirkung <lb/>und ihr apartes Weſen nicht imſtande iſt, in ihnen ſelber zu <lb/>finden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8781" xml:space="preserve">Man kommt vielmehr auf den Gedanken, daß ſie <lb/>eigentlich nur Boten ſind, die ſelber nichts von der Botſchaft <lb/>wiſſen, die ſie überbringen, und nur je nach der Stelle, wo ſie <lb/>vom Gehirn abgehen und dem Körperteil, wo ſie hingehen, iſt <lb/>ihre Botſchaft anders. </s>
  <s xml:id="echoid-s8782" xml:space="preserve">Die Nervenfäden ſehen in der That ſo <lb/>harmlos aus wie die Drähte eines elektriſchen Telegraphen, <lb/>die ſich ganz gleich bleiben, mögen ſie nun freudige oder un-<lb/>glückſelige Depeſchen von einer Station zur anderen befördern.</s>
  <s xml:id="echoid-s8783" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8784" xml:space="preserve">Vielleicht aber kommen wir hinter dies Geheimnis, wenn <lb/>wir einmal tiefer nachſpüren, wohin dieſe Nervenfäden, wenn <lb/>ſie ins Gehirn gehen, ſich verlaufen; </s>
  <s xml:id="echoid-s8785" xml:space="preserve">ſehen wir einmal zu, ob <lb/>wir etwas zu ſehen bekommen, wenn wir das Gehirn auf-<lb/>ſchneiden, und ſo gewiſſermaßen ins Zentralbureau des Lebens <lb/>hineingucken.</s>
  <s xml:id="echoid-s8786" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="13" file="661" n="661"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div302" type="section" level="1" n="220">
<head xml:id="echoid-head251" xml:space="preserve"><emph style="bf">V. Ob man im Gehirn etwas von feinem</emph> <lb/><emph style="bf">Thätigkeitsvermögen ſehen kann.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8787" xml:space="preserve">Schneidet man eine Scheibe von dem großen Gehirn ab, <lb/>ſo merkt man, daß die weiche, markartige Maſſe, aus welcher <lb/>das Gehirn beſteht, aus zwei deutlich an Farbe verſchiedenen <lb/>Maſſen gebildet iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8788" xml:space="preserve">Von außen hat dieſe Maſſe eine weiß-<lb/>graue Farbe; </s>
  <s xml:id="echoid-s8789" xml:space="preserve">inwendig jedoch ſieht man, daß die graue Maſſe <lb/>nur eine Art Umhüllung einer gelblich-weißen Maſſe iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8790" xml:space="preserve">Ferner bemerkt man, daß die darmartigen Windungen, welche <lb/>man ſehr deutlich von außen ſieht, ſich auch im Innern zeigen, <lb/>ohne daß man jedoch imſtande iſt, im Gehirn die Windungen <lb/>zu verfolgen, und ohne daß man berechtigt iſt, die ganze Ge-<lb/>hirnmaſſe als eine vielfache Verſchlingung eines einzigen langen <lb/>Stranges anzuſehen, wie das beim wirklichen Darm der Fall <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8791" xml:space="preserve">— Es zeigt vielmehr eine Vergleichung verſchiedener Ge-<lb/>hirne viele Verſchiedenheiten in dieſen Windungen, und es <lb/>ſtellt ſich als ſehr charakteriſtiſch heraus, daß, je ſtärker die <lb/>geiſtige Fähigkeit der Tiere, deſto reicher die Windungen ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s8792" xml:space="preserve"><lb/>wie denn auch der erwachſene Menſch die reichſten Windungen <lb/>am Gehirn zeigt, während das neugeborene Kind davon wenig <lb/>ſehen läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8793" xml:space="preserve">Unſere Figur 4 veranſchaulicht das Geſagte, wenn <lb/>wir ſie mit Figur 1 vergleichen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8794" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8795" xml:space="preserve">Am kleinen Gehirn zeigen ſich dieſe Windungen nicht; </s>
  <s xml:id="echoid-s8796" xml:space="preserve">es <lb/>ſind vielmehr ſehr ſauber gepreßte, regelmäßige Furchen, welche <lb/>ihm im Anſehen eine Ähnlichkeit mit der Außenſeite einer <lb/>großen Muſchel geben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8797" xml:space="preserve">Schneidet man von dieſem Gehirn <lb/>ein Stück ab, ſo ſieht man, daß ſeine oberflächlächliche, graue Maſſe <lb/>eine weiße Maſſe umſchließt, und dieſe iſt ſo in die graue <lb/>Maſſe hineingebettet, daß ſie von der Stelle an, wo das kleine <lb/>Gehirn am verlängerten Mark angewachſen iſt, wie ein viel-<lb/>zweigiger Baum ſich ausbreitet, ſo daß man, wenn man das
<pb o="14" file="662" n="662"/>
kleine Gehirn in zwei Hälften teilt, die weiße Maſſe inwendig <lb/>wie einen Baum ſieht, deſſen feines Gezweige von grauer Maſſe <lb/>umhüllt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8798" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8799" xml:space="preserve">Vergleicht man in dieſer Beziehung das Rückenmark mit <lb/>dem Gehirn, ſo zeigt ſich eine merkwürdige Abweichung. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8800" xml:space="preserve">
<anchor type="figure" xlink:label="fig-662-01a" xlink:href="fig-662-01"/>
Während im Gehirn die graue Maſſe die weiße umſchließt, <lb/>iſt es im Rückenmark umgekehrt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8801" xml:space="preserve">Es beſteht dasſelbe aus-<lb/>wendig aus weißer Maſſe, in welcher inwendig graue Maſſe <lb/>eingeſchloſſen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8802" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div302" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-662-01" xlink:href="fig-662-01a">
<caption xml:id="echoid-caption108" xml:space="preserve">Fig. 4. <lb/>Hundegehirn. I obere, II Seitenanſicht (linke).</caption>
<description xml:id="echoid-description19" xml:space="preserve">A Sehſphäre, A’ centrale Region derſelben, B Hörſphäre, B’ Region für Perception <lb/>artikul. Laute, C—J Fühlſphäre, D Hinterbeinregion, E Kopfregion, F Augen-<lb/>region, G Ohrregion, H Nackenregion, Rumpfregion, a—g motoriſche Stellen.</description>
<variables xml:id="echoid-variables23" xml:space="preserve">I II A A A B A B B F F G G e f C C E e D E D J f a b a H H J</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8803" xml:space="preserve">Die “graue” Nervenſubſtanz beſteht aus Zellen (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s8804" xml:space="preserve">5 D), <lb/>deren Fortſätze ſich in der “weißen” Subſtanz vereinigen und
<pb o="15" file="663" n="663"/>
durch den Körper verlaufend die “Nervenfaſern” bilden <lb/>(Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s8805" xml:space="preserve">5 A, B und C).</s>
  <s xml:id="echoid-s8806" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8807" xml:space="preserve">Macht man nunmehr tiefere Einſchnitte in das große <lb/>Gehirn, ſo kommt man an Stellen, woſelbſt ſich Höhlungen <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-663-01a" xlink:href="fig-663-01"/>
zeigen, von denen man ſich jedoch nicht vorſtellen darf, daß <lb/>ſie mit der Außenwelt irgendwie eine offene Verbindung haben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8808" xml:space="preserve">Es ſind vielmehr dieſe Höhlen nur wie Lücken in der Gehirn-
<pb o="16" file="664" n="664"/>
maſſe; </s>
  <s xml:id="echoid-s8809" xml:space="preserve">aber Lücken, die ſich ſehr regelmäßig zeigen; </s>
  <s xml:id="echoid-s8810" xml:space="preserve">Höhlen, deren <lb/>unterer Boden hügelig und deren Wölbungen ſo beſtimmt ausge-<lb/>prägte Formen ſehen laſſen, daß man nicht zweifelhaft ſein kann, <lb/>es liege dieſen Bildungen ein wichtiges Naturgeſetz zu Grunde.</s>
  <s xml:id="echoid-s8811" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div303" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-663-01" xlink:href="fig-663-01a">
<caption xml:id="echoid-caption109" xml:space="preserve">Fig. 5. <lb/>Nervenfaſern und Ganglien. <lb/>A Nervenfaſer im friſchen, unveränderten Zuſtande. B Nervenfaſer, an welcher <lb/>ein Teil der Scheide und des geronnenen Inhaltes (a b) von dem Axencylinder (c) <lb/>abgeſtreift iſt. C Nervenfaſer mit herausragendem Axencylinder (a). D Ganglien-<lb/>zelle, a Kern mit Kernkörperchen.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables24" xml:space="preserve">A B C D a a c b a a a c</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8812" xml:space="preserve">Es iſt ſchwer, die Lage dieſer Höhlen, wie deren Form <lb/>und die Einzelnheiten, die ſich hierbei beobachten laſſen, durch <lb/>bloße Beſchreibung deutlich zu machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8813" xml:space="preserve">Wir müſſen uns mit <lb/>der Bemerkung begnügen, daß vier ſolcher Höhlen vorhanden <lb/>ſind, die mit einander durch feine Kanäle in Verbindung ſtehen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8814" xml:space="preserve">Dieſe Höhlen ſind im Vergleich mit dem Gehirn ſehr klein und, <lb/>um irrige Vorſtellungen zu vermeiden, wollen wir gleich vor-<lb/>weg ſagen, daß man keine Urſache hat anzunehmen, daß in <lb/>ihnen etwa der Geiſt oder das Lebensprinzip oder die Seele, <lb/>oder wie man ſonſt die Direktion des Gehirns und des Lebens <lb/>nennen mag, ſeine Privatwohnung aufgeſchlagen habe.</s>
  <s xml:id="echoid-s8815" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8816" xml:space="preserve">Die Höhlen liegen tief unten im Gehirn, in der Nähe des <lb/>verlängerten Markes und erſtrecken ſich derart von vorn nach <lb/>hinten, daß die erſten beiden ſeitlichen Höhlen unter dem Mittel-<lb/>ſtück liegen, auf welchem die beiden Halbkugeln des großen <lb/>Gehirns ruhen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8817" xml:space="preserve">Die dritte Höhle liegt weiter nach hinten in <lb/>der Mitte und über dem verlängerten Mark; </s>
  <s xml:id="echoid-s8818" xml:space="preserve">die vierte befindet <lb/>ſich hinten, wo das kleine Gehirn mit dem verlängerten Mark <lb/>verwachſen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8819" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8820" xml:space="preserve">Es läßt ſich denken, daß man jede kleine Erhöhung, jede <lb/>Biegung, jede Verbindung, jeden Gang, jedes Knötchen, das <lb/>ſich an und um dieſe Höhlen zeigt, ſowie überhaupt jede mar-<lb/>kierte Stelle dieſes Teils des Gehirns mit einem beſonderen <lb/>Namen bezeichnet hat, zumal an dieſen Stellen die wichtigſten <lb/>Nervenzweige Wurzel ſchlagen; </s>
  <s xml:id="echoid-s8821" xml:space="preserve">für unſern Zweck indeſſen würde <lb/>eine weitere Ausführung nur das allgemeine Verſtändnis ſtören, <lb/>und wir wollen deshalb zu den Reſultaten kommen, zu welchen <lb/>die Unterſuchung über die Thätigkeit und Aufgabe der einzelnen <lb/>Hirnteile bereits gelangt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8822" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="17" file="665" n="665"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div305" type="section" level="1" n="221">
<head xml:id="echoid-head252" xml:space="preserve"><emph style="bf">VI. Die Thätigkeit des großen Gehirns.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8823" xml:space="preserve">Wer es weiß, daß der Kopf der edelſte Teil des Menſchen <lb/>und das Gehirn das eigentlich Wertvollſte am Kopfe iſt, der <lb/>wird ſtaunen, wenn wir ihm ſagen, daß man ſowohl Menſchen <lb/>wie Tieren ganze Stücke Gehirn abgeſchnitten hat, ohne daß der <lb/>Tod erfolgte; </s>
  <s xml:id="echoid-s8824" xml:space="preserve">ja, wir werden ſehen, daß man Katzen, Kanin-<lb/>chen, beſonders aber Vögeln, namentlich Tauben, nicht nur <lb/>Teile, ſondern ganze Partien des Gehirns abſchnitt, das ganze <lb/>große Gehirn und das kleine dazu herausnahm, um an ihrem <lb/>Thun und Laſſen zu erproben, wozu ihnen eigentlich das <lb/>Gehirn nütze.</s>
  <s xml:id="echoid-s8825" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8826" xml:space="preserve">Die Tiere, namentlich die Vögel, kann man lange Zeit ſo <lb/>ohne großes und kleines Gehirn am Leben erhalten, freilich ein <lb/>Leben, wozu dem armen Tier aller Appetit vergangen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8827" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8828" xml:space="preserve">Nur in einem Punkte verſteht das Gehirn keinen Spaß, <lb/>und das iſt im verlängerten Mark. </s>
  <s xml:id="echoid-s8829" xml:space="preserve">Das verlängerte Mark, <lb/>dieſer Stiel, in welchem ſich faſt alle Nervenfäden vereinigen, <lb/>die nach dem ganzen Körper gehen, iſt der Strang, an dem <lb/>das Leben hängt; </s>
  <s xml:id="echoid-s8830" xml:space="preserve">eine Zerſtörung dieſes Teils führt den <lb/>ſchnellſten Tod herbei. </s>
  <s xml:id="echoid-s8831" xml:space="preserve">Ja man hat eine Stelle an dieſem <lb/>Strang ausgemittelt, die man nur zu verletzen braucht, um <lb/>ſofort die Atmung zu vernichten und die geſamte Lebensmaſchine <lb/>außer Thätigkeit zu ſetzen, die keine Kunſt wieder in Gang <lb/>bringen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s8832" xml:space="preserve">Es iſt dies die Stelle, in deren Nähe der ſo-<lb/>genannte “herumſchweifende Nerv”, deſſen wir bereits erwähnt <lb/>haben, abgeht, und zwar auch nach dem Herzen, woſelbſt er <lb/>eine Art Regulator der Bewegungen bildet, eine ſolide Rolle, <lb/>die man dieſem “Herumtreiber” gar nicht zumuten ſollte.</s>
  <s xml:id="echoid-s8833" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8834" xml:space="preserve">Bis auf das verlängerte Mark alſo iſt eine Abtragung <lb/>des Gehirns bei Tieren, ſowohl des großen wie des kleinen, <lb/>möglich, ohne das Leben ganz zu vernichten.</s>
  <s xml:id="echoid-s8835" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8836" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s8837" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s8838" xml:space="preserve">Volksbücher XI.</s>
  <s xml:id="echoid-s8839" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="18" file="666" n="666"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8840" xml:space="preserve">Wie weit dies aber auch bei Menſchen geht, hierüber mag, <lb/>ſtatt vieler Beiſpiele, ein einziges hier angeführt werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8841" xml:space="preserve">Dieſes <lb/>Beiſpiel wird zugleich den tröſtlichen Beweis führen, daß zu-<lb/>weilen die unvernünftigſten Handlungen eines Patienten zu <lb/>glücklich vollführten Operationen werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8842" xml:space="preserve">Der Fall iſt folgender. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8843" xml:space="preserve">Ein Bedienter, der durch einen ſtarken Steinwurf eine Wunde <lb/>am Kopfe erhielt, erkrankte derart daran, daß die Hirnmaſſe der <lb/>einen Seite des großen Gehirns anſchwoll, durch die Schädel-<lb/>wunde hervorragte und ſo ſtückweiſe abgeſchnitten werden mußte. </s>
  <s xml:id="echoid-s8844" xml:space="preserve"><lb/>Am 35. </s>
  <s xml:id="echoid-s8845" xml:space="preserve">Tage der Krankheit, bis zu welchem die Anſchwellung <lb/>immer noch fortſchritt, machte ſich der Patient das Vergnügen, <lb/>ſich zu betrinken, und führte in ſeiner Trunkenheit eine glück-<lb/>liche Operation an ſich ſelber aus, zu der die Ärzte mit gutem <lb/>Recht den Mut nicht haben mochten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8846" xml:space="preserve">Er riß ſich nämlich nicht <lb/>nur den Verband, ſondern an dem hervorragenden Stück Gehirn <lb/>auch das ganze inwendige, kranke Stück gewaltſam ab. </s>
  <s xml:id="echoid-s8847" xml:space="preserve">— Am <lb/>andern Tage zeigte ſich alles Kranke entfernt und ſein Gehirn <lb/>im beſſern Zuſtand, obgleich ihm eine ſo ſtarke Portion der <lb/>einen Seite des großen Gehirns fehlte, daß man durch die <lb/>Wunde den ſogenannten Querbalken ſehen konnte, auf welchem <lb/>beide Halbkugeln des großen Gehirns angewachſen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s8848" xml:space="preserve">Der <lb/>Bediente blieb zwar für ſein Lebelang auf einer Seite ge-<lb/>lähmt und litt zuweilen an Krämpfen; </s>
  <s xml:id="echoid-s8849" xml:space="preserve">aber er genas doch, <lb/>und auch ſeine geiſtigen Fähigkeiten wurden wieder vollſtändig <lb/>hergeſtellt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8850" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8851" xml:space="preserve">Wer jemals Kopfſchmerzen gehabt, der wird ſich vorſtellen, <lb/>daß das Abſchneiden oder auch nur Einſchneiden in die Maſſe <lb/>des großen Gehirns furchtbaren Schmerz verurſachen müſſe. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8852" xml:space="preserve">Dem iſt aber nicht ſo.</s>
  <s xml:id="echoid-s8853" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8854" xml:space="preserve">Die Öffnung des Schädels iſt mit Schmerz verbunden; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8855" xml:space="preserve">nicht aber ein Einſchneiden ins große Gehirn. </s>
  <s xml:id="echoid-s8856" xml:space="preserve">Es liegt dies <lb/>nicht daran, daß bei der erſten Verletzung desſelben bereits <lb/>Bewußtloſigkeit eintritt, denn Vögel, denen man das große und
<pb o="19" file="667" n="667"/>
kleine Gehirn abgetragen hatte, verrieten den heftigſten Schmerz, <lb/>ſobald man gewiſſe Empfindungsnerven reizte.</s>
  <s xml:id="echoid-s8857" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8858" xml:space="preserve">Es iſt ganz unzweifelhaft, daß in dieſen Halbkugeln des <lb/>großen Gehirns die Denkkraft wohnt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8859" xml:space="preserve">Tiere, die von Natur <lb/>wenig Gehirn im Verhältnis zu ihrer Körpergröße beſitzen, <lb/>ſind dumm. </s>
  <s xml:id="echoid-s8860" xml:space="preserve">Je mehr Gehirnmaſſe im allgemeinen ein Tier <lb/>im Verhältnis zu ſeinem Körpergewicht beſitzt, deſto klüger iſt <lb/>es. </s>
  <s xml:id="echoid-s8861" xml:space="preserve">Das neugeborene Menſchenkind bringt für ſeine Größe <lb/>eine außerordentliche große Portion Gehirn mit zur Welt, und <lb/>wenn auch das Gehirn nicht im gleichen Verhältnis während <lb/>des Wachſens zunimmt wie der übrige Körper, ſo iſt doch der <lb/>Menſch am bedeutendſten mit Gehirnmaſſe verſorgt, und auch <lb/>deshalb das gedankenreichſte Weſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8862" xml:space="preserve">Bei blödſinnigen Kindern <lb/>findet mit der Zunahme ihres Verſtandes auch die Zunahme <lb/>der Gehirnmaſſe ſtatt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8863" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8864" xml:space="preserve">Daß jedenfalls das geiſtige Verſtändnis in den beiden <lb/>Halbkugeln des großen Gehirns wohnt, das zeigen zahlreiche <lb/>Verſuche an Tieren.</s>
  <s xml:id="echoid-s8865" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div306" type="section" level="1" n="222">
<head xml:id="echoid-head253" xml:space="preserve"><emph style="bf">VII. Eine Taube ohne Gehirn.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8866" xml:space="preserve">Wir haben bereits mitgeteilt, daß die Vögel am geeignetſten <lb/>ſind, um Verſuche über die Thätigkeit des Gehirns mit ihnen <lb/>anzuſtellen; </s>
  <s xml:id="echoid-s8867" xml:space="preserve">denn ſie können nach den Operationen noch lange <lb/>am Leben erhalten werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s8868" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8869" xml:space="preserve">Um die Erfahrungen, die man hierdurch über die Thätig-<lb/>keit des großen Gehirns gemacht hat, näher kennen zu lernen, <lb/>wollen wir den Bericht des Naturforſchers Rudolf Wagner <lb/>(1805—1864) hier vorführen, der an einer Taube mehrere <lb/>Monate Beobachtungen dieſer Art angeſtellt hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s8870" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="20" file="668" n="668"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8871" xml:space="preserve">Dieſem Tiere, das man gemeinhin für äußerſt empfindſam <lb/>und zartgebaut hält, wurde ſorgfältig der Schädel geöffnet <lb/>und ſodann beide Halbkugeln des großen Gehirns ausgeſchnitten. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8872" xml:space="preserve">Die Operation ging ſo weit, daß die Riechnerven mit zerſtört <lb/>wurden, auch ein Teil des Querbalkens, worauf die Halbkugeln <lb/>liegen, wurde mit fortgeſchnitten, wobei jedoch einzelne Partien <lb/>der hintern Seite erhalten wurden, woſelbſt die Höhlen ſich be-<lb/>finden.</s>
  <s xml:id="echoid-s8873" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8874" xml:space="preserve">Die Taube ſchien bei dieſer Operation des Gehirns durch-<lb/>aus nicht leidend; </s>
  <s xml:id="echoid-s8875" xml:space="preserve">in der erſten Zeit ſank ſie zuſammen, ver-<lb/>mochte ſich aber nach einiger Zeit wieder zu bewegen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8876" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8877" xml:space="preserve">Allein dieſe Bewegungen hörten auf, Bewegungen des <lb/>freien Willens zu ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s8878" xml:space="preserve">Die Taube war, was man ſtumpf-<lb/>ſinnig nennt, geworden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8879" xml:space="preserve">Sie ſaß tage-, wochen-, monatelang <lb/>auf einer Stelle. </s>
  <s xml:id="echoid-s8880" xml:space="preserve">Nur zuweilen machte ſie einen Gang durch <lb/>das Zimmer, wobei ſie jedoch oft an Gegenſtände, die ihr im <lb/>Weg lagen, anſtieß. </s>
  <s xml:id="echoid-s8881" xml:space="preserve">Sie konnte weder eſſen noch trinken, <lb/>ſondern mußte künſtlich gefüttert werden, das heißt man mußte <lb/>ihr Speiſe und Trank tief in den Mund einbringen, dort wo <lb/>man unwillkürlich alles hinunterſchluckt, was man vor dem <lb/>Schlund hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s8882" xml:space="preserve">Sie pickte zuweilen mit dem Schnabel auf die <lb/>Erde; </s>
  <s xml:id="echoid-s8883" xml:space="preserve">aber nur mechaniſch aufs Geratewohl, nie fand ſie das <lb/>ausgeſtreute Futter. </s>
  <s xml:id="echoid-s8884" xml:space="preserve">Die Taube ſah nichts, obgleich die Pupille <lb/>ſich ſtark zuſammenzog, ſobald man derſelben helles Licht vor-<lb/>hielt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8885" xml:space="preserve">Das Auge war demnach für das Licht empfindlich; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8886" xml:space="preserve">aber es fehlte das Begreifen des Geſehenen, was man eigent-<lb/>lich das wirkliche Sehen nennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8887" xml:space="preserve">Da die Geruchsnerven zer-<lb/>ſtört waren, ſo reichten die heftigſten Gerüche nicht hin, einen <lb/>Eindruck auf das Tier zu machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8888" xml:space="preserve">Ohr und Ohrnerven waren <lb/>unverletzt; </s>
  <s xml:id="echoid-s8889" xml:space="preserve">aber doch war das Tier taub, das heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s8890" xml:space="preserve">es verſtand <lb/>nichts von dem Gehörten, ſchreckte nicht zuſammen beim plötz-<lb/>lichen Schall. </s>
  <s xml:id="echoid-s8891" xml:space="preserve">Die Taube ſaß die meiſte Zeit mit geſchloſſenen <lb/>Augen und öffnete ſie nur zuweilen, wenn man ſie anſtieß.</s>
  <s xml:id="echoid-s8892" xml:space="preserve">
<pb o="21" file="669" n="669"/>
Das Gehen verſtand ſie; </s>
  <s xml:id="echoid-s8893" xml:space="preserve">aber ſie bewegte ſich nur, wenn ſie <lb/>hierzu von außen her gereizt wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s8894" xml:space="preserve">Wenn man ſie in die <lb/>Luft warf, ſo fiel ſie unter Flugbewegungen nieder, vermochte <lb/>aber nicht Zäune, Mauern oder, was ihr ſonſt im Wege war, <lb/>zu meiden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8895" xml:space="preserve">Wo ſie hinfiel, blieb ſie ſitzen, und war nur zu <lb/>einem Geſchäft aufgelegt, nämlich ſich zuweilen zu kratzen und <lb/>ihre Federn zu putzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8896" xml:space="preserve">Hierbei atmete das Tier, wie ſich’s von <lb/>ſelbſt verſteht, das Herz ſchlug, der Magen verdaute, der Darm <lb/>verrichtete ſeine Dienſte; </s>
  <s xml:id="echoid-s8897" xml:space="preserve">es war mit einem Worte ein Weſen, <lb/>das nur ein Leben im fortwährenden Schlafe führte, ein Leben <lb/>ohne Bewußtſein, ohne Schmerz, ohne Luſt, ohne Hunger, ohne <lb/>Durſt, ohne Bewegung, ohne Empfindung, eine Art Pflanzen-<lb/>leben, das man das vegetative Leben nennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8898" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8899" xml:space="preserve">Hieraus geht hervor, daß die beiden Halbkugeln des großen <lb/>Gehirns ſo eigentlich nichts mit der Bewegung des Tieres und <lb/>mit der Empfindung desſelben zu thun haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s8900" xml:space="preserve">es iſt vielmehr <lb/>das große Gehirn der Sitz des Bewußtſeins, ein Bureau für <lb/>das, was man Geiſt nennt, für das, mit welchem Alles, was <lb/>die Sinne dahin rapportieren, verſtanden wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s8901" xml:space="preserve">— Wenn die <lb/>Taube ohne großes Gehirn doch noch Bewegungen machte, ſo <lb/>ſind ſie den Bewegungen, die auch Schlafende ausführen, gleich <lb/>zu achten, Bewegungen, die nicht aus dem Willen entſpringen, <lb/>ſondern hervorgehen aus einem Reiz, der von innen oder außen <lb/>auf den Körper wirkt und ihn veranlaßt, ſeine Lage zu ändern.</s>
  <s xml:id="echoid-s8902" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8903" xml:space="preserve">Zu welchem Zwecke nun ſind zwei ſolche Halbkugeln des <lb/>großen Gehirns nötig? </s>
  <s xml:id="echoid-s8904" xml:space="preserve">Dieſe Frage läßt ſich aus der bloßen <lb/>Beſtimmung des großen Gehirns nicht beantworten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8905" xml:space="preserve">Es läßt <lb/>ſich vielmehr leicht einſehen, daß zwei beſondere Bureaus für <lb/>den Verſtano<unsure/> zuweilen ſogar ſtörend ſein könnten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8906" xml:space="preserve">Wenn in <lb/>dem einen Bureau, in der rechten Hirnhälfte z. </s>
  <s xml:id="echoid-s8907" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s8908" xml:space="preserve">der Ver-<lb/>ſtand ein wenig anders urteilte als in der linken, ſo könnte <lb/>freilich manche Konfuſion daraus entſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8909" xml:space="preserve">Indeſſen zeigen <lb/>Beiſpiele, daß es ſich mit den zwei Hälften des großen
<pb o="22" file="670" n="670"/>
Gehirns ungefähr ſo verhält wie mit den zwei Augen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8910" xml:space="preserve">Man <lb/>ſieht mit zwei Augen zwar anders, aber doch nicht mehr als <lb/>mit Einem, und Schielende ſehen ſogar mit einem Auge ſchärfer <lb/>als mit beiden; </s>
  <s xml:id="echoid-s8911" xml:space="preserve">aber dennoch unterſtützen die Augen ſich inſofern, <lb/>als ſie ſich ablöſen können, und wenn eins beſchädigt iſt, freut <lb/>man ſich gewiß ſehr, noch ein zweites als vortreffliche Reſerve <lb/>zu beſitzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8912" xml:space="preserve">— Es ſcheint mit den beiden Halbkugeln des großen <lb/>Gehirns auch ſo zu ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s8913" xml:space="preserve">In ihnen wohnt das Bewußtſein, <lb/>und zwar in beiden zugleich und, wie es ſcheint, übereinſtimmend. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8914" xml:space="preserve">Möglicherweiſe kann in der That Geiſtesverwirrung entſtehen <lb/>aus einer Ungleichheit in der Thätigkeit beider Hälften, eine <lb/>Art geiſtigen Schielens, in welchem der Verſtand die Sachen <lb/>ſchief ſieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8915" xml:space="preserve">Das aber ſteht feſt, daß, wenn eine Halbkugel ver-<lb/>loren geht, doch die andere ſtatt ihrer die ganze Arbeit über-<lb/>nimmt und ebenſo für den ganzen Körper denkt, als es früher <lb/>beide thaten.</s>
  <s xml:id="echoid-s8916" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8917" xml:space="preserve">Das Beiſpiel des Bedienten, deſſen wir bereits erwähnten, <lb/>bei welchem der volle Verſtand ſich wieder einſtellte, trotzdem <lb/>er ſich eine Halbkugel des großen Gehirns faſt ganz zerſtört <lb/>hatte, wird hinreichen, zu zeigen, daß man keineswegs mit <lb/>einem halben Gehirn nur etwa bei halbem Verſtande zu ſein <lb/>braucht; </s>
  <s xml:id="echoid-s8918" xml:space="preserve">ebenſowenig wie man mit nur einem Ohr, einem <lb/>Auge etwa nur halb ſo viel hört und ſieht als mit beiden.</s>
  <s xml:id="echoid-s8919" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div307" type="section" level="1" n="223">
<head xml:id="echoid-head254" xml:space="preserve"><emph style="bf">VIII. Was das kleine Gehirn zu thun hat.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8920" xml:space="preserve">Die Verſuche, die man über die Thätigkeit des kleinen <lb/>Gehirns angeſtellt hat, ſind weder ſo zahlreich noch ſo ſicher <lb/>wie die über das große. </s>
  <s xml:id="echoid-s8921" xml:space="preserve">Das kleine Gehirn liegt zu ſehr ver-<lb/>ſteckt unter dem großen, um ihm beikommen zu können, ohne
<pb o="23" file="671" n="671"/>
das große bedeutend zu verletzen, und verletzt man das große <lb/>Gehirn ſamt dem kleinen, ſo läßt ſich nicht mit Sicherheit ſagen, <lb/>welche Erſcheinungen von der Verletzung des großen oder von <lb/>der Vernichtung des kleinen Gehirns abhängen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8922" xml:space="preserve">Auf anderm <lb/>Wege dem kleinen Gehirn beizukommen, wie etwa durch Öffnung <lb/>des Hinterkopfes, gehört zu den ſchmerzhafteſten Operationen, <lb/>die das Leben des Tieres gefährden, und iſt ein ſo heftiger <lb/>Eingriff in das Leben, daß man dann erſt recht nicht weiß, <lb/>wie viel man von den Erſcheinungen, die ſich zeigen, auf Rech-<lb/>nung der Verſuche am kleinen Gehirn zu ſchreiben hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s8923" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8924" xml:space="preserve">Dieſer Umſtand dient freilich den Naturforſchern zur Ent-<lb/>ſchuldigung, wenn ſie erſt ſpät über die ſpezielle Thätigkeit des <lb/>kleinen Gehirns etwas ſagen konnten.</s>
  <s xml:id="echoid-s8925" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8926" xml:space="preserve">Die Forſcher haben es nicht an Ausdauer und Mühe fehlen <lb/>laſſen, und es ſtellt ſich übereinſtimmend bei ihnen folgendes <lb/>Reſultat ziemlich ſicher feſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8927" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8928" xml:space="preserve">Das kleine Gehirn zeigt in ſeinen oberflächlichen Teilen <lb/>gar keine Empfindung. </s>
  <s xml:id="echoid-s8929" xml:space="preserve">Man kann Scheiben davon abſchneiden, <lb/>ja es teilweiſe abſchälen, ohne dem Tier Schmerz zu verurſachen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8930" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8931" xml:space="preserve">Das kleine Gehirn hat direkt nichts mit dem zu thun, <lb/>was man den Geiſt nennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8932" xml:space="preserve">Das Tier, dem man ohne ſtarke <lb/>Verletzung des großen Gehirns das kleine abgetragen, beſitzt <lb/>Willen, Bewußtſein und Empfindung. </s>
