view texts/XML/echo/de/Bernstein_1897_12-16_X323E11C.xml @ 6:22d6a63640c6

moved texts from SVN https://it-dev.mpiwg-berlin.mpg.de/svn/mpdl-project-content/trunk/texts/eXist/
author casties
date Fri, 07 Dec 2012 17:05:22 +0100
parents
children
line wrap: on
line source

<?xml version="1.0" encoding="utf-8"?><echo xmlns="http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/ns/echo/1.0/" xmlns:de="http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/ns/de/1.0/" xmlns:dcterms="http://purl.org/dc/terms" xmlns:xsi="http://www.w3.org/2001/XMLSchema-instance" xmlns:echo="http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/ns/echo/1.0/" xmlns:xhtml="http://www.w3.org/1999/xhtml" xmlns:mml="http://www.w3.org/1998/Math/MathML" xmlns:xlink="http://www.w3.org/1999/xlink" version="1.0RC">
  <metadata>
    <dcterms:identifier>ECHO:X323E11C.xml</dcterms:identifier>
    <dcterms:creator identifier="GND:119083787">Bernstein, Aaron</dcterms:creator>
    <dcterms:title xml:lang="de">Naturwissenschaftliche Volksbücher, Bd. 12/16</dcterms:title>
    <dcterms:date xsi:type="dcterms:W3CDTF">1897</dcterms:date>
    <dcterms:language xsi:type="dcterms:ISO639-3">deu</dcterms:language>
    <dcterms:rights>CC-BY-SA</dcterms:rights>
    <dcterms:license xlink:href="http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/">CC-BY-SA</dcterms:license>
    <dcterms:rightsHolder xlink:href="http://www.mpiwg-berlin.mpg.de">Max Planck Institute for the History of Science, Library</dcterms:rightsHolder>
    <echodir>/permanent/einstein_exhibition/sources/X323E11C</echodir>
    <log>figures allow only one variables tag, put all vars into one tag, but added linebreak</log>
  </metadata>
  <text xml:lang="de" type="free">
<div xml:id="echoid-div1" type="section" level="1" n="1"><pb file="0001" n="1"/>
  <figure>
    <image file="0001-01" xlink:href="http://echo.mpiwg-berlin.mpg.de/zogilib?fn=/permanent/library/xxxxxxxx/figures/0001-01"/>
  </figure>
</div>
<div xml:id="echoid-div2" type="section" level="1" n="2">
<head xml:id="echoid-head1" xml:space="preserve">Paturwissenschaftliche</head>
<head xml:id="echoid-head2" xml:space="preserve">Volksbücher <lb/>von <lb/>A. Bennstein.</head>
<pb file="0002" n="2"/>
<pb file="0003" n="3"/>
<pb file="0004" n="4"/>
<pb file="0005" n="5"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div3" type="section" level="1" n="3">
<head xml:id="echoid-head3" xml:space="preserve"><emph style="bf">Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher</emph> <lb/>von <lb/><emph style="bf">A. Bernſtein.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head4" xml:space="preserve"><emph style="bf">Fünfte, reich illuſtrierte Auflage.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head5" xml:space="preserve">Durchgeſehen und verbeſſert <lb/>von <lb/><emph style="bf">H. Potonié</emph> und <emph style="bf">R. Hennig.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head6" xml:space="preserve">Zwölfter Teil.</head>
  <figure>
    <image file="0005-01" xlink:href="http://echo.mpiwg-berlin.mpg.de/zogilib?fn=/permanent/library/xxxxxxxx/figures/0005-01"/>
  </figure>
</div>
<div xml:id="echoid-div4" type="section" level="1" n="4">
<head xml:id="echoid-head7" xml:space="preserve"><emph style="bf">Berſin.</emph> <lb/>Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.</head>
<pb file="0006" n="6"/>
<handwritten/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1" xml:space="preserve">Das Necht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s2" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3" xml:space="preserve">MAX-PLANCK-INBTITUT <lb/>FÜR WI@@EN@C@AFTS@E@@MICHTE <lb/>Biblioth@k</s>
</p>
<handwritten/>
<pb file="0007" n="7"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div5" type="section" level="1" n="5">
<head xml:id="echoid-head8" xml:space="preserve"><emph style="bf">Inhaltsverzeichnis.</emph></head>
<note position="right" xml:space="preserve"> <lb/>## Seite <lb/>## <emph style="bf">Vom Leben der Pflanzen, der Tiere und der Menſchen. III.</emph> <lb/>I. # Die Neigungen der Menſchen . . . . . . . . . # 1 <lb/>II. # Neigung und Geiſt . . . . . . . . . . . . . # 4 <lb/>III. # Urſprung und Sitz der Neigungen . . . . . . . # 7 <lb/>IV. # Die Entwickelung der Neigungen . . . . . . . . # 10 <lb/>V. # Die Freiheit des Menſchen und die Neigungen der <lb/># Menſchheit . . . . . . . . . . . . . . # 12 <lb/>VI. # Die Welt der Neigungen . . . . . . . . . . # 15 <lb/>VII. # Geiſtige Neigungen . . . . . . . . . . . . # 19 <lb/>VIII. # Eine ungelöſte Frage . . . . . . . . . . . . # 22 <lb/>IX. # Die Entſtehung der Denkſormen . . . . . . . . # 25 <lb/>X. # Die Moral . . . . . . . . . . . . . . . # 33 <lb/>XI. # Die Kunſt . . . . . . . . . . . . . . . # 36 <lb/>XII. # Die mannigfaltigen Einwirkungen des Geiſtes . . . . # 39 <lb/>XIII. # Leib und Geiſt . . . . . . . . . . . . . . # 43 <lb/>XIV. # Geiſt und Leib . . . . . . . . . . . . . . # 46 <lb/>XV. # Charakter und Temperament . . . . . . . . . . # 49 <lb/>XVI. # Das ſanguiniſche und das choleriſche Temperament . . # 52 <lb/>XVII. # Das Phlegma und die Melancholie . . . . . . . # 55 <lb/>XVIII. # Das Rätſel des Todes . . . . . . . . . . # 58 <lb/>XIX. # Entſtehen und Vergehen . . . . . . . . . . # 62 <lb/>XX. # Wie Leib und Geiſt ſtirbt . . . . . . . . . . # 65 <lb/>XXI. # Wie alt eine neue Erfindung iſt . . . . . . . . # 69 <lb/>XXII. # Wie wenig das Herz die Wahrheit ahnt und wie blind <lb/># man mit ſehendem Auge iſt . . . . . . . . . # 73 <lb/>XXIII. # Die Kunſtſtücke der Hände, der Füße und der Nerven . # 77 <lb/>XXIV. # Zur Vermeidung von Mißverſtändniſſen . . . . . # 80
<pb o="IV" file="0008" n="8"/>
XXV. # Die Lunge im Bruſtkaſten . . . . . . . . . . # 84 <lb/>XXVI. # Wie wir atmen . . . . . . . . . . . . . . # 87 <lb/>XXVII. # Das Luftrohr der Lunge . . . . . . . . # 91 <lb/>XXVIII. # Die Lunge, wie ſie wirklich iſt . . . . . . . . # 94 <lb/>XXIX. # Art und Zweck der Lungenthätigkeit . . . . . . . # 98 <lb/>XXX. # Die ſinnreiche Einrichtung . . . . . . . . . . # 100 <lb/>XXXI. # Die regulierte Thätigkeit und die Nebengeſchäfte der <lb/># Lunge . . . . . . . . . . . . . . . # 104 <lb/>XXXII. # Die Lunge als Heizapparat . . . . . . . . . # 107 <lb/>XXXIII. # Die Regulierung der Leibeswärme . . . . . . . # 110 <lb/>XXXIV. # Wie ſparſam die Natur iſt . . . . . . . . . # 113 <lb/>XXXV. # Ein Baum, eine Tonne und eine Lunge . . . . . # 116 <lb/></note>
<pb o="1" file="0009" n="9"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div6" type="section" level="1" n="6">
<head xml:id="echoid-head9" xml:space="preserve"><emph style="bf">Dom Jeben der Pflanzen, der Tiere und</emph> <lb/><emph style="bf">der Menſchen. III.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head10" xml:space="preserve"><emph style="bf">I. Die Neigungen der Menſchen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4" xml:space="preserve">Das Gehirn beſitzt außer der ſchon behandelten Fähigkeit <lb/>zum Denken noch gewiſſe dunkle Neigungen und Abneigungen, <lb/>die faſt eine größere Rolle im Menſchenleben ſpielen als das <lb/>klare Denken.</s>
  <s xml:id="echoid-s5" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6" xml:space="preserve">Man hat für dieſe Neigungen und Abneigungen kein voll-<lb/>kommen treffendes Wort, um ſie zu benennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7" xml:space="preserve">Die Worte <lb/>“Trieb” und “Inſtinkt” ſind nicht die richtigen dafür; </s>
  <s xml:id="echoid-s8" xml:space="preserve">man <lb/>hat daher in der Wiſſenſchaft das Wort “Strebungen” er-<lb/>funden, um dieſe Zuſtände, die wir nunmehr beſprechen wollen, <lb/>zu bezeichnen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9" xml:space="preserve">da wir jedoch gern Worte meiden, welche nicht <lb/>im allgemeinen Volksgebrauch ſind, wollen wir lieber von den <lb/>“Neigungen” und “Abneigungen” ſprechen, obgleich wir wohl <lb/>wiſſen, daß dieſe Worte nur in ſehr beſchränktem Sinne das <lb/>bezeichnen, was wir damit bezeichnen wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11" xml:space="preserve">Schon Jeder wird die Beobachtung gemacht haben, daß <lb/>das Menſchenleben bei weitem mehr von Neigungen und Ab-<lb/>neigungen regiert wird, als von bewußten Gedanken. </s>
  <s xml:id="echoid-s12" xml:space="preserve">Um <lb/>von den vielen tauſend Beiſpielen nur an einige zu erinnern, <lb/>die jedermann nahe liegen, wollen wir hier nur die Neigung <lb/>der Menſchen nach Beſitz und Reichtum hervorheben. </s>
  <s xml:id="echoid-s13" xml:space="preserve">Man <lb/>frage den Reichen, der ſo viel Vermögen beſitzt, daß er ſich
<pb o="2" file="0010" n="10"/>
und ſeiner Familie ein ruhiges, genußreiches Daſein bereiten <lb/>kann, weshalb er ſo ruhelos fortfährt nach einem Reichtum zu <lb/>ſtreben? </s>
  <s xml:id="echoid-s14" xml:space="preserve">Er wird, wenn er aufrichtig iſt, antworten, daß er es <lb/>wohl einſieht, wie außerordentliche Reichtümer Tand ſind, wie <lb/>er mit der Hälfte ſeines Vermögens vielleicht ruhiger leben <lb/>würde als jetzt, wo er es durchaus zu verdoppeln ſtrebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s15" xml:space="preserve">Allein <lb/>er wird eingeſtehen, daß er in dieſer Beziehung von einer ihm <lb/>durchaus nicht klar werdenden Neigung beherrſcht wird, die <lb/>ihn ſogar im Lebensgenuß ſtört und ihn antreibt, in ganz <lb/>maßloſer Weiſe immer mehr Reichtümer zu ſammeln.</s>
  <s xml:id="echoid-s16" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s17" xml:space="preserve">Dieſe Neigung ſcheint für den erſten Augenblick freilich <lb/>nur bei wenigen Menſchen vollkommen ausgeprägt zu ſein; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s18" xml:space="preserve">allein wenn man ſich in der Welt nur ein wenig umſieht, ſo <lb/>wird man finden, daß faſt alle Menſchen von dieſer Neigung <lb/>geleitet werden und aus ihr die meiſten und großartigſten <lb/>Unternehmungen der Menſchen hervorgehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s19" xml:space="preserve">Die Schiffahrt, <lb/>die Eiſenbahnen, die Fabrikunternehmungen, die Handelsverbin-<lb/>dungen, die Auswanderungen, die Fortſchritte in Gewerben <lb/>und Künſten, ja ſogar die Auszeichnungen in der Wiſſenſchaft <lb/>ſind von dieſem Trieb geleitet. </s>