  <s xml:id="echoid-s8933" xml:space="preserve">Es macht Verſuche zu <lb/>entfliehen, es weicht aus, wenn man es ſchlagen will, es ſchreit, <lb/>wenn man ihm an irgend einer Stelle des Leibes Schmerz <lb/>verurſacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8934" xml:space="preserve">Das kleine Gehirn iſt alſo keineswegs eine Art <lb/>Zugabe zum großen Gehirn, denn Wille, Bewußtſein und Em-<lb/>pfindung, die im großen Gehirn wohnen, haben im kleinen <lb/>keineswegs ein beſonderes Abſteigequartier.</s>
  <s xml:id="echoid-s8935" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8936" xml:space="preserve">Auch auf die Bewegungsfähigkeit des Tieres hat das kleine <lb/>Gehirn keinen direkten Einfluß, das heißt, das Tier, dem man <lb/>das kleine Gehirn abgetragen, iſt imſtande, nach ſeinem Willen <lb/>oder auf äußere Anregung jedes Glied ſeines Leibes einzeln
<pb o="24" file="672" n="672"/>
zu bewegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8937" xml:space="preserve">Aber dennoch zeigt ſich ein bedeutender Einfluß <lb/>auf die Bewegungen des Tieres, und zwar derart, daß man <lb/>auf die Vermutung kommt, daß im kleinen Gehirn die Zu-<lb/>ſammenſtellung und Anordnung der Bewegungen ſtattfindet.</s>
  <s xml:id="echoid-s8938" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8939" xml:space="preserve">Die Tiere verlieren mit dem kleinen Gehirn die Fähigkeit, <lb/>ihre Bewegungen zweckmäßig zu ordnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8940" xml:space="preserve">Ihr Gang wird <lb/>unbeſtimmt, drehend, ſchwankend, nach rechts, nach links, ſogar <lb/>rückwärts. </s>
  <s xml:id="echoid-s8941" xml:space="preserve">Sie können die Glieder beliebig bewegen und haben <lb/>auch den Willen hierzu, indem ſie offenbar die Abſicht haben, <lb/>nach einer beſtimmten Stelle hinzugehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s8942" xml:space="preserve">allein um dies aus-<lb/>führen zu können, dazu gehört eine genaue Anordnung in der <lb/>Zuſammenziehung der Muskeln, in der Stellung der Beine, <lb/>in der Haltung des Schwerpunktes. </s>
  <s xml:id="echoid-s8943" xml:space="preserve">Im kleinen Gehirn ſcheint <lb/>dieſe Fähigkeit, dieſer Ordnungsſinn, dieſes Wiſſen, was früher <lb/>und was ſpäter geſchehen muß, um den beſtimmten Zweck zu <lb/>erreichen, zu liegen; </s>
  <s xml:id="echoid-s8944" xml:space="preserve">man geht, läuft, ſpringt, man macht die <lb/>mannigfachſten Bewegungen mit ſeinem Körper, und alles mit <lb/>einem richtigen Aufeinanderfolgen, ſobald das kleine Gehirn <lb/>geſund und thätig iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8945" xml:space="preserve">Fehlt dieſe Thätigkeit, oder vernichtet <lb/>man das kleine Gehirn, ſo hört dieſe Fähigkeit, die Einzel-<lb/>heiten der Bewegungen ſo zu ordnen, daß eine zweckmäßig <lb/>zuſammengeſetzte Bewegung daraus entſpringt, auf; </s>
  <s xml:id="echoid-s8946" xml:space="preserve">und die <lb/>Bewegungen werden widerſprechend und reſultatlos.</s>
  <s xml:id="echoid-s8947" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8948" xml:space="preserve">Der unſichere Gang der Betrunkenen rührt vielleicht von <lb/>einer Schwächung der Thätigkeit des kleinen Gehirns her, und <lb/>auch die Unordnung ihrer Gedanken hat möglicherweiſe hierin <lb/>ihren Urſprung. </s>
  <s xml:id="echoid-s8949" xml:space="preserve">Wer ſich ſelbſt bei einem leichten Rauſch auf-<lb/>merkſam beobachtet hat, der wird auch wahrgenommen haben, <lb/>daß man die Fähigkeit, die Worte richtig zu ordnen, auf <lb/>Momente verliert, ja ſogar die Buchſtaben eines Wortes wider <lb/>Willen verkehrt, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s8950" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s8951" xml:space="preserve">ſtatt “falſche” “Flaſche” ſpricht, obwohl <lb/>man ſeinen Irrtum einſieht, und mit einiger Anſtrengung die <lb/>richtige Ordnung herausbringt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8952" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="25" file="673" n="673"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8953" xml:space="preserve">Im kleinen Gehirn ſcheint demnach das Bureau für das <lb/>zu ſein, was man die Zuſammenſtellung der Einzelheiten nennt <lb/>die bei allen Lebensthätigkeiten nöthig iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8954" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div308" type="section" level="1" n="224">
<head xml:id="echoid-head255" xml:space="preserve"><emph style="bf">IX. Von der Schädellehre.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8955" xml:space="preserve">Faßt man das, was wir von der Wirkſamkeit des großen <lb/>und kleinen Gehirns geſagt haben, zuſammen, ſo läßt ſich nicht <lb/>in Abrede ſtellen, daß von ſeiner Ausbildung, ſeiner Form <lb/>die geiſtige Befähigung der Geſchöpfe abhängt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8956" xml:space="preserve">Es iſt klar, <lb/>daß man hierdurch dem Gedanken nahe geführt wird, es möge <lb/>wohl die Geſtalt des menſchlichen Gehirns auch maßgebend <lb/>für die geiſtigen Eigentümlichkeiten der einzelnen Menſchen ſein. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8957" xml:space="preserve">Allein wenn man dieſem Gedanken die Ausdehnung giebt, <lb/>welche in der ſogenannten Schädellehre liegt, wie ſie noch jetzt <lb/>hin und wieder betrieben wird, ſo iſt man von einem kleinen, <lb/>richtigen Prinzip auf einen weiten, großen Irrtum geraten.</s>
  <s xml:id="echoid-s8958" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8959" xml:space="preserve">Die “Schädellehre”, wie ſie Gall (1758—1828) und ſeine <lb/>Jünger ausbildeten, hegt den Irrtum, daß man aus der Form <lb/>des Schädels eines Menſchen auch alle ſeine beſonderen geiſtigen <lb/>Fähigkeiten, moraliſchen Eigenſchaften und natürlichen Triebe <lb/>herausfühlen könne. </s>
  <s xml:id="echoid-s8960" xml:space="preserve">Zu dieſem Zweck wurde der Schädel des <lb/>Menſchen — ziemlich willkürlich — in ganz ſpezielle Teile <lb/>eingeteilt und jeder beſonderen Erhöhung und Vertiefung, <lb/>Biegung und Neigung ein beſonderer Charakter beigelegt, in <lb/>welchen man hier den Geiz, dort die Verſchwendung, hier das <lb/>Gedächtnis, dort die Grauſamkeit u. </s>
  <s xml:id="echoid-s8961" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s8962" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s8963" xml:space="preserve">ſuchen und finden <lb/>ſollte und wollte.</s>
  <s xml:id="echoid-s8964" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8965" xml:space="preserve">Gall unterſchied 27 im Gehirn lokaliſierte Fähigkeiten, für <lb/>die er zur Bezeichnung bald die Worte Sinn, bald auch In-
<pb o="26" file="674" n="674"/>
ſtinkt und Talent, ſogar Gedächtnis gebraucht, ohne ſich auf <lb/>deren verſchiedene Bedeutung näher einzulaſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8966" xml:space="preserve">Er unter-<lb/>ſcheidet Ortsſinn, Sprachſinn, Farbenſinn, Kunſtſinn u. </s>
  <s xml:id="echoid-s8967" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s8968" xml:space="preserve">w. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8969" xml:space="preserve">
<anchor type="figure" xlink:label="fig-674-01a" xlink:href="fig-674-01"/>
Die ſogenannten Geiſtesvermögen: </s>
  <s xml:id="echoid-s8970" xml:space="preserve">Wahrnehmung, Verſtand, <lb/>Wille A.</s>
  <s xml:id="echoid-s8971" xml:space="preserve">, bleiben unberückſichtigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8972" xml:space="preserve">Die Gallſchen Lehren machte <lb/>namentlich Spurzheim (1776—1832) zu den ſeinigen und
<pb o="27" file="675" n="675"/>
ſuchte ſie weiter auszubilden, ſodaß ſchließlich die Phrenologie <lb/>auf 37 ſolcher Grundkräfte ſich ausdehnte.</s>
  <s xml:id="echoid-s8973" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div308" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-674-01" xlink:href="fig-674-01a">
<caption xml:id="echoid-caption110" xml:space="preserve">Fig. 6.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables25" xml:space="preserve">19 18 14 13 C D 22 16 15 12 27 36 23 21 B 11 4 32 20 10 3 31 23 346 26 21 25 35 30 8 7 A 1</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8974" xml:space="preserve">Beiſtehende Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s8975" xml:space="preserve">6 zeigt die Lage, welche Gehirnorgane <lb/>für dieſe Grundkräfte im Innern des Schädels haben ſollen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8976" xml:space="preserve">Zunächſt dem Rückenmark und dem verlängerten Gehirn, dem <lb/>wichtigſten Organ für die Lebenserhaltung, liegen diejenigen <lb/>Thätigkeiten, welche dem Leben ſelbſt und deſſen Übertragung <lb/>auf kommende Generationen in nächſter Beziehung ſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8977" xml:space="preserve"><lb/>Tief im Nacken des Kopfes liegt daher das Organ der Ge-<lb/>ſchlechtsliebe, welche mit 1 bezeichnet iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s8978" xml:space="preserve">darüber ſehen wir <lb/>unter A einen Geiſtlichen, welcher ein junges Paar einſegnet, <lb/>das iſt der Sitz der Gattenliebe, welcher ſich weſentlich von <lb/>der Geſchlechtsliebe im allgemeinen unterſcheidet. </s>
  <s xml:id="echoid-s8979" xml:space="preserve">Daneben am <lb/>Hinterkopfe ſieht man eine Mutter mit vielen Kindern, das iſt <lb/>der Sitz der Kinderliebe. </s>
  <s xml:id="echoid-s8980" xml:space="preserve">Über A ſieht man ein paar Mädchen, <lb/>welche die Geſchwiſterliebe andeuten ſollen; </s>
  <s xml:id="echoid-s8981" xml:space="preserve">dahinter unter Nr. </s>
  <s xml:id="echoid-s8982" xml:space="preserve">4 <lb/>befindet ſich die Heimatsliebe. </s>
  <s xml:id="echoid-s8983" xml:space="preserve">Vor A und der Zahl 3 liegt <lb/>das Organ der Streitſucht, der Kampfluſt, und hinter dem <lb/>und über dem Ohr iſt der Mordſinn zu finden; </s>
  <s xml:id="echoid-s8984" xml:space="preserve">vor dem Ohre <lb/>aber, mit 8 bezeichuet, der Geſelligkeitstrieb. </s>
  <s xml:id="echoid-s8985" xml:space="preserve">Bei 9 erblicken <lb/>wir den Geiz. </s>
  <s xml:id="echoid-s8986" xml:space="preserve">Über dem Mordſinn ſehen wir, mit 10 be-<lb/>zeichnet, eine lauernde Katze; </s>
  <s xml:id="echoid-s8987" xml:space="preserve">ſie giebt uns das Organ der <lb/>Schlauheit, der Liſt, der Falſchheit an. </s>
  <s xml:id="echoid-s8988" xml:space="preserve">Darüber ſehen wir <lb/>in Nr. </s>
  <s xml:id="echoid-s8989" xml:space="preserve">11 einen diebiſchen Raubvogel auf das Neſt einer <lb/>Henne herabſtoßen, das iſt der Diebsſinn, der Aneignungsſinn. </s>
  <s xml:id="echoid-s8990" xml:space="preserve"><lb/>Unter 13 nehmen wir den Höhenſinn oder die Hoffahrt wahr, <lb/>welchen Gall nur bei hochmütigen Narren und bei den Gemſen <lb/>gefunden hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s8991" xml:space="preserve">5 deutet uns Kunſtſinn und Emſigkeit an.</s>
  <s xml:id="echoid-s8992" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8993" xml:space="preserve">Sehr abgeſondert von dieſen am Hinterhaupte und an der <lb/>Baſis derſelben liegenden Organen iſt noch das mit 19 bezeichnete, <lb/>Tieren und Menſchen gemeinſchaftliche Organ der Gutmütigkeit <lb/>am oberſten Teile des Stirnbeins, daneben unter 18 Reſpekt und <lb/>Furcht vor dem Mächtigeren, Höheren und unter 14 Eigenſinn.</s>
  <s xml:id="echoid-s8994" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="28" file="676" n="676"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8995" xml:space="preserve">Nun kommen die Gefühle, welche dem Menſchen allein <lb/>eigen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s8996" xml:space="preserve">Unter B ziemlich in der Mitte der Zeichnung der <lb/>Sinn für Hoheit; </s>
  <s xml:id="echoid-s8997" xml:space="preserve">daneben bei 21 der Idealitätsſinn; </s>
  <s xml:id="echoid-s8998" xml:space="preserve">bei 20, <lb/>unmittelbar darunter, der Sinn für Mechanik, 12 läßt uns <lb/>die Höflichkeit wahrnehmen, 15 die Gewiſſenhaftigkeit, 16 die <lb/>Hoffnung, 17 die Gläubigkeit, 22 den Nachahmungsſinn, 23 <lb/>die Neigung zum Scherz, zum Frohſinn. </s>
  <s xml:id="echoid-s8999" xml:space="preserve">24 ganz vorn, un-<lb/>mittelbar über der Naſe, zeigt uns den Beobachtungsſinn. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9000" xml:space="preserve">25 an den vorderen Augenwinkeln iſt der Formſinn, 26 der <lb/>Vergleichs- oder Maßſinn, beſonders ſoweit er auf Schätzung <lb/>durch das Auge beruht, alſo Augenmaß. </s>
  <s xml:id="echoid-s9001" xml:space="preserve">27 über dem Auge <lb/>ſoll uns den Sinn für equilibriſtiſche, für Turnerkünſte zeigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9002" xml:space="preserve"><lb/>28 giebt uns den Farbenſinn, 29 den Ordnungsſinn. </s>
  <s xml:id="echoid-s9003" xml:space="preserve">30, nur <lb/>mit einer Zahl, nicht mit einem Bilde bezeichnet, ſoll die <lb/>Stelle des Zahlenſinnes ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s9004" xml:space="preserve">Unter der Reihe der hier an-<lb/>gegebenen Organe liegt noch eins mit 35 bezeichnet, gerade <lb/>auf dem Weißen des Auges. </s>
  <s xml:id="echoid-s9005" xml:space="preserve">Dahinter, alſo hinter der Naſen-<lb/>wurzel, ſoll der Sprachſinn liegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9006" xml:space="preserve">Über eben dieſer gedachten <lb/>Reihe von Organen liegt zunächſt der Stirne Nr. </s>
  <s xml:id="echoid-s9007" xml:space="preserve">32, mit <lb/>einem Buch bezeichnet, der Erinnerungsſinn, und bei 31, da-<lb/>mit zuſammenhängend, der Ortsſinn. </s>
  <s xml:id="echoid-s9008" xml:space="preserve">Bei 33 der Sinn für <lb/>Zeitmaß und daneben der verwandte Tonſinn unter 34. </s>
  <s xml:id="echoid-s9009" xml:space="preserve">Dar-<lb/>über ſehen wir bei 36 den Urſachenſinn und bei 37 den Unter-<lb/>ſuchungs-, Vergleichungsſinn, hierüber wieder unter C den <lb/>Sinn für Unterſuchung der Menſchennatur und in D die Ge-<lb/>fallſucht, die Anmut, den Wunſch, ſchön gefunden zu werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s9010" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9011" xml:space="preserve">Welcher Weiſe die Beobachtungen waren, auf welche Gall <lb/>ſeine Schlüſſe gründete, geht aus Angaben Spurzheims hervor: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9012" xml:space="preserve">“Zwei Perſonen in Wien waren wegen ihrer außerordentlichen <lb/>Unentſchloſſenheit bekannt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9013" xml:space="preserve">Gall ſtellte ſich deshalb eines Tages <lb/>an einem öffentlichen Orte hinter ſie und betrachtete ihre Köpfe. </s>
  <s xml:id="echoid-s9014" xml:space="preserve"><lb/>Er fand, daß dieſelben oben und hinten zu beiden Seiten der <lb/>Spitze ſehr breit waren, und dieſe Beobachtung gab die erſte
<pb o="29" file="677" n="677"/>
Idee dieſes Organs”. </s>
  <s xml:id="echoid-s9015" xml:space="preserve">Von einer eingehenden anatomiſchen <lb/>und phyſiologiſchen Beobachtung war hierbei ebenſo wenig die <lb/>Rede wie von einer Analyſe der pſychiſchen Funktionen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9016" xml:space="preserve">daher <lb/>iſt es erſtaunlich, wie eine derartige rein willkürliche und un-<lb/>geheuerliche Hypotheſe ſeinerzeit das Aufſehen erregen und <lb/>gläubige Hörer finden konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s9017" xml:space="preserve">Schon die erſte Vorausſetzung <lb/>der Schädellehre, nämlich der Parallelismus der Schädel- und <lb/>Hirnform, widerſpricht den Thatſachen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9018" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9019" xml:space="preserve">Eine wirkliche naturwiſſenſchaftliche Grundlage iſt alſo für <lb/>eine ſo eingehende Schädellehre durchaus nicht vorhanden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9020" xml:space="preserve">Es <lb/>iſt wahr, daß der Schädel, alſo die Knochendecke des Gehirns, <lb/>der Form des Gehirns entſpricht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9021" xml:space="preserve">Es iſt auch richtig, daß im <lb/>allgemeinen abweichende Formen dieſes Schädels abweichende <lb/>Formen des Gehirns anzeigen, und man darf zugeſtehen, daß <lb/>die Formen des Gehirns auch auf den Charakter des Menſchen <lb/>von weſentlichem Einfluß ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s9022" xml:space="preserve">Allein diejenigen ſpeziellen <lb/>Eigenſchaften, welche man am Schädel und beſonders in jeder <lb/>einzelnen Stelle desſelben ſucht und finden will, ſind teilweiſe <lb/>gar nicht ſo einfach, wie die Namen der Dinge vermuten <lb/>laſſen, teils ſind ſie nicht bloße Natureigenſchaften, ſondern <lb/>müſſen erſt aus dem Umgangsleben der menſchlichen Geſell-<lb/>ſchaft entſpringen und erhalten ihren wirklichen Wert erſt <lb/>durch die Verhältniſſe, unter denen ſie zum Vorſchein kommen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9023" xml:space="preserve">— Was beim Reichen “Geiz” genannt werden muß, kann beim <lb/>Armen weiſe Sparſamkeit ſein, was unter gewiſſen Verhält-<lb/>niſſen für Mitleid gilt, kann unter veränderten Verhältniſſen <lb/>Charakterſchwäche genannt werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s9024" xml:space="preserve">dieſelbe Handlung, die heute <lb/>eine Tugend iſt, kann morgen unter andern Zuſtänden als <lb/>gräuliches Laſter gelten. </s>
  <s xml:id="echoid-s9025" xml:space="preserve">Sind alſo ſchon die Handlungen ſo <lb/>unſicher zu bezeichnen, um wieviel größere Unſicherheit muß <lb/>darin herrſchen, wenn man die bloße Fähigkeit oder die bloße <lb/>Neigung zu Handlungen zum Gegenſtand eines Urteils nimmt!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9026" xml:space="preserve">Es iſt zwar ſicher, daß die einzelnen Teile des Gehirns
<pb o="30" file="678" n="678"/>
beſtimmten Gebieten der Geſamtintelligenz entſprechen, ſo kennt <lb/>man z. </s>
  <s xml:id="echoid-s9027" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s9028" xml:space="preserve">die Stellen, welche der Seh- und Sprachfähigkeit <lb/>entſprechen, ganz genau, aber immerhin hat die Schädellehre <lb/>vorläufig nur in ihren allgemeinſten Zügen einigen naturwiſſen-<lb/>ſchaftlichen Wert, und dieſe allgemeinen Züge wollen wir hier <lb/>vorführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9029" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9030" xml:space="preserve">Eine ſtarke Ausbildung des großen Gehirns läßt auf eine <lb/>größere geiſtige Befähigung ſchließen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9031" xml:space="preserve">Wir haben bereits die <lb/>Beobachtung <emph style="sp">Leubuſchers</emph> angeführt, daß ſogar geiſteskranke <lb/>Kinder in ihrer Geneſung ein ſtärkeres Wachstum des großen <lb/>Gehirns zeigen, eine Beobachtung, die dadurch unterſtützt wird, <lb/>daß wirklich vom Tierreich bis zum Menſchenreich, wie in dem <lb/>Menſchenreich durch die verſchiedenen Raſſen eine Art Stufen-<lb/>folge ſich nachweiſen läßt, wo namentlich die ausgebildete <lb/>Wölbung der Stirn auch auf die höhere geiſtige Fähigkeit hin-<lb/>weiſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9032" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9033" xml:space="preserve">Aus dieſer Stufenfolge ergiebt ſich im Allgemeinen, daß <lb/>Tiere, bei welchen die Schnauze weit aus dem Schädel hervor-<lb/>ragt, geiſtig ſehr unfähig ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s9034" xml:space="preserve">Tiere jedoch, bei welchen der <lb/>Schädel mehr nach vorn gerückt iſt, einer größeren geiſtigen <lb/>Thätigkeit fähig ſeien. </s>
  <s xml:id="echoid-s9035" xml:space="preserve">Obwohl dies keineswegs durchgehend <lb/>richtig iſt, und zum Beiſpiel das klügſte Pferd einen aus dem <lb/>Schädel weiter hervorragenden Mund als der dümmſte Ochſe, <lb/>der gelehrige Pudel eine hervorſtehendere Schnauze als der <lb/>dumme Mops hat, ſo liegt im allgemeinen doch eine Wahrheit <lb/>darin, und wenn man beſonders die Menſchen in ihren ver-<lb/>ſchiedenen Raſſen mit den Affen vergleicht, ſo ſieht man wohl, <lb/>daß der hervorragende oder abgeflachte, zurücktretende Schädel <lb/>ein Zeichen für die geiſtige Befähigung iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9036" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9037" xml:space="preserve">Der Europäer hat meiſtens eine ſehr hervorragende Stirn, <lb/>ſodaß der Mund ſehr wenig beim aufrecht gehaltenen Kopfe <lb/>vorſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9038" xml:space="preserve">Menſchen, bei welchen der Mund auch nur ein wenig <lb/>mehr als gewöhnlich vorſteht, haben ein tieriſches Anſehen und
<pb o="31" file="679" n="679"/>
laſſen ſelten beſondere Geiſtesfähigkeit gewahren. </s>
  <s xml:id="echoid-s9039" xml:space="preserve">Bei den <lb/>Negern tritt der Schädel ſehr bedeutend zurück, und es iſt gewiß <lb/>richtig, wenn man ſich dieſelben im allgemeinen auf einer un-<lb/>ausgebildeteren Stufe der geiſtigen Fähigkeit denkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9040" xml:space="preserve">Der Unter-<lb/>ſchied iſt hierin zwiſchen gewiſſen Negerraſſen und Europäern <lb/>ſo groß, daß er noch größer iſt als der Unterſchied zwiſchen <lb/>dieſen Negerraſſen und den fähigſten Affenraſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9041" xml:space="preserve">— Man <lb/>ſchätzt daher auch ſchon im gewöhnlichen Leben einen Menſchen <lb/>mit hoher Stirn für klug und geht in dieſem Punkte meiſt <lb/>nicht fehl, wenn es auch nicht immer ausgemacht iſt, daß dieſer <lb/>Menſch ſeine geiſtige Fähigkeit in gehörigem Maße geübt <lb/>hat und richtig ausübt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9042" xml:space="preserve">Auch die weitere Form des Schädels, <lb/>ob er ſpitz, eckig oder fein gerundet, leicht gewölbt, ſchmal oder <lb/>breit iſt, mag gewiſſe Anhaltspunkte für das erſte Urteil über <lb/>die allgemeine geiſtige Fähigkeit abgeben; </s>
  <s xml:id="echoid-s9043" xml:space="preserve">mehr aber darf man <lb/>von der ſogenannten Schädellehre vorläufig nicht erwarten, <lb/>wenigſtens ſteht es von einzelnen ihrer Lehren feſt, daß ſie <lb/>den gründlichſten Forſchungen und deren Reſultaten wider-<lb/>ſprechen, und auf nichts als eingebildeten Vorurteilen beruhen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9044" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9045" xml:space="preserve">Man darf allerdings die Hoffnung hegen, daß im Lauf <lb/>der Zeit ſich auch eine auf wiſſenſchaftlicher Grundlage ruhende <lb/>Schädellehre wird aufſtellen laſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9046" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div310" type="section" level="1" n="225">
<head xml:id="echoid-head256" xml:space="preserve"><emph style="bf">X. Thätigkeit und Ruhe.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9047" xml:space="preserve">Wir haben von der Thätigkeit des Gehirns geſprochen <lb/>und eine Reihe von Erſcheinungen aus dieſem Gebiete der <lb/>Naturwiſſenſchaft aufgeführt; </s>
  <s xml:id="echoid-s9048" xml:space="preserve">wir müſſen jetzt von dem Mangel <lb/>der Thätigkeit, von der Ruhe des Gehirns ſprechen, von der <lb/>Ruhe, die mit zum Merkzeichen des tieriſchen Lebens gehört.</s>
  <s xml:id="echoid-s9049" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="32" file="680" n="680"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9050" xml:space="preserve">In der ſogenannten toten Natur findet eine Abwechſelung <lb/>zwiſchen Ruhe und Bewegung nicht ſtatt; </s>
  <s xml:id="echoid-s9051" xml:space="preserve">wenigſtens iſt ſolche <lb/>Abwechſelung nicht von regelmäßigen Perioden begleitet. </s>
  <s xml:id="echoid-s9052" xml:space="preserve">Die <lb/>Planeten bewegen ſich um die Sonne ohne Aufhören, ohne <lb/>Unterbrechung, ohne Ruhe. </s>
  <s xml:id="echoid-s9053" xml:space="preserve">Die Sonnen des Weltraums durch-<lb/>wandern ihre Bahnen in unausgeſetzter Bewegung, in unauf-<lb/>hörlicher Thätigkeit, wenn man dieſes eine Thätigkeit nennen <lb/>will. </s>
  <s xml:id="echoid-s9054" xml:space="preserve">— Umgekehrt finden wir, daß ein Stein, der einmal zur <lb/>Erde gefallen iſt und auf derſelben ruht, in dieſer Ruhe un-<lb/>ausgeſetzt verharrt, und ohne Einwirkung einer neuen Urſache <lb/>ſich nicht in Bewegung ſetzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9055" xml:space="preserve">Zwar wirken chemiſche und über-<lb/>haupt Natureinflüſſe auf ihn ein und veranlaſſen, daß ſelbſt <lb/>Steine wandern und ſich verwandeln; </s>
  <s xml:id="echoid-s9056" xml:space="preserve">allein immer ſind Thätig-<lb/>keit und Ruhe in ſolchen Fällen nicht eine innere Notwendig-<lb/>keit des Steines, ſondern eine Folge äußerer Einflüſſe.</s>
  <s xml:id="echoid-s9057" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9058" xml:space="preserve">Anders ſchon iſt es bei dem Leben der Pflanzen der Fall. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9059" xml:space="preserve">Hier treten ſchon Erſcheinungen ein, die abwechſelnde Thätigkeit <lb/>und Ruhe andeuten, und das hervorrufen, was man den Schlaf <lb/>der Pflanzen nennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9060" xml:space="preserve">Bei dem ſogenannten Schlaf der Pflanzen <lb/>laſſen ſie die Blätter mehr ſinken oder falten ſie irgendwie <lb/>zuſammen, gewiſſe Blüten ſchließen ſich knoſpenartig, viele <lb/>riechende Blumen duften des Nachts ſtärker, und die Ernährung <lb/>der Pflanzen iſt nachts anders als am Tage. </s>
  <s xml:id="echoid-s9061" xml:space="preserve">Zwar ſpielt <lb/>hierbei das Licht der Sonne die Hauptrolle. </s>
  <s xml:id="echoid-s9062" xml:space="preserve">Bei totalen <lb/>Sonnenfinſterniſſen bemerkt man auch mitten am Tage ſolche <lb/>Erſcheinungen des Pflanzenſchlafes, und man hätte demnach <lb/>Urſache, anzunehmen, daß dieſe Erſcheinungen nicht aus innern <lb/>Trieben der Pflanzen, ſondern von äußern Einflüſſen abhängig <lb/>ſeien. </s>
  <s xml:id="echoid-s9063" xml:space="preserve">Allein einerſeits zeigt es ſich, daß auch Tiere bei Sonnen-<lb/>finſterniſſen zur Ruhe eilen, Tiere, die doch ſicherlich nur durch <lb/>Ermüdung zur Ruhe genötigt werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9064" xml:space="preserve">Andererſeits haben Ver-<lb/>ſuche an Pflanzen gezeigt, die man bei künſtlicher Finſternis <lb/>und künſtlichem Lichte wachſen ließ, daß der ſogenannte Schlaf
<pb o="33" file="681" n="681"/>
der Pflanzen nicht bloß vom Sonnenlichte abhängig iſt, ſondern <lb/>mit den Lebenserſcheinungen der Pflanzen ſelber im Zuſammen-<lb/>hang ſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s9065" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9066" xml:space="preserve">In der Thätigkeit des Tierlebens tritt dieſes Ruhen noch <lb/>weit charakteriſtiſcher hervor; </s>
  <s xml:id="echoid-s9067" xml:space="preserve">denn es tritt hier ein außerordent-<lb/>lich regelmäßiger Wechſel zwiſchen Bewegung und Ruhe ein.</s>
  <s xml:id="echoid-s9068" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9069" xml:space="preserve">Schon das Pflanzenleben des Tieres iſt hierin verſchieden <lb/>von dem Leben der wirklichen Pflanze. </s>
  <s xml:id="echoid-s9070" xml:space="preserve">Das Herz des Tieres <lb/>iſt gewiß das Organ, welches das unermüdlichſte genannt <lb/>werden kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s9071" xml:space="preserve">Das Herz iſt durch das ganze Leben hindurch <lb/>thätig, und treibt das Blut im Rundlauf durch den Körper. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9072" xml:space="preserve">Dennoch iſt die Thätigkeit des Herzens pauſenartig eingeteilt; </s>
  <s xml:id="echoid-s9073" xml:space="preserve"><lb/>jede Herzkammer zieht ſich einen Moment zuſammen, läßt dann <lb/>nach und erſchlafft, um ſich ſodann im Takt des Pulſierens <lb/>wieder zuſammenzuziehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9074" xml:space="preserve">Man ſieht alſo ſelbſt in dem un-<lb/>ausgeſetzt thätigſten Organ des Tieres eine pauſenartige Thätig-<lb/>keit, eine Kraftanſtrengung und eine Ruhe jeder Herzkammer <lb/>abwechſeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s9075" xml:space="preserve">Man kann von jeder Herzkammer ebenſo gut ſagen, <lb/>ſie ſei unermüdlich in ihrer Thätigkeit, wie man behaupten <lb/>kann, ſie ſei am ſchnellſten ermüdet; </s>
  <s xml:id="echoid-s9076" xml:space="preserve">denn ſie ruht nach jeder <lb/>Kraftanſtrengung einen Moment aus.</s>
  <s xml:id="echoid-s9077" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9078" xml:space="preserve">Ähnlich wie beim Herzſchlag iſt es bei der Thätigkeit der <lb/>Lungen, beim Atmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9079" xml:space="preserve">Das Einatmen iſt die Thätigkeit, das <lb/>Ausatmen iſt ein Nachlaſſen dieſer Thätigkeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s9080" xml:space="preserve">Dies wechſelt <lb/>pauſenartig ab, und obwohl eine ganze große Reihe von Muskeln <lb/>thätig ſein muß, um vollkommen einatmen zu können, ſo iſt doch <lb/>die Einrichtung derart, daß alle dieſe verſchiedenen Muskeln <lb/>die Erweiterung des Bruſtkaſtens gleichzeitig nach einer ganz <lb/>beſtimmten Ordnung veranlaſſen, und ebenſo ordnungsmäßig <lb/>und übereinſtimmend iſt das Erſchlaffen derſelben, welche das <lb/>Einſinken des Bruſtkaſtens und ſomit die Ausatmung bewerk-<lb/>ſtelligen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9081" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9082" xml:space="preserve">Kann man die Thätigkeit des Herzens die Thätigkeit einer</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9083" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s9084" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s9085" xml:space="preserve">Volkſbücher XI.</s>
  <s xml:id="echoid-s9086" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="34" file="682" n="682"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9087" xml:space="preserve">Pumpe nennen, welche ſtoßweiſe wirkt, ſo kann man die Thätig-<lb/>keit der Lunge der eines Blaſebalges gleichſtellen, welcher <lb/>gleichfalls pauſenartig ſein Geſchäft verrichtet.</s>
  <s xml:id="echoid-s9088" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9089" xml:space="preserve">Auch bei den Pflanzen findet ſich ein Umlauf der Säfte <lb/>und eine Atmung, allein bei der Pflanze findet nicht dieſes <lb/>Thätigſein und Ruhen ſtatt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9090" xml:space="preserve">Die Pflanze hat keinen Puls-<lb/>ſchlag und keine Atemſtöße; </s>
  <s xml:id="echoid-s9091" xml:space="preserve">ihre Thätigkeit iſt nicht ſo ent-<lb/>ſchieden wechſelnd, zu ihrem Leben iſt die Ruhe nicht ſo geſetz-<lb/>mäßig notwendig.</s>
  <s xml:id="echoid-s9092" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9093" xml:space="preserve">Auch die übrigen Thätigkeiten des pflanzlichen Lebens der <lb/>Tiere ſind pauſenartig eingerichtet, wo Thätigkeit und Ruhe <lb/>abwechſeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s9094" xml:space="preserve">Die Pflanze nimmt ohne Pauſe Nahrung in ſich <lb/>auf; </s>
  <s xml:id="echoid-s9095" xml:space="preserve">das Tier ißt eine Zeitlang, um ſodann eine Zeitlang zu <lb/>pauſieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s9096" xml:space="preserve">Die Pflanze ſcheidet unausgeſetzt Stoffe ab; </s>
  <s xml:id="echoid-s9097" xml:space="preserve">das <lb/>Tier verrichtet auch ſeine Ausſcheidungen pauſenartig. </s>
  <s xml:id="echoid-s9098" xml:space="preserve">Und ſo <lb/>verhält es ſich mit allen Thätigkeiten des lebenden Tierkörpers, <lb/>ſie werden durch Ruhepauſen unterbrochen und wechſeln mit <lb/>ihnen ab.</s>
  <s xml:id="echoid-s9099" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9100" xml:space="preserve">Da aber das Tierleben, wie wir geſehen haben, ein Nerven-<lb/>leben iſt, ſo müſſen wir wohl dieſe Abwechſelung von Thätig-<lb/>keit und Ruhe im Weſen der Nerven vermuten, und in der <lb/>That werden wir ſehen, wie Ruhe, Ermüdung und Schlaf ſehr <lb/>innig mit dem Weſen der Nerven zuſammenhängen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9101" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9102" xml:space="preserve">Indem wir auf eine Eigentümlichkeit der Nerventhätigkeit <lb/>eingehen wollen, welche darin beſteht, daß ſie pauſenartig iſt, <lb/>daß ſie nach einem Moment der Thätigkeit eines Moments der <lb/>Ruhe bedarf, um dann wieder thätig ſein zu können, wollen <lb/>wir hier eine merkwürdige Thatſache anführen, die den Beweis <lb/>führt, daß nicht nur in lebenden Tieren, ſondern auch in vom <lb/>Körper getrennten Muskeln dieſe Pauſen zu bemerken ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s9103" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9104" xml:space="preserve">Wenn man an einem Froſchſchenkel oder ſonſt an einem <lb/>Gliede eines eben getöten Tieres den Nerv elektriſiert, der im <lb/>Leben die Bewegung der Muskeln dieſes Teils hervorbringt,
<pb o="35" file="683" n="683"/>
ſo bewegt ſich oder richtiger zuckt der Schenkel oder das Glied <lb/>zuſammen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9105" xml:space="preserve">Die Zuckung geſchieht im Moment, wo man die <lb/>elektriſche oder richtiger galvaniſche Kette ſchließt, ſodann hört <lb/>ſie auf, ſo lange man die Kette geſchloſſen hält und tritt in <lb/>dem Moment wieder ein, wo man den galvaniſchen Strom <lb/>wieder unterbricht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9106" xml:space="preserve">In ſolchem Falle hat man alſo zwei <lb/>Zuckungen des Muskels, die ſich ſehr deutlich erkennen und <lb/>ſondern laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9107" xml:space="preserve">Trifft man aber die Einrichtung, daß die gal-<lb/>vaniſche Kette ſehr ſchnell und fortdauernd geſchloſſen und ge-<lb/>öffnet wird, ſo zuckt der Muskel nicht mehr, ſondern er bleibt <lb/>dauernd zuſammengezogen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9108" xml:space="preserve">Man erkennt ſehr leicht, daß der <lb/>Muskel nicht Zeit hat, ſich abwechſelnd zuſammenzuziehen und <lb/>zu erſchlaffen, ſobald das Schließen und Öffnen der galvaniſchen <lb/>Kette ſehr ſchnell aufeinander folgt, er bleibt alſo zuſammen-<lb/>gezogen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9109" xml:space="preserve">— Dieſer einen Thatſache reiht ſich nun noch eine <lb/>zweite an, die merkwürdiger iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9110" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9111" xml:space="preserve">Wenn man eine Zeitlang ſolch’ einen Muskel galvaniſch <lb/>gereizt hat, ſo tritt eine Zeit ein, wo er ſich auf eine neue <lb/>galvaniſche Reizung nur ſehr ſchwach zuſammenzieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9112" xml:space="preserve">Läßt <lb/>man ihn hierauf eine Zeitlang in Ruhe, ſo erholt er ſich wieder, <lb/>und ſeine Zuſammenziehungen ſind infolge neuer galvaniſcher <lb/>Reize wieder kräftig und dauernd.</s>
  <s xml:id="echoid-s9113" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9114" xml:space="preserve">Aus ſolchen Erſcheinungen, die bei den Muskeln ſo lange <lb/>anhalten, bis die Zeit der Leichenſtarre eintritt, ergiebt ſich ein <lb/>richtiger und wichtiger Schluß auf die Thätigkeit der Muskeln <lb/>in lebenden Körpern.</s>
  <s xml:id="echoid-s9115" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9116" xml:space="preserve">Es iſt ausgemacht, daß alle Zuſammenziehungen der <lb/>Muskeln in lebenden Tieren nur von der Thätigkeit der Nerven <lb/>abhängen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9117" xml:space="preserve">wir wiſſen, daß bei Verletzungen der Nerven die <lb/>von ihnen regierten Muskeln ſich nicht zuſammenziehen können. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9118" xml:space="preserve">Wahrſcheinlich werden die Nerven vom Gehirn ganz ſo wie <lb/>durch galvaniſche Reizung angeregt, und es läßt ſich vermuten, <lb/>daß wenn wir einen Muskel willkürlich dauernd zuſammen-
<pb o="36" file="684" n="684"/>
ziehen, wir dies nur infolge einer ſehr ſchnell aufeinander fol-<lb/>genden Anregung des Nerven thun, ſo daß z. </s>
  <s xml:id="echoid-s9119" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s9120" xml:space="preserve">eine Zuſammen-<lb/>ziehung eines Muskels während einer Minute von einer außer-<lb/>ordentlich großen Zahl von Nervenanregungen herrührt, die ſo <lb/>ſchnell aufeinander folgen, daß der Muskel nicht zwiſchen einer <lb/>und der andern Anregung Zeit hat, zu erſchlaffen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9121" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9122" xml:space="preserve">Sicherer noch als dies iſt Folgendes: </s>
  <s xml:id="echoid-s9123" xml:space="preserve">Ganz ſo wie ein <lb/>vom Körper getrennter Muskel ermüdet, und erſt durch Ruhe <lb/>wieder fähig wird zu wirken, ganz ſo iſt es mit der Ermüdung <lb/>unſerer lebenden Muskeln, einer Ermüdung, die verſchwindet, <lb/>wenn wir unſern Muskeln eine Zeit der Ruhe gönnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9124" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9125" xml:space="preserve">Da aber die Nerven es eigentlich ſind, welche die Thätig-<lb/>keit der Muskeln anregen, ſo muß man annehmen, daß die <lb/>Nerventhätigkeit ſo beſchaffen iſt, daß ſie nur in Pauſen wirkt, <lb/>daß alſo die Nerven es eigentlich ſind, welche ermüden, daß <lb/>die Nerven es ſind, welche, um wieder ihre Thätigkeit zu er-<lb/>neuern, der Ruhe bedürfen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9126" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9127" xml:space="preserve">Ermüdung, Ruhe, Schlaf ſind daher eigentümliche Zu-<lb/>ſtände der Nerven; </s>
  <s xml:id="echoid-s9128" xml:space="preserve">ſie ſind denjenigen Weſen eigentümlich, <lb/>welche ihr Leben der Thätigkeit der Nerven zu verdanken haben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9129" xml:space="preserve">Die Tiere werden demnach müde, wenn ihre Muskeln ſich durch <lb/>Nervenreize andauernd und wiederholentlich zuſammengezogen <lb/>haben, wie dies bei allen Bewegungen des Körpers der Fall <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9130" xml:space="preserve">Sie bedürfen der Ruhe, um neue Anſtrengungen machen <lb/>zu können, ganz ſo wie dies bei den Muskeln ſtattfindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s9131" xml:space="preserve">Da <lb/>aber auch die Gehirnthätigkeit eine Nerventhätigkeit iſt, ſo muß <lb/>auch hier eine Zeit der Ruhe eintreten, in welcher die Thätig-<lb/>keit unterbrochen wird, und dieſe Gehirnruhe iſt der Schlaf.</s>
  <s xml:id="echoid-s9132" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9133" xml:space="preserve">Daß es bei den Menſchen ebenſo iſt, weiß wohl Jeder, <lb/>und wir werden ſpäter noch Näheres hiervon zeigen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9134" xml:space="preserve">hier wollen <lb/>wir nur auf den einen Umſtand aufmerkſam machen, wie ſelbſt <lb/>die erhöhte Thätigkeit einer einzelnen Nervengattung auf die <lb/>andern Nerventhätigkeiten den ermüdenden Einfluß ausübt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9135" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="37" file="685" n="685"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9136" xml:space="preserve">Nach der Mahlzeit, und hauptſächlich nach einer ſtarken <lb/>Mahlzeit, wird man träge, ſowohl zum Denken, wie zur Be-<lb/>wegung. </s>
  <s xml:id="echoid-s9137" xml:space="preserve">Die Speiſe will verdaut ſein, die Nerven des Magens, <lb/>des Darms ſind ſehr thätig und üben einen ermattenden Einfluß <lb/>auf das ganze Gehirn und ſomit auch auf die Bewegungsnerven. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9138" xml:space="preserve">Hat man die Bewegungsnerven im hohen Grade angeſtrengt, <lb/>ſo wird man ſtumpf im Fühlen wie im Denken, und eben ſo <lb/>benimmt übermäßiges, angeſtrengtes Denken die Kraft zur Be-<lb/>wegung und zu ſonſtigen Lebensthätigkeiten.</s>
  <s xml:id="echoid-s9139" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9140" xml:space="preserve">In all’ ſolchen Fällen iſt der Schlaf eine Ruhe, die zu <lb/>neuer Thätigkeit fähig macht, eine Ruhe, die im Gehirn ſtatt-<lb/>findet, und welche wir nunmehr näher kennen lernen wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9141" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div311" type="section" level="1" n="226">
<head xml:id="echoid-head257" xml:space="preserve"><emph style="bf">XI. Der Schlaf.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9142" xml:space="preserve">Man nennt den Zuſtand, der dem Schlaf vorangeht, Ab-<lb/>ſpannung, und in der That iſt es eine ſolche, denn die Nerven, <lb/>welche die Glieder und Sinne des Körpers zur Thätigkeit an-<lb/>ſpannen, laſſen, nachdem ſie eine Zeitlang wirkſam waren, nach, <lb/>und man verliert in jeder Beziehung die Spannkraft, die zu <lb/>ihrer Thätigkeit nötig iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9143" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9144" xml:space="preserve">Der Schlaf geht indeſſen nur im großen Gehirn vor. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9145" xml:space="preserve">Tiere, denen man dieſes Gehirn ausſchneidet, leben in einem <lb/>unausgeſetzten Schlafe fort, und ſelbſt ihre Bewegungen auf <lb/>äußerliche Reize und innere Anregungen haben das Charakte-<lb/>riſtiſche der Bewegungen im Traume, der Bewegungen, die <lb/>man auch ſchlafend ausführen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s9146" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9147" xml:space="preserve">Indem aber das Pflanzenleben der Tiere nicht vom großen <lb/>Gehirn direkt abhängt, geht gerade dieſes Leben regelmäßiger <lb/>vor. </s>
  <s xml:id="echoid-s9148" xml:space="preserve">Der Puls ſchläft nicht, die Herzkammern ruhen nach
<pb o="38" file="686" n="686"/>
jeder Zuſammenziehung aus und bedürfen daher keiner neuen <lb/>Pauſe der Erholung im Schlafe; </s>
  <s xml:id="echoid-s9149" xml:space="preserve">gleichwohl iſt der Schlaf <lb/>auch von beruhigendem Einfluß auf die Herzthätigkeit, der <lb/>Puls wird gleichmäßiger, der Blutumlauf geregelter, und dies <lb/>iſt in ſo hohem Grade der Fall, daß Naturforſcher, welche <lb/>durch das Mikroſkop die Bewegungen des Blutes in den feinſten <lb/>Äderchen eines Tieres, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s9150" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s9151" xml:space="preserve">in der Schwimmhaut eines <lb/>Froſchbeines beobachten wollen, ihren Zweck am beſten erreichen, <lb/>wenn ſie den Froſch durch Entfernung des großen Gehirns in <lb/>den künſtlichen Schlaf verſetzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9152" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9153" xml:space="preserve">Der Grund des ruhigern Herzſchlages während des Schlafes <lb/>beruht auf dem Umſtand, daß, wie bereits erwähnt, eine Ver-<lb/>bindung des großen Gehirns mit dem ganzen Syſtem der <lb/>Nervenknoten, welche das pflanzliche Leben des Tieres regieren, <lb/>beſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9154" xml:space="preserve">Durch dieſe Verbiudung verurſachen die Eindrücke des <lb/>großen Gehirns, wie Schreck, Freude, Angſt, Zorn u. </s>
  <s xml:id="echoid-s9155" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s9156" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s9157" xml:space="preserve">einen <lb/>Einfluß auf das geſamte Nervenſyſtem. </s>
  <s xml:id="echoid-s9158" xml:space="preserve">Ruht nun im Schlaf <lb/>das große Gehirn, ſo wirkt das Nervenſyſtem, welches das <lb/>pflanzliche Leben leitet, ohne ſtörenden Einfluß fort und iſt <lb/>deshalb regelmäßiger thätig als während des Wachens.</s>
  <s xml:id="echoid-s9159" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9160" xml:space="preserve">Daher iſt Schlafloſigkeit auch eine gewaltige Störung des <lb/>ganzen Lebens, und giebt ſich in den Folgen auch im Puls zu <lb/>erkennen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9161" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9162" xml:space="preserve">Da im Gehirn das wohnt, was wir “Empfindung” nennen, <lb/>und ebenſo das, was wir mit dem Worte “Willen” bezeichnen, <lb/>ſo iſt es klar, daß man bei der Ruhe des Gehirns, beim Auf-<lb/>hören ſeiner Thätigkeit weder Empfindungen noch Willen haben <lb/>kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s9163" xml:space="preserve">Man fühlt daher im feſten Schlaf nichts von den Ein-<lb/>drücken unſerer Sinne, und empfindet auch nichts von den Vor-<lb/>gängen im Innern des Körpers, die uns wachend Schmerz oder <lb/>Luſt verurſachen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9164" xml:space="preserve">— Indem man aber auch die Fähigkeit des <lb/>Willens verliert, ſo ruhen alle Glieder, die man ſonſt nach <lb/>freiem Willen bewegen kann, und ſämtliche Muskeln erhalten
<pb o="39" file="687" n="687"/>
durch den Schlaf die Ruhe, welche ihnen nötig iſt, um zu <lb/>neuer Thätigkeit fähig zu werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s9165" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9166" xml:space="preserve">Man muß ſich nicht vorſtellen, als ob wirklich der Körper <lb/>ſchlafe. </s>
  <s xml:id="echoid-s9167" xml:space="preserve">Die Ruhe, die z. </s>
  <s xml:id="echoid-s9168" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s9169" xml:space="preserve">unſern Beinen nötig iſt, wenn <lb/>ſie durch einen tüchtigen Marſch ermüdet ſind, kann auch hervor-<lb/>gerufen werden durch ein ruhiges Niederlegen des Körpers, <lb/>bei welchem die Muskeln der Beine ſich nicht anzuſtrengen <lb/>brauchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9170" xml:space="preserve">Es iſt nur das Gehirn, das ſchläft, oder richtiger, es <lb/>iſt nur die Thätigkeit des großen Gehirns, die eine Pauſe macht, <lb/>und weil das Hirn ruht, und der Wille in demſelben nicht <lb/>thätig iſt, nur deshalb laſſen wir im Schlaf die Glieder ruhen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9171" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9172" xml:space="preserve">Allein kein Schlaf iſt ſo tief, daß man wirklich ſagen kann, <lb/>es ſei Empfindung und Wille ganz und gar unterbrochen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9173" xml:space="preserve">Der <lb/>Schlafende empfindet, wenn auch nur ſehr dunkel, und hat auch <lb/>einen Willen, wenn auch nur einen ſehr beſchränkten. </s>
  <s xml:id="echoid-s9174" xml:space="preserve">Es iſt <lb/>gewiſſermaßen ſo, daß man ſagen muß: </s>
  <s xml:id="echoid-s9175" xml:space="preserve">das Gehirn iſt im Zu-<lb/>ſtand des Schlafes nicht völlig und ganz und gar außer Thätig-<lb/>keit geſetzt, ſondern die Thätigkeit iſt unterdrückt und zurück-<lb/>gezogen und ſehr beſchränkt, ſo daß Empfindung und Wille <lb/>nur bei ſehr ſtarken Eindrücken angeregt werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s9176" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9177" xml:space="preserve">Daher rührt es denn, daß der Schlafende geweckt werden <lb/>kann, wenn man einen ſtarken Eindruck auf ſeine Sinne macht. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9178" xml:space="preserve">Ein heftiger Geruch, ein ſtarker Schall, ein außerordentlicher <lb/>Lichtſtrahl, ſelbſt bei geſchloſſenen Augenlidern, ſowie ein Rütteln, <lb/>Stoßen u. </s>
  <s xml:id="echoid-s9179" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s9180" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s9181" xml:space="preserve">wird mitten im Schlaf wahrgenommen, und <lb/>reizt das Gehirn derart, daß es ſelbſt bei ſtarker Ermüdung <lb/>zur Thätigkeit angeregt, alſo wieder geweckt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s9182" xml:space="preserve">Je tiefer <lb/>der Schlaf iſt, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s9183" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s9184" xml:space="preserve">je zurückgezogener und eingeſchränkter die <lb/>Thätigkeit des Gehirns iſt, deſto ſtärker muß der Eindruck ſein, <lb/>um dasſelbe neu anzuregen, und hieraus muß man ſchließen, <lb/>daß bei Perſonen, bei denen leichte Eindrücke hinreichen, um <lb/>ſie zu wecken, auch die Thätigkeit des Gehirns in nur geringem <lb/>Grade während des Schlafes unterdrückt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9185" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="40" file="688" n="688"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9186" xml:space="preserve">Daß man im Schlaf Bewegungen ausführt, die ſonſt nur <lb/>durch den Willen vollbracht werden, iſt bekannt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9187" xml:space="preserve">Man wendet <lb/>ſich im Schlaf auf die Seite, legt ſich bequem, ſtreckt ſich, wenn <lb/>man lange Zeit eingekrümmt gelegen, deckt ſich auf, wenn es <lb/>zu heiß wird, kratzt ſich an Stellen, wo man Iucken empfindet, <lb/>und nimmt ſo Handlungen vor, die ſonſt nur auf den Ent-<lb/>ſchluß des freien Willens geſchehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9188" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9189" xml:space="preserve">Es haben aber Verſuche gelehrt, daß ſogar enthauptete <lb/>Tiere, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s9190" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s9191" xml:space="preserve">Fröſche, ſolche zweckmäßige Bewegungen vor-<lb/>nehmen, daß ſie Bewegungen ausführen, die ſonſt nur durch <lb/>den freien Willen geſchehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9192" xml:space="preserve">Man kann daher annehmen, daß <lb/>im Schlaf all’ dieſe Bewegungen ohne Beteiligung des ruhenden <lb/>Gehirns durch das Rückenmark veranlaßt werden, kurz: </s>
  <s xml:id="echoid-s9193" xml:space="preserve">daß <lb/>die Bewegungen eines Schlafenden denen eines geköpften Tieres <lb/>gleich ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s9194" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div312" type="section" level="1" n="227">
<head xml:id="echoid-head258" xml:space="preserve"><emph style="bf">XII. Einſchlafen und Aufwachen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9195" xml:space="preserve">Der Schlaf alſo iſt eine Ruhe des Gehirns, aber keines-<lb/>wegs eine augenblickliche Lähmung desſelben. </s>
  <s xml:id="echoid-s9196" xml:space="preserve">Um ſich hiervon <lb/>zu überzeugen, braucht man nur auf den Unterſchied zu merken, <lb/>der zwiſchen einem ruhenden und einem gelähmten Glied ob-<lb/>waltet, den Unterſchied, der ſich oft an Menſchen zeigt, wenn <lb/>die eine Seite ihres Geſichtes vom Schlage getroffen worden <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9197" xml:space="preserve">Die geſunde Seite iſt ſelbſt, wenn ſie ruht, ſo deutlich <lb/>unterſchieden von der gelähmten Seite, daß hieraus das ganz <lb/>veränderte, ſchiefe Ausſehen herrührt, das ſolche halbſeitig vom <lb/>Schlage Getroffene charakteriſiert und ihren Anblick oft ſo ſchreck-<lb/>haft macht.</s>
  <s xml:id="echoid-s9198" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9199" xml:space="preserve">Der Schlafende, obwohl er durch die Ruhe des Gehirns <lb/>ohne Willen iſt, um ſeine Muskeln zu bewegen, behält doch
<pb o="41" file="689" n="689"/>
ſtets eine gewiſſe Spannung der Muskeln bei, zum Zeichen, <lb/>daß die Kraft des Gehirns zwar ruht, aber keineswegs für <lb/>dieſe Zeit erloſchen iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s9200" xml:space="preserve">wohingegen dieſe Spannung ſofort <lb/>ſchwindet bei einer wirklichen Lähmung des Gehirns, wie das <lb/>eigentümliche Anſehen von Leichen das genugſam darthut.</s>
  <s xml:id="echoid-s9201" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9202" xml:space="preserve">Auch die Art und Weiſe, wie der Schlaf kommt und <lb/>ſchwindet, und wie oft während des Einſchlafens und Er-<lb/>wachens ein halber Zuſtand von äußerer Ruhe und innerer <lb/>Erregung herrſcht, der ſich in Träumen kundgiebt, iſt ein Be-<lb/>weis, daß Ruhe des Gehirns etwas anderes iſt als eine auch <lb/>nur zeitweiſe vollſtändige Unterbrechung ſeiner Thätigkeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s9203" xml:space="preserve">Der <lb/>Schlaf kommt nach und nach, die Lähmung kommt immer <lb/>plötzlich, wenn ſie auch, wie das oft der Fall, Vorboten hat, <lb/>und bedeutenden Lähmungen kleinere, unbedeutendere Lähmungen <lb/>einzelner Glieder vorangehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9204" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9205" xml:space="preserve">Das erſte, was ſich beim Einſchlafen verliert, iſt das rege <lb/>Bewußtſein und Verſtändnis der Umgebung. </s>
  <s xml:id="echoid-s9206" xml:space="preserve">Wer die Ge-<lb/>wohnheit hat vor dem Einſchlafen zu leſen, der wird ſich oft <lb/>überraſcht haben in der Lage, wo er zwar die Schrift geleſen, <lb/>aber das Geleſene nicht verſtanden hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s9207" xml:space="preserve">Bald aber kommt <lb/>hierauf der Moment, wo man ganz andere Worte lieſt als <lb/>wirklich vor einem ſtehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9208" xml:space="preserve">es iſt dies der Moment, wo das <lb/>Auge getrübt, aber vom bisherigen Eindruck der Buchſtaben ſo <lb/>weit erregt iſt, daß die Erregung ſich fortſetzt, und man Buch-<lb/>ſtaben und Worte wahrnimmt, die in Wirklichkeit nicht vor dem <lb/>Auge exiſtieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s9209" xml:space="preserve">In dieſem Zuſtand iſt die Hand noch gut im-<lb/>ſtande, das Buch zu halten; </s>
  <s xml:id="echoid-s9210" xml:space="preserve">aber das rührt nicht von einer <lb/>bewußten und unwillkürlichen Energie der Handmuskeln, ſondern <lb/>von dem Umſtand her, daß man überhaupt die Hand im Ein-<lb/>ſchlafen halb geſchloſſen läßt und ſie ſelbſt im Schlafe nur auf <lb/>Anregung völlig gerade ſtreckt, wie denn im allgemeinen die <lb/>Muskeln nur in der Stellung ruhen, welche in der Mitte liegt <lb/>zwiſchen vollſtändiger Streckung und Biegung, weshalb man
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ſchwerer einſchläft, ſobald man den Körper gerade ausſtreckt, <lb/>und leichter in Schlummer ſinkt, wenn man die Glieder ein <lb/>wenig einzieht, die Knie etwas beugt, den Rücken krümmt, die <lb/>Ellenbogen einknickt und auch den Hals ein wenig neigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9211" xml:space="preserve">Er-<lb/>muntert man ſich nach einem ſolchen Halbſchlummer gewaltſam, <lb/>ſo reckt man ſich kräftig, woher denn das Recken und Strecken <lb/>rührt, mit welchem man, wie man im Volk ſagt, den Schlaf <lb/>aus den Gliedern treibt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9212" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9213" xml:space="preserve">In dem Zuſtand des Halbſchlummers ſchließen ſich die <lb/>Augenlider, und die Augen wenden ſich ein wenig nach auf-<lb/>wärts, welche Lage ſie jedoch während des tiefen Schlafes ver-<lb/>ändern. </s>
  <s xml:id="echoid-s9214" xml:space="preserve">Wer in ſolchem Moment noch imſtande iſt, ſich zu <lb/>beobachten — was, beiläufig geſagt, ſchwer iſt, wenn man ſich <lb/>hierbei nicht ermuntern will — der wird bemerken, daß ſein <lb/>Gehör noch vollkommen wach iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9215" xml:space="preserve">Man hört eine Unterhaltung, <lb/>verſteht ſie jedoch nicht recht; </s>
  <s xml:id="echoid-s9216" xml:space="preserve">man macht zuweilen auch noch <lb/>den Verſuch zu antworten; </s>
  <s xml:id="echoid-s9217" xml:space="preserve">aber man wird unverſtändlich, die <lb/>Stimme wird klanglos. </s>
  <s xml:id="echoid-s9218" xml:space="preserve">Oft wird man mitten im Reden da-<lb/>von überraſcht, daß man etwas ganz anderes ſagt, als man <lb/>ſagen will, und öfter noch ſchläft man mitten im Worte ein, <lb/>wobei man zugleich heftiger ausatmet als gewöhnlich.</s>
  <s xml:id="echoid-s9219" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9220" xml:space="preserve">Da der Körper, namentlich der Bruſtkaſten, beim Ausatmen <lb/>einſinkt und beim Einatmen ſich reckt und ausdehnt, ſo iſt es <lb/>ganz natürlich, daß dies auf das Einſchlafen und Aufwachen <lb/>von Einfluß iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9221" xml:space="preserve">Wenn man den Augenblick überhaupt angeben <lb/>kann, wo der wirkliche Schlaf eintritt, ſo iſt es ein Moment <lb/>des ſtärkern Ausatmens; </s>
  <s xml:id="echoid-s9222" xml:space="preserve">wenn man den des Erwachens über-<lb/>haupt angeben kann, ſo muß man ſagen, daß man mitten im <lb/>Einatmen aufwacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9223" xml:space="preserve">Der Grund hierzu liegt wohl nicht nur <lb/>darin, daß die geſenkte Haltung überhaupt dem Einſchlafen <lb/>günſtig iſt, wie das Strecken das Erwachen befördert, ſondern <lb/>auch wahrſcheinlich in dem Umſtand, daß das Gehirn ſich beim <lb/>Ausatmen ſtärker mit Blut füllt als beim Einatmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9224" xml:space="preserve">Da aber
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beim vermehrten Blutzufluß zum Gehirn ein vermehrter Druck <lb/>ſtattfindet, wie beim Ausatmen dieſer Druck nachläßt, ſo mag <lb/>dieſer Reiz mitwirken, um während des Ausatmens die Thätig-<lb/>keit des Gehirns außer Wirkung zu ſetzen, was bei jedem <lb/>ſtärkeren Druck ſtets der Fall iſt, wie auch das Gegenteil hier-<lb/>von beim Einatmen das Moment des Erwachens unter-<lb/>ſtützen mag.</s>
  <s xml:id="echoid-s9225" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div313" type="section" level="1" n="228">
<head xml:id="echoid-head259" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIII. Die Träume.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9226" xml:space="preserve">Der beſte Beweis, daß im Schlafe die Gehirnthätigkeit <lb/>nicht vollſtändig aufhöre, ſind bekanntlich die Träume, und wir <lb/>können es nicht unterlaſſen, ein paar Worte über das Träumen <lb/>hier auszuſprechen, obgleich dies ein Thema iſt, das eine aus-<lb/>führlichere Behandlung verdient.</s>
  <s xml:id="echoid-s9227" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9228" xml:space="preserve">Merkwürdigerweiſe giebt es Menſchen, die weit mehr auf <lb/>Träume als auf wirkliche Wahrheiten geben. </s>
  <s xml:id="echoid-s9229" xml:space="preserve">Daß dies eine <lb/>Thorheit und ein Aberglaube iſt, brauchen wir nicht erſt zu <lb/>verſichern; </s>
  <s xml:id="echoid-s9230" xml:space="preserve">wir dürfen bei unſern Leſern vorausſetzen, daß ſie <lb/>verſtändig genug ſind, all die Fabeln und Märchen von <lb/>Ahnungen, Träumen, Wahrſagereien und dergleichen Wundern <lb/>in das Bereich der Verirrungen des menſchlichen Geiſtes, in <lb/>das Bereich des Selbſtbetruges und der Betrügerei zu ver-<lb/>weiſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9231" xml:space="preserve">Die Wiſſenſchaft giebt hierfür den ſchlagendſten Beweis:</s>
  <s xml:id="echoid-s9232" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9233" xml:space="preserve">Tauſendfältige Entdeckungen und Erfindungen ſind in der <lb/>Wiſſenſchaft auf dem Wege der Verſuche, der Beobachtung und <lb/>des Nachdenken gemacht worden; </s>
  <s xml:id="echoid-s9234" xml:space="preserve">aber nicht eine einzige all <lb/>dieſer wichtigen Wahrheiten iſt durch Geiſterſeherei, durch <lb/>Träumen, durch Hellſehen, durch Ahnungen u. </s>
  <s xml:id="echoid-s9235" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s9236" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s9237" xml:space="preserve">ans Tages-<lb/>licht gekommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9238" xml:space="preserve">Im Mittelalter hat man ernſtlich geglaubt, <lb/>daß Träume eine Art Offenbarung ſind, die ſich der Seele
<pb o="44" file="692" n="692"/>
kund thun, wenn ſie ſich im Schlafe von der ſinnlichen Welt <lb/>zurückgezogen hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s9239" xml:space="preserve">und doch hat kein frommer oder gottloſer <lb/>Geiſterſeher gewußt oder geſchaut, daß der Weltteil Amerika <lb/>exiſtiert, bevor ihn Kolumbus wirklich entdeckt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s9240" xml:space="preserve">Kein Wahr-<lb/>ſager, der die Zukunft zu kennen vorgiebt, hat etwas von <lb/>Kopernikus’ großer Entdeckung geahnt, bis dieſer große Denker <lb/>der Welt ſeine Ideen über das Sonnenſyſtem mitgeteilt hat. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9241" xml:space="preserve">Vor etwa hundert Jahren kam das ſogenannte Magnetiſieren <lb/>von Menſchen in Aufſchwung, durch welches man hellſehend <lb/>werden und die verborgenſten Geheimniſſe entdecken ſollte, und <lb/>doch hat nicht ein einziger Hellſeher von all’ den Tauſenden, <lb/>die ſich mit dieſem Betrug und Selbſtbetrug abgegeben haben, <lb/>gewußt, daß Waſſer aus Sauerſtoff und Waſſerſtoff beſteht, be-<lb/>vor dies auf dem Wege der Wiſſenſchaft entdeckt wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s9242" xml:space="preserve">Von <lb/>all’ den tauſenden wirklichen Wahrheiten, die die Wiſſenſchaft <lb/>mühſam herausgefunden, hat nie und nirgend ein Seher, ein <lb/>Wahrſager, ein Traumdeuter oder ein Magnetiſeur, ein an-<lb/>geblich von Geiſtern oder von Engeln oder Teufeln beſeſſener <lb/>Menſch auch nur die geringſte Spur gewußt; </s>
  <s xml:id="echoid-s9243" xml:space="preserve">und auch jetzt, <lb/>wo es noch immer Spiritiſten und Pſychographen giebt, die <lb/>Wunder und Wahrſagereien in großem Maßſtabe betreiben, <lb/>iſt noch keiner derſelben imſtande geweſen, auch nur die geringſte <lb/>Frage, die die Naturwiſſenſchaft nicht löſen kann, auf dem <lb/>Wege der ſogenannten Prophezeihung zu löſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9244" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9245" xml:space="preserve">Wie all’ dieſe Thorheiten, ſo verdient auch die Thorheit, <lb/>den Träumen Wichtigkeit beizulegen, keiner ernſten Widerlegung; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9246" xml:space="preserve">darum ſollen hier nicht die Träume, ſondern das Träumen <lb/>der Gegenſtand unſerer kurzen Betrachtung ſein, dieſer Zuſtand <lb/>des Gehirns, das auch thätig iſt, ſelbſt wenn die äußeren Sinne <lb/>im Schlaf geſchloſſen liegen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9247" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9248" xml:space="preserve">Nur in dieſem Sinne ſagen wir, daß die Erſcheinung des <lb/>Träumens wichtig iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9249" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9250" xml:space="preserve">Was man von der Entſtehung der Traumbilder weiß, iſt