  <s xml:id="echoid-s20" xml:space="preserve">Freilich knüpft ſich an dieſe <lb/>Neigung bei jedem Menſchen ein eigenes und anderes Inter-<lb/>eſſe; </s>
  <s xml:id="echoid-s21" xml:space="preserve">es iſt dieſe Neigung, reich zu werden, wiederum verknüpft <lb/>mit anderen Neigungen, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s22" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s23" xml:space="preserve">zum Wohlthun, zum Vornehm-<lb/>ſein, zum Luxus, zur Ehre, zur Macht, zur Unabhängigkeit, <lb/>zur Bildung, zur Herrſchſucht und zu ſonſt anderen Neigungen, <lb/>die bald ein Laſter, bald eine Tugend genannt werden können. </s>
  <s xml:id="echoid-s24" xml:space="preserve"><lb/>Bedenkt man aber, daß doch die Neigung zum Reichtum im <lb/>Hintergrund all’ der Wünſche mehr oder minder ſchlummert, <lb/>ſo wird man dieſe Neigung als eine ungeheuer mächtige an-<lb/>erkennen und ſagen müſſen, daß ſie es iſt, welche faſt aus-<lb/>ſchließlich das Thun und Laſſen der Menſchen regiert.</s>
  <s xml:id="echoid-s25" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s26" xml:space="preserve">Betrachtet man dieſer Neigung gegenüber, die zu einem <lb/>hohen Laſter auſarten kann, wiederum die Rolle, welche die
<pb o="3" file="0011" n="11"/>
Aufopferung ſpielt, ſo wird man finden, daß ſie nicht minder <lb/>einen großen Teil der Weltregierung ausmacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s27" xml:space="preserve">Man kann <lb/>durchſchnittlich annehmen, daß ſich nur der fünfte Teil der <lb/>Menſchen eines gebildeten Staates mit dem Erwerben abgiebt <lb/>und vier Fünftel nur ernährt werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s28" xml:space="preserve">Die Familienväter ſind <lb/>meiſtens die Ernährer, Frauen und Kinder die Verzehrer. </s>
  <s xml:id="echoid-s29" xml:space="preserve">Das <lb/>Familienleben, das ſo eigentlich das wahre Leben der Menſch-<lb/>heit ausmacht, iſt ein Bild einer großartigen Aufopferung. </s>
  <s xml:id="echoid-s30" xml:space="preserve">Der <lb/>erwerbende Mann, wenn er Junggeſelle bliebe, würde im ſtande <lb/>ſein, all’ ſeinen eigenen Neigungen zu leben; </s>
  <s xml:id="echoid-s31" xml:space="preserve">aber er opfert <lb/>dieſe ſeine Neigungen, er gründet ein Familienleben, macht ſich <lb/>die ſchwerſten Sorgen für Haus und Herd und Weib und <lb/>Kind, verurſacht ſich ſchlafloſe Nächte und arbeitsvolle Tage, <lb/>nur um das Wohlgefühl der Familie zu begründen, ſcheut <lb/>weder Gefahr noch Mühen, nur um des Weibes, der Kinder <lb/>willen, und verwebt ſo ganz ſein Schickſal mit dem eines jeden <lb/>Familiengliedes, daß ſein Opfermut kaum mehr eine Grenze <lb/>kennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s32" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s33" xml:space="preserve">Beobachten wir aber, wie die Neigung nach Reichtum <lb/>gerade mit der Neigung zum Familienleben Hand in Hand <lb/>geht. </s>
  <s xml:id="echoid-s34" xml:space="preserve">Wie gerade der Familienvater nach Beſitz ſtrebt, um <lb/>dies ſeiner Familie zum Opfer zu bringen, betrachten wir, wie <lb/>hier Neigung an Neigung geknüpft iſt, und aus dieſer ſich <lb/>eben das Leben in der Geſellſchaft und in der Familie ge-<lb/>ſtaltet, ſo wird man nach dieſen ſehr ſchlichten Beiſpielen ſchon <lb/>eingeſtehen, daß das ganze Menſchendaſein durch Neigungen <lb/>geleitet wird, und daß Neigungen die größte Rolle in der Ent-<lb/>wickelung des Menſchengeſchlechts ſpielen.</s>
  <s xml:id="echoid-s35" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s36" xml:space="preserve">Darum eben wollen wir einmal von dieſen Neigungen ein <lb/>Näheres unſern Leſern vorführen, ſoweit ſie in das Bereich der <lb/>Naturwiſſenſchaft gehören.</s>
  <s xml:id="echoid-s37" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="4" file="0012" n="12"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div7" type="section" level="1" n="7">
<head xml:id="echoid-head11" xml:space="preserve"><emph style="bf">II. Neigung und Geiſt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s38" xml:space="preserve">Das, was wir die Neigungen oder Abneigungen der <lb/>Menſchen nennen, hat Ähnlichkeit mit dem, was man Trieb <lb/>oder Inſtinkt nennt, iſt aber weſentlich verſchieden von der <lb/>Triebkraft der Pflanze und dem Inſtinkt der Tiere. </s>
  <s xml:id="echoid-s39" xml:space="preserve">Der Menſch <lb/>beſitzt Neigungen höherer Art; </s>
  <s xml:id="echoid-s40" xml:space="preserve">Neigungen, auf die ſein Wille <lb/>und ſein Geiſt Einfluß haben, und die deshalb den Menſchen <lb/>zu einem Weſen machen, das für ſein Thun und Laſſen ver-<lb/>antwortlicher wird, als die Weſen, die unter ihm ſtehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s41" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s42" xml:space="preserve">Will man dieſe Neigungen näher kennen lernen, ſo muß <lb/>man ſie vorerſt in drei Gattungen teilen und ſie in der Weiſe <lb/>geſondert betrachten, wie wir das Leben des Menſchen ſelber <lb/>betrachtet haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s43" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s44" xml:space="preserve">Der Menſch führt ein pflanzliches Leben. </s>
  <s xml:id="echoid-s45" xml:space="preserve">Die innere <lb/>Maſchinerie des Menſchen, ſeine Verdauung, ſein Blutlauf, <lb/>ſeine Ernährung, ſeine Ausſcheidung wie ſein Stoffwechſel <lb/>überhaupt ſind inſoweit den gleichen Erſcheinungen der Pflanze <lb/>ähnlich, daß all’ dies ohne ſein Wiſſen und Wollen geſchieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s46" xml:space="preserve">— <lb/>Der Menſch führt auch ein Leben, das dem des Tieres ähnlich <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s47" xml:space="preserve">Er nimmt durch ſeine Sinne Eindrücke von der Außenwelt <lb/>auf und vermag durch Bewegungen mit der Welt außer ſich <lb/>in Beziehung zu treten. </s>
  <s xml:id="echoid-s48" xml:space="preserve">— Der Menſch führt aber auch ein <lb/>geiſtiges Daſein, inſoweit er imſtande iſt, Vorſtellungen zu <lb/>verbinden, durch dieſe Gedanken ſich über Natur-Erſcheinungen <lb/>Aufſchluß zu verſchaffen, wodurch es möglich wird, eine gewiſſe <lb/>Herrſchaft über die Natur auszuüben, ſich von derſelben un-<lb/>abhangiger zu machen und in ſich Fähigkeiten zu entwickeln, die <lb/>ihm urſprünglich nicht angeboren ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s49" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s50" xml:space="preserve">Dieſe Höhe in der Stufenleiter der lebenden Weſen, welche <lb/>die Menſchheit zu dem herausgebildet hat, was ſie gegenwärtig <lb/>iſt, erreichte ſie aber nicht durch die Kraft ihres Geiſtes allein,
<pb o="5" file="0013" n="13"/>
ſondern in der Menſchheit ſind noch Neigungen und Abnei-<lb/>gungen thätig, welche in enger Verbindung mit dem Geiſte des <lb/>Menſchen ſtehen und teils ihm eine Richtung geben, teils von <lb/>dem Geiſte eine Richtung empfangen.</s>
  <s xml:id="echoid-s51" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s52" xml:space="preserve">In der Pflanze iſt ein Lebenstrieb thätig, der ganz be-<lb/>wußtlos wirkt; </s>
  <s xml:id="echoid-s53" xml:space="preserve">in dem Menſchen iſt das Gleiche der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s54" xml:space="preserve">Im <lb/>Tier iſt ein Inſtinkt wirkſam, der ſein Thun und Laſſen zweck-<lb/>entſprechend leitet; </s>
  <s xml:id="echoid-s55" xml:space="preserve">dieſer iſt auch im Menſchen vorhanden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s56" xml:space="preserve">Aber Triebkraft und Inſtinkt ſind in Pflanze und Tier die <lb/>Leiter dieſer Weſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s57" xml:space="preserve">Sie folgen und müſſen befolgen, was der <lb/>Leiter vorſchreibt; </s>
  <s xml:id="echoid-s58" xml:space="preserve">ſie handeln zweckentſprechend, ohne ſich des <lb/>Zweckes bewußt zu werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s59" xml:space="preserve">ſie können von der Vorſchrift nicht <lb/>abweichen und nichts thun, um ihren Zweck ſchneller und voll-<lb/>kommener zu erreichen. </s>
  <s xml:id="echoid-s60" xml:space="preserve">Der Menſch dagegen hat im Geiſte <lb/>eine gewiſſe Herrſchaft über ſeine Triebe und Inſtinkte; </s>
  <s xml:id="echoid-s61" xml:space="preserve">er <lb/>vermag bis zu einer gewiſſen Grenze ihnen zu folgen und auch <lb/>ihnen entgegenzutreten. </s>
  <s xml:id="echoid-s62" xml:space="preserve">Er vermag ſie zu ordnen und zu <lb/>richten und hat eine gewiſſe Freiheit in der Wahl der Mittel, <lb/>um die Triebkraft und den Inſtinkt zu modeln und zu geſtalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s63" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s64" xml:space="preserve">Dadurch hört auch Triebkraft und Inſtinkt im Menſchen <lb/>eigentlich auf das zu ſein, was ſie in Pflanze und Tier ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s65" xml:space="preserve">In <lb/>Pflanze und Tier ſind ſie die abſoluten Herrſcher des Lebens; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s66" xml:space="preserve">im Menſchen ſind ſie nur in Form von Neigungen und ſehr <lb/>unbeſtimmten, allgemeinen Richtungen thätig und der Herrſchaft <lb/>des Geiſtes zum Teil unterworfen.</s>
  <s xml:id="echoid-s67" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s68" xml:space="preserve">Um das, was wir hiermit ſagen, recht deutlich zu machen, <lb/>wollen wir den bedeutendſten, den allerſtärkſten Trieb hervor-<lb/>heben, den Lebenstrieb. </s>
  <s xml:id="echoid-s69" xml:space="preserve">In der Pflanze iſt er ganz bewußtlos <lb/>vorhanden, ja ſo bewußtlos, daß die Pflanze nicht einmal <lb/>etwas davon weiß, wenn man ſie vernichtet und den Lebens-<lb/>trieb alſo aufhebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s70" xml:space="preserve">Im Tier iſt der Lebenstrieb ſchon bewußter. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s71" xml:space="preserve">Das Tier will daher leben oder richtiger muß leben wollen und <lb/>wehrt den Tod von ſich mit aller Gewalt ab. </s>
  <s xml:id="echoid-s72" xml:space="preserve">— Im Menſchen
<pb o="6" file="0014" n="14"/>
iſt dieſer Lebenstrieb der unbändigſte aller Triebe; </s>
  <s xml:id="echoid-s73" xml:space="preserve">aber er <lb/>regt ſich in ihm ſchon als Neigung, als Liebe. </s>
  <s xml:id="echoid-s74" xml:space="preserve">Der Menſch <lb/>hat Lebensluſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s75" xml:space="preserve">er iſt ſich des Gefühls ſeines Lebens bewußt; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s76" xml:space="preserve">er liebt es, und wird von dieſer Liebe geleitet und zu Hand-<lb/>lungen getrieben, die zu den energiſchſten und kräftigſten des <lb/>Lebens gehören. </s>
  <s xml:id="echoid-s77" xml:space="preserve">— Und doch iſt dieſer höchſte aller Triebe <lb/>oder dieſe tiefſte aller Neigungen nicht das mächtigſte im <lb/>Menſchenleben. </s>
  <s xml:id="echoid-s78" xml:space="preserve">Sein Geiſt lehrt ihn, ja treibt ihn oft das <lb/>Leben zu opfern um eines geiſtigen Gutes willen!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s79" xml:space="preserve">Man nennt diejenigen mit Recht die geiſtig freieſten <lb/>Menſchen, die imſtande ſind, um einer Idee, eines Gedankens <lb/>willen das Leben zu opfern, in den unvermeidlichen Tod zu <lb/>gehen, die Richtſtätte zu beſteigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s80" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s81" xml:space="preserve">Es thut dieſer That durchaus keinen Eintrag, wenn dieſe <lb/>Idee auch nicht richtig, dieſer Gedanke ſogar ein Irrtum iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s82" xml:space="preserve">Der Märtyrer-Tod des Verſolgten, der für ſeine Überzeugung <lb/>ſtirbt, giebt durchaus keine Überzeugung, daß ſeine Gedanken <lb/>die richtigen geweſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s83" xml:space="preserve">Der Märtyrer-Tod lehrt nur, daß der <lb/>Märtyrer ein Menſch war, bei dem der Trieb für geiſtige <lb/>Wahrheit höher ſtand als der Lebenstrieb, die Liebe zum <lb/>geiſtigen Leben größer war als die Liebe zum Leben ſelbſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s84" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s85" xml:space="preserve">Wir haben in ſolchen Fällen alſo Beiſpiele, wie die <lb/>mächtigſten Tricbe, Inſtinkte, oder richtiger Neigungen des <lb/>Menſchen überwunden werden können von der Neigung zu rein <lb/>geiſtigen Gedanken; </s>
  <s xml:id="echoid-s86" xml:space="preserve">wie das Leben einem Menſchen wertlos <lb/>werden kann um eines geiſtigen Gutes willen, wie alſo das, was <lb/>man Geiſt nennt, nicht nur der Neigung eine Richtung zu <lb/>geben vermag, ſondern ſie ganz und gar umzukehren imſtande <lb/>iſt und den Tod vorziehen lehrt dem Leben.</s>
  <s xml:id="echoid-s87" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="7" file="0015" n="15"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div8" type="section" level="1" n="8">
<head xml:id="echoid-head12" xml:space="preserve"><emph style="bf">III. Urſprung und Sitz der Neigungen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s88" xml:space="preserve">Bevor wir von demjenigen ſprechen wollen, was wir die <lb/>Neigungen und Abneigungen der Menſchen nennen, müſſen wir <lb/>uns den Urſprung und auch den Sitz derſelben im Menſchen <lb/>klar zu machen ſuchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s89" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s90" xml:space="preserve">Leider iſt man über den Urſprung der Neigungen ebenſo <lb/>im Dunkel wie über den Urſprung des Inſtinkts. </s>
  <s xml:id="echoid-s91" xml:space="preserve">Man weiß <lb/>es nicht, wer das Huhn lehrt ein Neſt bauen, die Eier darin <lb/>ſammeln und mit der Aufopferung aller ſeiner gewohnten Be-<lb/>wegungen wochenlang darüber brütend zuzubringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s92" xml:space="preserve">Ebenſo-<lb/>wenig weiß es eine Mutter zu ſagen, wie ihr die tiefe Zu-<lb/>neigung zu dem Kinde von der Stunde an gekommen, in <lb/>welcher ſie deſſen Bewegungen unter ihrem Herzen geſpürt hat. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s93" xml:space="preserve">Man nennt dieſe Neigung Liebe und glaubt, es könne wohl <lb/>Einſicht, Gewöhnung, Erfahrung anderer zärtlicher Gefühle <lb/>ſolche Mutterliebe angeregt haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s94" xml:space="preserve">Allein, wer dem Gefühl <lb/>der mütterlichen Liebe näher nachſpürt und die Entſtehung <lb/>derſelben mit ernſtlichem Blick prüft, der wird durch wahr-<lb/>heitsgetreue Frauen das Geſtändnis vernehmen, daß, bevor ſie <lb/>jene Kindesbewegungen geſpürt, eher eine Gleichgültigkeit als <lb/>cine Vorliebe für das Kind ſie beherrſchte; </s>
  <s xml:id="echoid-s95" xml:space="preserve">daß ſie aber von <lb/>dieſem Moment ab, wo ſie “Leben” geſpürt, von einem bis <lb/>dahin ihr ganz fremden Gefühl der Liebe erfüllt wurden. </s>
  <s xml:id="echoid-s96" xml:space="preserve"><lb/>Erſtgebärende, züchtige Frauen verheimlichen ſogar zuweilen <lb/>ihren Zuſtand ſelbſt vor dem Gatten bis zu dieſem Momente <lb/>oder meiden mindeſtens das Geſpräch und Geſtändnis hierüber. </s>
  <s xml:id="echoid-s97" xml:space="preserve"><lb/>Mit dieſem Moment aber erfüllt ſie ein niegeahnter Strom der <lb/>Liebe, den ſie unter herzlichſter Erregung dem Mann ihrer Liebe <lb/>eröffnen müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s98" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s99" xml:space="preserve">Bei näherer Betrachtung wird man dieſe Erſcheinung der <lb/>des Inſtinkts, welcher im Huhn waltet, gleich finden: </s>
  <s xml:id="echoid-s100" xml:space="preserve">wenig-
<pb o="8" file="0016" n="16"/>
ſtens inſoweit gleich, daß man ihnen gleichen Urſprung wird <lb/>zuſchreiben müſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s101" xml:space="preserve">Der Unterſchied liegt nur darin, daß der <lb/>Inſtinkt ohne das iſt, was wir Liebe, bewußte Liebe nennen, <lb/>daß der Inſtinkt ferner nicht frei iſt, ſondern von einem Natur-<lb/>zwang geleitet wird, während beim Weibe ein nicht näher zu <lb/>beſchreibendes Gefühl, Liebe, hierbei waltet, und ſoviel Frei-<lb/>heit des Geiſtes im Weibe herrſcht, daß ſie dieſes Gefühl ſogar <lb/>überwinden und jene Liebe zu verleugnen oder gar nicht auf-<lb/>kommen zu laſſen vermag.</s>
  <s xml:id="echoid-s102" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s103" xml:space="preserve">Der Urſprung des Inſtinkts und der menſchlichen Neigun-<lb/>gen iſt wahrſcheinlich gleich; </s>
  <s xml:id="echoid-s104" xml:space="preserve">und wie der Urſprung des In-<lb/>ſtinkts uns unbekannt iſt, iſt es auch der Urſprung der Nei-<lb/>gungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s105" xml:space="preserve">Aus dem Beiſpiel aber, das wir angeführt haben, <lb/>läßt ſich entnehmen, daß auch der Streit, ob die Neigungen <lb/>angeboren ſind oder nicht, eigentlich ein müßiger iſt, ſo lange <lb/>man nicht näher beſtimmt, was man mit dem Worte “ange-<lb/>boren” ſagen will.</s>
  <s xml:id="echoid-s106" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s107" xml:space="preserve">Die Liebe einer Mutter zu ihrem Kinde iſt der Mutter <lb/>nicht angeboren, denn dies Gefühl bleibt ihr in ſeiner Wahr-<lb/>heit fremd, bis ſie ſelbſt Mutter wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s108" xml:space="preserve">Aber es iſt dann auch <lb/>der Inſtinkt des Huhnes dieſem nicht angeboren, denn das <lb/>Huhn muß auch erſt ein beſtimmtes Alter erreichen, bevor <lb/>dieſer Inſtinkt zum Neſterbau und zur Brütung hervortritt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s109" xml:space="preserve">Nimmt man aber an, daß er dem Huhn angeboren ſei, weil <lb/>dasſelbe hierin nicht durch Erfahrungen unterwieſen zu werden <lb/>braucht, daß der Inſtinkt bisher geſchlummert habe, und jetzt erſt <lb/>erwache, ſo kann man mit vollem Rechte ganz dasſelbe auch vom <lb/>Weibe ſagen.</s>
  <s xml:id="echoid-s110" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s111" xml:space="preserve">Ja, es giebt ähnliche Erſcheinungen, die auf ſolches <lb/>Schlummern der Neigungen hindeuten, bis zur Stunde, wo <lb/>die Gelegenheit das Erwachen derſelben möglich macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s112" xml:space="preserve">Züchtige <lb/>Jungfrauen empfinden das dunkle Gefühl oft durch lange Zeiten <lb/>eines keuſcheſten Lebens, daß ſie einen Mann ganz zu lieben
<pb o="9" file="0017" n="17"/>
vermöchten; </s>
  <s xml:id="echoid-s113" xml:space="preserve">ein entſprechendes Gefühl belebt die Phantaſie der <lb/>reinen, ſittlichen, männlichen Iugend. </s>
  <s xml:id="echoid-s114" xml:space="preserve">Es ſind dies ſchlummernde <lb/>Gefühle, die dem Erwachen entgegenharren, und die auch in <lb/>vollſter Stärke zu einer erhabenen Liebe emporflammen können, <lb/>wenn das dunkel Erſehnte gefunden wird; </s>
  <s xml:id="echoid-s115" xml:space="preserve">zu jener Liebe, die <lb/>mit Recht von Dichtern als des Lebens beſeligendſte Zeit ge-<lb/>ſchildert wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s116" xml:space="preserve">— Auch hier iſt ohne Zweifel der Urſprung <lb/>der Neigung dem des tieriſchen Inſtinkts gleich, und nennt <lb/>man jenen angeboren und ſchlummernd bis zu den reifern <lb/>Jahren, ſo kann man auch dieſen ſo nennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s117" xml:space="preserve">Allein wie <lb/>himmelweit dieſe Neigung von dem tieriſchen Inſtinkt iſt, das <lb/>brauchen wir wohl denen nicht zu ſagen, die je im Leben des <lb/>Glückes teilhaft waren oder ſich auch nur erhoben fühlten im <lb/>Anſchauen einer ehelichen Liebe, die ſelbſt der Tod oft nicht zu <lb/>löſen vermag.</s>
  <s xml:id="echoid-s118" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s119" xml:space="preserve">So dunkel auch der Urſprung der Neigungen, ſo ſicher <lb/>iſt man jetzt darüber, daß der Sitz derſelben ebenfalls im Ge-<lb/>hirn iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s120" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s121" xml:space="preserve">Ehedem hegte man gerade hierüber die falſcheſten Mei-<lb/>nungen, man gab dem, was man Empfindungen, Gefühle, <lb/>Leidenſchaften u. </s>