<pb o="45" file="693" n="693"/>
etwa folgendes: </s>
  <s xml:id="echoid-s9251" xml:space="preserve">Wenn man im vollen Schlafe iſt, träumt man <lb/>wahrſcheinlich — genaues kann man natürlich nicht ausſagen — <lb/>überhaupt nicht; </s>
  <s xml:id="echoid-s9252" xml:space="preserve">nur wenn durch innerliche oder äußerliche <lb/>Urſachen der feſte Schlaf geſtört oder gehindert wird, dann <lb/>treten meiſt Traumerſcheinungen ein. </s>
  <s xml:id="echoid-s9253" xml:space="preserve">Sie rühren bei inneren <lb/>Urſachen daher, daß, wie bereits erwähnt, die ganze Maſchinerie <lb/>des pflanzlichen Lebens, der Blutumlauf, das Atmen, die Ver-<lb/>dauung u. </s>
  <s xml:id="echoid-s9254" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s9255" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s9256" xml:space="preserve">auch während des Schlafes thätig iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9257" xml:space="preserve">Geht <lb/>dieſe Thätigkeit ungeſtört fort, ſo regt ſie ebenſowenig im <lb/>Wachen wie im Schlaf das Gehirn zur Thätigkeit an, findet <lb/>ſich jedoch durch irgend welchen Umſtand eine Störung ein, <lb/>wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s9258" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s9259" xml:space="preserve">wenn der Blutumlauf durch geiſtige Getränke erhöht <lb/>oder das Atmen durch eine unbequeme Lage geſtört oder die <lb/>Verdauung durch eine ſchwere Speiſe behindert iſt, dann tritt <lb/>während des Wachens das Bewußtſein ins Gehirn, daß man <lb/>ſich nicht wohl befinde, und das Nachdenken hierüber lehrt den <lb/>Leidenden die richtige Urſache dieſes Unbehagens herauszufinden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9260" xml:space="preserve">Während des Schlafes jedoch bewirkt die Erregung des Gehirns <lb/>eine innere Erregung der Sinnesnerven, und man hat Sinnes-<lb/>erſcheinungen, die ſich ſo ausnehmen, wie man ſie gewöhnt iſt, <lb/>im Wachen wahrzunehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9261" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9262" xml:space="preserve">Wird z. </s>
  <s xml:id="echoid-s9263" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s9264" xml:space="preserve">der Augennerv vom Gehirn aus erregt, ſo <lb/>ſieht man Dinge mit geſchloſſenen Augen, weil jeder Reiz dieſes <lb/>Nerven ſtets nur Lichterſcheinungen hervorrufen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s9265" xml:space="preserve">Wird <lb/>der Gehörnerv durch das Gehirn gereizt, ſo verurſacht dies <lb/>ſtets den Eindruck des Hörens, weil dieſer Eindruck eben die <lb/>ausſchließliche Wirkſamkeit dieſes Nerven iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9266" xml:space="preserve">Da aber nicht <lb/>die Außenwelt durch wirkliche Vorgänge dieſe Reize bewirkt, <lb/>verurſacht dies, daß man Dinge zu ſehen und zu hören glaubt, <lb/>die nur als Erinnerungen, Phantaſien oder Hoffnungen im <lb/>Gehirn exiſtiert haben, ohne daß das Gehirn jetzt Urteilskraft <lb/>genug beſitzt, dieſe Erſcheinungen vernunftgemäß zu ordnen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9267" xml:space="preserve">Dies iſt der Zuſtand des Träumens, in welchem man das
<pb o="46" file="694" n="694"/>
tollſte und verworrenſte Zeug durcheinander wahrnimmt, ohne <lb/>der Unwahrheit desſelben ſich bewußt zu werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s9268" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div314" type="section" level="1" n="229">
<head xml:id="echoid-head260" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIV. Die Träume durch äußerliche Anregungen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9269" xml:space="preserve">Ebenſo wie Träume aus innerer Anregung entſtehen können, <lb/>ebenſo können äußerliche Erſcheinungen die Veranlaſſung hierzu <lb/>geben.</s>
  <s xml:id="echoid-s9270" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9271" xml:space="preserve">Wer gewohnt iſt, bei der Nachtlampe zu ſchlafen, wird <lb/>im Schlaf geſtört, wenn ſie ausgeht; </s>
  <s xml:id="echoid-s9272" xml:space="preserve">aber ſchon das Flackern <lb/>und Kniſtern derſelben macht einen Eindruck auf ihn, wenn er <lb/>auch die Augen geſchloſſen hat und ſonſt im Schlaf ein ſo <lb/>leiſes Geräuſch nicht hört. </s>
  <s xml:id="echoid-s9273" xml:space="preserve">Infolge dieſes Eindrucks können <lb/>die wunderlichſten Träume entſtehen, denn Augen- und Ohr-<lb/>nerven, wenn ſie durch Flackern und Kniſtern der Lampe ge-<lb/>reizt ſind, erregen die Thätigkeit des Gehirns und erwecken <lb/>in demſelben Vorſtellungen und Bilder, die mehr oder weniger <lb/>verworren mit dem Reiz der gedachten Sinnesnerven in Ver-<lb/>bindung ſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9274" xml:space="preserve">Je nachdem der Träumende ſtarke Eindrücke <lb/>erlebter Scenen in ſich einmal aufgenommen hat, je nachdem <lb/>werden ſeine Träume Ähnlichkeit mit dem Erlebten haben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9275" xml:space="preserve">Wer einmal durch eine Feuersbrunſt erſchreckt worden iſt, wird <lb/>die ganze Scene wieder vor ſich zu ſehen glauben; </s>
  <s xml:id="echoid-s9276" xml:space="preserve">das Ge-<lb/>räuſch, das ſeine Hörnerven erregt, wird ihm wie das einmal <lb/>gehörte Poltern und Lärmen bei Feuersbrünſten vorkommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9277" xml:space="preserve"><lb/>Das einmal zur Thätigkeit angeregte Gehirn beharrt aber <lb/>nicht konſequent bei dem Bilde, ſondern ſchweift von Bild zu <lb/>Bild im Traume und verwandelt die Scene ganz plötzlich und <lb/>in höchſt unnatürlicher Weiſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s9278" xml:space="preserve">So kann ſich z. </s>
  <s xml:id="echoid-s9279" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s9280" xml:space="preserve">ein Waſſer-<lb/>ſtrahl, den der Träumende aus einer Feuerſpritze ſtrömen ſieht,
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in einen prachtvollen Springbrunnen verwandeln, vom Spring-<lb/>brunnen werden die Phantaſien auf die Umgebung geleitet, in <lb/>welcher der Träumende einmal einen Springbrunnen geſehen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9281" xml:space="preserve">Iſt der Träumende ein Berliner, ſo ſieht er vielleicht das Mu-<lb/>ſeum oder er findet ſich im königlichen Schloß oder in der <lb/>Domkirche. </s>
  <s xml:id="echoid-s9282" xml:space="preserve">In jedem dieſer neuen Bilder ſpielt immer noch <lb/>der Eindruck der flackernden und kniſternden Lampe eine Rolle. </s>
  <s xml:id="echoid-s9283" xml:space="preserve"><lb/>Im Muſeum ſieht er leuchtende Figuren tanzen, hört er das <lb/>Echo der Rotunde antworten, im königlichen Schloß kann er <lb/>die ſonderbarſten Scenen zu ſehen glauben; </s>
  <s xml:id="echoid-s9284" xml:space="preserve">in der Domkirche <lb/>hört er Orgel, Prediger u. </s>
  <s xml:id="echoid-s9285" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s9286" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s9287" xml:space="preserve">— Von jedem dieſer Bilder <lb/>kann der Träumende aufgeregt werden und ſchreckhafte oder <lb/>erfreuliche Eindrücke zu erdulden haben, denn das erregte Ge-<lb/>hirn wirkt auf das verlängerte Mark, und durch dieſes ſowohl <lb/>auf Atem wie Blutumlauf. </s>
  <s xml:id="echoid-s9288" xml:space="preserve">Der Traum kann immer lebhafter <lb/>werden, die Erregung ſteigert ſich derart, daß der Träumende <lb/>endlich erwacht und ſich in Angſtſchweiß gebadet oder zur <lb/>herzlichſten Heiterkeit geſtimmt im dunkeln Schlafzimmer wieder-<lb/>findet.</s>
  <s xml:id="echoid-s9289" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9290" xml:space="preserve">Die Endſcenen des Traumes können ſo lebhaft ſein, daß <lb/>man ſie ſogar halbwachend mit vollem Bewußtſein fortſetzen <lb/>und den Schluß zudichten kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s9291" xml:space="preserve">Nicht ſelten vergißt man <lb/>wegen des lebhaften Endes den Anfang des Traumes, und <lb/>findet den Zuſammenhang desſelben mit der äußerlichen Urſache, <lb/>welche den Traum veranlaßt hat, gar nicht mehr heraus.</s>
  <s xml:id="echoid-s9292" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9293" xml:space="preserve">Sehr lehrreich iſt eine Beobachtung der Träume, wenn <lb/>man imſtande iſt, genau die Urſache anzugeben, durch welche <lb/>ſie hervorgerufen worden ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s9294" xml:space="preserve">Es kommt z. </s>
  <s xml:id="echoid-s9295" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s9296" xml:space="preserve">vor, daß man <lb/>ſich im Schlaf an die Bettſtelle ſtößt und Schmerz empfindet, <lb/>und hierzu einen ganz langen Traum in äußerſt kurzer Zeit vor <lb/>ſich ſieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9297" xml:space="preserve">Man glaubt z. </s>
  <s xml:id="echoid-s9298" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s9299" xml:space="preserve">bei einem Freund zu ſein, von <lb/>ihm Abſchied zu nehmen, man glaubt lange Geſpräche mit ihm <lb/>geführt zu haben, ſieht ihn noch, wie er mit dem Licht an der
<pb o="48" file="696" n="696"/>
Treppe ſteht, um zu leuchten, man ſpringt ein paar Stufen <lb/>hinunter, da ſtürzt ein Pudel einem zwiſchen die Beine, man <lb/>ſtolpert, fällt und erwacht im Glauben, daß man ſich ein <lb/>Bein gebrochen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9300" xml:space="preserve">Sieht nun der Erwachte auch, daß es <lb/>nur ein Traum geweſen, ſo nimmt er doch oft mit Erſtaunen <lb/>wahr, daß ihm der Fuß wirklich weh thut, ja, er beobachtet <lb/>mit Schrecken, daß er eine Verletzung am Schienbein habe. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9301" xml:space="preserve">— Der Einſichtige erkennt, daß Verletzung und Schmerz von <lb/>dem Stoß herrühren, den er ſich ſelber an der Bettſtelle bei-<lb/>gebracht hat, und lernt hieraus, daß ſein ganzer langer Traum <lb/>nur das Werk einen Augenblicks iſt, der zwiſchen dem Stoß <lb/>und ſeinem Erwachen liegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9302" xml:space="preserve">— Erſcheinungen dieſer Art ſind <lb/>oft die Quelle des lächerlichſten Aberglaubens. </s>
  <s xml:id="echoid-s9303" xml:space="preserve">Es giebt Leute, <lb/>die ſich im Schlaf in irgend einer ganz natürlichen Weiſe eine <lb/>Stelle des Körpers ſo gedrückt oder geſtoßen haben, daß ſie <lb/>blaue Flecke davon tragen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9304" xml:space="preserve">wenn ſie nun hierauf den Traum <lb/>hatten, daß irgend ein Verſtorbener zu ihnen gekommen, um <lb/>ſie zu zwicken, ſo ſind ſie imſtande, darauf zu ſchwören, daß <lb/>die Flecke von einer Geiſterhand hervorgebracht ſind, die ihnen <lb/>ein Zeichen als Denkzettel ihres Erſcheinens hinterlaſſen hätten.</s>
  <s xml:id="echoid-s9305" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9306" xml:space="preserve">Wie unglaublich ſchnell und kurz Träume ſind, die oft <lb/>ganze lange Scenen mit reicher Abwechſelung enthalten, davon <lb/>haben ſich Viele überzeugt, die von einem nahen Piſtolenſchuß <lb/>aufgeweckt worden ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s9307" xml:space="preserve">Sie haben im Augenblick des Auf-<lb/>wachens eine ganze lange Scene geträumt, Geſchichten, die zu-<lb/>weilen äußerſt ausführlich erſcheinen, die eine ganze Schlacht <lb/>darſtellen, und die mit einem einzigen Schuß enden (vgl. </s>
  <s xml:id="echoid-s9308" xml:space="preserve">den <lb/>Traum Napoleon Bonapartes, von dem im Artikel vom Hypno-<lb/>tismus die Rede war). </s>
  <s xml:id="echoid-s9309" xml:space="preserve">Man meint oft die ganze Nacht <lb/>geträumt zu haben, und hat in Wahrheit nur den Eindruck einer <lb/>Gehirnerregung von äußerſt kurzer Dauer, die Erregung eines <lb/>Augenblicks wahrgenommen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9310" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9311" xml:space="preserve">Hat man öfter einen und denſelben Traum geträumt und
<pb o="49" file="697" n="697"/>
erwachend erkannt, daß es nur ein Traum geweſen, ſo kommt <lb/>es vor, daß man bei einer Wiederholung mitten im Traum <lb/>einſieht, daß es nur ein Traum ſei. </s>
  <s xml:id="echoid-s9312" xml:space="preserve">Zuweilen kann man ſich <lb/>durch dieſen Gedanken ganz ermuntern, zuweilen aber träumt <lb/>man fort, während man erwacht zu ſein glaubt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9313" xml:space="preserve">Erwacht man <lb/>dann wirklich, ſo ſtaunt man die doppelte Täuſchung an. </s>
  <s xml:id="echoid-s9314" xml:space="preserve">Es <lb/>ſind dies Erſcheinungen, die im Halbſchlummer vor ſich gehen, <lb/>einem Zuſtand, wo Täuſchung und Wirklichkeit noch im Kampfe <lb/>mit einander ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s9315" xml:space="preserve">Man hat beobachtet, daß auch dieſer Zu-<lb/>ſtand nur von unglaublich kurzer Dauer iſt, obgleich der <lb/>Träumende vermeint, lange Zeit ſo verlebt zu haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s9316" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div315" type="section" level="1" n="230">
<head xml:id="echoid-head261" xml:space="preserve"><emph style="bf">XV. Denken im Traum.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9317" xml:space="preserve">Von den merkwürdigſten Erſcheinungen während des <lb/>Träumens müſſen wir noch beſonders hervorheben das Denken <lb/>im Traume.</s>
  <s xml:id="echoid-s9318" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9319" xml:space="preserve">Es iſt nicht ſelten, daß man im Traume ganze Zwie-<lb/>geſpräche mit Perſonen hält, Reden führt und Gegenreden an-<lb/>hört, ja, daß man Neuigkeiten, ſowohl neue Gedanken wie un-<lb/>erwartete Mitteilungen zu vernehmen glaubt, die Einem während <lb/>des Traumes höchlich überraſchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9320" xml:space="preserve">Erwägt man nun, daß der <lb/>ganze Traum nur im Gehirn des Träumenden vorgeht, daß <lb/>es alſo ſein eigener Verſtand iſt, der ſowohl die Rede wie die <lb/>Gegenrede hervorbringt, daß das Neue und Überraſchende, das <lb/>er von einer erträumten, fremden Perſon zu vernehmen glaubt, <lb/>nichts iſt als ein Produkt des eignen Gehirns des Träumenden, <lb/>ſo erſcheint dies ſehr wunderbar. </s>
  <s xml:id="echoid-s9321" xml:space="preserve">Man ſollte meinen, daß <lb/>ſolche Gedanken, die ein Menſch ſich ſelber erſinnt, oder auf <lb/>die er ſelber verfällt, ihn unmöglich überraſchen und ihm nicht</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9322" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s9323" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s9324" xml:space="preserve">Volksbücher XI.</s>
  <s xml:id="echoid-s9325" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="50" file="698" n="698"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9326" xml:space="preserve">neu vorkommen könnten. </s>
  <s xml:id="echoid-s9327" xml:space="preserve">Indeſſen iſt dem doch ſo. </s>
  <s xml:id="echoid-s9328" xml:space="preserve">Auch im <lb/>Zuſtand des Wachens überlegen wir uns Dinge, ſtellen uns <lb/>Perſonen vor, mit denen wir ſprechen, halten für ſie und für <lb/>uns Reden, und es kommt nicht ſelten vor, daß wir unſern <lb/>Gengnern Worte in den Mund legen, auf welche wir nichts zu <lb/>erwidern wiſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9329" xml:space="preserve">— Während des Träumens geſchieht dasſelbe, <lb/>nur mit der Täuſchung, daß wir es nicht gewahren, wie der <lb/>Gegner ein Geſchöpf unſerer eigenen Phantaſie iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9330" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9331" xml:space="preserve">Intereſſant iſt es zu bemerken, daß man nach dem Er-<lb/>wachen, wenn man ſich des Traumes noch gut erinnern kann, <lb/>ſehr oft wahrnimmt, wie das ganze Geſpräch, das Reden und <lb/>Gegenreden, das uns während des Traumes ſehr geſcheit vor-<lb/>kommt, purer Unſinn iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9332" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9333" xml:space="preserve">Menſchen, die am Tage viel über ſchwierige geiſtige Auf-<lb/>gaben nachdenken, haben oft nachts Träume, in welchen es <lb/>ihnen vorkommt, als ob ſie die Auflöſung ihrer Aufgabe voll-<lb/>ſtändig entdeckt haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s9334" xml:space="preserve">Sie freuen ſich unendlich darüber, <lb/>wundern ſich, daß ihnen die Auflöſung bisher entgangen, <lb/>und entdecken erſt nach dem Erwachen, daß es ein bloßer <lb/>Schein und ihre geträumte Weisheit eine ganz platte Thor-<lb/>heit war.</s>
  <s xml:id="echoid-s9335" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9336" xml:space="preserve">Der berühmte Naturforſcher <emph style="sp">Johannes Müller</emph> erzählt <lb/>von Träumen, in welchen es ihm vorkam, als ob er ſich in einer <lb/>Geſellſchaft befinde, woſelbſt jemand ein Rätſel aufgab, deſſen <lb/>Löſung niemand finden konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s9337" xml:space="preserve">Der Träumende bemühte ſich <lb/>vergeblich es aufzulöſen, und fühlte ſich höchſt überraſcht, als <lb/>der Rätſelaufgeber die ſehr geiſtreich ſcheinende Löſung ſelber <lb/>gab. </s>
  <s xml:id="echoid-s9338" xml:space="preserve">Beim Erwachen jedoch ergab ſich’s, daß das Rätſel wie <lb/>die Antwort unſinnig, und das Ganze eine Phantaſie des Träu-<lb/>menden war, die mit ſich ſelber in ſehr thörichter Weiſe Frage <lb/>und Antwort ſpielte.</s>
  <s xml:id="echoid-s9339" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9340" xml:space="preserve">Aus ſolchen Thatſachen ergiebt ſich, daß, wenn man die <lb/>Einzelheiten eines gehabten Traumes vergißt, man ſich leicht
<pb o="51" file="699" n="699"/>
einbilden kann, wunderbare Weisheiten im Traume geſchaut <lb/>zu haben, daß aber in Wahrheit das Gehirn zwar bis zur <lb/>Hervorbringung von Gedanken angeregt werden kann, jedoch <lb/>nicht ſoweit, daß die Gedanken richtig geordnet und zu wirk-<lb/>lichen, verſtändigen Ideen erhoben werden können.</s>
  <s xml:id="echoid-s9341" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9342" xml:space="preserve">Lebhafte Träume können aber auch leibliche Bewegungen <lb/>anregen, in welchen man ſogar imſtande iſt, mechaniſche Hand-<lb/>lungen zu verrichten. </s>
  <s xml:id="echoid-s9343" xml:space="preserve">In gewöhnlichen Träumen hat man <lb/>meiſt ein gewiſſes Gefühl, daß man nicht Herr ſeiner Glieder <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9344" xml:space="preserve">Man will entfliehen und fühlt ſich feſtgehalten, gefeſſelt, <lb/>man will ſchreien und vermag nicht die Stimmwerkzeuge zu <lb/>bewegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9345" xml:space="preserve">In der Angſt dieſes Gefühls erwacht man meiſtens <lb/>und merkt, daß es nur der Zuſtand des Schlafes war, der die <lb/>Feſſel bildete. </s>
  <s xml:id="echoid-s9346" xml:space="preserve">Zuweilen jedoch iſt die Erregung des Gehirns <lb/>ſo ſtark, daß durch dasſelbe die Anregung der Bewegungs-<lb/>nerven erfolgt, und man iſt imſtande, ſich im Traum auf-<lb/>zurichten, zu ſchreien, zu plaudern, die Glieder zu bewegen, <lb/>ja ſogar aus dem Bette zu ſpringen und einige Schritte zu <lb/>gehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9347" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9348" xml:space="preserve">In geſundem Zuſtand erwacht man meiſt hiernach voll-<lb/>ſtändig, und dieſes geſchieht oft mit ſolcher Energie, daß man <lb/>den Traum vergißt, und nicht mehr die Veranlaſſung zu dieſem <lb/>Benehmen weiß. </s>
  <s xml:id="echoid-s9349" xml:space="preserve">Bei ſehr krankhaft verſtimmtem Zuſtand <lb/>des Gehirns jedoch erfolgt das Erwachen nicht ſo leicht, und <lb/>es kommt vor, daß Menſchen wirklich herumwandeln und Dinge <lb/>verrichten, die ſie gewohnt ſind, ohne Nachdenken zu thun. </s>
  <s xml:id="echoid-s9350" xml:space="preserve">Es <lb/>iſt dies eben das ſogenannte Nachtwandeln, von dem im Ab-<lb/>ſchnitt über den Hypnotismus eingehender geſprochen wurde <lb/>(Teil IX).</s>
  <s xml:id="echoid-s9351" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="52" file="700" n="700"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div316" type="section" level="1" n="231">
<head xml:id="echoid-head262" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVI. Inſtinkt und Geiſtesleben.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9352" xml:space="preserve">Der Zuſtand des Schlafes und des Träumens iſt für die <lb/>Tyätigkeit des Lebens der Tiere eine Quelle ſehr ernſter Be-<lb/>lehrung.</s>
  <s xml:id="echoid-s9353" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9354" xml:space="preserve">Wir erinnern nochmals daran, daß Tiere, denen man das <lb/>große Gehirn ausgeſchnitten, in eine Art Schlaf verſinken, daß <lb/>ſie aber gleichwohl leben und auch auf äußere und innere <lb/>Anregungen ſich bewegen und zweckentſprechende Verrichtungen <lb/>vornehmen, jedoch ohne Bewußtſein zu haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s9355" xml:space="preserve">Da Tauben <lb/>ohne Gehirn ſtehen, gehen, mit dem Schnabel auf die Erde <lb/>picken, ihre Federn putzen können, da ſogar enthauptete Fröſche <lb/>ſich wehren, wenn ſie angegriffen werden, ſich mit dem Beine <lb/>kratzen, wenn man irgend eine Stelle ihres Körpers mit einem <lb/>Tropfen Schwefelſäure oder Eſſigſäure beizt, ſo geht daraus <lb/>hervor, daß es eine Reihe von Handlungen im Tierleben giebt, <lb/>welche ſie zweckmäßig, aber ohne Bewußtſein verrichten. </s>
  <s xml:id="echoid-s9356" xml:space="preserve">Ver-<lb/>gleicht man hiermit den Zuſtand, den ein Tier im Schlaf an-<lb/>nimmt, erwägt man hierzu den Umſtand, daß die Vögel ſtehend <lb/>ſchlafen, ja einige ſogar nur auf Einem Fuß ſtehen, und hierbei <lb/>die richtige Balance halten köunen, ſo hat man Urſache zu <lb/>ſchließen, daß der Hauptſitz gewiſſer Thätigkeiten des Tieres <lb/>nicht ausſchließlich im Gehirn, wenigſtens nicht in dem Teile <lb/>des Gehirns iſt, woſelbſt das Bewußtſein ſeinen Sitz hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s9357" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9358" xml:space="preserve">Dies iſt vielleicht imſtande, einen Blick in das Weſen des <lb/>Inſtinkts der Tiere zu öffnen, wenigſtens ſoweit zu eröffnen, um <lb/>beweiſen zu können, daß der Inſtinkt nicht im großen Gehirn <lb/>ſeinen Sitz hat, daß er alſo ſeine Werke ohne die Thätigkeit <lb/>des Bewußtſeins verrichtet.</s>
  <s xml:id="echoid-s9359" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9360" xml:space="preserve">Ganz ſo wie der Nachtwandler, der Schlaftrunkene gehen <lb/>kann ohne Bewußtſein von dem, was er thut, ganz ſo ſcheint <lb/>das Tier im Inſtinkt Dinge zu thun, wobei das Bewußtſein
<pb o="53" file="701" n="701"/>
gar keine Rolle ſpielt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9361" xml:space="preserve">So künſtlich auch das Geſpinnſt einer <lb/>Spinne, und ſo zweckmäßig dieſe ihre Arbeit iſt, um Inſekten zu <lb/>fangen, ſo wenig weiß die Spinne etwas von der Klugheit, die in <lb/>ihrem Werke liegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9362" xml:space="preserve">Junge Spinnen, die noch nie ein Inſekt <lb/>geſehen, alſo keine Ahnung davon haben können, daß dergleichen <lb/>Weſen exiſtieren, ſpinnen ihre Fäden ganz ſo gut wie erfahrene, <lb/>alte Spinnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9363" xml:space="preserve">Die zweckmäßigen Anſtrengungen alſo, die ſie <lb/>hierbei machen, müſſen von irgend etwas geleitet werden, das <lb/>in unbekannter Weiſe auf die Spinne einwirkt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9364" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9365" xml:space="preserve">Wir wiſſen nicht, ob es gelungen iſt, die inſtinktmäßigen <lb/>Verrichtungen ſolcher Tiere genau zu beobachten und zu er-<lb/>forſchen, denen man das Gehirn ausgeſchnitten hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s9366" xml:space="preserve">Es mag <lb/>dies nicht wenige Schwierigkeiten darbieten; </s>
  <s xml:id="echoid-s9367" xml:space="preserve">aber lehrreich <lb/>würden derarte Verſuche jedenfalls ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s9368" xml:space="preserve">Unſeres Erachtens <lb/>wäre es ſchon wichtig zu wiſſen, wie ſich eine Taube, die in <lb/>geeigneter Weiſe während der Brütungszeit operiert wird, <lb/>gegen ihr Neſt und die Bruteier benimmt, inwieweit wenigſtens <lb/>ihre Sorgfalt für die junge Brut durch die verſchiedenen Grade <lb/>der Operation leidet.</s>
  <s xml:id="echoid-s9369" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9370" xml:space="preserve">Wir haben bisher in unſern Betrachtungen auf das <lb/>Leben der Pflanze und des Tieres Rückſicht genommen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9371" xml:space="preserve">wir <lb/>wollen uun mit dem nächſten Artikel näher auf dasjenige ein-<lb/>gehen, was das Leben des Menſchen charakteriſiert, auf das <lb/>Leben des Geiſtes, das die höchſte Stufe der uns bekannten <lb/>Naturerſcheinungen darbietet.</s>
  <s xml:id="echoid-s9372" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div317" type="section" level="1" n="232">
<head xml:id="echoid-head263" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVII. Das Menſchenleben — ein Geiſtesleben.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9373" xml:space="preserve">Der Menſch gleicht der Pflanze. </s>
  <s xml:id="echoid-s9374" xml:space="preserve">Sein Entſtehen, ſein <lb/>Wachstum, ſeine Ernährung, ſein Stoffwechſel, ſeine Ver-
<pb o="54" file="702" n="702"/>
mehrung und ſein Vergehen iſt im ganzen und großen all <lb/>dieſen Lebenserſcheinungen in den Pflanzen ähnlich. </s>
  <s xml:id="echoid-s9375" xml:space="preserve">Von der <lb/>Geburt bis zum Tode gehen mit unſerm Körper Veränderungen <lb/>vor, die weder von unſerm Wiſſen noch von unſerm Wollen <lb/>abhängig ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s9376" xml:space="preserve">Hierbei iſt eine Maſchinerie im Innern unſeres <lb/>Körpers thätig, die man die vegetative oder pflanzliche nennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9377" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9378" xml:space="preserve">Der Menſch gleicht auch dem Tiere. </s>
  <s xml:id="echoid-s9379" xml:space="preserve">Wir können Teile <lb/>unſeres Leibes willkürlich bewegen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9380" xml:space="preserve">wir haben Sinne, um <lb/>Eindrücke der Außenwelt in uns aufzunehmen und ein Gehirn, <lb/>um dieſe Eindrücke gewahr zu werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s9381" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9382" xml:space="preserve">Gleichwohl überragt der Menſch dadurch Pflanze und <lb/>Tier, daß er ein in weit höherem Maße geiſtiges Weſen iſt <lb/>als irgend ein Tier, dadurch, daß er die Fähigkeit beſitzt, den <lb/>Gründen der Erſcheinungen nachzuſpüren und von Dingen, die <lb/>er durch die Sinne wahrnimmt, auf die Urſachen zu ſchließen, <lb/>aus welchen ſie entſpringen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9383" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9384" xml:space="preserve">Was der Geiſt iſt, läßt ſich auf naturwiſſenſchaftlichem <lb/>Wege nicht deutlich machen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9385" xml:space="preserve">man weiß nur ſoviel, daß der <lb/>Sitz des Geiſtes im Gehirn iſt, und zwar nur in den beiden <lb/>Halbkugeln des großen Gehirns. </s>
  <s xml:id="echoid-s9386" xml:space="preserve">Was in dieſem Gehirn vor-<lb/>geht während der Thätigkeit des Geiſtes, während des Denkens, <lb/>iſt vollſtändig unbekannt; </s>
  <s xml:id="echoid-s9387" xml:space="preserve">ja die Frage, ob der Geiſt ſich nur <lb/>des Gehirns wie eines Werkzeugs bedient, oder ob der Geiſt <lb/>nichts iſt als eine unerklärte Thätigkeit der eigentümlichen <lb/>Gehirnmaſſe, iſt auf naturwiſſenſchaftlichem Wege nicht zu <lb/>beantworten.</s>
  <s xml:id="echoid-s9388" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9389" xml:space="preserve">Wie dem aber auch ſei, ſo ſteht ſoviel feſt, daß der Menſch <lb/>nur durch ſeine geiſtige Fähigkeit ein Menſch iſt, und daß er <lb/>ohne dieſelbe in der Ordnung der Geſchöpfe noch tiefer als <lb/>das Tier ſtände.</s>
  <s xml:id="echoid-s9390" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9391" xml:space="preserve">Im Folgenden noch einige Unterſchiede zwiſchen Tier <lb/>und Menſch.</s>
  <s xml:id="echoid-s9392" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9393" xml:space="preserve">Das Tier hat in ausgeſprochnerer Weiſe angeborene Fähig-
<pb o="55" file="703" n="703"/>
keiten als der Menſch, dem ſie freilich auch nicht fehlen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9394" xml:space="preserve">Dieſe <lb/>Fähigkeit, die den Namen Inſtinkt führt, lehrt die Spinne ein <lb/>Gewebe machen, ſelbſt wenn ſie nie eins geſehen und keine <lb/>Ahnung hat, daß es Inſekten in der Welt giebt, die ſich darin <lb/>als Speiſe für ſie fangen ſollen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9395" xml:space="preserve">— Und ſo iſt es mit allen <lb/>Tieren, mit Ausnahme ſolcher Tiere, die in der menſchlichen <lb/>Umgebung leben und von den Menſchen belehrt werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s9396" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9397" xml:space="preserve">Der Menſch hingegen wird ſo unfähig geboren und hat <lb/>ſo wenig von beſtimmten Gaben zur Welt mitgebracht, daß er <lb/>das hilfloſeſte aller Geſchöpfe auf Erden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9398" xml:space="preserve">Von wirklichen <lb/>Inſtinkten beſitzt der Neugeborene nur die Neigung und die <lb/>Fähigkeit, alles anzuſaugen, was er mit dem Munde erreichen <lb/>kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s9399" xml:space="preserve">Dieſe Neigung verliert er nicht nur ſpäter, ſondern er <lb/>verlernt auch die Fähigkeit dazu, ſo daß man das Saugen <lb/>nach Art der Kinder erſt erlernen und einüben muß, wenn <lb/>man es in reiferen Jahren ausüben will.</s>
  <s xml:id="echoid-s9400" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9401" xml:space="preserve">Das neugeborene Kalb geht ohne Hilfe ſofort auf die <lb/>Mutter zu, um aus ihren Zitzen ſeinen Hunger zu ſtillen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9402" xml:space="preserve">das neugeborene Menſchenkind hat auch dieſe Fähigkeit nicht, <lb/>ſondern es iſt auf die Hilfe der Mutter im ſtrengſten Sinne <lb/>des Wortes angewieſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9403" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9404" xml:space="preserve">Ja, ſchon im erſten Akt nach der Geburt zeigt ſich der <lb/>Unterſchied zwiſchen Tier und Menſch. </s>
  <s xml:id="echoid-s9405" xml:space="preserve">Die Nabelſchnur, mit <lb/>welcher ein lebendig zur Welt kommendes Tier an dem Mutter-<lb/>kuchen befeſtigt iſt, iſt entweder an einer Stelle in der Nähe <lb/>des Nabels des Jungen ſchwach, ſo daß ſie freiwillig bei der <lb/>Geburt zerreißt, oder ſie wird von dem Muttertier an der <lb/>richtigen Stelle durchgebiſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9406" xml:space="preserve">Beim Menſchen zerreißt ſie <lb/>nicht, und auch die Mutter wird von der Natur nicht belehrt, <lb/>wie ſie das Kind davon ablöſen ſoll. </s>
  <s xml:id="echoid-s9407" xml:space="preserve">Kind und Mutter ſind <lb/>in dieſer Beziehung auf die Hilfe derer angewieſen, die ein <lb/>geiſtiges Verſtändnis davon haben, was hier zu thun ſei.</s>
  <s xml:id="echoid-s9408" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9409" xml:space="preserve">Die Kultur des Menſchen hat die Verſchärfung, teils auch
<pb o="56" file="704" n="704"/>
die Hervorbildung der erwähnten Unterſchiede allmählich be-<lb/>wirkt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9410" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9411" xml:space="preserve">Der Menſch iſt ein Weſen geiſtiger Art. </s>
  <s xml:id="echoid-s9412" xml:space="preserve">Seine Fähig-<lb/>keiten werden nicht fertig angeboren, und ſie ſterben nicht mit <lb/>dem einzelnen Menſchen aus, ſondern vererben ſich von Geſchlecht <lb/>zu Geſchlecht, ſo daß das Menſchengeſchlecht eine Geſchichte der <lb/>Entwickelung hat, eine Geſchichte des Fortſchrittes ſeines Geiſtes, <lb/>ein Wachstum ſeiner Erkenntnis, eine Übertragung des Wiſſens <lb/>der früheren Menſchen auf diejenigen, die ſpät nach ihnen ge-<lb/>boren werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s9413" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9414" xml:space="preserve">Und dieſe Fähigkeit ſeiner geiſtigen Entwickelung iſt es <lb/>eben, die dem Menſchen erſt die Exiſtenz auf Erden möglich <lb/>gemacht hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s9415" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9416" xml:space="preserve">Leiblich iſt er hilflos und außerordentlich wehrlos 'ge-<lb/>ſchaffen gegenüber dem Tiergeſchlecht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9417" xml:space="preserve">Das Tier hat eine <lb/>Naturkleidung, beſitzt Naturwaffen und kennt ihren Gebrauch, <lb/>ſelbſt wenn ſie noch nicht exiſtieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s9418" xml:space="preserve">Das Böckchen, das noch <lb/>nie Hörner gehabt und noch nie geſehen hat, wie ſeinesgleichen <lb/>kämpft, ſtößt mit dem Schädel nach ſeinen Feinden ganz ſo <lb/>gut, als ob es ſeine Waffe ſchon hätte. </s>
  <s xml:id="echoid-s9419" xml:space="preserve">Der Menſch iſt un-<lb/>bewaffneter als alle Tiere, und weiß ſelbſt ſeine Hände ohne <lb/>Übung nicht zu ſeiner Hilfe zu gebrauchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9420" xml:space="preserve">Er hat nichts als <lb/>die Fähigkeit, die man Geiſt nennt, eine Fähigkeit, deren Be-<lb/>deutung eben darin liegt, daß ſie einer weiter und weiter <lb/>gehenden Entwickelung fähig iſt, und durch welche er ſich zum <lb/>Herrn der Schöpfung gemacht hat — und naturgemäß auch <lb/>machen ſoll.</s>
  <s xml:id="echoid-s9421" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9422" xml:space="preserve">Das Menſchenleben iſt in ſeiner wahren Bedeutung ein <lb/>geiſtiges Leben.</s>
  <s xml:id="echoid-s9423" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="57" file="705" n="705"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div318" type="section" level="1" n="233">
<head xml:id="echoid-head264" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVIII. Die Sprache der Menſchen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9424" xml:space="preserve">Das geiſtige Weſen des Menſchen giebt ſich beſonders <lb/>durch zwei Thatſachen kund, die den Beweis liefern, wie es <lb/>einerſeits der Geiſt iſt, der den Menſchen zum Menſchen macht, <lb/>und wie andererſeits das Leben des Menſchen auf das Leben der <lb/>ganzen übrigen Natur den weſentlichſten Einfluß ausgeübt hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s9425" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9426" xml:space="preserve">Die eine Thatſache iſt die Sprache des Menſchen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9427" xml:space="preserve">die <lb/>andere iſt die Kultivirung der Natur, oder einfacher ausge-<lb/>drückt, die Umbildung der Natur, damit ſie den Zwecken der <lb/>Menſchen dienſtbar werde.</s>
  <s xml:id="echoid-s9428" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9429" xml:space="preserve">Auch die Tiere ſind imſtande, ſich gegenſeitig zu verſtän-<lb/>digen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9430" xml:space="preserve">Die Wölfe, die ſonſt nicht in Geſellſchaft leben, ziehen <lb/>in Notfällen auf gemeinſamen Raub aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s9431" xml:space="preserve">Tiere, die in Geſell-<lb/>ſchaften leben, unternehmen gemeinſame Bauten, veranſtalten <lb/>gemeinſame Züge; </s>
  <s xml:id="echoid-s9432" xml:space="preserve">Vögel, Fiſche treten in ungeheuren Maſſen <lb/>verſammelt ihre Wanderungen an. </s>
  <s xml:id="echoid-s9433" xml:space="preserve">Bei den Bienen und Ameiſen <lb/>wird ſogar eine wirkliche Mitteilungsgabe, die ſie unter-<lb/>einander beſitzen, beobachtet; </s>
  <s xml:id="echoid-s9434" xml:space="preserve">von den Affen, den Elephanten <lb/>erzählt man ſich noch weitergehende Gaben der Mitteilung, und <lb/>die Störche ſollen ſogar Beratungen untereinander pflegen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9435" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9436" xml:space="preserve">Wenn ein Wolf lechzend und heulend nach Raub ausgeht <lb/>und Laute von ſich giebt, die es verraten, daß er mit ſeinem <lb/>ſcharfen Geruch eine Beute wittert, ſo kann dies gleichfalls <lb/>hungernde Genoſſen zu gleichem Zuge veranlaſſen, auf gleiche <lb/>Spur bringen und eine Gemeinſamkeit des Unternehmens her-<lb/>beiführen, ſelbſt wenn es nicht in der Abſicht liegt, die Geſell-<lb/>ſchaft zu veranſtalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s9437" xml:space="preserve">— Andere Tiere, die in Geſellſchaft leben, <lb/>nehmen gemeinſame Bauten vor. </s>
  <s xml:id="echoid-s9438" xml:space="preserve">Bedürfniſſe, Triebe veran-<lb/>laſſen ein Tier zu Lauten oder Äußerungen, welche die gleichen <lb/>Tiere verſtehen, weil ſie gleiche Bedürfniſſe, gleiche Triebe <lb/>haben oder in genauer Beziehung zu dieſen Bedürfniſſen und
<pb o="58" file="706" n="706"/>
Trieben ſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9439" xml:space="preserve">Die Henne ruft wirklich ihre Küchlein um ſich, <lb/>der Hahn verſammelt den ganzen Hühnerhof zum Mahl, und <lb/>dieſe Rufe werden verſtanden, ſogar von einer jungen Brut <lb/>Enten verſtanden, die ein Huhn ausgebrütet hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s9440" xml:space="preserve">Dieſe <lb/>Sprache braucht das Tier — das iſt bemerkenswert zur Unter-<lb/>ſcheidung von der Sprache des Menſchen — nicht zu erlernen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9441" xml:space="preserve">Die Hühner-Kolonie auf dem einen Hofe hat ſie ganz und gar <lb/>ſo, wie die des andern Hofes. </s>
  <s xml:id="echoid-s9442" xml:space="preserve">Der Hahn, der ſein Kikeriki <lb/>in die Welt hineinſchreit, ohne daß wir wiſſen, zu welchem <lb/>Zweck, wird von andern Hähnen, die ſich ſeiner perſönlichen <lb/>Bekanntſchaft nicht zu erfreuen die Ehre haben, verſtanden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9443" xml:space="preserve"><lb/>Ein Hähnchen aus der Brütmaſchine kräht ganz meiſterhaft, <lb/>ſelbſt wenn es dieſe Sprache noch nirgend gehört.</s>
  <s xml:id="echoid-s9444" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9445" xml:space="preserve">Mit dem Menſchen iſt es nicht ſo. </s>
  <s xml:id="echoid-s9446" xml:space="preserve">Verſchiedene Völker <lb/>ſprechen verſchiedene Sprachen, ja es entfernen ſich die Sprachen <lb/>von einander, wenn ſich die Menſchen entfernen, obgleich ſie <lb/>von einer gemeinſamen Sprache abſtammen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9447" xml:space="preserve">und der Menſch, <lb/>der keine Sprache gehört, hat keine Naturſprache, ſondern bloße <lb/>Laute, durch welche er ſtarke Empfindungen kundgiebt, wie die <lb/>Laute des Lachens, Weinens, Schluchzens u. </s>
  <s xml:id="echoid-s9448" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s9449" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s9450" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9451" xml:space="preserve">So ungebildet auch wilde Völkerſtämme aufgefunden worden <lb/>ſind, immer fand man eine Sprache unter ihnen, durch welche <lb/>ſie ſich nicht nur über die nächſtliegenden körperlichen Be-<lb/>dürfniſſe verſtändigen konnten, ſondern die gebildet genug war, <lb/>um Gedanken mitzuteilen, die nicht in engſter perſönlicher Be-<lb/>ziehung zu den Sprechenden ſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9452" xml:space="preserve">Die Sprache der wildeſten <lb/>Stämme iſt ein Erbteil von vielen Geſchlechtern, iſt ein Er-<lb/>zeugnis einer weit in die Vergangenheit reichenden Geſchichte, <lb/>eine Entwickelung vom Einfachern zum Höhern, und dieſe Sprache <lb/>wird von den Stämmen naturgemäß nur dann aufgegeben, <lb/>wenn ſie in Berührung mit andern Menſchen kommen, welche <lb/>eine geiſtig gebildetere Sprache, eine ſchon reichere, entwickeltere <lb/>beſitzen, die die geiſtigere Reife der Sprechenden bekundet.</s>
  <s xml:id="echoid-s9453" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="59" file="707" n="707"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9454" xml:space="preserve">Wenn man auf die Urgeſchichte der Menſchheit zurückgeht, <lb/>ſo mag wohl die Vermutung aufgeſtellt werden, daß ſich alle <lb/>Sprachen aus Naturlauten, aus Äußerungen der Empfindungen <lb/>entwickelt haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s9455" xml:space="preserve">Die fertigen Sprachen tragen in manchen <lb/>Beziehungen die Spuren gemeinſamer Abſtammung, und wenn <lb/>man hierdurch auch nicht die gemeinſame Abſtammung des <lb/>ganzen Menſchengeſchlechts von einem erſten Menſchenpaar be-<lb/>weiſen kann, ſo folgt doch ſo viel daraus, daß gleiche erſte <lb/>Urſachen zur gleichen Bildung von Worten, Sätzen, Bildern <lb/>geführt haben, — Urſachen, die oft nicht von der äußeren <lb/>Umgebung, ſondern von der gleichen inneren Geiſtesrichtung <lb/>und Geiſtesordnung herrühren. </s>
  <s xml:id="echoid-s9456" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9457" xml:space="preserve">Das geiſtige Weſen des Menſchen giebt ſich in der Sprache <lb/>des Menſchen im höchſten Grade kund, und die Geſchichte der <lb/>Urſprachen, die gegenwärtig noch ſehr unvollkommen iſt, wird <lb/>ſicher einmal den Nachweis führen, daß der geiſtige Fortſchritt <lb/>der Menſchheit am beſten am Fortſchritt ihrer Sprachen gemeſſen <lb/>werden kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s9458" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div319" type="section" level="1" n="234">
<head xml:id="echoid-head265" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIX. Die Herrſchaft des Menſchen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9459" xml:space="preserve">Das innigſte Zeugnis für die geiſtige Natur des Menſchen-<lb/>geſchlechts liegt in der Einwirkung des Menſchen auf die <lb/>Natur. </s>
  <s xml:id="echoid-s9460" xml:space="preserve">Der einzelne Menſch iſt der Natur unterthan; </s>
  <s xml:id="echoid-s9461" xml:space="preserve">auch <lb/>die Menſchengeſchlechter, die gelebt haben und die noch leben <lb/>werden, konnten und können ſich dem natürlichen Lauf der <lb/>Dinge im Ganzen und Großen nicht widerſetzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9462" xml:space="preserve">Das Leben <lb/>der Menſchheit geſtaltet ſich nach Geſetzen, die wir ahnen, aber <lb/>nicht zu umſchreiben vermögen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9463" xml:space="preserve">aber trotz dieſer Notwendig-<lb/>keiten, die man fortzuleugnen nicht imſtande iſt, hat das <lb/>Menſchengeſchlecht eine ſo entſchiedene Herrſchaft über die
<pb o="60" file="708" n="708"/>
ganze Erde, daß dieſe völlig umgewandelt worden iſt, ſeitdem <lb/>ſie ein Wohnſitz der Menſchen geworden, daß ſowohl die ſo-<lb/>genannte tote Natur wie die Pflanzen- und Tierwelt ein Be-<lb/>ſitztum der Menſchheit geworden, in welchem ſie zu ihrem <lb/>Vorteil zu ſchalten und zu walten vermag, als wäre es ihr <lb/>eigenſtes Eigentum, ihre ſelbſteigene Schöpfung.</s>
  <s xml:id="echoid-s9464" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9465" xml:space="preserve">Da all dies nur die geiſtig begabte Menſchheit auszuführen <lb/>vermochte, ſo liegt hierin genugſam angedeutet, daß der Geiſt <lb/>eine Herrſchermacht über die Natur hat und der Grund zu <lb/>jener Ahnung, die ſelbſt in den wildeſten Völkern dunkel her-<lb/>vortritt, daß überhaupt der Geiſt das Höchſte und das All-<lb/>herrſchende iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9466" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9467" xml:space="preserve">So weit nur die Hand des Menſchen reicht, ſo weit hat <lb/>er ſich die ganze Natur dienſtbar gemacht und ſie ſeinen Zwecken <lb/>unterworfen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9468" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9469" xml:space="preserve">Die Natur hat dem Menſchen ein Werkzeug verſagt, das <lb/>ſie dem Maulwurf verliehen, um ins Innere der Erde zu <lb/>dringen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9470" xml:space="preserve">aber der Menſch hat aus dem ihm verſchloſſenen Erd-<lb/>Jnnern Geſteine geholt, und mit Hülfe des Feuers das Eiſen <lb/>geſchmiedet, mit welchem er tief hineinwühlt in die Erdrinde. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9471" xml:space="preserve">Dinge, die die Natur beſitzt, aber niemals und nirgend un-<lb/>vermiſcht darſtellt, ſtellt der Menſch rein dar. </s>
  <s xml:id="echoid-s9472" xml:space="preserve">Viele Metalle, <lb/>Luftarten, Pflanzenſäfte, Öle, Alkohole und eine unendliche <lb/>Reihe chemiſcher Urſtoffe und chemiſcher Verbindungen werden <lb/>von der Natur nicht dargeſtellt, und nur der Menſch vermag <lb/>dies.</s>
  <s xml:id="echoid-s9473" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9474" xml:space="preserve">Soweit der Erdboden Menſchen trägt, haben ſie die Ober-<lb/>fläche der Erde umwühlt, die natürliche Pflanzenwelt, die <lb/>wilden Pflanzen verdrängt und nur ſolchen Pflanzen Raum <lb/>und Leben und Fortpflanzung gegönnt, die dem Menſchen <lb/>nützlich oder ſeinem Auge wohlgefällig oder ſeinem Geruch an-<lb/>genehm ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s9475" xml:space="preserve">Er hat den Urwald ausgerottet und den Bäumen <lb/>nur ſo weit das Daſein geſtattet, als ſie des Menſchen Daſein
<pb o="61" file="709" n="709"/>
begünſtigen und verſchönen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9476" xml:space="preserve">Er hat unter den Bewohnern <lb/>der Wälder, unter den wilden Tieren eine vernichtende Ver-<lb/>heerung angerichtet, ſo daß ſie faſt ganz von dem bewohnten <lb/>Erdenrund verſchwunden ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s9477" xml:space="preserve">Was nicht für den Menſchen <lb/>lebt, dem nimmt er das Leben; </s>
  <s xml:id="echoid-s9478" xml:space="preserve">was das Menſchendaſein er-<lb/>leichtert und begünſtigt, dem giebt er Leben, um es ihm ge-<lb/>legentlich vielleicht wiederum zu nehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9479" xml:space="preserve">Die gezähmten Tiere <lb/>leben eben nur für den Zweck des Menſchenlebens. </s>
  <s xml:id="echoid-s9480" xml:space="preserve">Die ge-<lb/>zähmte Tierwelt vermehrt ſich in der Wildnis bei weitem <lb/>langſamer als unter der Zucht der Menſchen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9481" xml:space="preserve">aber ſie erfreut <lb/>ſich des Daſeins nur, um ihr Daſein für das Daſein der <lb/>Menſchen zu opfern.</s>
  <s xml:id="echoid-s9482" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9483" xml:space="preserve">Der Menſch hat die Pflanzenwelt wie die Tierwelt bereichert <lb/>durch Miſchlingsarten, die er künſtlich erzeugt, wie ſie die <lb/>freie Natur nicht hervorbringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9484" xml:space="preserve">Unzählige Apfelſorten ſind <lb/>aus dem wilden Apfel entſtanden, der jetzt verſchmäht wird; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9485" xml:space="preserve">der Menſch hat dieſe Frucht veredelt, aber für ſich veredelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9486" xml:space="preserve"><lb/>Er hat die Schafzucht durch Kreuzung verſchiedener Raſſen <lb/>veredelt und dieſes wehrloſeſte aller Tiere in unendlicher Zahl <lb/>vermehrt; </s>
  <s xml:id="echoid-s9487" xml:space="preserve">aber die Veredelung und Vermehrung iſt nur um <lb/>des Vorteils des Menſchengeſchlechts willen geſchehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9488" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9489" xml:space="preserve">Wo wir hinblicken, iſt die Erde voll von Werken der <lb/>Menſchen, welche die Werke der Natur verdrängt oder um-<lb/>geſtaltet haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s9490" xml:space="preserve">Feld, Garten, Wieſe, Haus, Straße, Dorf, <lb/>Stadt, alles iſt Zeugnis des die Natur beherrſchenden Menſchen-<lb/>geiſtes. </s>
  <s xml:id="echoid-s9491" xml:space="preserve">Wo Menſchengeiſt waltet, bleibt ein Gebirge nicht wie <lb/>es war, bleibt ein Wald nicht wie er geweſen, bleibt ein Strom <lb/>nicht, wie er ſich von Natur aus geſtaltet. </s>
  <s xml:id="echoid-s9492" xml:space="preserve">Hier wird ein Berg <lb/>abgetragen, dort ein Thal erhöht, hier ein Waldbrand an-<lb/>gefacht, dort eine neue Schonung angepflanzt, hier der Strom <lb/>gedämpft, dort eine Berieſelung angelegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9493" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9494" xml:space="preserve">Die Natur hat ihm den Flügel des Vogels verſagt; </s>
  <s xml:id="echoid-s9495" xml:space="preserve">er <lb/>erhebt ſich im Luftballon zur ſchwindelnden Höhe. </s>
  <s xml:id="echoid-s9496" xml:space="preserve">Kein Fiſch
<pb o="62" file="710" n="710"/>
vermag ſo ausdauernd das Meer zu durchmeſſen, wie ein <lb/>Schiff, das der Lenkung des Menſchen dienſtbar iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9497" xml:space="preserve">Der <lb/>Fluß muß ſein Laſttier werden, der Wind ſeine Kraft dem <lb/>Menſchen leihen, der Sturzbach ſeine Mühle treiben, die <lb/>Magnetnadel muß ſein Wegweiſer werden, der Waſſerdampf <lb/>ſeinen unermüdlichen Knecht abgeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s9498" xml:space="preserve">Der Blitzableiter iſt <lb/>ſeine Schutzwehr vor dräuenden Flammen, das Licht iſt ſein <lb/>photographiſcher Maler geworden, und der elektriſche Telegraph <lb/>überflügelt den Sturm, der einſtens als der ſchnellſte Bote <lb/>Gottes angeſehen wurde.</s>
  <s xml:id="echoid-s9499" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9500" xml:space="preserve">Will man Natur ſehen, wie ſie urſprünglich iſt, ſo giebt <lb/>es bald keinen Ort mehr, wohin man den Blick richten kann, <lb/>als auf das Meer oder hinauf zum Sternenhimmel; </s>
  <s xml:id="echoid-s9501" xml:space="preserve">das feſte <lb/>Erdenrund iſt ganz der Umgeſtaltung durch den Menſchengeiſt <lb/>preisgegeben.</s>
  <s xml:id="echoid-s9502" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9503" xml:space="preserve">Zwar hat der Menſchengeiſt die Natur bezwungen durch die <lb/>Kräfte der Natur; </s>
  <s xml:id="echoid-s9504" xml:space="preserve">aber das iſt die wahre Herrſcherweiſe, die <lb/>zu walten weiß über die Kraft des Dieners, um ſich durch <lb/>dieſe den Diener zu unterwerfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9505" xml:space="preserve">Der Menſch, das höchſte <lb/>der bekannten Schöpfungen, hat ſich zum Schöpfer alles unter <lb/>ihm Geſchaffenen aufgeſchwungen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9506" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div320" type="section" level="1" n="235">
<head xml:id="echoid-head266" xml:space="preserve"><emph style="bf">XX. Der Menſchengeiſt und der Luftkreis.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9507" xml:space="preserve">Bei der Betrachtung über die Einwirkung des Menſchen <lb/>auf die Natur ergiebt ſich, daß der Menſch nicht nur die Erde <lb/>beherrſcht, ſondern auch, daß er hineinreicht bis in die Wolken-<lb/>region und auf die Wirkung der geheimſten Kräfte der Natur <lb/>mit ſeiner Kultur des Bodens eingreift.</s>
  <s xml:id="echoid-s9508" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9509" xml:space="preserve">Nicht nur Pflanzen und Tiere verſetzt er von einem Klima
<pb o="63" file="711" n="711"/>
zum andern, ſondern er wirkt auch auf das Klima ein und <lb/>zwingt Wolken und Wärme, ihre Bahn nach den Wohnſtätten <lb/>der Menſchen einzurichten.</s>
  <s xml:id="echoid-s9510" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9511" xml:space="preserve">Der Boden, auf dem wir in Deutſchland wohnen, war <lb/>vor alten Zeiten teils von waldigen Wildniſſen, teils von <lb/>Sümpfen und Moräſten, teils von Sandſtrecken eines zurück-<lb/>getretenen Meeresufers bedeckt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9512" xml:space="preserve">Wo der Urwald herrſcht, da iſt <lb/>die Luft kalt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9513" xml:space="preserve">Es ſammeln ſich über demſelben die Waſſer-<lb/>dünſte der Luft, um Wolken entſtehen zu laſſen, und ſie ſchütten <lb/>auf dieſe Gegenden den Regen herab, um auf dem Waldgrund <lb/>Rieſelbäche zu bilden, die unter dem Schutz des Blätterdaches, <lb/>der Farrenkräuter und der Mooſe des Bodens nicht wieder <lb/>verdampfen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s9514" xml:space="preserve">Menſchen und Tiere, die ſich in ſolchen <lb/>Gegenden niederlaſſen, leben in einem kalten, naſſen Klima, <lb/>das der Geſundheit ſchädlich iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9515" xml:space="preserve">Nur die kräftigſten Stämme <lb/>vermögen in demſelben auszudauern, die ſchwächeren ſterben <lb/>aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s9516" xml:space="preserve">Wenn wir von der Kräftigkeit der deutſchen alten Stämme <lb/>leſen, vergißt man, daß der Tod frühzeitig die Schwächern <lb/>hinraffte und nur eine dünne Bevölkerung übrig ließ, die dem <lb/>Klima Widerſtand leiſten konnte.</s>
  <s xml:id="echoid-s9517" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9518" xml:space="preserve">Wo der Boden ſandig iſt, da iſt er auch kahl. </s>
  <s xml:id="echoid-s9519" xml:space="preserve">Die Winde <lb/>jagen über denſelben hin und führen die Feuchtigkeit hinweg, <lb/>und die Sonnenwärme prallt von der weißen Farbe des Erd-<lb/>reichs ab, und dringt nicht in die Tiefe, um Pflanzenkeime <lb/>zur Frucht heranreifen zu laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9520" xml:space="preserve">Über der Sandfläche herrſcht <lb/>Trockenheit der Luft bei Armut des Bodens; </s>
  <s xml:id="echoid-s9521" xml:space="preserve">über dem Ur-<lb/>wald herrſcht feuchte Luft bei Näſſe und Üppigkeit des wilden <lb/>Pflanzenwuchſes.</s>
  <s xml:id="echoid-s9522" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9523" xml:space="preserve">Und hier iſt es, wo die Kultur, die Herrſchaft der Menſchen <lb/>über die Natur, eingreift. </s>
  <s xml:id="echoid-s9524" xml:space="preserve">Sie roden den Wald aus oder <lb/>brennen ihn ſtreckenweiſe nieder, um die Sonnenwärme dem <lb/>Boden zugänglich zu machen und dem Winde freien Spiel-<lb/>raum zu geben. </s>
  <s xml:id="echoid-s9525" xml:space="preserve">Die Wolkendecke zerreißt dadurch, und das
<pb o="64" file="712" n="712"/>
blaue Himmelszelt wird ſichtbar. </s>
  <s xml:id="echoid-s9526" xml:space="preserve">Die Umwandlung des Bodens <lb/>bringt eine Umgeſtaltung der Wolkengebilde hervor. </s>
  <s xml:id="echoid-s9527" xml:space="preserve">Die Aſche <lb/>der niedergebrannten Wälder oder des verbrauchten Holzes <lb/>färbt die Erde ſchwarz und ſchafft den fruchtbaren Boden, auf <lb/>dem die Pflanze gedeiht, die der Menſchennahrung zuträglich <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9528" xml:space="preserve">Die Getiere des Waldes vermindern ſich, die Menſchen-<lb/>ſtätten füllen ſich, und die Gegend wird wohnlich, nachdem der <lb/>umwandelte Boden den Luftkreis bis zu bedeutender Höhe um-<lb/>wandelt hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s9529" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9530" xml:space="preserve">Und das Menſchengeſchlecht rückt weiter vor. </s>
  <s xml:id="echoid-s9531" xml:space="preserve">Die Jagd, <lb/>die Fiſcherei und der Krieg ſind nicht mehr die einzigen Be-<lb/>ſchäftigungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9532" xml:space="preserve">Der Menſch ſtreift nicht mehr von Waldrevier <lb/>zu Waldrevier in halbwildem Zuſtand; </s>
  <s xml:id="echoid-s9533" xml:space="preserve">er weilt nicht mehr in <lb/>elender Fiſcherhütte am See und führt keinen Krieg mehr mit <lb/>Speer und Bogen gegen heranziehende Stämme, die ihm den <lb/>Sitz ſtreitig machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9534" xml:space="preserve">Der Boden iſt geräumig geworden für <lb/>Viele. </s>
  <s xml:id="echoid-s9535" xml:space="preserve">Er bietet Platz für Wieſengrund, der einem Hirtenvolk <lb/>zur Nahrung dient. </s>
  <s xml:id="echoid-s9536" xml:space="preserve">Die Kulturpflanzen, die Getreidearten <lb/>umſäumen ſeine Weideplätze. </s>
  <s xml:id="echoid-s9537" xml:space="preserve">Die Haustiere vermehren ſich <lb/>und bieten den Dünger dar, um ſeinem Felde friſche Nahrungs-<lb/>kraft für Pflanzen anzubieten. </s>
  <s xml:id="echoid-s9538" xml:space="preserve">Bald kann er Sandſtrecken <lb/>überdecken und durchdüngen mit ſchwarzem Erdreich, das die <lb/>Sonnenwärme einzieht und feſthält. </s>
  <s xml:id="echoid-s9539" xml:space="preserve">Die dürre Sandſtrecke <lb/>ſchwindet, der Fels ſelbſt umkleidet ſich mit Erdreich, das <lb/>nährenden Ertrag liefert. </s>
  <s xml:id="echoid-s9540" xml:space="preserve">Pflanzen, die niemals hier gedeihen <lb/>konnten, finden ein Klima, das ihnen Lebenskraft verleiht, <lb/>und die Luft, die ausgedörrt über Sandſtrecken dahinfuhr <lb/>welche von den wilden Vätern gemieden wurden, bewegt jetzt <lb/>die Wellen des Getreidelandes, wo die Enkel ſich friedlich <lb/>niedergelaſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9541" xml:space="preserve">Der Enkel Fleiß legt neue Schonungen und <lb/>Bewaldungen an und lockt das Wolkenreich herbei, daß es <lb/>gedeihlich den Segen ſeiner Waſſerbäche ausgießt zum Gedeihen <lb/>der Menſchenthätigkeit.</s>
  <s xml:id="echoid-s9542" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="65" file="713" n="713"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9543" xml:space="preserve">So haben die Urväter das deutſche Vaterland wohnlich <lb/>gemacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9544" xml:space="preserve">So wirkt der Menſch auf den Boden ein, und der <lb/>Boden auf das Luftmeer, und das Luftmeer auf den Wolkenzug, <lb/>und der Wolkenzug auf die Verbreitung der Sonnenwärme.</s>
  <s xml:id="echoid-s9545" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9546" xml:space="preserve">Und mit der Menſchheit wandert auch das Klima aus <lb/>einem Land aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s9547" xml:space="preserve">Nicht nur die Pflanze umwandelt ſich, nicht <lb/>nur das Getier wird umgeſtaltet, ſondern auch die Wolke ver-<lb/>wildert. </s>
  <s xml:id="echoid-s9548" xml:space="preserve">Als Paläſtina, das Land, von dem die alten Ur-<lb/>kunden viel erzählen, ein Sitz einer Volkskultur war, wurde <lb/>es als ein Land gerühmt, das vom Thau des Morgens und <lb/>vom Regen des Himmels getränkt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s9549" xml:space="preserve">Seitdem es wilder <lb/>Horden Eigentum geworden, iſt nicht nur der Boden ſteinig, <lb/>ſondern auch der Himmel ehern geworden, und der Regen kehrt <lb/>nur nach Monaten ein. </s>
  <s xml:id="echoid-s9550" xml:space="preserve">Als Nieder-Ägypten weder Garten noch <lb/>Waldung hatte, war der Regen ein ungekannter Gaſt, und <lb/>nur der Nilſchlamm, der vom Nubiſchen Gebirge hergetragen <lb/>wurde, befruchtete das Land; </s>
  <s xml:id="echoid-s9551" xml:space="preserve">ſeitdem Mehemed Ali europäiſche <lb/>Kultur nebſt Wald- und Gartenwuchs dahin verpflanzte, kommen <lb/>auch regenſchwangere Wolken herbei und beginnen zum Staunen <lb/>der Bewohner die Gewäſſer hier abzulagern. </s>
  <s xml:id="echoid-s9552" xml:space="preserve">Mit Griechen-<lb/>lands Kultur hat ſich Griechenlands Klima verändert; </s>
  <s xml:id="echoid-s9553" xml:space="preserve">durch <lb/>den germaniſchen Fleiß kleidete ſich das Marſchland Schleswig-<lb/>Holſteins in üppigen Segen, über dem ein milderes Klima weilt, <lb/>als die Lage des Landes von der Natur beanſpruchen könnte.</s>
  <s xml:id="echoid-s9554" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9555" xml:space="preserve">Das Walten des Menſchengeiſtes erſtreckt ſeine Herrſchaft <lb/>bis in den Luftkreis hinein.</s>
  <s xml:id="echoid-s9556" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div321" type="section" level="1" n="236">
<head xml:id="echoid-head267" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXI. Was im Gehirn während des Denkens</emph> <lb/><emph style="bf">vorgeht.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9557" xml:space="preserve">Die Naturforſcher ſind darüber nicht im Entfernteſten in <lb/>Zweifel, daß nur ein geſundes, unverletztes Gehirn zur vollen</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9558" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s9559" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s9560" xml:space="preserve">Volksbücher XI.</s>
  <s xml:id="echoid-s9561" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="66" file="714" n="714"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9562" xml:space="preserve">geiſtigen Thätigkeit fähig iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9563" xml:space="preserve">Jede innere oder äußere Störung <lb/>auf die Maſſe des Gehirns bewirkt eine Verdunkelung des <lb/>Geiſtes. </s>