  <s xml:id="echoid-s122" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s123" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s124" xml:space="preserve">nannte, ſeinen Sitz in verſchiedenen <lb/>Teilen des Körpers. </s>
  <s xml:id="echoid-s125" xml:space="preserve">Liebe, Haß, Mitleid, Sorge ſollten im <lb/>Herzen wohnen; </s>
  <s xml:id="echoid-s126" xml:space="preserve">dem Zorn ſchrieb man ſeinen Sitz in der <lb/>Leber zu und meinte, daß der Ärger nur durch Erguß der <lb/>Galle entſtehe. </s>
  <s xml:id="echoid-s127" xml:space="preserve">Ähnlich ſchrieb man viele andere natürliche <lb/>Neigungen und Abneigungen beſtimmten Organen zu, ſo daß <lb/>man ſo weit ging, nicht nur den Stolz in der Bruſt zu ſehen, <lb/>ſondern aus dem gewölbten oder flachen Bau der Bruſthöhle <lb/>auf das zu ſchließen, was man in derſelben wohnend vermutete.</s>
  <s xml:id="echoid-s128" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s129" xml:space="preserve">Die Wiſſenſchaft der neuen Zeit hat dieſe Irrtümer von <lb/>ſich abgethan und nachgewieſen, daß die verſchiedenen Neigungen <lb/>wohl verſchieden einwirken auf die Thätigkeit des Herzens, daß <lb/>die Nervenverbindung aller Organe des Leibes mit dem Ge-
<pb o="10" file="0018" n="18"/>
hirn einen Einfluß der Neigungen, die im Gehirn exiſtieren, <lb/>auf die Organe hervorruft. </s>
  <s xml:id="echoid-s130" xml:space="preserve">Auch iſt es keinem Zweifel unter-<lb/>worfen, daß die Organe wiederum auf das Gehirn rückwirken <lb/>und wie bei bekannten Vorgängen wollüſtige Vorſtellungen <lb/>ſelbſt im halbſchlummernden Gehirn erwecken. </s>
  <s xml:id="echoid-s131" xml:space="preserve">So erzeugen rege <lb/>Vorſtellungen einen heftigern Herzſchlag, und ein aufgeregtes <lb/>Blut ſchafft phantaſtiſche Vorſtellungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s132" xml:space="preserve">Verſtimmung und Ärger <lb/>hindern die Leber-Thätigkeit und ſtören die Ausſcheidung der <lb/>Galle aus dem Blute, und Leberkrankheiten rufen tiefe Verſtim-<lb/>mungen des Gehirns hervor. </s>
  <s xml:id="echoid-s133" xml:space="preserve">Ähnlich iſt es mit andern Organen <lb/>und andern Neigungen; </s>
  <s xml:id="echoid-s134" xml:space="preserve">gleichwohl iſt der Sitz der Neigungen <lb/>im Gehirn, und hat man ehedem dieſe nur deshalb in andern <lb/>Organen des Leibes geſucht, weil in dieſen Organen die nächſte <lb/>Einwirkung der Neigungen verſpürt wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s135" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div9" type="section" level="1" n="9">
<head xml:id="echoid-head13" xml:space="preserve"><emph style="bf">IV. Die Entwickelung der Neigungen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s136" xml:space="preserve">Iſt man auch über den Urſprung der Neigungen, die dem <lb/>Menſchenleben ſeinen Charakter geben, im Dunkeln, ſo vermag <lb/>man doch einigen Aufſchluß zu geben über die Art, wie dieſe <lb/>Neigungen auftreten.</s>
  <s xml:id="echoid-s137" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s138" xml:space="preserve">Die mächtigſte dieſer Neigungen tritt erſt als Lebenstrieb <lb/>auf, ſpäter wird ſie Lebens-Inſtinkt, und noch ſpäter, wo erſt <lb/>der Geiſt des Menſchen erwacht iſt, wird ſie Lebens-Liebe.</s>
  <s xml:id="echoid-s139" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s140" xml:space="preserve">Eine Steigerung des Triebes liegt in dem, was man In-<lb/>ſtinkt nennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s141" xml:space="preserve">Dieſe Steigerung beſteht darin, daß der Inſtinkt <lb/>ſchon die äußern Zuſtände richtig zu benutzen lehrt, während <lb/>der Trieb dieſes wunderbare Kunſtück nicht kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s142" xml:space="preserve">Der Trieb <lb/>eines Kindes zum Saugen iſt dem Inſtinkt eines Kalbes nicht <lb/>gleich. </s>
  <s xml:id="echoid-s143" xml:space="preserve">Das Kind ſaugt alles an, das ihm an den Mund
<pb o="11" file="0019" n="19"/>
kommt, auch Dinge, aus denen ihm keine Milch zufließt. </s>
  <s xml:id="echoid-s144" xml:space="preserve">Das <lb/>Kalb thut dies nicht, ſondern geht auf die Kuh zu und ſaugt <lb/>an der richtigen Stelle. </s>
  <s xml:id="echoid-s145" xml:space="preserve">Der Trieb läßt alſo das Kind etwas <lb/>thun, was ſo lange zwecklos iſt, ſo lange es nicht von Andern <lb/>oder durch den Zufall an die Mutterbruſt gebracht wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s146" xml:space="preserve">Der <lb/>Trieb lehrt alſo nicht die äußern Umſtände richtig benutzen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s147" xml:space="preserve">der Inſtinkt des Kalbes thut dies vollſtändig.</s>
  <s xml:id="echoid-s148" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s149" xml:space="preserve">Der Trieb des Kindes zum Saugen würde daher voll-<lb/>kommen nutzlos ſein, wenn ihm nicht etwas entgegenkäme, das <lb/>wiederum mit der Neigung der Menſchen verknüpft iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s150" xml:space="preserve">In <lb/>der Mutter hat ſich ſchon während der Schwangerſchaft die <lb/>Bruſt zu einem Organ ausgebildet, das es im jungfräulichen <lb/>Zuſtand nicht war. </s>
  <s xml:id="echoid-s151" xml:space="preserve">Mit der Geburt des Kindes hat die Mutter <lb/>gewiſſermaßen in ihrer Bruſt ein neues Organ erhalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s152" xml:space="preserve">— <lb/>Eine tiefere, innere Neigung läßt ſie mit Luſt, mit einem der <lb/>Mutter ganz neuen Gefühl das Kind an ihrer Bruſt ſaugen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s153" xml:space="preserve">Der Trieb des Kindes alſo, der ſo unwiſſend iſt, begegnet einer <lb/>bewußten Neigung, der Mutterliebe, und erreicht durch dieſe <lb/>erſt ſeinen Zweck.</s>
  <s xml:id="echoid-s154" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s155" xml:space="preserve">Der Trieb iſt nicht Inſtinkt, ſonſt würde er die äußeren <lb/>Umſtände ſelber benutzen lehren, und die Neigung, die als <lb/>Mutterliebe erſcheint, iſt wiederum mehr als Inſtinkt, denn <lb/>ſonſt würde keine Mutter imſtande ſein, ihrem Kinde die <lb/>Mutterbruſt zu verſagen. </s>
  <s xml:id="echoid-s156" xml:space="preserve">Der Inſtinkt bildet die Mittelſtufe <lb/>zwiſchen Trieb und Neigung, wie die Tierwelt eine Mittelſtufe <lb/>zwiſchen Pflanze und Menſch iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s157" xml:space="preserve">Der Trieb iſt ohne Be-<lb/>wußtſein; </s>
  <s xml:id="echoid-s158" xml:space="preserve">der Inſtinkt iſt ſchon mit Bewußtſein verknüpft, aber <lb/>ohne die geiſtige Freiheit, von ihm abweichen zu können. </s>
  <s xml:id="echoid-s159" xml:space="preserve">Die <lb/>Neigung dagegen iſt Trieb, Inſtinkt, Bewußtſein und freies <lb/>Schalten zugleich.</s>
  <s xml:id="echoid-s160" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s161" xml:space="preserve">Das Kind, das anfaugs nur triebartig thätig iſt, erhebt <lb/>ſich auch bald zur höheren Stufe, die dem Inſtinkt nahe <lb/>verwandt iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s162" xml:space="preserve">aber hiermit iſt das Heranreifen des Geiſtes
<pb o="12" file="0020" n="20"/>
verbunden, und äußerſt ſchnell wird die Fähigkeit des Kindes <lb/>zur Neigung. </s>
  <s xml:id="echoid-s163" xml:space="preserve">Es iſt ſchwer, den Moment zu erkennen, wo <lb/>das Kind die Mutterbruſt kennen lernt und nun inſtinktartig <lb/>ſie findet, weil mit dieſem Zeitpunkt auch ſchon die Neigung <lb/>des Kindes erwacht und als Liebe auftritt. </s>
  <s xml:id="echoid-s164" xml:space="preserve">Sie reift auch <lb/>bald zur Elternliebe und überhaupt zur Menſchenliebe heran, <lb/>die Hand in Hand mit der Entwickelung der Erkenntnis wächſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s165" xml:space="preserve">Das erſte Lebensjahr eines Kindes zeigt überhaupt ein Auf-<lb/>ſtreben der Menſchennatur, die alles, was wir Aufſtrebendes <lb/>kennen, weit überragt. </s>
  <s xml:id="echoid-s166" xml:space="preserve">Charakteriſtiſch iſt dieſes Wachſen der <lb/>Erkenntnis zu vergleichen mit dem Wachstum des Leibes. </s>
  <s xml:id="echoid-s167" xml:space="preserve"><lb/>Ein Kind von einem Jahre iſt an dreimal ſo ſchwer als ein <lb/>neugeborenes Kind; </s>
  <s xml:id="echoid-s168" xml:space="preserve">es iſt aber in unendlichem Maße an Er-<lb/>kenntnis gewachſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s169" xml:space="preserve">Es iſt dem Bereich des Triebes entrückt <lb/>und in das Bereich der Neigungen hineingetreten, und dieſe <lb/>treten bald in ſo vollem Maße auf, daß die Mittelſtufe zwiſchen <lb/>beiden, die Stufe des Inſtinkts, kaum ſicher angegeben werden <lb/>kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s170" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div10" type="section" level="1" n="10">
<head xml:id="echoid-head14" xml:space="preserve"><emph style="bf">V. Die Freiheit des Menſchen und die Neigungen</emph> <lb/><emph style="bf">der Menſchheit.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s171" xml:space="preserve">Wir haben den Unterſchied zwiſchen dem, was in Pflanze, <lb/>Tier und Menſchen waltet, darin gefunden, daß die Pflanze <lb/>ihrer Triebkraft, das Tier ſeinem Inſtinkt keinen freien Willen <lb/>entgegenſetzen kann, während der Menſch ſeine Neigung, die <lb/>mit Triebkraft und Inſtinkt nahe verwandt iſt, wohl zu be-<lb/>wältigen vermag.</s>
  <s xml:id="echoid-s172" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s173" xml:space="preserve">Wir brauchen nicht uralte Beiſpiele hierfür anzuführen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s174" xml:space="preserve">Der Menſch vermag ſeinem Hunger zu gebieten und ihn ſo-<lb/>lange zu bewältigen, bis der Mangel an Nahrung ſeinen Geiſt
<pb o="13" file="0021" n="21"/>
ſchwächt und alſo deſſen Entſchluß ſchwankend macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s175" xml:space="preserve">Der Menſch <lb/>kann jenen Verhältniſſen ſich entziehen, die dem Tiere inſtinkt-<lb/>mäßig geboten ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s176" xml:space="preserve">Der Menſch in gutem und ſchlechtem Sinne <lb/>kann ſich von der Liebe zu den Neugeborenen frei machen, ſich <lb/>der Sorge für ihre Erhaltung entſchlagen. </s>
  <s xml:id="echoid-s177" xml:space="preserve">Der Menſch kann <lb/>ſeinen Geſchlechtstrieb völlig unterdrücken und ein geſchlecht-<lb/>loſes Leben führen. </s>
  <s xml:id="echoid-s178" xml:space="preserve">Das alles ſind Beiſpiele, die niemandem <lb/>fremd ſind und die den Beweis liefern, daß er freier und <lb/>unabhängiger von jenen Gewalten iſt, welche die Natur auf die <lb/>Weſen unter ihm ausübt. </s>
  <s xml:id="echoid-s179" xml:space="preserve">— Iſt das aber ſchon in ſolchen <lb/>Umſtänden der Fall, wo offenbar das Menſchenleben dem der <lb/>Pflanze und des Tieres gleicht, ſo läßt ſich vernünftigerweiſe <lb/>nicht zweifeln, daß in dem geiſtigen Leben des Menſchen ein <lb/>noch höherer Grad der Freiheit des Willens herrſcht.</s>
  <s xml:id="echoid-s180" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s181" xml:space="preserve">Obgleich aber dieſe Freiheit des Menſchen über das, was <lb/>wir natürliche Neigungen nennen, nicht zu leugnen iſt, ergiebt <lb/>doch ein Blick auf das ganze Menſchengeſchlecht, daß es von <lb/>dieſen Neigungen wirklich geleitet wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s182" xml:space="preserve">— Faſt möchte man <lb/>ſagen, die natürlichen Neigungen der Menſchen ſind in dem <lb/>ganzen Menſchengeſchlecht nicht minder mächtig als die Inſtinkte <lb/>in den Tieren.</s>
  <s xml:id="echoid-s183" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s184" xml:space="preserve">Die einzelne Mutter beſitzt eine Freiheit, ſich ihrer Pflicht <lb/>gegen den Säugling zu entziehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s185" xml:space="preserve">aber in den Müttern im <lb/>allgemeinen iſt die Neigung zu dieſer Pflichterfüllung ſo groß, <lb/>daß ſie dieſelbe mit Luſt erfüllen. </s>
  <s xml:id="echoid-s186" xml:space="preserve">Nur ausnahmsweiſe Um-<lb/>ſtände und vorangegangene geiſtige Abirrung vermögen eine <lb/>Mutter grauſam oder gleichgültig zu machen gegen ihr Kind. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s187" xml:space="preserve">In ſolchem Falle iſt oft die Neigung zur Liebe von andern <lb/>Neigungen verdrängt, die unnatürlicherweiſe die Übermacht <lb/>über die Mutter gewonnen haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s188" xml:space="preserve">— In der ganzen Menſchheit <lb/>aber ſind faktiſch weder Umſtände noch Abirrungen ſolcher Art <lb/>möglich, und die Mutterliebe kommt als Naturgeſetz zur vollſten <lb/>Geltung.</s>
  <s xml:id="echoid-s189" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="14" file="0022" n="22"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s190" xml:space="preserve">Der Menſch teilt mit vielen Tieren die Neigung, ein <lb/>geſelliges Leben zu führen. </s>
  <s xml:id="echoid-s191" xml:space="preserve">Bei den Tieren iſt dies Inſtinkt, <lb/>der keine Abweichung geſtattet. </s>
  <s xml:id="echoid-s192" xml:space="preserve">Eine Biene, eine Ameiſe kann <lb/>nicht ein einſames Leben führen, ſie bilden Geſellſchaften und <lb/>abgeſchloſſene Kolonien, die gemeinſame Zwecke haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s193" xml:space="preserve">Die <lb/>Geſellſchaft der Menſchen, ja ſogar der Staat der Menſchen <lb/>hat große Ähnlichkeit damit, und man könnte den Geſelligkeits-<lb/>trieb der Menſchen hiernach dem Inſtinkt gleichſtellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s194" xml:space="preserve">Aber <lb/>er iſt doch nicht Inſtinkt, ſondern Neigung. </s>
  <s xml:id="echoid-s195" xml:space="preserve">— Es giebt <lb/>Menſchen, die ſich der Neigung der Geſelligkeit entziehen und <lb/>ſich in einen durch Umſtände oder andere Neigungen hervor-<lb/>gerufenen Zuſtand der Einſamkeit für das ganze Leben verſetzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s196" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s197" xml:space="preserve">Wäre das geſellige Beiſammenleben der Menſchen, wäre <lb/>das Staatsleben ein Ergebnis des Inſtinkts, ſo würden die <lb/>Menſchen ebenſowenig imſtande ſein, von der Form der Ge-<lb/>ſellſchaft abzuweichen, wie die Bienen. </s>
  <s xml:id="echoid-s198" xml:space="preserve">Gleichwohl iſt unver-<lb/>kennbar etwas in dem Menſchengeſchlecht vorhanden, das es <lb/>zur Geſelligkeit anhält, ohne dieſer ein unabänderliches Gepräge <lb/>zu geben und ohne dem Einzelnen ſeine Freiheit, ſich los-<lb/>zuſagen, zu benehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s199" xml:space="preserve">Selbſt die Wilden leben unter ſehr <lb/>verſchiedenen geſellſchaftlichen Formen; </s>
  <s xml:id="echoid-s200" xml:space="preserve">die Staaten, dieſe <lb/>größeren Geſellſchaften, ſind von einander ſehr verſchieden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s201" xml:space="preserve">Sie entwickeln ſich, bilden ſich aus, nehmen weiteren Umfang, <lb/>andere Geſtalt, verſchiedene Grundſätze an, und erheben ſich <lb/>gerade mit der reiferen Geiſtesbildung der Menſchen zu immer <lb/>freieren Schöpfungen.</s>
  <s xml:id="echoid-s202" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s203" xml:space="preserve">Oft beobachtet man in Völkern einen Wandertrieb, der <lb/>mit dem Wander-Inſtinkt der Tiere eine Ähnlichkeit verrät. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s204" xml:space="preserve">Ein Zug, dem die Menſchheit im ganzen nicht Widerſtand zu <lb/>leiſten vermag, treibt ſie über Meere hinweg, zu Wanderungen <lb/>nach fremden Gebieten und zur Anlage neuer Wohnſtätten, <lb/>die nicht ſelten mit Entbehrungen vieler gewohnter Zuſtände <lb/>verknüpft iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s205" xml:space="preserve">Ja, wer die Menſchengeſchichte beobachtet, der
<pb o="15" file="0023" n="23"/>
gelangt zu der Einſicht, daß mindeſtens ſeit den Zeiten, die <lb/>näher gekannt ſind, dieſe Wanderzüge einen regelmäßigen Gang <lb/>nehmen, und zwar von Oſten nach Weſten. </s>
  <s xml:id="echoid-s206" xml:space="preserve">Auch dieſen Zug <lb/>könnte man dem Inſtinkt gleichſtellen; </s>
  <s xml:id="echoid-s207" xml:space="preserve">aber er iſt es keines-<lb/>wegs. </s>
  <s xml:id="echoid-s208" xml:space="preserve">Es herrſcht auch hier das, was wir Neigung nennen, <lb/>die zwar viele, aber nicht alle ergreift und leitet, und zwar <lb/>auch dieſe vielen nicht durch einen Zwang, ſondern mit einem <lb/>bewußten Streben, das die Freiheit der einzelnen nicht beſchränkt.</s>
  <s xml:id="echoid-s209" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s210" xml:space="preserve">So himmelweit verſchieden der Bau eines Hauſes, einer <lb/>Hütte, eines Zeltes u. </s>
  <s xml:id="echoid-s211" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s212" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s213" xml:space="preserve">vom Bau eines Neſtes der Tiere <lb/>iſt, ſo kann man dieſe Erſcheinungen doch vergleichsweiſe <lb/>nebeneinander ſtellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s214" xml:space="preserve">Aber auch hier zeigt ſich der Unterſchied <lb/>zwiſchen dem, was das Tier zu thun gezwungen iſt, und dem, <lb/>was der Menſch nach freier Überlegung thut, ſo deutlich, daß <lb/>wir nicht weiter davon zu ſprechen brauchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s215" xml:space="preserve">Dort herrſcht <lb/>Zwang und hier Freiheit, aber eine Freiheit, die wiederum <lb/>von einer Neigung geleitet wird, der ſich die Menſchenmaſſe <lb/>nimmermehr gänzlich entzieht.</s>
  <s xml:id="echoid-s216" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s217" xml:space="preserve">So ſehen wir denn die Neigungen in den Menſchen ähnlich <lb/>wie die Inſtinkte in den Tieren wirken. </s>
  <s xml:id="echoid-s218" xml:space="preserve">Die Neigungen leiten <lb/>die Geſamtheit, ſchreiben ihr Geſetze vor, bilden Regeln aus <lb/>und üben eine Gewalt über die Menſchheit, die dieſe faſt <lb/>unfreiwillig im ganzen erſcheinen läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s219" xml:space="preserve">Gleichwohl liegt es <lb/>in der Natur dieſer Neigungen, daß ſie die Freiheit des <lb/>einzelnen nicht benehmen und ihn keineswegs zum Sklaven <lb/>einer Naturnotwendigkeit machen, die etwa blind über ihm <lb/>waltet.</s>
  <s xml:id="echoid-s220" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div11" type="section" level="1" n="11">
<head xml:id="echoid-head15" xml:space="preserve"><emph style="bf">VI. Die Welt der Neigungen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s221" xml:space="preserve">Vergleicht man nach dem Geſagten Handlungen, die aus <lb/>den Neigungen der Menſchen hervorgehen, mit den Handlungen
<pb o="16" file="0024" n="24"/>
der Tiere, die vom Inſtinkt geleitet werden, ſo ergiebt ſich die <lb/>Ähnlichkeit und der Unterſchied ſehr auffallend.</s>
  <s xml:id="echoid-s222" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s223" xml:space="preserve">Zu den Beiſpielen, die wir bereits angeführt haben, <lb/>wollen wir hier noch einige im Zuſammenhang aufführen, um <lb/>das Geſagte beſſer überſchaulich zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s224" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s225" xml:space="preserve">Das neugeborene Kind wird von der Mutter naturgemäß <lb/>geliebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s226" xml:space="preserve">Das iſt etwas, was beim Tier in ähnlicher Weiſe <lb/>vorkommt; </s>
  <s xml:id="echoid-s227" xml:space="preserve">aber beim Tier hält auch dieſer Inſtinkt nur ſo <lb/>lange an, als das Junge der Mutter bedarf, ſo lange, bis <lb/>das junge Tier ſelbſtändig iſt und für ſich ſelber ſorgen kann. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s228" xml:space="preserve">Beim Menſchen, wo es bewußte Liebe iſt, geht ſie mächtig <lb/>durch das ganze Leben.</s>
  <s xml:id="echoid-s229" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s230" xml:space="preserve">An der Hand dieſes Gefühls, des Gefühls der Kindes-<lb/>und der Mutterliebe knüpft ſich beim Menſchen ein reiches <lb/>Leben der Liebe an die beglückenden Bande der Angehörigkeit, <lb/>die weit über ſolche, wie ſie bei Tieren gefunden werden, <lb/>hinausragen.</s>
  <s xml:id="echoid-s231" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s232" xml:space="preserve">Das Band zwiſchen Vätern und Kindern findet bei Tieren <lb/>nicht ſtatt. </s>