  <s xml:id="echoid-s9564" xml:space="preserve">Starker Blutumlauf, durch welchen die Blutäderchen <lb/>des Gehirns ſich zu ſehr füllen, iſt ebenſo mit einer Störung <lb/>des Denkens verbunden, wie ein geſchwächter Kreislauf, der <lb/>dem Gehirn zu wenig Blut zuführt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9565" xml:space="preserve">Leidenſchaftliche Auf-<lb/>regung, die das Blut in ſtarke Wallung verſetzt, benimmt daher <lb/>dem Gehirn ſeine klare Denkfähigkeit, und man begeht Hand-<lb/>lungen, faßt Beſchlüſſe, hegt Hoffnungen, und macht ſich Vor-<lb/>ſtellungen, die man bei ruhigem Blute belächelt oder bereut. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9566" xml:space="preserve">Aber ebenſo wird durch Schreck, Angſt, die den Blutumlauf <lb/>hemmen, Beſinnungsloſigkeit, Unklarheit der Gedanken bewirkt, <lb/>die zu ganz gleich falſchen Schlüſſen und Handlungen führen <lb/>können.</s>
  <s xml:id="echoid-s9567" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9568" xml:space="preserve">Dieſe allgemeinen, unbeſtrittenen Thatſachen geben aber <lb/>durchaus keinen Aufſchluß darüber, in welchem Teil des großen <lb/>Gehirns beſtimmte Gedanken fabriziert werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9569" xml:space="preserve">Ja, man weiß <lb/>durchaus nicht, was eigentlich im großen Gehirn während der <lb/>Gedankenfabrikation vorgeht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9570" xml:space="preserve">In Krankheitsfällen hat man <lb/>ſehr wunderbare Erſcheinungen beobachtet. </s>
  <s xml:id="echoid-s9571" xml:space="preserve">Zuweilen iſt ein <lb/>Menſch bei vollkommen gutem Verſtande, und nur, wenn man <lb/>irgend ein beſtimmtes Thema berührt, verwirren ſich ſeine Vor-<lb/>ſtellungen, ſo daß er anfängt irre zu reden und falſch zu denken. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9572" xml:space="preserve">Es giebt Menſchen mit fixen Ideen, die alles in der Welt <lb/>richtig beurteilen und nur in einem Punkte völlig irrſinnig ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s9573" xml:space="preserve"><lb/>Viele ſolcher Kranken ſind klug genug zu merken, daß die Welt <lb/>mit ihnen in dieſem Punkt nicht übereinſtimmt, und ſie ver-<lb/>ſtecken ihren Jrrſinn und meiden es, ihn laut werden zu laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9574" xml:space="preserve"><lb/>Andere ſind wiederum gerade darauf verſeſſen, jedes Geſpräch <lb/>auf den Punkt hinzulenken, von dem ſie wohl wiſſen, daß ſie <lb/>hierüber anders denken als alle übrigen Menſchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9575" xml:space="preserve">Sie <lb/>empfinden einen Reiz, immer auf eine beſtimmte Behauptung <lb/>zurückzukommen und verfallen auf dieſelbe, wenn ſich auch nur
<pb o="67" file="715" n="715"/>
die leiſeſte Gelegenheit dazu darbietet. </s>
  <s xml:id="echoid-s9576" xml:space="preserve">— Die Krankengeſchichte <lb/>ſolcher Unglücklichen lehrt dann meiſtens, daß ſie ſich in geſunden <lb/>Tagen vornehmlich und meiſt leidenſchaftlich mit Jdeen beſchäftigt <lb/>haben, die jetzt in einer verkehrten Weiſe zu einer fixen Vor-<lb/>ſtellung geworden ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s9577" xml:space="preserve">— Nach dem Tode ſolcher Kranken hat <lb/>man zuweilen auch gefunden, daß deren Gehirn im ganzen <lb/>ein geſundes Anſehen, und nur an beſtimmten Stellen krank-<lb/>haft angegriffen war. </s>
  <s xml:id="echoid-s9578" xml:space="preserve">Hiernach ſollte man glauben, daß man <lb/>Urſache habe anzunehmen, daß beſtimmte Gattungen von Ge-<lb/>danken auch in beſtimmten Gegenden des großen Gehirns fabri-<lb/>ziert werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s9579" xml:space="preserve">allein eine unparteiiſche Unterſuchung geſteht, daß <lb/>man hierüber durchaus nichts Sicheres weiß. </s>
  <s xml:id="echoid-s9580" xml:space="preserve">— Man hat auch <lb/>ſchon gefunden, daß zwei Jrrſinnige, von ganz gleicher Jdee be-<lb/>fangen, an ganz verſchiedenen Stellen des Gehirns erkrankt waren.</s>
  <s xml:id="echoid-s9581" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9582" xml:space="preserve">Es kommt vor, daß bei irgend einer Veranlaſſung eine <lb/>Partie von Blutäderchen des Gehirns geſprengt wird und daß <lb/>ſich an dieſer Stelle Blutflüſſigkeit ergießt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9583" xml:space="preserve">In ſolchen Fällen <lb/>ereignet es ſich, daß der Kranke, ohne an ſeinem Leben be-<lb/>droht zu ſein, auch ſeiner Gedanken mächtig iſt und nur die <lb/>Fähigkeit für gewiſſe Dinge verliert. </s>
  <s xml:id="echoid-s9584" xml:space="preserve">Es giebt Kranke derart, <lb/>die gewiſſe Namen vergeſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9585" xml:space="preserve">Sie ſind nicht imſtande, ſich auf <lb/>ihren eigenen Namen zu beſinnen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9586" xml:space="preserve">ſie können den Namen <lb/>ihrer Frau, ihrer Kinder, eines Freundes, einer beſtimmten <lb/>Stadt nicht hervorbringen, obgleich ſie imſtande ſind, die Buch-<lb/>ſtaben des Namens auszuſprechen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9587" xml:space="preserve">— Sie wiſſen ſehr wohl, <lb/>wen ſie nennen wollen, weiſen mit dem Finger auf die be-<lb/>ſtimmte Perſon, verneinen, wenn man ihnen eine falſche nennt, <lb/>und ſind imſtande, den Namen nachzuſprechen, im Augenblick, <lb/>wo man ihn vorſpricht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9588" xml:space="preserve">Aber kaum verſuchen ſie einen Satz <lb/>zu ſprechen, wo wiederum derſelbe Name vorkommt, und ſie <lb/>haben ihn wiederum vergeſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9589" xml:space="preserve">Wie mit dem Namen, ſo geht <lb/>es oft mit andern ganz beſtimmten Wörtern, zumeiſt auch mit <lb/>ganz beſtimmten Gedankenreihen oder Vorſtellungen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9590" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="68" file="716" n="716"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9591" xml:space="preserve">Findet man nach dem etwa aus andern Urſachen erfolgten <lb/>Tode ſolcher Kranken eine beſtimmte Stelle des Gehirns er-<lb/>krankt, ſo ſollte man meinen, daß hier der Ort ſei, wo jener <lb/>Name, jenes Ding, jenes Wort, das der Kranke nicht faſſen <lb/>konnte, fabriziert werde; </s>
  <s xml:id="echoid-s9592" xml:space="preserve">allein auch dies hat ſich nicht bewährt <lb/>und hat ſich aus mannigfachen Vergleichungen verſchiedener <lb/>Fälle nicht feſtſtellen laſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9593" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9594" xml:space="preserve">Es iſt gewiß nicht ohne Grund, daß Menſchen, die ſich <lb/>auf etwas beſinnen wollen, die Hand an die Stirn legen, als <lb/>ob es dort ſäße, daß man bei einem überraſchenden Gedanken <lb/>den Kopf in den Nacken wirft, bei einem überraſchenden An-<lb/>blick, ſei er freudig oder ſchreckhaft, mit den Händen nach dem <lb/>Hinterkopf greift, daß man in Verlegenheit ſich hinter den <lb/>Ohren kratzt; </s>
  <s xml:id="echoid-s9595" xml:space="preserve">aber Schlüſſe daraus über den Ort des Gehirns <lb/>zu ziehen, wo gewiſſe Gedanken wohnen oder fabriziert werden, <lb/>iſt man durchaus nicht imſtande.</s>
  <s xml:id="echoid-s9596" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9597" xml:space="preserve">Über dieſe Fragen alſo: </s>
  <s xml:id="echoid-s9598" xml:space="preserve">was geht im Gehirn während <lb/>des Denkens vor? </s>
  <s xml:id="echoid-s9599" xml:space="preserve">welche beſtimmte Teile werden in Thätigkeit <lb/>geſetzt bei beſtimmten Gedanken? </s>
  <s xml:id="echoid-s9600" xml:space="preserve">Welche Rolle ſpielte hierbei <lb/>die graue, welche die weiße Maſſe des Gehirns? </s>
  <s xml:id="echoid-s9601" xml:space="preserve">Was haben <lb/>hierbei die Kügelchen, was die Fäſerchen zu thun, aus welchen <lb/>die Gehirnmaſſe beſteht? </s>
  <s xml:id="echoid-s9602" xml:space="preserve">— über all’ dieſe und viele andere <lb/>Fragen antwortet die Naturwiſſenſchaft einfach: </s>
  <s xml:id="echoid-s9603" xml:space="preserve">das weiß ich <lb/>bis jetzt noch nicht!</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div322" type="section" level="1" n="237">
<head xml:id="echoid-head268" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXII. Der angeborene Geiſt und die Erfahrung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9604" xml:space="preserve">Eine der intereſſanteſten Fragen der Wiſſenſchaft iſt die, <lb/>ob dem Menſchen gewiſſe Begriffe angeboren ſind, oder ob ſie <lb/>ſich alle erſt aus der Erfahrung bilden.</s>
  <s xml:id="echoid-s9605" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9606" xml:space="preserve">In Abrede läßt ſich nicht ſtellen, daß das Tier mit ge-
<pb o="69" file="717" n="717"/>
wiſſen richtigen Vorſtellungen in die Welt kommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9607" xml:space="preserve">Wenn das <lb/>neugeborne Schaf und Füllen ohne weiteres auf das Mutter-<lb/>tier zugeht, um an den Zitzen zu ſaugen, ſo geſchieht dies nur, <lb/>wenn und weil es die Mutter ſieht; </s>
  <s xml:id="echoid-s9608" xml:space="preserve">denn junge Hunde, die <lb/>nicht gleich nach der Geburt ſehen können, verſtehen es auch <lb/>nicht, ſich nach der Mutter hinzubegeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s9609" xml:space="preserve">Obwohl nun der <lb/>Jnſtinkt das Schaf zur Mutter leitet, ſo geſchieht die Leitung <lb/>doch infolge einer richtigen, wenn auch dunkeln Vorſtellung, <lb/>die das Schaf mit dem Sehen beſitzt, obgleich es mit ſeinen <lb/>Augen noch gar keine Erfahrung gemacht hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s9610" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9611" xml:space="preserve">Wenn man bedenkt, daß der neugeborne Menſch zwar viel <lb/>Zeit hat, Erfahrungen durch die Sinne zu machen, bevor er <lb/>es nötig hat, ſeinen Verſtand zu gebrauchen, ſo iſt es doch <lb/>klar, daß man auch Verſtand braucht, um Erfahrungen zu <lb/>machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9612" xml:space="preserve">Was könnte es einem Kinde helfen, wenn es tauſendmal <lb/>erfährt, daß die Mutterbruſt ihm den Hunger ſtillt, ſobald es <lb/>ganz ohne Verſtand und auch ganz ohne Gedächtnis wäre, <lb/>und ſomit während der Sättigung nichts verſtände von der <lb/>Erfahrung, die es macht, oder nach der jedesmaligen Sättigung <lb/>ganz und gar vergäße, was es eben erfahren hat? </s>
  <s xml:id="echoid-s9613" xml:space="preserve">— Hiernach <lb/>müßte man alſo annehmen, daß es wirklich angeborene Ver-<lb/>ſtandsbegriffe im Menſchen giebt, die ihn befähigen, das oft <lb/>Erlebte zu begreifen, im Gedächtnis zu behalten, alſo ſich eine <lb/>Vorſtellung auszubilden, um aus dem oft Erfahrenen ſich eine <lb/>Regel zuſammenzuſtellen, die man eben eine Erfahrung nennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9614" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9615" xml:space="preserve">Im höchſten Grade belehrend ſind die Verſuche, die man <lb/>au Kindern feſtgeſtellt hat, die taub und blind geboren wurden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9616" xml:space="preserve">Solche arme Geſchöpfe ſind auch zugleich ſtumm, weil ſie nie-<lb/>mals haben ſprechen hören, und ihre eigene Stimme nicht ver-<lb/>nehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9617" xml:space="preserve">Sie laſſen nur ſolche hören, die man unwillkürlich <lb/>ausſtößt, wie Lachen, Weinen, Schreien, Schluchzen, und machen <lb/>infolgedeſſen die Erfahrung, daß andere Weſen von dieſen <lb/>Lauten Kenntnis bekommen und ihnen Hilfe leiſten. </s>
  <s xml:id="echoid-s9618" xml:space="preserve">Das
<pb o="70" file="718" n="718"/>
Bereich ihrer Erfahrung iſt außerordentlich beſchränkt; </s>
  <s xml:id="echoid-s9619" xml:space="preserve">ſie haben <lb/>nur den Geruch, den Taſtſinn und den Geſchmack, um durch <lb/>dieſe zu begreifen, daß eine Welt mit verſchiedenen Dingen <lb/>außer ihnen exiſtiert. </s>
  <s xml:id="echoid-s9620" xml:space="preserve">Man ſollte es für rein unmöglich halten, <lb/>daß ſolche Geſchöpfe mit außerordentlich geringfügigen Er-<lb/>fahrungen ihren Geiſt ausbilden könnten, wenn man ſich auch <lb/>noch ſo viele Mühe mit ihnen geben wollte. </s>
  <s xml:id="echoid-s9621" xml:space="preserve">Und doch iſt es <lb/>bei Vielen gelungen, ſie zur Erkenntnis von Dingen außer <lb/>ihnen zu bringen, für welche ihnen die Sinne fehlen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9622" xml:space="preserve">Durch <lb/>höchſt wunderbare Methoden hat man Unglückliche dieſer Art <lb/>ſoweit belehrt, daß ſie einen richtigen Scharfſinn entwickeln, <lb/>und nicht nur mechaniſch nützliche Arbeiten verrichten, ſondern <lb/>ſogar die Bedeutung und die Wichtigkeit dieſes ihres Thuns <lb/>begreifen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9623" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9624" xml:space="preserve">Selbſt das klügſte Tier, das ſehen und hören kann, alſo <lb/>an Erfahrungen bei weitem reicher iſt als ſolche Menſchen-<lb/>geſchöpfe, ſteht tief unter ihnen, ſobald man ſie mit Einſicht <lb/>und Ausdauer in ihrer Ausbildung leitet. </s>
  <s xml:id="echoid-s9625" xml:space="preserve">— In Boſton in <lb/>Amerika iſt ein Inſtitut, in welchem Mädchen dieſer Art erzogen <lb/>werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9626" xml:space="preserve">Sie lernen eine Fingerſprache, die ſich darin von der, <lb/>welche man jetzt die Taubſtummen lehrt, unterſcheidet, daß ſie <lb/>die Finger nicht in der Luft bewegen, ſondern auf der Hand <lb/>der Perſon, mit der ſie ſprechen wollen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9627" xml:space="preserve">Sie erhalten auch die <lb/>Antwort in gleicher Weiſe, weil ſie ja die Fingerbewegung in <lb/>der Luft nicht ſehen, wie es bei den Taubſtummen der Fall iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9628" xml:space="preserve">Sie lernen ſchreiben, Geſchriebenes, das auf beſondern Tafeln <lb/>mit erhabenen Buchſtaben aufgelegt wird, durch das Fühlen <lb/>der Hand leſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9629" xml:space="preserve">Sie ſind imſtande, Gedanken, wirkliche Ge-<lb/>danken nicht nur zu faſſen, ſondern auch von ſich zu geben. </s>
  <s xml:id="echoid-s9630" xml:space="preserve"><lb/>Ja, ſie haben ein richtiges Urteil über das Sein der geſunden <lb/>Menſchen, die in einer Welt leben, die ihnen ewig verſchloſſen <lb/>iſt, und geben den Beweis, daß es nur noch einer weitergehenden <lb/>Unterrichtskunſt bedarf, um ihren Geiſt noch weiter auszubilden
<pb o="71" file="719" n="719"/>
und ſie zu einer Höhe der Erkenntnis zu erheben, von welcher <lb/>man meinen ſollte, daß ſie nur durch Auge und Ohr den Weg <lb/>zum Geiſt finden könnten.</s>
  <s xml:id="echoid-s9631" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9632" xml:space="preserve">Der Dichter Boz ſchildert in ſeiner Reiſebeſchreibung über <lb/>Amerika den Beſuch einer ſolchen Anſtalt, und verſucht auch <lb/>die Art deutlich zu machen, wie die Belehrung ſolcher Weſen <lb/>gelingt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9633" xml:space="preserve">—</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div323" type="section" level="1" n="238">
<head xml:id="echoid-head269" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXIII. Von den Vorſtellungen und deren Ent-</emph> <lb/><emph style="bf">wickelung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9634" xml:space="preserve">Obwohl die Naturwiſſenſchaft nicht anzugeben weiß, wo-<lb/>her der Geiſt ſtammt, und wie ſich Gedanken in einem Ge-<lb/>hirn, das noch nie gedacht hat, entwickeln, ſo hat man doch <lb/>durch Beobachtungen bereits einige Kenntnis von der Art und <lb/>Weiſe, wie ſich Gedanken naturgemäß aneinander reihen, wie <lb/>man von einem Gedanken zum andern übergeht, und wie ge-<lb/>wiſſe Gedankenreihen entſtehen, welche entweder zu höhern Ge-<lb/>danken, zu einer Sammlung des Geiſtes führen, oder auf ein <lb/>Verlaufen der Gedanken, auf die Zerſtreuung derſelben leiten.</s>
  <s xml:id="echoid-s9635" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9636" xml:space="preserve">Die einfache Art des Denkens iſt die, daß man von <lb/>einem Ereignis auf ein zweites ſchließt, ſobald die Erfahrung <lb/>oft genug gelehrt hat, daß dieſe beiden Ereigniſſe im Zuſammen-<lb/>hang ſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9637" xml:space="preserve">Das Kind macht ſo oft die Erfahrung, daß auf <lb/>ſein Schreien die Mutter herbeieilt, daß es endlich durch <lb/>Schreien die Mutter herbeizurufen verſteht; </s>
  <s xml:id="echoid-s9638" xml:space="preserve">der Erwachſene, <lb/>der oft genug die Erfahrung gemacht hat, daß auf den Blitz <lb/>bald Donner erfolgt, wird den Blitz und Donner in ſeinen <lb/>Vorſtellungen in Zuſammenhang bringen, wenn er auch <lb/>nicht weiß, daß ſie wirklich einer und derſelben Natur-<lb/>erſcheinung angehören. </s>
  <s xml:id="echoid-s9639" xml:space="preserve">— Ja ſelbſt das Tier iſt imſtande,
<pb o="72" file="720" n="720"/>
ſolch’ einfache Vorſtellungen und Verbindungen von Gedanken <lb/>zuſtande zu bringen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9640" xml:space="preserve">der Hund, der einmal Prügel mit einem <lb/>Stock erhalten hat, bringt bei der Wahrnehmung des Stockes <lb/>die Prügel damit in Zuſammenhang und wird an die Prügel <lb/>denken, ſo oft er den Stock in ähnlicher Stellung ſieht, die er <lb/>beim Prügeln einnahm.</s>
  <s xml:id="echoid-s9641" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9642" xml:space="preserve">Eine höhere Art von Gedanken iſt es ſchon, wenn man <lb/>aus der Erfahrung ſich eine Regel macht, und einen Begriff <lb/>daraus ableitet. </s>
  <s xml:id="echoid-s9643" xml:space="preserve">Wenn ein Kind z. </s>
  <s xml:id="echoid-s9644" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s9645" xml:space="preserve">während eines ſchweren <lb/>Wolkenzuges das Eintreten des Regens erwartet, ſo iſt ſein <lb/>Gedankengang nicht viel höher als der eines Hundes, der beim <lb/>Stock an Prügel denkt; </s>
  <s xml:id="echoid-s9646" xml:space="preserve">wenn aber das Kind ſo weit in ſeinen <lb/>Gedanken-Verbindungen geht, auch ohne ſichtbare Wolken die <lb/>Regel feſtzuſtellen, daß Wolkenzüge und Regen im Zuſammen-<lb/>hange ſtehen, ſo bildet es ſchon einen Begriff und erhebt ſich <lb/>ſo zu einer höheren Gedankenreihe. </s>
  <s xml:id="echoid-s9647" xml:space="preserve">— Noch höher iſt die <lb/>Gedankenreihe, wenn das Kind über den Grund dieſes Zu-<lb/>ſammenhanges nachdenkt, die Urſache der Erſcheinung ſucht, <lb/>hierbei viele andere Erfahrungen damit vergleicht, um richtige <lb/>und falſche Gründe von einander zu unterſcheiden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9648" xml:space="preserve">In ſolchem <lb/>Falle iſt der Geiſt ſchon in einer weit höheren Thätigkeit be-<lb/>griffen, ſelbſt wenn es dem Kinde auch nicht gelingt, die <lb/>richtige Urſache der Naturerſcheinung ausfindig zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9649" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9650" xml:space="preserve">Immer aber iſt es eine Regel der Geiſtesthätigkeit, daß <lb/>die Vorſtellungen, Begriffe und Gedanken nicht willkürlich von <lb/>einem zum andern ſpringen, ſondern ſtets einem Faden aus <lb/>der bisherigen Reihe der Erfahrungen folgen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9651" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9652" xml:space="preserve">Sehr oft ergeht man ſich in Gedankenflügen, wo man von <lb/>einer Vorſtellung auf die tauſendſte hingerät und vergißt, <lb/>welchen Weg man hierbei im Geiſte genommen hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s9653" xml:space="preserve">Man <lb/>begreift dann gar nicht, wie man ſo fernliegende Dinge hat <lb/>zuſammenbringen können, die nicht die mindeſte Ähnlichkeit <lb/>mit einander haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s9654" xml:space="preserve">wenn man jedoch mit Aufmerkſamkeit einem
<pb o="73" file="721" n="721"/>
ſolchen Geiſtesflug folgt, ſo ſieht man, wie frühere Erfah-<lb/>rungen, ſowohl Geſehenes als auch Gehörtes und Erlebtes, <lb/>das Band ſind, an welchem der Geiſt wie an einem Leitſeil <lb/>gelaufen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9655" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9656" xml:space="preserve">Um eiumal ein Beiſpiel derart anzuführen, wollen <lb/>wir eine Reihe von Vorſtellungen herſetzen, die ein Menſch im <lb/>Geiſte durchläuft, ohne am Anfang zu ahnen, wohin er kommt, <lb/>und ohne am Ende zu wiſſen, wie er darauf gelangt iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9657" xml:space="preserve">Denken wir uns, ein Menſch ſieht ein wenig Honig, und da-<lb/>bei fällt ihnt ein Bienenkorb ein; </s>
  <s xml:id="echoid-s9658" xml:space="preserve">beim Bienenkorb weilen <lb/>ſeine Gedanken bei der Bienenkönigin, von dieſer kann er, ohne <lb/>es eigentlich zu beabſichtigen, auf eine andere Königin kommen, <lb/>die Königin Victoria von England; </s>
  <s xml:id="echoid-s9659" xml:space="preserve">bei dem Namen Victoria <lb/>fällt ihm die Sieges-Göttin Victoria ein, die auf dem Branden-<lb/>burger Thor in Berlin ſteht, vom Brandenburger Thor wandern <lb/>ſeine Gedanken in den Tiergarten; </s>
  <s xml:id="echoid-s9660" xml:space="preserve">vom Tiergarten nach dem <lb/>Goldfiſchteich, von den Goldfiſchen gerät er auf den Gedanken <lb/>an den Stör, bei dieſem fällt ihm Caviar ein, beim Caviar <lb/>verſetzt er ſich nach Rußland, von Rußland fällt er auf dic <lb/>Kreuzzeitung, bei der Kreuzzeitung aufs eiſerne Kreuz, bei <lb/>dieſem auf die Befreiungskriege, und wenn er bei dieſem <lb/>Gedanken wieder auf die Siegesgöttin Victoria über dem <lb/>Brandenburger Thor verfällt, ſo kann er die dunkle Vor-<lb/>ſtellung haben, daß er erſt ſoeben an dieſe gedacht hat, ohne <lb/>daß er weiß wie? </s>
  <s xml:id="echoid-s9661" xml:space="preserve">Das fällt ihm auf, er möchte wiſſen, wie <lb/>er darauf gekommen, er beſinnt ſich und findet, daß er anfangs <lb/>nur von Honig ausging, und begreift es nicht, wie und in <lb/>welcher Weiſe er vom Honig wiederholt bei der Sieges-Göttin <lb/>Victoria angelangt ſein könnte; </s>
  <s xml:id="echoid-s9662" xml:space="preserve">und doch hat ſein Geiſt nicht <lb/>willkürliche Sprünge gemacht, ſondern an der Hand einer zwa@ <lb/>loſen, aber doch zuſammenhäugenden Reihe von Vorſtellungen <lb/>eine Art regelmäßigen Gang durchlaufen, einen Gang, der <lb/>ſehr künſtlich und geſucht ausſieht, wenn man ihn darſtellt, der
<pb o="74" file="722" n="722"/>
aber jedem naturgemäß vorkomnten wird, der ſich ſelbſt in <lb/>ſeinen Gedankengängen beobachtet und ſich die Mühe genommen <lb/>hat, einmal der Reihe von Vorſtellungen nachzufolgen, die <lb/>unwillkürlich in ſeinem Geiſte ſich abgelöſt haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s9663" xml:space="preserve">— Im <lb/>Traume, wo ja die Urteilsfähigkeit völlig fehlt, erreicht dieſe <lb/>Verknüpfung von Vorſtellungen, die nur ganz loſen Zuſammen-<lb/>hang mit einander haben, ihre höchſte Entwickelung.</s>
  <s xml:id="echoid-s9664" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9665" xml:space="preserve">Es liegen dieſer Erſcheinung, die auf unſer Denken vom <lb/>größten Einfluß iſt, bereits näher gekannte Geſetze zu Grunde; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9666" xml:space="preserve">und dieſe wollen wir uns im nächſten Abſchnitt klar zu machen <lb/>ſuchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9667" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div324" type="section" level="1" n="239">
<head xml:id="echoid-head270" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXIV. Ruheloſigkeit und Ruhe der Gedanken.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9668" xml:space="preserve">Scharfſinnige Naturforſcher haben die Beobachtung gemacht, <lb/>daß die Zeit, welche das Gehirn zu einer einzigen Vorſtellung <lb/>braucht, außerordentlich kurz, daß ferner ein längeres Verweilen <lb/>bei einer Vorſtellung durchaus unmöglich iſt, und daß deshalb <lb/>die Gedanken ſofort, wenn ſie eine Vorſtellung gefaßt haben, <lb/>unwillkürlich zu weitern Vorſtellungen übergehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9669" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9670" xml:space="preserve">Man kann z. </s>
  <s xml:id="echoid-s9671" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s9672" xml:space="preserve">bei dem Gedanken an eine Taube nicht <lb/>ſtehen bleiben, man geht vielmehr unwillkürlich auf eine nähere <lb/>Betrachtung derſelben, auf ihre Farbe, die Flügel, Füße <lb/>u. </s>
  <s xml:id="echoid-s9673" xml:space="preserve">d. </s>
  <s xml:id="echoid-s9674" xml:space="preserve">m. </s>
  <s xml:id="echoid-s9675" xml:space="preserve">ein; </s>
  <s xml:id="echoid-s9676" xml:space="preserve">bald verweilt man auch hierbei nicht mehr, ſondern <lb/>geht auf die Umgebung über, denkt ſich ihren Standpunkt, ihren <lb/>Flug durch die Luft, und kommt ſo, ohne es zu merken, auf <lb/>ganz neue Reihen von Vorſtellungen, die wiederum von andern <lb/>Vorſtellungen abgelöſt werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s9677" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9678" xml:space="preserve">Dieſer Umſtand führt auf die ſehr begründete Vermutung, <lb/>daß das Gehirn, überhaupt bei einem wachenden Menſchen, <lb/>nicht ruht, ſondern unausgeſetzt thätig iſt, und zwar mit ſtets
<pb o="75" file="723" n="723"/>
abwechſelnder Vorſtellung. </s>
  <s xml:id="echoid-s9679" xml:space="preserve">Wie es das Auge ermüdet, ſtets <lb/>auf einen Punkt zu ſehen, in noch höherem Maße ermüdet <lb/>das Gehirn, wenn es nur an einer einzigen Vorſtellung haften <lb/>will. </s>
  <s xml:id="echoid-s9680" xml:space="preserve">Wer ſich jemals photographieren ließ, der wird an ſich <lb/>die Bemerkung gemacht haben, was es ſagen will, auch nur <lb/>dreißig Sekunden auf eine Stelle hinzublicken. </s>
  <s xml:id="echoid-s9681" xml:space="preserve">Die Züge des <lb/>Geſichts nehmen ſchon nach den erſten Sekunden etwas Starres <lb/>an, das allen Lichtbildern eigen iſt, und nicht von der Haltung <lb/>des Körpers allein, ſondern von dem Beſtreben herrührt, <lb/>ruhig zu ſitzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9682" xml:space="preserve">Es gehört eine große Anſtrengung dazu, um <lb/>nur in dieſer äußerſt kurzen Zeit nicht ſchon Langeweile zu <lb/>empfinden, zumal wenn man ſich dabei vornimmt, nur an einen <lb/>beſtimmten Gedanken zu denken. </s>
  <s xml:id="echoid-s9683" xml:space="preserve">Wer ſich genau oder unbe-<lb/>fangen beobachten kann, der wird eingeſtehen, daß die Ge-<lb/>danken während der halben Minute ſtets abſchweiften und nur <lb/>künſtlich zuſammengehalten werden mußten.</s>
  <s xml:id="echoid-s9684" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9685" xml:space="preserve">Es ſcheint demnach eine Eigentümlichkeit des Geiſtes zu <lb/>ſein, von einer Vorſtellung nach unglaublich kurzer Dauer auf <lb/>eine andere übergehen zu müſſen, und dieſer Übergang erfolgt <lb/>nach beſtimmten Regeln, obgleich man ſich der Regeln nicht <lb/>bewußt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9686" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9687" xml:space="preserve">Desgleichen kann man durch die Ähnlichkeit zweier Dinge <lb/>von der Vorſtellung des einen auf das andere geführt werden, <lb/>wenn ſie auch gewöhulich nicht gleichzeitig auftreten, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s9688" xml:space="preserve">B. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9689" xml:space="preserve">Schnee und Regen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9690" xml:space="preserve">Auch der gleiche Klang eines Wortes <lb/>kann auf ein ihm gleichklingendes Ding führen, obgleich es <lb/>ihm weder ähnlich iſt, noch gleichzeitig mit ihm erſcheint. </s>
  <s xml:id="echoid-s9691" xml:space="preserve"><lb/>Man ſpricht von der Königin Victoria von England und ſpringt <lb/>in Gedanken zur Siegesgöttin Victoria über. </s>
  <s xml:id="echoid-s9692" xml:space="preserve">Auch der Ort, <lb/>wo man etwas geſehen oder gehört hat, kann die Vermittelung <lb/>zwiſchen zwei ganz fernliegenden Vorſtellungen bilden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9693" xml:space="preserve">Man <lb/>denkt an Wallenſtein, und es fällt einem eine Bekanntſchaft ein, <lb/>die man im Theater gemacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9694" xml:space="preserve">Ja, ſogar die Gegenſätze rufen
<pb o="76" file="724" n="724"/>
einander hervor, wie ſchwarz und weiß, kalt und warm, naß <lb/>und trocken; </s>
  <s xml:id="echoid-s9695" xml:space="preserve">ſelbſt die nicht naturgemäßen, ſondern nur zu-<lb/>fällig als Gegner bekannten Perſönlichkeiten und Nationen <lb/>werden eine durch die andere in Gedanken hervorgerufen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9696" xml:space="preserve">Man <lb/>nennt dieſe Erſcheinung <emph style="sp">Gedankenverknüpfung oder Ideen-<lb/>Aſſociation</emph>.</s>
  <s xml:id="echoid-s9697" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9698" xml:space="preserve">Intereſſant iſt es zu beobachten, wie es mit den Gedanken <lb/>oft ganz ſonderbar geht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9699" xml:space="preserve">Auch der Fleißigſte und Geiſtreichſte <lb/>bringt zuweilen ein halbes Stündchen zu, bei deſſen Ablauf er <lb/>durchaus nicht ſagen kann, woran er gedacht hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s9700" xml:space="preserve">Er weiß <lb/>es wohl, daß er an Vieles gedacht habe, und ſicherlich wäre <lb/>kein Maler in der Welt Zeit ſeines Lebens imſtande, all das <lb/>zu malen, was in der einen halben Stunde durch das Hirn <lb/>dieſes ſcheinbar Müßigen gegangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9701" xml:space="preserve">Und doch iſt nichts in <lb/>dem Gedächtnis hiervon geblieben, weil trotz des regelrechten <lb/>Ganges der Gedanken keiner derſelben einen hervorragenden <lb/>Eindruck auf den Denkenden gemacht hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s9702" xml:space="preserve">— Den Männern <lb/>geht beim Rauchen und den Damen beim Stricken oft eine <lb/>ganze Welt durch den Sinn, von welcher, wenn ſie ſich be-<lb/>ſinnen, auch nicht die geringſte Spur verblieben iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9703" xml:space="preserve">Nur <lb/>wenn ein beſonderer Gedanke hervorragend das Intereſſe in <lb/>Anſpruch genommen hat, oder wenn auch nur eine Vorſtellung <lb/>im Lauf all der Vorſtellungen mehreremale wiedergekehrt iſt, <lb/>nur dann wird man ſich deren bewußt und glaubt oft ganz <lb/>irrtümlich, ſich die ganze Zeit damit beſchäftigt zu haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s9704" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9705" xml:space="preserve">Dem Gehirn iſt es ſo notwendig, ſtets mit Vorſtellungen <lb/>zu wechſeln, oder ſie zu ganzen Bildern der umfaſſenden <lb/>Gedanken auszuführen, daß jede Unterhaltung oder jedes Buch, <lb/>das zu lange bei einer Vorſtellung, einem Gedanken verweilt, <lb/>nur Unbehagen, nur Verſtimmung des großen Gehirns hervor-<lb/>ruft, das man mit dem Namen Langeweile bezeichnet. </s>
  <s xml:id="echoid-s9706" xml:space="preserve">Dieſe <lb/>Verſtimmung des großen Gehirns, deren Natur man freilich <lb/>nicht näher kennt, ſcheint auf das derlängerte Mark zu wirken,