  <s xml:id="echoid-s233" xml:space="preserve">Nur die Vögel zeigen ein Verhältnis, das hiermit <lb/>Ähnlichkeit hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s234" xml:space="preserve">Das Männchen hilft das Neſt bauen und <lb/>ſetzt ſich zuweilen auf die Brüteier, um ſie nicht erkalten zu <lb/>laſſen, wenn das Weibchen ausfliegt, um ſich durch einen Trunk <lb/>zu erquicken. </s>
  <s xml:id="echoid-s235" xml:space="preserve">— Die Geſchwiſter-Ähnlichkeit iſt ganz und gar <lb/>den Tieren fremd; </s>
  <s xml:id="echoid-s236" xml:space="preserve">beim Menſchen iſt ſie ſo ausgeprägt, daß <lb/>ſie die Stütze des Familien-Lebens iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s237" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s238" xml:space="preserve">Das Familien-Leben iſt wiederum in der Tierwelt vor-<lb/>gebildet und kommt als Inſtinkt im Leben derjenigen Tiere <lb/>zum Vorſchein, die ein geſelliges Daſein führen. </s>
  <s xml:id="echoid-s239" xml:space="preserve">Höchſt merk-<lb/>würdig iſt es, wahrzunehmen, wie nur ſolche Tiere dem <lb/>Menſchen ſich anſchließen und eine Kultur annehmen, die in <lb/>der Wildnis in großen Geſellſchaften leben. </s>
  <s xml:id="echoid-s240" xml:space="preserve">Der Hund, das <lb/>Pferd, der Affe, das Rind, das Schaf und viele Vögelſorten, <lb/>die man in Haustiere umwandeln kann, ſcheinen dieſe Be-
<pb o="17" file="0025" n="25"/>
fähigung nur durch denſelben Trieb zu erlangen, durch welchen <lb/>ſie inſtinktmäßig in der Wildnis genötigt ſind, in großen Ge-<lb/>meinſchaften zu leben. </s>
  <s xml:id="echoid-s241" xml:space="preserve">Tiere, die in der Wildnis ein ein-<lb/>ſames Leben führen, kann man zwar zähmen und mehr oder <lb/>weniger unſchädlich machen; </s>
  <s xml:id="echoid-s242" xml:space="preserve">aber zum Haustier ſind ſie nicht <lb/>umzuwandeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s243" xml:space="preserve">Die Katze iſt gezähmt, aber nicht zum Haus-<lb/>tier geworden. </s>
  <s xml:id="echoid-s244" xml:space="preserve">Sie führt ſtets ein halbwildes, den Menſchen <lb/>ſich nie ganz unterwerfendes Leben.</s>
  <s xml:id="echoid-s245" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s246" xml:space="preserve">Erwägt man dies, ſo hat man Urſache, die Kulturfähigkeit <lb/>überhaupt mit dem Geſelligkeitstrieb in nahe Verbindung zu <lb/>bringen, und bedenkt man, daß die Familie die Grundlage der <lb/>Geſellſchaft und der Gemeinſamkeit iſt, ſo läßt ſich die Neigung <lb/>des Menſchen zu einem Familienleben überhaupt als Grund-<lb/>bedingung der Fähigkeit und Neigung des Menſchen zur Aus-<lb/>bildung annehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s247" xml:space="preserve">In der That iſt die Familie die Grund-<lb/>lage der menſchlichen Bildung, und wenn man auf einzelne <lb/>hinweiſt, die, ohne ſich je eines Familienlebens im gewöhn-<lb/>lichen Sinne erfreut zu haben, hohe Stufen der Bildung er-<lb/>ſtiegen, ſo beweiſt dies nur, daß der Menſch nicht ein vom <lb/>Inſtinkt regiertes Weſen iſt, ſondern die Freiheit und die <lb/>Fähigkeit beſitzt, auf eigenem Wege ſeiner Beſtimmung teil-<lb/>haftig zu werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s248" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s249" xml:space="preserve">Bei den Tieren zeigt ſich ein Staatsleben, das heißt, ein <lb/>Leben in geſchloſſener Geſellſchaft, wo alle Einzelnen zum <lb/>Wohl des Ganzen thätig ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s250" xml:space="preserve">Der Inſtinkt der Bienen, der <lb/>Ameiſen iſt in dieſer Beziehung bekannt genug. </s>
  <s xml:id="echoid-s251" xml:space="preserve">Merkwürdiger-<lb/>weiſe zeigt es ſich, daß gerade ſolche Tiere Staaten bilden, <lb/>welche ein geſchlechtsloſes Leben führen. </s>
  <s xml:id="echoid-s252" xml:space="preserve">Im Bienenkorb, im <lb/>Ameiſenhaufen ſind es weder die Männchen noch die Weibchen, <lb/>welche die Arbeiten für die Geſamtheit verrichten, ſondern die <lb/>Arbeiter, die weder erzeugen noch gebären können. </s>
  <s xml:id="echoid-s253" xml:space="preserve">— Der <lb/>menſchlichen Geſellſchaft fehlen ſolche Geſchlechtsloſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s254" xml:space="preserve">aber <lb/>gleichwohl iſt die Staatenbildung eine innere Neigung der
<pb o="18" file="0026" n="26"/>
Menſchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s255" xml:space="preserve">Der Staat iſt nicht ein bloßes Rechenexempel, <lb/>ſondern ein Naturprodukt, dem man ſich nur entziehen kann, <lb/>weil überhaupt die menſchliche Natur nicht gefeſſelt iſt in <lb/>Inſtinkten, ſondern in mehr freieren Neigungen wurzelt.</s>
  <s xml:id="echoid-s256" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s257" xml:space="preserve">Die Liebe zur Heimat, zur Geburtsſtätte, zur Vaterſtadt, <lb/>zum Vaterland ſind nicht bloße leere Angewöhnungen und <lb/>ſind ebenſowenig Inſtinkte, die blind walten. </s>
  <s xml:id="echoid-s258" xml:space="preserve">Die Taube hat <lb/>einen mächtigen Inſtinkt zur Stätte ihrer Brütung, und dieſer <lb/>führt ſie heim und lehrt ſie den Weg über meilenweite Strecken <lb/>kennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s259" xml:space="preserve">Beim Menſchen iſt dieſer Inſtinkt nicht vorhanden; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s260" xml:space="preserve">aber er giebt ſich in der Heimatsliebe als Neigung zu erkennen, <lb/>als Neigung, der man allerdings wiederum Widerſtand leiſten <lb/>und der man ſich durch Willenskraft entziehen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s261" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s262" xml:space="preserve">Ja, die Neigung der Menſchen giebt ſich ſogar in der <lb/>Mode kund; </s>
  <s xml:id="echoid-s263" xml:space="preserve">in einer Nachahmungsſucht, in dem Wohlgefallen <lb/>an dem Geſchmack, wenn er einmal von ſehr vielen angenommen <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s264" xml:space="preserve">Die Mode iſt eine Neigung; </s>
  <s xml:id="echoid-s265" xml:space="preserve">man kann ſich ihr entziehen, <lb/>wenn man will; </s>
  <s xml:id="echoid-s266" xml:space="preserve">aber man findet ſich nicht wohl in dem Be-<lb/>ſtreben, eine Ausnahme zu ſein, und verläßt eine längſt ge-<lb/>wohnte Tracht, die man einſt ſehr geſchmackvoll fand, als eine <lb/>Geſchmackloſigkeit, wie man eine zu oft genoſſene Speiſe mit <lb/>einem Gefühl des Widerwillens verläßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s267" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s268" xml:space="preserve">Die Neigungen ſind nicht unverbrüchliche Inſtinkte und <lb/>nicht leere Willkürlichkeiten, ſondern ſtehen auf einer Stufe der <lb/>Naturnotwendigkeit, die zugleich eine Freiheit des Wollens <lb/>zuläßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s269" xml:space="preserve">Es iſt dies ein Zuſtand, welchen unſer Verſtand ſehr <lb/>ſchwierig aufzufaſſen vermag; </s>
  <s xml:id="echoid-s270" xml:space="preserve">aber es iſt ſo, und hiermit muß <lb/>ſich die Naturwiſſenſchaft, die nur aus Thatſachen lernen ſoll, <lb/>begnügen.</s>
  <s xml:id="echoid-s271" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="19" file="0027" n="27"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div12" type="section" level="1" n="12">
<head xml:id="echoid-head16" xml:space="preserve"><emph style="bf">VII. Geiſtige Neigungen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s272" xml:space="preserve">Wir haben bisher nur diejenigen Neigungen der Menſchen <lb/>in Betracht gezogen, die in gewiſſem Sinne dem Inſtinkt der <lb/>Tiere ähnlich ſind, und haben dieſe Neigungen dahin erklärt, <lb/>daß ſie zwar im allgemeinen von einer eben ſolchen Natur-<lb/>notwendigkeit herrühren wie die Inſtinkte der Tiere, jedoch <lb/>geregelt werden durch etwas, das den Tieren mangelt, nämlich <lb/>durch den Geiſt der Menſchen, der auf die Neigungen einen <lb/>freien Einfluß ausübt.</s>
  <s xml:id="echoid-s273" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s274" xml:space="preserve">Jetzt jedoch müſſen wir noch einen Schritt weiter gehen <lb/>und darthun, daß auch der Geiſt ſelbſt gewiſſen Neigungen <lb/>unterworfen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s275" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s276" xml:space="preserve">Es iſt höchſt merkwürdig wahrzunehmen, daß der Trieb zum <lb/>Denken ſchon in den allerälteſten Menſchen der verfloſſenen <lb/>Jahrtauſende lebendig und regſam geweſen iſt, wichtiger noch <lb/>iſt es zu ſehen, wie ſie im Denken ganz denſelben Geſetzen ge-<lb/>folgt ſind, denen wir auch folgen müſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s277" xml:space="preserve">Die Geſetze des <lb/>Denkens, das was man wiſſenſchaftlich die Logik nennt, ſind <lb/>ſo alt wie die Menſchheit, mindeſtens ſo alt wie irgend ein <lb/>Denkmal menſchlichen Daſeins überhaupt. </s>
  <s xml:id="echoid-s278" xml:space="preserve">Die Weiſen der <lb/>älteſten Nationen haben zwar in den meiſten Dingen irrige <lb/>Vorſtellungen gehabt. </s>
  <s xml:id="echoid-s279" xml:space="preserve">Ihre Erfahrung war aber ärmer als <lb/>die unſrige. </s>
  <s xml:id="echoid-s280" xml:space="preserve">Sie wußten von den Naturerſcheinungen weniger, <lb/>waren nicht ſo ausgebildet in der Beobachtungsgabe und nicht <lb/>ſo gut ausgerüſtet mit den Mitteln, die Natur zu beobachten <lb/>wie wir. </s>
  <s xml:id="echoid-s281" xml:space="preserve">Sie haben ſich daher falſche Vorſtellungen von <lb/>wirklichen Dingen gemacht, und waren nicht imſtande Dinge <lb/>zu durchforſchen, zu denen genaue Kenntnis des Materials nötig <lb/>war. </s>
  <s xml:id="echoid-s282" xml:space="preserve">Aber ſie waren ſo geſcheit, ſo weiſe, ſo ſcharfſinnig, <lb/>ſo tief vernünftig, wie nur die Weiſeſten des jetzt lebenden <lb/>Geſchlechts.</s>