<pb o="77" file="725" n="725"/>
das auf das Atmen von ſo großem Einfluß iſt, und das <lb/>Gähnen zu veranlaſſen, welches eigentlich nur eine eigen-<lb/>tümliche Atembewegung iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9707" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9708" xml:space="preserve">Wie innig das Atmen mit den Vorſtellungen des großen <lb/>Gehirns zuſammenhängt, ſieht man beim Seufzen, ſobald man <lb/>eine Zeitlang von einem traurigen Gedanken eingenommen ge-<lb/>weſen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9709" xml:space="preserve">Auch hier iſt der Reiz auf das verlängerte Mark <lb/>wahrſcheinlich, indem das Seufzen ebenfalls nur ein eigen-<lb/>tümliches Atmen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9710" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9711" xml:space="preserve">Bielen Menſchen iſt es möglich, künſtlich eine Art Ge-<lb/>dankenloſigkeit in ſich hervorzurufen, um leicht einſchlafen zu <lb/>können. </s>
  <s xml:id="echoid-s9712" xml:space="preserve">Ein langweiliges Buch thut hierin denjenigen gute <lb/>Dienſte, die dieſer Kunſt nicht fähig ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s9713" xml:space="preserve">aber auch die Ein-<lb/>bildung, oder richtiger der unbewußte Vorſatz, an nichts denken <lb/>zu wollen, ſetzt der Thätigkeit des Gehirns Schranken und <lb/>ruft — freilich nicht immer — den Schlaf herbei, der, wenn <lb/>er gut iſt, die Ruhezeit des großen Gehirns bildet.</s>
  <s xml:id="echoid-s9714" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div325" type="section" level="1" n="240">
<head xml:id="echoid-head271" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXV. Gedächtnis- und Erinnerungs-Vermögen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9715" xml:space="preserve">Das Gehirn beſitzt eine eigentümliche Fähigkeit, eine <lb/>Vorſtellung, die es einmal ſtark gefaßt hat, eine ganze Zeit-<lb/>lang in ſich zu bewahren. </s>
  <s xml:id="echoid-s9716" xml:space="preserve">Hierauf beruht die Fähigkeit des <lb/>Gedächtniſſes. </s>
  <s xml:id="echoid-s9717" xml:space="preserve">Da man überhaupt nicht weiß, was im Gehirn <lb/>während des Denkens vorgeht, ſo iſt es außerordentlich ſchwer, <lb/>das Gedächtnis richtig zu erklären. </s>
  <s xml:id="echoid-s9718" xml:space="preserve">Man hat indeſſen Urſache <lb/>zu vermuten, daß hierbei etwas Ähnliches vorgeht, wie bei <lb/>den Sinnen, namentlich beim Sehen und Hören.</s>
  <s xml:id="echoid-s9719" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9720" xml:space="preserve">Es iſt nämlich jedermann bekannt, daß, wenn man in <lb/>ein recht ſtarkes Licht ſieht und ſchnell das Auge ſchließt oder
<pb o="78" file="726" n="726"/>
abwendet, man den Eindruck nicht ſofort verliert, ſondern eine <lb/>ganze Weile das Licht im Auge hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s9721" xml:space="preserve">Man nennt dies die <lb/>“Nachempfindung”. </s>
  <s xml:id="echoid-s9722" xml:space="preserve">Es geht mit dem Ohr ebenſo. </s>
  <s xml:id="echoid-s9723" xml:space="preserve">Wenn man <lb/>in einer ſehr langdauernden und rauſchenden Oper geweſen iſt, <lb/>ſo hört man unwillkürlich oft noch mehrere Stunden nachher in <lb/>der tiefſten Stille ein Nachtönen derſelben. </s>
  <s xml:id="echoid-s9724" xml:space="preserve">— In belagerten <lb/>Feſtungen, wo man während des Tages viel hat ſchießen hören, <lb/>glaubt man auch in der ruhigſten Nacht noch immer Kanonen-<lb/>ſchläge zu vernehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9725" xml:space="preserve">— All dies ſind Nachwirkungen der <lb/>Erregung der Sinnesnerven, wobei die Einbildung gar keine <lb/>Rolle zu ſpielen braucht, wie man ſich am beſten bei der <lb/>Nachwirkung eines ſtarken Lichtes im Auge hiervon über-<lb/>zeugen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s9726" xml:space="preserve">— Es ſcheint nun, daß jede Vorſtellung, jeder <lb/>Gedanke auch im Hirn ſolch eine Nachwirkung hinterläßt, wo-<lb/>durch Vorſtellung und Gedanke im Gehirn längere Zeit ver-<lb/>weilen, wenn man auch inzwiſchen andere Vorſtellungen und <lb/>Gedanken gehegt hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s9727" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9728" xml:space="preserve">Schon die einfachſte Geſchichte, die ein Kind begreift, ſetzt <lb/>voraus, daß beim Ende derſelben der Anfang nicht vergeſſen <lb/>worden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9729" xml:space="preserve">Es gehört alſo ſchon ein Gedächtnis dazu, um <lb/>nur eine kleine Geſchichte in ihrem Zuſammenhang zu begreifen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9730" xml:space="preserve">Äußerſt merkwürdig iſt es nun, wahrzunehmen, wie junge <lb/>Kinder ſich oft aufs lebhafteſte für ein ſolches Geſchichtchen <lb/>intereſſieren und nicht Ruhe laſſen, bis man’s ihnen nochmals <lb/>und wiederholt erzählt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s9731" xml:space="preserve">Es iſt dies ein Beweis, daß ſie <lb/>auch wirklich den Zuſammenhang begriffen haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s9732" xml:space="preserve">Allein <lb/>fragt man ſie über die Einzelnheiten, ſo merkt man, daß ſie <lb/>dieſe nicht klar wiſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9733" xml:space="preserve">Ihr Gehirn hat alſo einen Geſamt-<lb/>Eindruck aufgefaßt, während ſich ihnen die Einzelnheiten nicht <lb/>eingeprägt haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s9734" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9735" xml:space="preserve">Oft aber iſt es auch umgekehrt der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s9736" xml:space="preserve">Auch Erwach-<lb/>ſene nehmen oft von einem Buche, einem Gemälde, einem <lb/>Theaterſtück, das ſie ganz wohl verſtanden haben, nicht den
<pb o="79" file="727" n="727"/>
geſamten Inhalt ins Gedächtnis, ſondern bewahren nur eine <lb/>einzelne Scene, behalten das Andenken an eine Einzelheit <lb/>feſt und erkennen das Ganze nach Jahren nicht wieder, ſo <lb/>lange nicht dieſe Einzelheit ihnen entgegentritt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9737" xml:space="preserve">Sowie das <lb/>aber der Fall iſt, wird ihnen von dem einen Punkt aus alles <lb/>Übrige klar. </s>
  <s xml:id="echoid-s9738" xml:space="preserve">Man hat hierbei das Gefühl, als ob der Inhalt <lb/>des Buches, des Gemäldes, des Theaterſtückes im Gedächtnis <lb/>verſchleiert gelegen habe und jetzt mit einem Male lebendig <lb/>hervortrete, wo die wohlbewahrte Einzelheit wiederkehrt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9739" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9740" xml:space="preserve">Man nennt dieſen Vorgang im Gehirn, der ſehr wunder-<lb/>bar iſt, das Erinnern, und dies kommt oft ſo plötzlich, daß <lb/>man davon im höchſten Grade überraſcht iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9741" xml:space="preserve">— Auch hierbei <lb/>ſpielt der Zuſtand des Gehirns eine große Rolle. </s>
  <s xml:id="echoid-s9742" xml:space="preserve">Wir haben <lb/>bereits erwähnt, daß es Gehirn-Krankheiten giebt, wo man <lb/>ſich an faſt ganz bekannte Dinge nicht erinnern kann; </s>
  <s xml:id="echoid-s9743" xml:space="preserve">es giebt <lb/>aber wiederum ganz entgegengeſetzte, krankhafte Zuſtände des <lb/>Gehirns, wo einem längſt vergeſſene Geſchichten und Dinge <lb/>einfallen, auf die man ſich in geſunden Tagen durchaus nicht <lb/>erinnern kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s9744" xml:space="preserve">Erſcheinungen dieſer Art haben oft etwas <lb/>höchſt Wunderbares. </s>
  <s xml:id="echoid-s9745" xml:space="preserve">Es kommt bei Wahnſinnigen vor, daß <lb/>dieſe Krankheit nur von Zeit zu Zeit eintritt, ſo daß geſunde <lb/>Wochen, Monate, ja zuweilen Jahre zwiſchen einem Anfall <lb/>uud dem andern liegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9746" xml:space="preserve">Bei ſolchen traurigen Fällen hat man <lb/>die Beobachtung gemacht, daß der Wahnſinnige irgend eine <lb/>Äußerung thut oder eine Handlung begeht, von der er in ge-<lb/>ſunden Tagen nichts weiß. </s>
  <s xml:id="echoid-s9747" xml:space="preserve">Sobald jedoch ein neuer Anfall <lb/>des Wahnſinns eintritt, weiß der Kranke ganz genau, was er <lb/>im vorigen Anfall geſagt und gethan, und hat die Erinnerung <lb/>daran ſo lebhaft, wie ſie kaum ein Geſunder beſitzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9748" xml:space="preserve">Es handelt <lb/>ſich hier alſo um ähnliche Erſcheinungen, wie wir ſie im hyp-<lb/>notiſchen Tiefſchlaf kennen gelernt haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s9749" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9750" xml:space="preserve">Ähnlich dieſen Fällen iſt es, daß oft in kranken Stunden <lb/>längſt vergeſſene Kindergeſchichten wieder ins Gedächtnis treten;</s>
  <s xml:id="echoid-s9751" xml:space="preserve">
<pb o="80" file="728" n="728"/>
ja man hat Fälle gehabt, wo Menſchen im reifen Alter <lb/>während des Fiebers oder eines krankhaften Halbſchlummers <lb/>lateiniſche und griechiſche Brocken aus der Schulzeit her-<lb/>plauderten, die ſie notoriſch längſt verſchwitzt hatten. </s>
  <s xml:id="echoid-s9752" xml:space="preserve">Nerven-<lb/>ſchwache Frauenzimmer, die nicht ſelten zu vielen Schwindeleien <lb/>mißbraucht werden, ſagen während ihres kranken Halb-<lb/>ſchlummers hochtrabende Reden und halbe Predigten her, die <lb/>ihnen im Gedächtnis geblieben ſind, und führen ſo zum Staunen <lb/>der Leichtgläubigen eine ſogenannte höhere, edlere Sprache, <lb/>deren ſie ſonſt nicht fähig zu ſein ſcheinen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9753" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9754" xml:space="preserve">Bei der Unkenntnis der Gehirnthätigkeit während des <lb/>Denkens läßt ſich freilich vom Gedächtnis wie von dem Er-<lb/>innerungsvermögen wenig Aufklärendes ſagen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9755" xml:space="preserve">Nur die eine <lb/>Thatſache ſteht feſt, daß auch ganz junge Kinder eine ſolche <lb/>Fülle von Dingen im Gedächtnis haben, daß ein Menſchen-<lb/>leben nicht ausreichen würde, ſie alle genau aufzuzählen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9756" xml:space="preserve">Der <lb/>Erwachſene trägt eine Welt von Vorſtellungen, Gedanken und <lb/>Bildern im Kopfe herum und beſitzt eine Sammlung von <lb/>fertigen Wahrnehmungen im Gehirn, die ihn, ſo lange er die-<lb/>ſelben nicht braucht, gar nicht geniert, die aber ſofort bei Ge-<lb/>legenheiten in ſo reicher Fülle in Erinnerung treten, daß man <lb/>deren Zahl eine für unſere Begriffe unendlich große nennen muß.</s>
  <s xml:id="echoid-s9757" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div326" type="section" level="1" n="241">
<head xml:id="echoid-head272" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXVI. Wie ſich das Gehirn beſinnt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9758" xml:space="preserve">Sehr nahe verwandt mit dem Gedächtnis und der Er-<lb/>innerung iſt die Fähigkeit des Geiſtes, ſich auf etwas Ver-<lb/>geſſenes zu beſinnen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9759" xml:space="preserve">es iſt dieſe Fähigkeit nur ein höherer <lb/>Grad von beiden, zu dem noch ein Drittes hinzukommen muß.</s>
  <s xml:id="echoid-s9760" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9761" xml:space="preserve">Das Gedächtnis iſt, wie wir geſehen haben, das Nach-
<pb o="81" file="729" n="729"/>
wirken eines Gedankens, eines Bildes, einer Vorſtellung im <lb/>Gehirn; </s>
  <s xml:id="echoid-s9762" xml:space="preserve">das Erinnern iſt das unwillkürliche Hervorrufen eines <lb/>Eindrucks, eines Bildes, eines Gedankens, wenn ſie bereits ganz <lb/>erloſchen ſcheinen und ohne Anſtrengung ganz erlöſchen würden.</s>
  <s xml:id="echoid-s9763" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9764" xml:space="preserve">Das Gedächtnis behält Dinge, die man oft gern vergeſſen <lb/>möchte. </s>
  <s xml:id="echoid-s9765" xml:space="preserve">Oft möchte man was darum geben, wenn man <lb/>imſtande wäre, ein ſchmerzliches, ein beſchämendes, ein ſchreck-<lb/>liches Ereignis zu vergeſſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9766" xml:space="preserve">aber es bleibt doch unwillkürlich <lb/>friſch im Gehirn. </s>
  <s xml:id="echoid-s9767" xml:space="preserve">Längere Zeit nachher wird zwar das, was <lb/>im Gehirn lebhaft exiſtirte, etwas verwiſcht, und man denkt <lb/>ſeltener daran. </s>
  <s xml:id="echoid-s9768" xml:space="preserve">Die Gedanken vermögen ſich mit andern Dingen <lb/>zu beſchäftigen, ohne von dem Gedächtnis geſtört zu werden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9769" xml:space="preserve">Aber man hat daran noch die unwillkürliche Erinnerung bewahrt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9770" xml:space="preserve"><lb/>Es fällt Einem eine erlebte Scene bei, ſo oft eine äußerliche oder <lb/>innerliche Anregung die leichteſte Veranlaſſung dazu giebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9771" xml:space="preserve">— <lb/>Nach noch längerer Zeit tritt die unwillkürliche Erinnerung <lb/>zurück. </s>
  <s xml:id="echoid-s9772" xml:space="preserve">Man ſpricht dann von ähnlichen Ereigniſſen, ohne von <lb/>der Erinnerung unwillkürlich ergriffen zu werden, und will man <lb/>einmal das Halbvergeſſene wieder in die Erinnerung rufen, ſo <lb/>muß man ſich beſinnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9773" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9774" xml:space="preserve">Was hierbei im Gehirn vorgeht, läßt ſich ebenfalls nicht <lb/>ſicher angeben; </s>
  <s xml:id="echoid-s9775" xml:space="preserve">aber wer auf ſich genau merkt, wird die auf-<lb/>fallendſten Eigentümlichkeiten der Gehirnthätigkeit wahrzunehmen <lb/>Gelegenheit haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s9776" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9777" xml:space="preserve">Es kommt vor, daß man den Namen eines Menſchen ver-<lb/>geſſen hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s9778" xml:space="preserve">aber man kennt den Menſchen doch noch ganz genau. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9779" xml:space="preserve">Man ſieht den Menſchen vor ſich in Gedanken, könnte mit ihm <lb/>ſprechen, iſt imſtande zu ſagen, wo man ihn kennen gelernt <lb/>hat, weiß, was man mit ihm vorhatte, fühlt, was man für <lb/>oder gegen ihn empfindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s9780" xml:space="preserve">Aber wie heißt er? </s>
  <s xml:id="echoid-s9781" xml:space="preserve">Ja, man hat <lb/>es gewußt, man weiß, daß man den Namen oft, ſehr oft genannt <lb/>hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s9782" xml:space="preserve">aber man kann ihn doch nicht ausſprechen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9783" xml:space="preserve">Das Ge-<lb/>dächtnis des Namens iſt hin; </s>
  <s xml:id="echoid-s9784" xml:space="preserve">die Erinnerung daran iſt ge-</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9785" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s9786" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s9787" xml:space="preserve">Volksbücher XI.</s>
  <s xml:id="echoid-s9788" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="82" file="730" n="730"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9789" xml:space="preserve">ſchwunden; </s>
  <s xml:id="echoid-s9790" xml:space="preserve">was bleibt übrig? </s>
  <s xml:id="echoid-s9791" xml:space="preserve">Nun man muß ſich auf ihn <lb/>beſinnen!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9792" xml:space="preserve">Was thut man hierbei? </s>
  <s xml:id="echoid-s9793" xml:space="preserve">Wie fängt man das an?</s>
  <s xml:id="echoid-s9794" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9795" xml:space="preserve">Man ſenkt den Kopf, ſchlägt die Augen nieder, um nichts <lb/>von der Umgebung zu ſehen, greift mit der Hand nach der <lb/>Stirn, als ob es dort ſäße, tappt zwiſchen den Augenbrauen <lb/>umher, fühlt mit den Fingern etwas weiter hinauf, dabei ſpannt <lb/>man gewiſſermaßen das Gehirn, und nimmt einen Ausdruck <lb/>an, ſodaß man jeden Menſchen, den man in ſolcher Stellung <lb/>ſieht, fragen möchte: </s>
  <s xml:id="echoid-s9796" xml:space="preserve">worauf beſinnen Sie ſich denn? </s>
  <s xml:id="echoid-s9797" xml:space="preserve">— Der <lb/>ſich ſo Beſinnende geht in den Gedanken zurück nach der Stelle, <lb/>wo er den bewußten Menſchen zuerſt geſehen, wo er ſich mit <lb/>ihm am lebhafteſten unterhalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s9798" xml:space="preserve">Man ſieht ihn nun noch <lb/>deutlicher, weiß, was er für einen Rock trägt, wie er geht, <lb/>ſteht und ſich hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s9799" xml:space="preserve">Aber der Name? </s>
  <s xml:id="echoid-s9800" xml:space="preserve">der Name? </s>
  <s xml:id="echoid-s9801" xml:space="preserve">— man <lb/>kommt nicht darauf!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9802" xml:space="preserve">Nun fängt man’s anders an. </s>
  <s xml:id="echoid-s9803" xml:space="preserve">Man ſchlägt die Augen <lb/>auf, ſucht im Zimmer herum, glotzt die Wände an, als ob der <lb/>Name irgendwo aufgeſchrieben wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s9804" xml:space="preserve">Man hebt den Blick zur <lb/>Stubendecke, betrachtet die Fliegen, die dort ſpazieren, als ob <lb/>dies auf den Namen bringen könnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s9805" xml:space="preserve">— Man ſchüttelt den <lb/>Kopf, als ob man zu ſich ſagen wollte: </s>
  <s xml:id="echoid-s9806" xml:space="preserve">Nein, da iſt der Name <lb/>nicht zu finden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9807" xml:space="preserve">Man blickt zum Fenſter hinaus, ſieht die <lb/>Menſchen, die Häuſer an — da fährt ein Wagen vorüber — <lb/>Halt! Da kommt es Einem wie ein Blitz durch den Sinn: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9808" xml:space="preserve">der Name fängt mit einem W an.</s>
  <s xml:id="echoid-s9809" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9810" xml:space="preserve">Wie kam man hierauf? </s>
  <s xml:id="echoid-s9811" xml:space="preserve">— Der Wagen, der mit W be-<lb/>ginnt, hat den ſich Beſinnenden hierauf gebracht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9812" xml:space="preserve">Wie iſt nun <lb/>der Name? </s>
  <s xml:id="echoid-s9813" xml:space="preserve">Ja, das weiß man noch nicht; </s>
  <s xml:id="echoid-s9814" xml:space="preserve">aber man fühlt, <lb/>daß man ſich darauf wird beſinnen können; </s>
  <s xml:id="echoid-s9815" xml:space="preserve">man weiß, er fängt <lb/>mit einem W an, und das iſt ſchon etwas.</s>
  <s xml:id="echoid-s9816" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9817" xml:space="preserve">Nun ſetzt man ſich wieder hin, oder ſtellt ſich in einen <lb/>Winkel, ſchlägt die Augen wieder nieder, fühlt wiederum mit den
<pb o="83" file="731" n="731"/>
Fingern nach der Stirn, und klopft gewiſſermaßen wieder bei <lb/>dem Gedächtnis an, ob es denn jetzt nicht dahinterkommen <lb/>könne? </s>
  <s xml:id="echoid-s9818" xml:space="preserve">Es iſt vergeblich. </s>
  <s xml:id="echoid-s9819" xml:space="preserve">Jetzt legt man ſich aufs Raten. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9820" xml:space="preserve">Man ſucht im Gedächtnis Namen, die mit W anfangen, und <lb/>examiniert ſich ordentlich. </s>
  <s xml:id="echoid-s9821" xml:space="preserve">Man ſpielt mit ſich Frage und Ant-<lb/>wort, als ob man einen andern Menſchen vor ſich hätte, den <lb/>man auf den richtigen Namen bringen will. </s>
  <s xml:id="echoid-s9822" xml:space="preserve">Heißt er Wagner? </s>
  <s xml:id="echoid-s9823" xml:space="preserve"><lb/>Nein! Wieſener? </s>
  <s xml:id="echoid-s9824" xml:space="preserve">Nein! Wolf? </s>
  <s xml:id="echoid-s9825" xml:space="preserve">Bewahre! es kommt gar <lb/>kein O darin vor! Alſo man weiß ſchon, was für Buchſtaben <lb/>nicht darin vorkommen!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9826" xml:space="preserve">Man tappt nun unter ganz bekannten Namen herum, und <lb/>gerät auf Wilhelm. </s>
  <s xml:id="echoid-s9827" xml:space="preserve">Halt! Da hat man wieder eine Spur <lb/>ertappt, der geſuchte Name klingt ungefähr ähnlich; </s>
  <s xml:id="echoid-s9828" xml:space="preserve">aber doch <lb/>— das weiß man beſtimmt — ganz anders. </s>
  <s xml:id="echoid-s9829" xml:space="preserve">Ein I, ein L, <lb/>ein M kommt darin vor; </s>
  <s xml:id="echoid-s9830" xml:space="preserve">aber Wilhelm iſt es nicht, das <lb/>ſteht feſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9831" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9832" xml:space="preserve">Trotzdem wird man den Namen Wilhelm nicht los. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9833" xml:space="preserve">Man probiert und ſchwatzt ſich Namen vor, die kein Menſch <lb/>führt, und doch hat man ein gewiſſes Gefühl, daß man dem <lb/>Dinge auf der Spur iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9834" xml:space="preserve">Man verliert die Geduld mit ſich <lb/>ſelbſt, ſchlägt auf den Tiſch, und ſchilt ſich ſelbſt einen Dumm-<lb/>kopf, man ſtaunt ſich ſelbſt an, denn der Name liegt — das <lb/>weiß man — ganz nahe, er ſchwebt Einem ſo zu ſagen auf <lb/>der Zunge. </s>
  <s xml:id="echoid-s9835" xml:space="preserve">Man lacht, man wird wieder ganz wild — Herr <lb/>Gott! da hat man’s, Wildmann heißt er!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9836" xml:space="preserve">Wie kam man dahinter? </s>
  <s xml:id="echoid-s9837" xml:space="preserve">Woher wußte man, daß der <lb/>Name nicht ſo klingt, ohne ihn richtig nennen zu können? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9838" xml:space="preserve">Wiſſenſchaftlich iſt das ſchwer zu ſagen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9839" xml:space="preserve">Man weiß nur ſo <lb/>viel, daß der Wagen das W gab, daß Wilhelm zu einigen <lb/>Buchſtaben verhalf, und daß man, als man wild wurde, ohne <lb/>das Wort zu nennen, hinter Wildmann kam.</s>
  <s xml:id="echoid-s9840" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9841" xml:space="preserve">Dieſe Beobachtungen ſind etwas; </s>
  <s xml:id="echoid-s9842" xml:space="preserve">aber ſie haben mehr <lb/>Rätſelhaftes als Erklärendes an ſich, obgleich ſie wiederum
<pb o="84" file="732" n="732"/>
beſtätigen, daß man beim Beſinnen gewiſſe dunkle Regeln befolgt, <lb/>die ſicherlich Lebensregeln des Geiſtes ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s9843" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div327" type="section" level="1" n="242">
<head xml:id="echoid-head273" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXVII. Vom Vergeſſen alter und dem Erzeugen</emph> <lb/><emph style="bf">neuer Gedanken.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9844" xml:space="preserve">Ebenſo wie man ſich durch Anſtrengung auf etwas beſinnen <lb/>kann, ebenſo vermag man auch mit Vorſatz ſich irgend etwas <lb/>aus dem Sinn zu ſchlagen und es zu vergeſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9845" xml:space="preserve">Nur muß man <lb/>hierbei in entgegengeſetzter Weiſe wie beim Beſinnen verfahren.</s>
  <s xml:id="echoid-s9846" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9847" xml:space="preserve">Wer einen ſchmerzlichen, peinigenden, ſchweren Gedanken <lb/>von ſich abthun will, muß ſich mit neuen Gedanken beſchäftigen, <lb/>die dem zu meidenden fernliegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9848" xml:space="preserve">Er darf ſeinen Sinnen <lb/>keine Veranlaſſung bieten, daß ſie etwas Ähnliches wie das <lb/>Erlebte vorbringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9849" xml:space="preserve">Wer an einem Krankenlager, an einem <lb/>Todtenbette ſchwer zu ertragende Eindrücke empfangen hat, <lb/>der muß, wenn er nicht unterliegen will, eine Reiſe unternehmen <lb/>und neue Umgebungen ſuchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9850" xml:space="preserve">Denkenden Menſchen iſt es in <lb/>ſolcher Lage möglich, ſich auf ein ihnen neues Gebiet der <lb/>Wiſſenſchaft zu legen, durch Studieren, durch geiſtige Be-<lb/>ſchäftigung zu tröſten. </s>
  <s xml:id="echoid-s9851" xml:space="preserve">— Beim Beſinnen ſucht man nach <lb/>Spuren, die auf das Vergeſſene leiten; </s>
  <s xml:id="echoid-s9852" xml:space="preserve">beim Streben nach <lb/>Vergeſſenheit muß man die Spuren meiden, und ſeinem Geiſte <lb/>neue Gedanken, neue Richtungen, neue Eindrücke bieten. </s>
  <s xml:id="echoid-s9853" xml:space="preserve">Je <lb/>lebhafter die neuen Eindrücke ſind, deſto mehr treten die alten <lb/>in den Hintergrund, und obgleich das wirklich erſchütternde <lb/>Erlebnis nicht vergeſſen wird, vermag man es dahin zu bringen, <lb/>daß es nicht mehr ſo ſchneidend und ſchmerzhaft wirkt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9854" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9855" xml:space="preserve">Wiſſenſchaftlich iſt es nicht leicht, ſich dies Vergeſſen zu <lb/>erklären. </s>
  <s xml:id="echoid-s9856" xml:space="preserve">Es giebt Naturforſcher, welche meinen, daß wenn <lb/>die Maſſe des Gehirns durch Eſſen und Trinken ſich erneut, <lb/>und die alte Gehirnmaſſe aus dem Körper nach und nach aus-
<pb o="85" file="733" n="733"/>
geſchieden wird, daß dann auch die alten Gedanken, Gefühle <lb/>u. </s>
  <s xml:id="echoid-s9857" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s9858" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s9859" xml:space="preserve">ſich verlieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s9860" xml:space="preserve">Allein abgeſehen davon, daß überhaupt <lb/>das Weſen des Geiſtes wohl nicht in ſolcher Weiſe in den <lb/>Stoff verlegt werden darf, ſpricht auch die Erfahrung dagegen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9861" xml:space="preserve">denn Menſchen, die es meiden, nach einem ſchmerzlichen Er-<lb/>eignis neuen Gedanken in ſich Raum zu geben, verfallen trotz <lb/>des Eſſens und Trinkens und des Ausſcheidens, verfallen alſo <lb/>trotz des Stoffwechſels in Schwermut und geraten nach Jahr-<lb/>zehnten noch immer tiefer hinein in den einen ſchmerzlichen <lb/>Gedanken, ſo daß unter Umſtänden ein Wahnſinn eintritt, in <lb/>welchem der alte Gedanke durch die ganze oft lange Lebens-<lb/>zeit des Leidenden immer lebhafter das Gehirn desſelben be-<lb/>ſchäftigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9862" xml:space="preserve">— Im hohen Alter hat man ſchwerlich im Gehirn <lb/>auch nur noch ein einziges Teilchen von der Gehirnmaſſe, die man <lb/>als Kind hatte, und gleichwohl ſagen Greiſe, wenn ſie kindiſch <lb/>werden, dieſelben Jugendlieder und Gebetſtückchen auf, die ſie <lb/>als Kinder herſagten, obwohl ſie durch Jahre und Jahrzehnte <lb/>nicht an dieſelben gedacht haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s9863" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9864" xml:space="preserve">Wahrſcheinlicher iſt demnach die Erklärung, daß Gedanken, <lb/>Vorſtellungen u. </s>
  <s xml:id="echoid-s9865" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s9866" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s9867" xml:space="preserve">nur dann in den Hintergrund treten, <lb/>wenn ſie von neuen Gedanken und Vorſtellungen dauernd ver-<lb/>drängt werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9868" xml:space="preserve">Obgleich man nicht ſagen kann, wie dies Ver-<lb/>drängen vor ſich geht, läßt es ſich in ſolcher Weiſe leichter <lb/>faſſen, weshalb Eindrücke aus den Kinderjahren in ſolchen <lb/>Greiſen beſonders lebhaft hervortreten, die durch das reifere <lb/>Lebensalter mit praktiſchen Lebensanſchauungen und Thätig-<lb/>keiten beſchäftigt geweſen waren. </s>
  <s xml:id="echoid-s9869" xml:space="preserve">Man kann ſich nämlich denken, <lb/>daß in einer Zeit, wo ihr Geiſt keine Gelegenheit hat, ſich mit <lb/>dem zu beſchäftigen, was durch ihr reifes Mannesalter ſie <lb/>intereſſierte, die alten, längſt verdrängten Eindrücke wieder leb-<lb/>haft hervortreten.</s>
  <s xml:id="echoid-s9870" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9871" xml:space="preserve">Nicht minder ſchwierig wie die wiſſenſchaftliche Erklärung <lb/>vom Beſinnen, vom Vergeſſen u. </s>
  <s xml:id="echoid-s9872" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s9873" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s9874" xml:space="preserve">, iſt überhaupt die Er-
<pb o="86" file="734" n="734"/>
klärung, wie neue Gedanken oft im Gehirn auftauchen, neue <lb/>Gedanken, die man all’ ſein Lebtag noch nicht gehabt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s9875" xml:space="preserve">— <lb/>Im gewöhnlichen Leben ſagt man, man ſei auf einen glücklichen <lb/>Einfall gekommen, und drückt damit genugſam aus, daß der <lb/>neue Gedanke wie ein unbekannter Gaſt überraſchend, unvor-<lb/>bereitet gekommen ſei. </s>
  <s xml:id="echoid-s9876" xml:space="preserve">Dem Künſtler, dem Dichter und Denker <lb/>paſſiert es oft, daß er mitten in ſeiner Arbeit, wo er vermeint, <lb/>es mit fertigen Gedanken und Vorſtellungen zu thun zu haben, <lb/>von einem neuen Gedanken ſo überraſcht wird, als ob es nicht <lb/>ſein eigenes Gehirn wäre, das ihm dieſen geliefert hat, und <lb/>dies iſt oft ſo merkwürdig, daß man ſich nicht wundern darf, <lb/>wie man im Altertum, um ſolchen Vorgang bildlich darzuſtellen, <lb/>annahm, daß Grazien, Muſen oder Göttinnen der Weisheit <lb/>dem Künſtler, Dichter und Denker das Neue eingegeben hätten.</s>
  <s xml:id="echoid-s9877" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9878" xml:space="preserve">Was bei ſolchen Geiſtesprodukten in der ſtillen Studier-<lb/>ſtube vorgeht, das ſieht man oft bei bedeutenden Rednern <lb/>mitten in einer großen Verſammlung. </s>
  <s xml:id="echoid-s9879" xml:space="preserve">Der Redner betritt die <lb/>Tribüne nur mit der Überzeugung, daß er für etwas ſprechen <lb/>muß, das er für wahr, oder gegen etwas, das er für falſch <lb/>hält. </s>
  <s xml:id="echoid-s9880" xml:space="preserve">Er beginnt zu ſprechen und zwar in der ruhigen Ge-<lb/>wißheit, daß ihm die Worte für ſeine fertigen Gedanken <lb/>nicht fehlen werden: </s>
  <s xml:id="echoid-s9881" xml:space="preserve">aber im Lauf der Rede überraſchen ihn <lb/>neue Gedanken, neue Beweiſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s9882" xml:space="preserve">Er wird durch das Neue ſelber <lb/>fortgeriſſen, als ob nicht ſein eigenes Gehirn es wäre, welches <lb/>ihm die Worte diktiert; </s>
  <s xml:id="echoid-s9883" xml:space="preserve">er fühlt, daß er ſich ſelber überraſcht; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9884" xml:space="preserve">er ſpricht weit beſſer, als er zu hoffen gewagt hat, Worte und <lb/>Gedanken kommen gleichzeitig. </s>