  <s xml:id="echoid-s283" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="20" file="0028" n="28"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s284" xml:space="preserve">Prüft man ihre Gedanken und Ideen, ſo ſieht man, daß <lb/>ſie nur deshalb falſche Reſultate erhielten, weil ſie in vielen <lb/>Dingen dem Augenſchein trauten und nicht die vorzüglichſten <lb/>Mittel in Händen hatten, durch welche wir die Natur der <lb/>Dinge beſſer kennen gelernt haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s285" xml:space="preserve">aber ihr Geiſt war im <lb/>Denken ebenſo geübt, ebenſo geſchärft, ebenſo klar, ebenſo fein, <lb/>wie nur irgend ein Geiſt in der jetzigen Zeit iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s286" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s287" xml:space="preserve">Daher kommt es auch, daß in all’ den Wiſſenſchaften, wo <lb/>uns die Mittel der gründlichen Erfahrung und genaueren <lb/>Beobachtung fehlen, in all’ den Dingen, die man nicht mathe-<lb/>matiſch meſſen, die man nicht mit dem Barometer und Thermo-<lb/>meter unterſuchen, die man weder mit einem Mikroſkop noch <lb/>mit einem Fernrohre ſehen, weder mit einem Hörrohr hören <lb/>noch mit einer Magnetnadel, noch mit einem Elektrizitäts-<lb/>Meſſer prüfen kann, daß in all’ ſolchen Dingen der Fortſchritt <lb/>unſerer Erkenntnis geringer iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s288" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s289" xml:space="preserve">Die Geſchichte jener Wiſſenſchaften, welche die Grundlagen <lb/>unſerer Naturforſchung geworden ſind, die Geſchichte der <lb/>Mathematik und Mechanik, die außerordentlich erweitert und <lb/>fortgebildet worden, beweiſt uns, daß ſchon vor zweitauſend <lb/>Jahren Menſchen gelebt haben, die an Scharfſinn und Geiſtes-<lb/>klarheit noch heute als Muſter denkender Menſchen daſtehen <lb/>würden. </s>
  <s xml:id="echoid-s290" xml:space="preserve">Ein Euklid, ein Pythagoras, ein Archimedes werden <lb/>zuverſichtlich noch nach Jahrtauſenden die Bewunderung aller <lb/>Denker auf ſich ziehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s291" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s292" xml:space="preserve">Nicht minder als dieſe Wiſſenſchaften giebt die Geſchichte <lb/>der Kunſt ein ſprechendes Zeugnis von der höchſten Begabung <lb/>der Nationen, die lange, lange vor uns gelebt haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s293" xml:space="preserve">Die <lb/>religiöſen Dichtungen der Hebräer, die darſtellenden Dichter-<lb/>und Bildhauer-Werke der Griechen, das merkwürdige Liebes-<lb/>Drama “Sakuntala” eines Indiers ſprechen unwiderleglich <lb/>dafür, daß der Menſchengeiſt zwar mit den Jahrtauſenden
<pb o="21" file="0029" n="29"/>
reicher an Material der Erkenntnis wird; </s>
  <s xml:id="echoid-s294" xml:space="preserve">aber der Geiſt ſelbſt <lb/>iſt keineswegs ſchärfer und fähiger geworden.</s>
  <s xml:id="echoid-s295" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s296" xml:space="preserve">All’ dies giebt den Beweis, daß es nicht nur feſte Geſetze <lb/>des Denkens, ſondern auch gewiſſe, feſtſtehende, allgemeine <lb/>Regeln der Geiſtesanſchauungen giebt, die ſeit Jahrtauſenden <lb/>in dem Menſchengeſchlechte nicht wechſeln, ſondern ihm eigen-<lb/>tümlich ſind und bleiben. </s>
  <s xml:id="echoid-s297" xml:space="preserve">All’ dies deutet darauf hin, daß die <lb/>Natur dem Menſchengeiſt eine gewiſſe Richtung der Denkweiſe <lb/>gegeben hat, von der er nicht imſtande iſt abzuweichen.</s>
  <s xml:id="echoid-s298" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s299" xml:space="preserve">Es giebt daher Überzeugungen, die der Menſch als <lb/>unumſtößliche, als ewige Wahrheiten anerkennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s300" xml:space="preserve">Jeder Menſch, <lb/>der z. </s>
  <s xml:id="echoid-s301" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s302" xml:space="preserve">einmal den mathematiſchen Lehrſatz erkannt, daß <lb/>die drei Winkel eines Dreiecks gleich zweien rechten Winkeln <lb/>ſind, der wird in ſich fühlen, wie es unmöglich iſt, daß jemals <lb/>ein Menſchenverſtand dies als einen Irrtum wird darthun <lb/>können. </s>
  <s xml:id="echoid-s303" xml:space="preserve">Die Wahrheit dieſes Satzes iſt ihm ſo feſt eingeprägt <lb/>und entſpricht ſo ganz und gar dem Denkvermögen des Geiſtes, <lb/>daß man ſich ganz unmöglich eine Vorſtellung machen kann <lb/>von Weſen, deren Geiſt andere Regeln des Denkens, mit anderen <lb/>Worten andere Denkformen habe und deshalb auf ein anderes <lb/>Reſultat des Denkens gelangen könne.</s>
  <s xml:id="echoid-s304" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s305" xml:space="preserve">Es unterliegt daher keinem Zweifel, daß es ebenſo natur-<lb/>gemäße Regeln des Denkens giebt, wie es naturgemäße Regeln <lb/>für das Wachstum des menſchlichen Leibes giebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s306" xml:space="preserve">Dieſelbe Geſetz-<lb/>lichkeit, die es macht, daß das Gehirn des Menſchen ſo und <lb/>nicht anders gebaut iſt, dieſelbe Geſetzlichkeit zwingt das Gehirn, <lb/>ſo und nicht in anderer, in willkürlicher Weiſe zu denken. </s>
  <s xml:id="echoid-s307" xml:space="preserve">Da <lb/>aber trotzdem die Gedanken der Menſchen außerordentlich von <lb/>einander abweichen, ſo iſt es klar, daß die Natur ihnen auch <lb/>in dieſer Beziehung nur die Neigung zum Richtigen gegeben, <lb/>jedoch eine Freiheit gelaſſen hat, innerhalb dieſer Neigungen <lb/>ihre Denkergabe zu benutzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s308" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="22" file="0030" n="30"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div13" type="section" level="1" n="13">
<head xml:id="echoid-head17" xml:space="preserve"><emph style="bf">VIII. Eine ungelöſte Frage.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s309" xml:space="preserve">Die Geſetze des Denkens hier aufzuführen, würde uns zu <lb/>weit von unſerem eigentlichen Thema abbringen, obwohl ſie <lb/>demſelben keineswegs fremd ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s310" xml:space="preserve">In der Lehre vom Leben <lb/>der Menſchen kann nur die eine Frage nicht umgangen werden, <lb/>ob es gewiſſe Denkgeſetze oder richtiger Denkanſchauungen giebt, <lb/>die dem Menſchen angeboren ſind? </s>
  <s xml:id="echoid-s311" xml:space="preserve">oder ob alles, was der <lb/>Menſch von richtigen Anſchauungen beſitzt, ihm erſt durch Er-<lb/>fahrung zugekommen iſt?</s>
  <s xml:id="echoid-s312" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s313" xml:space="preserve">Dieſe Frage iſt bisher nur eine Aufgabe der Philoſophie <lb/>geweſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s314" xml:space="preserve">Eine unparteiiſche Betrachtung der hauptſächlichſten <lb/>philoſophiſchen Syſteme von Ariſtoteles bis auf Kant lehrt, daß <lb/>gerade dieſe Frage von den Philoſophen mit außerordentlichem <lb/>Scharfſinn behandelt worden iſt und die Beobachtung jedes <lb/>denkenden Menſchen verdient.</s>
  <s xml:id="echoid-s315" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s316" xml:space="preserve">Wenn wir uns in dieſer Frage eine Bemerkung erlauben <lb/>dürfen, ſo iſt ſie folgende.</s>
  <s xml:id="echoid-s317" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s318" xml:space="preserve">Es ſcheint uns, als wenn bei allen Beantwortungen dieſer <lb/>Frage auf das Wort “angeboren” viel zu viel Wert gelegt, <lb/>mindeſtens ihm eine zu weit gehende Bedeutung gegeben worden <lb/>ſei. </s>
  <s xml:id="echoid-s319" xml:space="preserve">— Es giebt eine Reihe von Anſchauungen, deren Ent-<lb/>ſtehung ſich unſern Beobachtungen nicht ſo ſehr entzieht, von <lb/>denen wir aber weder ſagen können, ſie ſeien angeboren, noch <lb/>zu behaupten vermögen, ſie ſeien durch Erfahrung allein ent-<lb/>ſtanden. </s>
  <s xml:id="echoid-s320" xml:space="preserve">— In den Zeiten, wo der Knabe zum Jüngling, das <lb/>Mädchen zur Jungfrau wird, treten neue Anſchauungen über <lb/>das Geſchlechtsverhältnis auf, ſelbſt wo ſie niemand hierüber <lb/>belehrt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s321" xml:space="preserve">Bei einer ſittlichen Erziehung kann man durchaus <lb/>nicht ſagen, daß ſie von außen her mehr erfahren, als ſie zur <lb/>Zeit der Unreife erfahren haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s322" xml:space="preserve">Gleichwohl wird ihre Phan-<lb/>taſie, das heißt die Denk- und Vorſtellungskraft ihres Gehirns
<pb o="23" file="0031" n="31"/>
angeregt mit der Entwickelung ihrer Organe, und ſie beginnen <lb/>jetzt erſt dieſelben Erfahrungen, die ſie längſt ſchon gemacht <lb/>haben, die Erfahrungen, daß es ein eheliches Geſchlechtsver-<lb/>hältnis giebt, zu verſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s323" xml:space="preserve">Wir ſehen alſo hier innere Ent-<lb/>wickelungszuſtände, die erſt lange nach der Geburt eintreten, <lb/>und äußerliche Erfahrungen, welche früher unerkannt den <lb/>Kindern vorübergingen, zuſammenwirken, um richtige Anſchau-<lb/>ungen hervorzurufen.</s>
  <s xml:id="echoid-s324" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s325" xml:space="preserve">Würde man ein Kind bis zur vollkommenen Geſchlechts-<lb/>reife in ſolcher Einſamkeit erziehen, wo es niemals ein Weſen <lb/>andern Geſchlechts geſehen hat, ſo würde unzweifelhaft ſeine <lb/>Phantaſie von einem Geſchlechtsleben zu ganz falſchen Bildern <lb/>und Vorſtellungen und Anſchauungen geleitet werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s326" xml:space="preserve">Umge-<lb/>kehrt würde eine völlige Verſtümmelung der Organe jede Art <lb/>von Vorſtellungen unterdrücken und ſelbſt die augenſcheinlichſten <lb/>Erfahrungen keine richtigen Anſchauungen vom Geſchlechtsleben <lb/>erzeugen. </s>
  <s xml:id="echoid-s327" xml:space="preserve">Beides zugleich alſo, die leibliche Entwickelung und <lb/>innere Anregung und mit ihr die Hand in Hand gehende Er-<lb/>fahrung regen die richtige Anſchauung erſt an. </s>
  <s xml:id="echoid-s328" xml:space="preserve">Es tritt hier <lb/>Inneres und Äußeres zuſammen und bringt das hervor, was <lb/>man weder bloß angeboren noch bloß durch Erfahrung hervor-<lb/>gebracht nennen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s329" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s330" xml:space="preserve">Unſerer Anſicht nach kann es mit den einfachſten Denk-<lb/>Anſchauungen ebenſo ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s331" xml:space="preserve">Die Entwickelungen des Gehirns <lb/>ohne alle äußerlichen Wahrnehmungen würden ebenſowenig <lb/>dieſe Anſchauungen möglich machen, ſo wenig es dieſe äußern <lb/>Wahrnehmungen allein dahin bringen könnten. </s>