  <s xml:id="echoid-s9885" xml:space="preserve">Es iſt dem Redner, als ob er <lb/>ſich ſelber etwas Neues ſage, und nun gerät er in Feuer, <lb/>ſein Auge leuchtet, ſeine Bruſt iſt gehoben, ſein Blut in <lb/>Wallung, ſein ganzer Körper belebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9886" xml:space="preserve">Er weiß ſelbſt nicht im <lb/>Augenblick, wie und wo er enden wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s9887" xml:space="preserve">Der Strom der Ge-<lb/>danken führt ihn weiter hinaus, als er es vermutet hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s9888" xml:space="preserve">Schlag-<lb/>wort fällt auf Schlagwort, Gedanke auf Gedanke, Beweis auf
<pb o="87" file="735" n="735"/>
Beweis, und wenn er im glücklichen Moment Maß zu halten <lb/>weiß und an der richtigen Stelle abbricht und endet, ſo tritt <lb/>er mit dem Gefühl von der Tribüne, als ob ihm ein fremder <lb/>Geiſt hierbei geholfen, und auch die Hörer ſagen es, er ſei be-<lb/>geiſtert und habe ſie begeiſtert!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9889" xml:space="preserve">Im Altertum wähnte man, oder drückte man es dahin <lb/>aus, daß ein Gott ihm die Worte in den Mund gelegt; </s>
  <s xml:id="echoid-s9890" xml:space="preserve">ſo <lb/>fremdartig iſt dieſes ſichtbare Entſtehen der neuen Gedanken im <lb/>Gehirn; </s>
  <s xml:id="echoid-s9891" xml:space="preserve">jetzt weiß man zwar, daß es doch nur eine ſchaffende <lb/>Kraft des Geiſtes iſt, eine Kraft, die überraſchend ſchnell <lb/>wirkt, und ſelbſt vom Menſchen, in welchem ſie thätig auftritt, <lb/>unerkannt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9892" xml:space="preserve">— Dies aber wiſſenſchaftlich zu erklären, bleibt <lb/>für jetzt unmöglich, weil der Geiſt in der That noch eine Er-<lb/>ſcheinung iſt, die in uns wirkt, ohne daß wir ſie gründlich <lb/>kennen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9893" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div328" type="section" level="1" n="243">
<head xml:id="echoid-head274" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXVIII. Wie man im Gehirn etwas überlegt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9894" xml:space="preserve">Es iſt höchſt merkwürdig, daß der Menſch oft mit ſeinem <lb/>Geiſt ſo umgeht, als ob dieſer gar nicht ihm gehörte. </s>
  <s xml:id="echoid-s9895" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9896" xml:space="preserve">Schon beim Beſinnen ſtellt man ſeinem eigenen Gehirn <lb/>die Forderung, etwas zu finden, was augenblicklich nicht im Ge-<lb/>hirn vorhanden zu ſein ſcheint. </s>
  <s xml:id="echoid-s9897" xml:space="preserve">Beim Schaffen neuer Gedanken <lb/>geht das noch weiter, denn der Geiſt ſtellt ſich ſelber die Auf-<lb/>gabe, etwas noch gar nicht Dageweſenes ausfindig zu machen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9898" xml:space="preserve">Es iſt kurios genug, daß ein Menſch ſich ſelber etwas Neues <lb/>ſagen ſoll, und doch geſchieht es ſehr oft: </s>
  <s xml:id="echoid-s9899" xml:space="preserve">man wird von ſeinem <lb/>eigenen Einfall überraſcht, als ob der Einfall nicht eben im <lb/>eignen Gehirn erzeugt worden wäre.</s>
  <s xml:id="echoid-s9900" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9901" xml:space="preserve">Man geht aber hierin noch kurioſer zu Werke, wenn man <lb/>etwas überlegen will.</s>
  <s xml:id="echoid-s9902" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9903" xml:space="preserve">In ſolchem Moment ſetzt man ſich in irgend einer Ecke <lb/>nieder, wo man von äußern Eindrücken nicht geſtört zu werden
<pb o="88" file="736" n="736"/>
fürchtet, und fängt an ein Zwiegeſpräch zu halten, als ob man <lb/>gar zwei ganz andere Menſchen vor ſich hätte.</s>
  <s xml:id="echoid-s9904" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9905" xml:space="preserve">Man geht hierin ſo weit, ſich ſelber mit Du anzureden, <lb/>und fragt ſich: </s>
  <s xml:id="echoid-s9906" xml:space="preserve">Nun, was willſt Du jetzt thun?</s>
  <s xml:id="echoid-s9907" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9908" xml:space="preserve">Auf dieſe Frage verwandelt man ſich wiederum in eine <lb/>zweite Perſon, die als Ratgeber auftritt, und dieſer Ratgeber <lb/>antwortet nach einiger Zeit: </s>
  <s xml:id="echoid-s9909" xml:space="preserve">Weißt Du was? </s>
  <s xml:id="echoid-s9910" xml:space="preserve">mach’ es ſo <lb/>und ſo! —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9911" xml:space="preserve">Nun hält man wieder eine Weile ſtill, und fragt wiederum <lb/>den Erſtern: </s>
  <s xml:id="echoid-s9912" xml:space="preserve">Nun, was meinſt Du dazu? </s>
  <s xml:id="echoid-s9913" xml:space="preserve">Was haſt Du dagegen?</s>
  <s xml:id="echoid-s9914" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9915" xml:space="preserve">Ja, erwidert der Gefragte; </s>
  <s xml:id="echoid-s9916" xml:space="preserve">es geht nicht, man muß hier-<lb/>bei dies und jenes bedenken! —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9917" xml:space="preserve">Nun läßt man wieder den Ratgeber auftreten, der ſich zu-<lb/>weilen gar nicht ſo leicht überzeugen will und mit einer ge-<lb/>wiſſen Hartnäckigkeit ſeine Anſicht verteidigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9918" xml:space="preserve">Hierauf läßt <lb/>man den Ratgeber ſchweigen und die andere eingebildete Perſon <lb/>ſprechen, das geht ſo eine Weile fort, bis man Beiden Schweigen <lb/>gebietet, und darauf wie ein Richter das Gehörte abwägt und <lb/>die Entſcheidung trifft: </s>
  <s xml:id="echoid-s9919" xml:space="preserve">ſo ſoll es ſein!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9920" xml:space="preserve">Nicht ſelten geht man aber noch weiter. </s>
  <s xml:id="echoid-s9921" xml:space="preserve">Man verwirft <lb/>beider Anſichten, ſagt ihnen gewiſſermaßen: </s>
  <s xml:id="echoid-s9922" xml:space="preserve">Geht, Ihr habt <lb/>Beide nicht das Richtige getroffen! Laßt mich allein, ich will <lb/>meinen Entſchluß ſelber faſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9923" xml:space="preserve">— Man geht auf und ab in <lb/>der Stube und will ſich ſelber zu einer Entſcheidung heraus-<lb/>fordern; </s>
  <s xml:id="echoid-s9924" xml:space="preserve">aber man hat das Gefühl, als wenn alles bisher An-<lb/>gehörte doch nicht das Treffende ſei und — man muß noch <lb/>weiter überlegen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9925" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9926" xml:space="preserve">Man ruft wieder die zwei eingebildeten verhandelnden <lb/>Perſonen vor ſich, fragt wiederum, was der und was jener <lb/>meint, hört wiederum ſeinen eigenen Geiſt ab, der für zwei <lb/>Perſonen von entſchiedener Anſicht ſpricht, wägt wiederum das <lb/>Gehörte mit einer richterlichen Miene ab, und kann man dennoch <lb/>keinen Entſchluß faſſen, iſt der Fall immer noch nicht ſpruch-
<pb o="89" file="737" n="737"/>
reif und drängt die Zeit zu einer Entſcheidung, dann — es iſt <lb/>eigentlich eine Schande, ſo etwas zu geſtehen — dann geht man <lb/>oft ſo weit, den Zufall oder gar das Loos entſcheiden zu laſſen!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9927" xml:space="preserve">Wer nicht Luſt hat, ſich ſelber zu belügen, der wird ein-<lb/>geſtehen, daß er oft in ähnlichen Lagen nicht beſſer gehandelt <lb/>hat, wenn man auch bemüht iſt, während dieſer Handlung <lb/>ſeine Schwäche hinter irgend einem Scherz, oder einem ge-<lb/>machten Grundſatz oder einer erfundenen Ausrede zu verbergen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9928" xml:space="preserve">— Im Altertum war man ſo ſchamhaft nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9929" xml:space="preserve">Man ließ in <lb/>ſolchen Fällen das Los entſcheiden und beſchönigte es mit <lb/>dem Namen eines Gottesurteils; </s>
  <s xml:id="echoid-s9930" xml:space="preserve">jetzt läßt man das jüngſte <lb/>Kind ein Lotterielos ziehen, oder einen Würfel über Ja und <lb/>Nein den Ausſpruch thun. </s>
  <s xml:id="echoid-s9931" xml:space="preserve">Der Menſch iſt ſo gewöhnt, bei all’ <lb/>ſeinem Thun nach einem Grund zu ſuchen, daß er, wo der <lb/>Verſtand ſchweigt, froh iſt, wenn ihm der Unverſtand einen <lb/>Scheingrund giebt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9932" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9933" xml:space="preserve">Indeſſen gehört dieſer letztere ſehr beſchämende Fall nicht <lb/>@irekt in unſer Thema; </s>
  <s xml:id="echoid-s9934" xml:space="preserve">wir wollen zu der ſonderbaren Er-<lb/>ſcheinung zurückkehren, daß der Menſch beim ſogenannten <lb/>“Überlegen” ſeinen Geiſt gewiſſermaſſen in drei Teile ſpaltet. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9935" xml:space="preserve">Der Eine ſpricht für, der Andere gegen etwas, und der Dritte <lb/>ſtellt ſich wie ein Richter über Beide, um ſein Urteil zu fällen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9936" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9937" xml:space="preserve">Die beſſeren juriſtiſchen Arbeiten und die vorzüglichern <lb/>dramatiſchen Dichtungen geben oft die herrlichſten Muſter ſolcher <lb/>höchſt wunderbaren geiſtigen Spiele. </s>
  <s xml:id="echoid-s9938" xml:space="preserve">— Im Kopfe eines vor-<lb/>züglichen juriſtiſchen Schriftſtellers ordnet ſich alles ſo, daß <lb/>man anfangs einſieht, wie die eine Partei vollkommen gerecht <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9939" xml:space="preserve">Sodann tritt die andere Partei auf und macht ihre An-<lb/>ſprüche in einer Weiſe geltend, welche die geiſtige Wage ganz <lb/>nach ihrer Seite hinneigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9940" xml:space="preserve">Endlich tritt der Juriſt ſelber auf, <lb/>zerſtört oft die Anſichten Beider und findet den richtigſten Aus-<lb/>ſpruch, der zwiſchen dem Wahren und dem Falſchen der ent-<lb/>gegenſtehenden Parteien die treffende Entſcheidung bringt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9941" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="90" file="738" n="738"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9942" xml:space="preserve">Im Kopfe eines bedeutenden dramatiſchen Dichters iſt dies <lb/>noch in höherem Grade der Fall, obgleich es dieſer mehr mit <lb/>dem Wollen und Streben ſeiner erdichteten Perſonen zu thun <lb/>hat, als mit ihrem rein geiſtigen Denken. </s>
  <s xml:id="echoid-s9943" xml:space="preserve">Schwerlich hat wohl <lb/>jemand mit Verſtändnis das in dieſer Beziehung vorzüglichſte <lb/>Werk Goethe’s, “Torquato Taſſo” geleſen, ohne voll Be-<lb/>wunderung wahrgenommen zu haben, wie im Geiſte Goethe’s <lb/>jede einzelne Perſon vollkommen richtig denkt, und es dieſem <lb/>großen Dichter doch gelungen iſt, ſich von keiner der Anſichten <lb/>beherrſchen zu laſſen, ſondern wie ein erhabener Richter und <lb/>Ordner über ihnen zu ſtehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9944" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9945" xml:space="preserve">Die wiſſenſchaftliche Erklärung für dieſe Erſcheinungen iſt <lb/>äußerſt ſchwierig; </s>
  <s xml:id="echoid-s9946" xml:space="preserve">man hat nur eine leiſe Spur einer ſolchen <lb/>Erklärung, wenn man eine eigentümliche Fähigkeit des Gehirns <lb/>in Betracht zieht, was wir im nächſten Artikel thun wollen, <lb/>ſoweit unſere allgemeinfaßliche Schreibart dies zuläßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9947" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div329" type="section" level="1" n="244">
<head xml:id="echoid-head275" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXIX. Die Energie.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9948" xml:space="preserve">Wenn man ſich einen Einblick in das verſchaffen will, was <lb/>während des Überlegens im Gehirn vorgeht, während dieſes <lb/>Herausfordens des Geiſtes, in welchem man von ihm etwas <lb/>verlangt, was ſcheinbar in ihm nicht vorhanden iſt, ſo muß <lb/>man ſich vorerſt mit einer Eigenſchaft des Nervenlebens über-<lb/>haupt vertraut machen, die an ſich freilich noch nicht erklärt, die <lb/>aber in ihrer Erſcheinung ganz bekannt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9949" xml:space="preserve">Wir meinen die <lb/>Energie.</s>
  <s xml:id="echoid-s9950" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9951" xml:space="preserve">Die Kräfte der toten Natur beſitzen das nicht, was man <lb/>Energie nennt; </s>
  <s xml:id="echoid-s9952" xml:space="preserve">auch in der Pflanze iſt dies nicht vorhanden; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9953" xml:space="preserve">nur die tieriſchen Weſen, die ein Nervenleben führen, und der <lb/>Menſch, der ein höheres, ein Geiſtesleben lebt, das mit der <lb/>Thätigkeit der Nerven und namentlich des Gehirns enge ver-
<pb o="91" file="739" n="739"/>
bunden iſt, nur bei dieſen kommt das vor, was man unter <lb/>Energie verſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9954" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9955" xml:space="preserve">Die Anziehungskraft der Erde bleibt ſich ſtets gleich, hier <lb/>iſt von einer Energie nicht die Rede. </s>
  <s xml:id="echoid-s9956" xml:space="preserve">Ein Magnet hat eine <lb/>Anziehungs- und Abſtoßungskraft, die zwar künſtlich geſchwächt <lb/>und künſtlich verſtärkt werden kann; </s>
  <s xml:id="echoid-s9957" xml:space="preserve">aber der Magnet ſelber <lb/>iſt hierbei ohne Energie. </s>
  <s xml:id="echoid-s9958" xml:space="preserve">Ganz ſo verhält es ſich mit der <lb/>chemiſchen und elektriſchen Kraft. </s>
  <s xml:id="echoid-s9959" xml:space="preserve">Es verbinden oder trennen <lb/>ſich zwar zwei chemiſche Stoffe oft mit großer Heftigkeit, wobei <lb/>Flammen unter ſtarkem Knall entſtehen können, und der Blitz <lb/>und Donner iſt gleichfalls eine Erſcheinung elektriſcher Natur, <lb/>die ſehr gewaltſam und erſchütternd hervortritt; </s>
  <s xml:id="echoid-s9960" xml:space="preserve">aber in all <lb/>dem herrſcht nicht Energie, wie wir ſie ſogleich bei Tier und <lb/>Menſchen ſehen werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9961" xml:space="preserve">Ebenſowenig iſt die Pflanze in ihrem <lb/>Wachstum einer Energie fähig, obwohl ſie während gewiſſer <lb/>Zeiten aus eigenem Antrieb ſtärker im Wachstum vorſchreitet, <lb/>die Sproſſen ſchneller treibt, den Blütenkelch plötzlich öffnet und, <lb/>wie bei mancher Spring-Pflanze, mit einer eignen Kraft auf-<lb/>ſchnellt und die Samen gewaltſam fortſchleudert.</s>
  <s xml:id="echoid-s9962" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9963" xml:space="preserve">In der Lebensthätigkeit des Tieres und noch mehr in der <lb/>des Menſchen tritt eine Energie hervor. </s>
  <s xml:id="echoid-s9964" xml:space="preserve">Eine und dieſelbe <lb/>Handlung des Tieres wird jetzt mit Gelaſſenheit, bald darauf <lb/>aber mit Heftigkeit ausgeführt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9965" xml:space="preserve">Das Tier kann gehen, kann <lb/>ſchneller fortſchreiten, laufen, ſpringen und ſogar im Sprung <lb/>durch einen gewaltigen Anſatz, durch ſtarke Kraftanſtrengung <lb/>über ſehr beträchtliche Strecken hinüberſetzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9966" xml:space="preserve">Dieſe ungewöhn-<lb/>liche Kraftanſtrengung ſchreibt man der Energie zu, obwohl, <lb/>wie wir ſogleich ſehen werden, auch bei ganz ſchwachen An-<lb/>ſtrengungen die Energie nöthig iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9967" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9968" xml:space="preserve">Gemeinhin denkt man ſich die Energie nur mit dem Willen <lb/>verbunden, und ſtellt ſich hierbei vor, daß die Heftigkeit gewiſſer <lb/>Bewegungen des Tieres nur daher rühre, weil es einen be-<lb/>wußten Reiz empfindet, ſo zu handeln; </s>
  <s xml:id="echoid-s9969" xml:space="preserve">indeſſen zeigt eine
<pb o="92" file="740" n="740"/>
nähere Betrachtung, daß auch bei willenloſen Bewegungen der <lb/>Unterſchied zwiſchen Schlaffheit und Energie ſtattfindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s9970" xml:space="preserve">Das <lb/>ausgeſchnittene Herz eines Froſches ſchlägt ſtundenlang fort, <lb/>der Herzſchlag wird ſodann matter; </s>
  <s xml:id="echoid-s9971" xml:space="preserve">reizt man es aber, wie <lb/>z. </s>
  <s xml:id="echoid-s9972" xml:space="preserve">B.</s>
  <s xml:id="echoid-s9973" xml:space="preserve">, wenn man es mit einer ſcharfen Nadel ſticht, ſo zuckt <lb/>es wiederum heftiger, das heißt, es erzeugt ſich eine Energie. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9974" xml:space="preserve">Im Fieber iſt der Puls heftig energiſch, ohne daß man etwas <lb/>davon weiß. </s>
  <s xml:id="echoid-s9975" xml:space="preserve">Der Atem nimmt ebenfalls bald eine Be-<lb/>ſchleunigung, bald eine Langſamkeit an, ohne Wiſſen und Wollen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9976" xml:space="preserve"><lb/>Die Darmbewegungen ſind gleichen Verſchiedenheiten unter-<lb/>worfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9977" xml:space="preserve">Mit einem Worte, das ganze pflanzliche Leben des <lb/>tieriſchen Körpers iſt nach Umſtänden ebenſo einer Energie <lb/>fähig, wie diejenigen Bewegungen, die mit Wiſſen und <lb/>Willen geſchehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9978" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9979" xml:space="preserve">Da aber das ganze Leben des Tieres nur von der Thätigkeit <lb/>der Nerven abhängt, ſo hat man die Energie nur in den Nerven <lb/>zu ſuchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9980" xml:space="preserve">Ja, man hat Urſache anzunehmen, daß die Nerven <lb/>ohne Energie gar nicht thätig ſein können. </s>
  <s xml:id="echoid-s9981" xml:space="preserve">— Im gewöhnlichen <lb/>Leben freilich nimmt man nur die heftigere, plötzlichere, ſchnellere, <lb/>außergewöhnliche Thätigkeit der Nerven als energiſch an; </s>
  <s xml:id="echoid-s9982" xml:space="preserve">wiſſen-<lb/>ſchaftlich jedoch kann man nur von ſchwächerer und ſtärkerer <lb/>Energie ſprechen, denn auch das matteſte und ſchlaffſte Leben <lb/>bedarf einer Energie.</s>
  <s xml:id="echoid-s9983" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9984" xml:space="preserve">Soweit nun Bewegungen des Körpers vom Willen ab-<lb/>hängen, iſt auch die ſtärkere oder ſchwächere Energie vom Willen <lb/>abhängig. </s>
  <s xml:id="echoid-s9985" xml:space="preserve">Zum langſamen Gehen iſt eine Energie nötig; </s>
  <s xml:id="echoid-s9986" xml:space="preserve">wir <lb/>können aber durch unſeren Willen dieſe Energie verſtärken und <lb/>laufen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9987" xml:space="preserve">Wenn unſer Gehirn lebhaft mit einem Gedanken be-<lb/>ſchäftigt iſt, hebt ſich die Energie des Leibes, wir gehen un-<lb/>willkürlich ſchneller. </s>
  <s xml:id="echoid-s9988" xml:space="preserve">Stoßen wir plötzlich auf einen Zweifel, <lb/>ſo bleiben wir mitten im Wege ſtehen, ohne daß wir es be-<lb/>merken. </s>
  <s xml:id="echoid-s9989" xml:space="preserve">Durch unſeren Willen vermögen wir unſerer Fauſt <lb/>eine Kraft zu verleihen, die das gewöhnliche Maß unſerer
<pb o="93" file="741" n="741"/>
Kraft überſteigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9990" xml:space="preserve">In der Leidenſchaft, die eben auch nur eine <lb/>geſteigerte Energie hervorbringt, ſind wir imſtande, eine Thür <lb/>einzurennen, die uns ſonſt ganz felſenfeſt dünkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9991" xml:space="preserve">— Das Alles <lb/>ſind bekannte Thatſachen, die es beweiſen, wie der Wille im <lb/>Gehirn die Energie der Nerven hervorruft, verſtärkt, und je <lb/>nach den Umſtänden bis zu einer Höhe zu ſteigern imſtande iſt, <lb/>durch die man Thaten vollbringt, deren man ſich ſonſt nicht <lb/>für fähig hält.</s>
  <s xml:id="echoid-s9992" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9993" xml:space="preserve">Dieſelbe Energie kann man auch durch den Willen den <lb/>Sinnesnerven erteilen, wodurch dieſe zu ſtärkerer Thätigkeit <lb/>angeregt werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9994" xml:space="preserve">Man kann den Augennerv empfänglicher für <lb/>Licht, den Ohrennerv empfänglicher für einen beſtimmten Ton <lb/>ſpannen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9995" xml:space="preserve">In gleicher Weiſe aber kann das Gehirn ſeine eigne <lb/>Energie erhöhen, und ſeine Thätigkeit, das Denken, in einem <lb/>Grade ſteigern, daß man in der That geiſtreicher wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s9996" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9997" xml:space="preserve">Der Dichter, der Denker oder derjenige, der etwas über-<lb/>legen will, verleiht in der That ſeinem Gehirn eine Energie, <lb/>und macht es zu kräftigeren, richtigeren Gedanken fähiger, als <lb/>es vorher war. </s>
  <s xml:id="echoid-s9998" xml:space="preserve">— Ganz ſo wie der Wille der Armnerven eine <lb/>größere Energie verleihen kann und die Muskeln fähig macht, <lb/>eine ſonſt nicht gewohnte Laſt aufzunehmen, ganz ſo verleiht <lb/>das Gehirn ſich ſelber eine Energie, um beſſer, klarer denken <lb/>zu können als gewöhnlich, und es entſtehen demnach neue Ge-<lb/>danken im Gehirn, ganz ähnlich wie die Energie im Arm neue, <lb/>überraſchende Handlungen erzeugt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9999" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div330" type="section" level="1" n="245">
<head xml:id="echoid-head276" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXX. Eigentümlichkeiten der Energie.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10000" xml:space="preserve">Wenn das, was wir von der Energie geſagt haben, richtig <lb/>iſt, ſo muß man freilich vorausſetzen, daß das große Gehirn, <lb/>außerdem daß es der Sitz des Denkens, des Bewußtſeins, <lb/>auch noch der Sitz einer allgemeinen Kraft, der Energie, iſt,
<pb o="94" file="742" n="742"/>
einer Energie, welche die geſamte Lebensthätigkeit im Körper auf <lb/>Momente wenigſtens zu ſteigern imſtande iſt, und ganz in <lb/>gleicher Weiſe auch die Denkkraft ſteigern kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s10001" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10002" xml:space="preserve">Nimmt man dies an, — und es ſpricht ſehr viel dafür — ſo <lb/>läßt ſich manche unerklärliche Erſcheinung ſowohl in der leiblichen <lb/>Kraft wie in der Kraft des Denkens mit Leichtigkeit erklären.</s>
  <s xml:id="echoid-s10003" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10004" xml:space="preserve">Es iſt bekannt, wie ſehr ein Glas Wein imſtande iſt <lb/>mutig zu machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10005" xml:space="preserve">Nach der jetzt ſehr gründlich geführten Unter-<lb/>ſuchung über die Nährkraft der Speiſen und Getränke iſt dies <lb/>durchaus nicht erklärbar. </s>
  <s xml:id="echoid-s10006" xml:space="preserve">Ein Glas Wein hat nicht mehr <lb/>Nahrungsſtoff in ſich als etwa ein Glas Zuckerwaſſer. </s>
  <s xml:id="echoid-s10007" xml:space="preserve">Die <lb/>erheiternde, ermunternde, kräftigende Einwirkung des Weines <lb/>muß daher der Einwirkung des wenigen Alkohols zugeſchrieben <lb/>werden, der im Weine enthalten iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10008" xml:space="preserve">Dieſer geht ins Blut <lb/>über, gelangt durch den Blutlauf ins Gehirn, und übt hier einen <lb/>Reiz aus, der nicht nährend wirkt, ſondern zu einer allgemeinen <lb/>Energie anſpornt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10009" xml:space="preserve">Ein Tropfen Alkohol auf das ausgeſchnittene <lb/>Froſchherz geſchüttet, bringt auch hier ein energiſches Zu-<lb/>ſammenziehen des Herzens hervor; </s>
  <s xml:id="echoid-s10010" xml:space="preserve">im Gehirn kann es ähnlich <lb/>wirken, es verſtärkt die allgemeine Energie. </s>
  <s xml:id="echoid-s10011" xml:space="preserve">Ein Glas Wein <lb/>wird zwar dem Denker nicht Gedanken bringen, giebt dem <lb/>Wanderer nicht neue Muskelkraft, verleiht dem Soldaten nicht <lb/>neuen Mut, ſondern verſtärkt nur die Energie der ſchon vor-<lb/>handenen Gedanken, der vorhandenen Muskelkraft und des <lb/>vorhandenen Mutes. </s>
  <s xml:id="echoid-s10012" xml:space="preserve">— Auch eine gute Mahlzeit wirkt in <lb/>demſelben Sinne. </s>
  <s xml:id="echoid-s10013" xml:space="preserve">Wenn einzelne Naturforſcher meinen, daß <lb/>die Gedanken von den genoſſenen Speiſen herrühren, und hierin <lb/>ſo weit gehen, ernſtlich zu behaupten, daß man einen Menſchen <lb/>durch veränderte Koſt auf veränderte Gedanken bringen könne, <lb/>ſo kann man ihnen entgegnen, daß ſie eigentlich dem Rindfleiſch, <lb/>das wir eſſen, ein parteiiſches Kompliment machen, welches <lb/>ſie dem menſchlichen Gehirn aus ſcheinbarer Unparteilichkeit <lb/>verſagen zu müſſen glauben.</s>
  <s xml:id="echoid-s10014" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="95" file="743" n="743"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10015" xml:space="preserve">Unſerer Anſicht nach macht das Rindfleiſch nicht neue <lb/>Gedanken, deren das Gehirn nicht fähig iſt, ſondern die kräftige <lb/>Nahrung wirkt anreizend auf das Gehirn, und befähigt es zur <lb/>Energie. </s>
  <s xml:id="echoid-s10016" xml:space="preserve">Dieſe Energie iſt ganz unbeſtimmter Art, und kommt <lb/>allem zu gute, was etwa der Menſch vornehmen will. </s>
  <s xml:id="echoid-s10017" xml:space="preserve">Will <lb/>er denken, ſo wird er energiſcher denken; </s>
  <s xml:id="echoid-s10018" xml:space="preserve">will er eine Fuß-<lb/>wanderung machen, ſo wird er kräftiger auf den Beinen ſein; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10019" xml:space="preserve">iſt er im Begriff, eine laſterhafte Handlung zu begehen, zu der <lb/>ihm der Mut fehlt, ſo wird er den Mut hierzu ebenſo durch <lb/>die Energie finden, wie ſie ihm auch beiſteht, wenn er eine <lb/>kräftige That tugendvoller Aufopferung vor ſich hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s10020" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10021" xml:space="preserve">Nach dieſer Anſicht iſt die Gedankenenergie der Energie <lb/>leiblicher Bewegungen ganz ähnlich. </s>
  <s xml:id="echoid-s10022" xml:space="preserve">Dieſe Energie kann durch <lb/>geeignete Speiſen und Getränke angeregt, aber ſie kann auch <lb/>durch den freien Willen hervorgerufen werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s10023" xml:space="preserve">Ganz ſo wie <lb/>wir imſtande ſind, eine Energie auf die Kraft unſeres Armes <lb/>wirken zu laſſen, damit er eine Laſt hochhebe, die bei gewöhn-<lb/>licher Anſtrengung zu ſchwer erſcheint: </s>
  <s xml:id="echoid-s10024" xml:space="preserve">ganz ſo können wir <lb/>unſere Gedankenthätigkeit zu einer Energie aufmuntern, und <lb/>zur Auffaſſung neuer Gedanken befähigen, die ſcheinbar vor-<lb/>her nicht im Gehirn waren.</s>
  <s xml:id="echoid-s10025" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10026" xml:space="preserve">Iſt dies richtig, ſo kann man ſich eine Reihe anderer <lb/>Erſcheinungen gleichfalls erklären.</s>
  <s xml:id="echoid-s10027" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10028" xml:space="preserve">Man macht oft die Bemerkung, daß eine einmalige leibliche <lb/>Energie eine Abſpannung nach ſich zieht; </s>
  <s xml:id="echoid-s10029" xml:space="preserve">es iſt mit der geiſtigen <lb/>ebenſo. </s>
  <s xml:id="echoid-s10030" xml:space="preserve">Man hat hierbei ſo zu ſagen mit einem Male einen <lb/>Vorrat von Energie ausgegeben, mit dem man im gewöhnlichen <lb/>Zuſtand längere Zeit auskommt, und es dauert daher eine <lb/>lange Zeit, bevor man ſich erholt, das heißt, zu einer neuen <lb/>That fähig iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10031" xml:space="preserve">So iſt es mit unſern körperlichen, ſo iſt es mit <lb/>unſern geiſtigen Anſtrengungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10032" xml:space="preserve">— Man macht aber auch die <lb/>Erfahrung, daß mäßige und geregelte Wiederholung einer ge-<lb/>wiſſen, energiſchen, leiblichen That die ganze Summe der Energie
<pb o="96" file="744" n="744"/>
verſtärkt und immer geſchickter macht zu weitern Fortſchritten <lb/>in ähnlichen Anſtrengungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10033" xml:space="preserve">Das Turnen, das ſo förderlich <lb/>für die Körperkraft der Jugend iſt, iſt in dieſem Sinne nur <lb/>eine geregelte Richtung der Energie auf die Muskeln des <lb/>Körpers, und führt bekanntlich dahin, ſpielend eine Muskel-<lb/>kraft zu entwickeln, die ſonſt nur ausnahmsweiſe bei heftiger <lb/>Erregung möglich war. </s>
  <s xml:id="echoid-s10034" xml:space="preserve">Ein Turner iſt unſeres Erachtens <lb/>keineswegs ſtärker, als er bei gleicher Körperbeſchaffenheit ohne <lb/>geturnt zu haben in heftiger Aufregung, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s10035" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s10036" xml:space="preserve">in Todesgefahr, <lb/>wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s10037" xml:space="preserve">Der Unterſchied iſt nur, daß der Turner die Anſtren-<lb/>gungen ohne heftige Spannung der Energie vollzieht und alſo <lb/>auch nicht leicht eine Abſpannung nach ſich zieht, was beim <lb/>Nichtturner der Fall iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10038" xml:space="preserve">Jener hat die Energie ſeiner Nerven-<lb/>wirkung durch öftere Wiederholung, durch Übung, durch das, <lb/>was man Gewohnheit nennt, ſo am Schnürchen, daß er jeder-<lb/>zeit deſſen fähig iſt, was beim Nichtturner erſt die höchſte Auf-<lb/>regung hervorzubringen vermag.</s>
  <s xml:id="echoid-s10039" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10040" xml:space="preserve">Es geht aber mit dem Geiſte ebenſo. </s>
  <s xml:id="echoid-s10041" xml:space="preserve">Wer mit heftiger <lb/>Energie über einen Gegenſtand nachdenkt, verfällt ſchnell in <lb/>Abſpannung, ja kann in Irrſinn verfallen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10042" xml:space="preserve">Wer aber ſeinen <lb/>Geiſt an geregelte Energie gewöhnt, der läßt ſo zu ſagen ſein <lb/>Gehirn turnen; </s>
  <s xml:id="echoid-s10043" xml:space="preserve">es werden ihm die Gedanken leicht wie dem <lb/>Turner die Bewegungen, und er vermag, wenn er einmal weiter <lb/>in der Energie vorſchreitet, auf neue Gedanken zu geraten, <lb/>die dem Ungeübten faſt unmöglich ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s10044" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10045" xml:space="preserve">Es iſt möglich, daß die Unterſchiede in den Denkern nur <lb/>in dem größeren oder geringeren Grad der andauernden Energie <lb/>liegen und hierin nur die Verſchiedenheit zu ſuchen iſt, die <lb/>man zwiſchen Verſtand, Urteilskraft, Scharfſinn, Vernunft, Tief-<lb/>ſinn, Genie und Talent findet.</s>
  <s xml:id="echoid-s10046" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10047" xml:space="preserve">Druck von G. </s>
  <s xml:id="echoid-s10048" xml:space="preserve">Bernſtein in Berlin.</s>
  <s xml:id="echoid-s10049" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb file="745" n="745"/>
<pb file="746" n="746"/>
<pb file="747" n="747"/>
<pb file="748" n="748"/>
  </div></text>
</echo>