  <s xml:id="echoid-s332" xml:space="preserve">Es tritt Beides <lb/>zu einander und bringt gemeinſam das hervor, was man als <lb/>die einfachſten Denkanſchauungen aufſtellt.</s>
  <s xml:id="echoid-s333" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s334" xml:space="preserve">Wir meinen überhaupt, daß man in den Beantwortungen <lb/>dieſer intereſſanten Fragen den Fehler beging, den denkenden <lb/>Menſchen als ein Weſen zu betrachten, das außerhalb der <lb/>Natur denkbar oder möglich iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s335" xml:space="preserve">Man überſah hierbei, daß
<pb o="24" file="0032" n="32"/>
alle Organe des Menſchen für dieſe ſeine Außenwelt paſſend <lb/>eingerichtet ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s336" xml:space="preserve">Kein Menſch kann zweifeln, daß das <lb/>Auge nur im Mutterleibe ſich gebildet hat, weil die Welt zum <lb/>Sehen eingerichtet iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s337" xml:space="preserve">Gäbe es kein Licht, ſo gäbe es ſicher-<lb/>lich kein Auge; </s>
  <s xml:id="echoid-s338" xml:space="preserve">gäbe es keine Luft, ſo gäbe es keine Lunge, <lb/>keine Flügel. </s>
  <s xml:id="echoid-s339" xml:space="preserve">Licht und Auge, die Einrichtung der Außen-<lb/>welt und der Bau des Auges im Innern gehören alſo zu ein-<lb/>ander; </s>
  <s xml:id="echoid-s340" xml:space="preserve">und aus beiden geht erſt hervor, was wir Sehen <lb/>nennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s341" xml:space="preserve">— Ganz in demſelben Sinne aber ſcheint es uns <lb/>klar, daß das Denkvermögen des Gehirns und die Wahr-<lb/>nehmungen der Außenwelt zuſammengehören, daß Eines ohne <lb/>das Andere unmöglich iſt und nur im Zuſammenwirken beider <lb/>das hervorgerufen wird, was wir Denken oder Anſchauungen <lb/>nennen.</s>
  <s xml:id="echoid-s342" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s343" xml:space="preserve">Das Gehirn iſt mit einer Fähigkeit und einer Neigung <lb/>zum Denken ausgerüſtet; </s>
  <s xml:id="echoid-s344" xml:space="preserve">aber mit einer Fähigkeit und Neigung, <lb/>die erſt verwirklicht werden kann, wenn die Außenwelt die <lb/>Anregung dazu giebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s345" xml:space="preserve">Der Menſch bringt dieſes mit zur Welt, <lb/>weil die Welt und der Menſch zuſammengehören, wie beide <lb/>aus einem Geſetze, aus einem Gedanken — wenn man ſo ſagen <lb/>will — entſpringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s346" xml:space="preserve">Die Frage alſo, welche Gedanken hätte <lb/>ein Menſch, wenn er ohne alle Wahrnehmungen in der Welt <lb/>bliebe? </s>
  <s xml:id="echoid-s347" xml:space="preserve">iſt daher der Frage gleichzuſtellen: </s>
  <s xml:id="echoid-s348" xml:space="preserve">was würde das Auge <lb/>des Menſchen ſehen, wenn es kein Licht in der Welt gäbe? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s349" xml:space="preserve">Ebenſo wie man auf dieſe Frage mit Recht antworten kann: </s>
  <s xml:id="echoid-s350" xml:space="preserve"><lb/>wenn es kein Licht gäbe, wäre auch kein Auge vorhanden, <lb/>ebenſo kann man ſagen, daß, wenn es keine Welt der Wahrneh-<lb/>mungen gäbe, auch der Menſch kein Organ zur Welt brächte, <lb/>um wahrzunehmen oder zu denken.</s>
  <s xml:id="echoid-s351" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="25" file="0033" n="33"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div14" type="section" level="1" n="14">
<head xml:id="echoid-head18" xml:space="preserve"><emph style="bf">IX. Die Entſtehung der Denkformen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s352" xml:space="preserve">Wenn wir nun auch ſehen, daß, ſo weit die menſchliche <lb/>Geſchichte bekannt und ein Urteil möglich iſt, die Denkformen <lb/>die gleichen geblieben ſind, ſo kann dennoch nicht angenommen <lb/>werden, daß ſie von vornherein in derſelben hohen Ausbildung <lb/>aufgetreten und vorhanden geweſen ſind wie heute. </s>
  <s xml:id="echoid-s353" xml:space="preserve">Vielmehr <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0033-01a" xlink:href="fig-0033-01"/>
gebietet die Annahme der Abſtammungslehre, <lb/>nach der ſich die höheren, verwickelter gebauten <lb/>Lebeweſen allmählich aus niederen, einfacher <lb/>gebauten entwickelt haben, die gleichzeitige <lb/>Annahme, daß auch die Denkformen erſt allmählich ihre hohe <lb/>Ausbildung erhalten haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s354" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div14" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0033-01" xlink:href="fig-0033-01a">
<caption xml:id="echoid-caption1" xml:space="preserve">Fig. 1.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables1" xml:space="preserve">y a w x A <lb/>y a w x B</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s355" xml:space="preserve">Das Denken, oder ſagen wir ganz allgemein, die geiſtigen <lb/>(ſeeliſchen) Werte ſind von Bewegungen abhängig, die ſich im <lb/>Gehirn vollziehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s356" xml:space="preserve">Die Bewegungen im Gehirn kann man <lb/>daher als “Unabhängige”, die ſeeliſchen Werte als “Abhängige” <lb/>bezeichnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s357" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s358" xml:space="preserve">Um die Art der Abhängigkeit einigermaßen zu verbildlichen, <lb/>ſei auf die Abhängigkeit der von einem Winkel eingeſchloſſenen <lb/>geraden Strecke von der Größe dieſes Winkels hingewieſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s359" xml:space="preserve">
<pb o="26" file="0034" n="34"/>
Das heißt, wenn der Winkel w in Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s360" xml:space="preserve">1 A größer gemacht <lb/>wird, etwa durch Bewegung der Linie x y, ſo wird auch die <lb/>Linie a größer und umgekehrt. </s>
  <s xml:id="echoid-s361" xml:space="preserve">Die Länge der Linie a iſt alſo <lb/>in beſtimmter Weiſe abhängig von der Größe des Winkels w, <lb/>oder wie der Mathematiker ſagen würde: </s>
  <s xml:id="echoid-s362" xml:space="preserve">die Länge der Linie a <lb/>iſt eine Funktion des Winkels w.</s>
  <s xml:id="echoid-s363" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s364" xml:space="preserve">In Funktional-Beziehung zueinander ſtehen auch die Be-<lb/>wegungen des Gehirns und die ſeeliſchen Werte, welche zu-<lb/>ſammengenommen die “Geele” ausmachen, deren “Einheitlich-<lb/>keit” durch die Fähigkeit, ſich früherer ſeeliſcher Werke zu er-<lb/>innern, zu ſtande kommt.</s>
  <s xml:id="echoid-s365" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s366" xml:space="preserve">Da nun das Gehirn als Teil des Geſamtkörpers im Ver-<lb/>laufe der Generation der Lebeweſen ſich ebenſo geändert, im-<lb/>mer höhere kompliziertere Geſtaltungen angenommen hat, ſo <lb/>müſſen natürlich auch die ſeeliſchen Werte, insbeſondere die <lb/>Denkformen ſich geändert, ſich entwickelt haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s367" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s368" xml:space="preserve">Über die Art dieſer Entwickelung hat H. </s>
  <s xml:id="echoid-s369" xml:space="preserve"><emph style="sp">Potonié</emph> 1891 <lb/>eine Anſchauung geäußert, die wir im Folgenden wiedergeben.</s>
  <s xml:id="echoid-s370" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s371" xml:space="preserve">Wie die körperlichen Eigentümlichkeiten der Lebeweſen ſich <lb/>mit Hilfe der Prinzipien der Abſtammungslehre aus den Einflüſſen <lb/>der Außenwelt auf die gegebenen Körper erklären laſſen, näm-<lb/>lich durch Auswahl im Kampfe ums Daſein, genau ebenſo <lb/>laſſen ſich die Eigentümlichkeiten des Geiſtes in leichteſter Weiſe <lb/>durch Anpaſſung erklären. </s>
  <s xml:id="echoid-s372" xml:space="preserve">Wie die organiſchen Weſen in ihren <lb/>Geſtaltungsverhältniſſen nach allen Richtungen abändern (vari-<lb/>ieren) und von den Abänderungen (Variationen) nur die paſſen-<lb/>den, nur die lebenfördernden, oder doch die nicht lebenſtörenden <lb/>erhalten bleiben und ſich daher ſchließlich vererben können, <lb/>genau ebenſo können von den zunächſt nach allen Richtungen <lb/>hin zielenden Denkregungen nur diejenigen erhalten bleiben, im <lb/>Kampfe ums Daſein ausgeleſen und infolgedeſſen vererbt werden, <lb/>die nicht zu lebengefährdenden Handlungen führen.</s>
  <s xml:id="echoid-s373" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s374" xml:space="preserve">Nicht nur der organiſche Körper hat die Fähigkeit zu
<pb o="27" file="0035" n="35"/>
variiren und neu entſtandene Eigentümlichkeiten zu vererben, <lb/>ſondern es müſſen ſich ja — wie wir ſahen — mit der Ver-<lb/>änderung ſpeziell des Gehirns auch die ſeeliſchen Werte ändern. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s375" xml:space="preserve">Es iſt nur nötig daran zu erinnern (z. </s>
  <s xml:id="echoid-s376" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s377" xml:space="preserve">an die Vererbbarkeit <lb/>krankhafter Geiſtesbildung), einer näheren Ausführung bedarf <lb/>es kaum, da das tägliche Leben dieſe Einſicht jedem leicht ver-<lb/>ſchafft.</s>
  <s xml:id="echoid-s378" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s379" xml:space="preserve">Hat daher eine Vorfahrenreihe lebenerhaltende Erfahrungen <lb/>erworben, ſo wird ſie auch dieſe auf die Nachkommen vererben, <lb/>die ſie unbewußt anwenden, bei denen ſich das Handeln nach <lb/>dieſen Erfahrungen ſchließlich als Trieb äußert.</s>
  <s xml:id="echoid-s380" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s381" xml:space="preserve">Die genannten beiden Haupteigenſchaften — alſo Varia-<lb/>tions- und Vererbungsfähigkeit — ſind vollkommen ausreichend, <lb/>auch die Entwickelung des Geiſtes aus einfachſten Anfängen <lb/>heraus zu begreifen. </s>
  <s xml:id="echoid-s382" xml:space="preserve">Und wie bei der Beurteilung der Ge-<lb/>ſtaltung der Organismen die durch <emph style="sp">Darwin’s</emph> Betrachtungen <lb/>gewonnene Erkenntnis der Urſachen der zweckmäßig ſcheinenden, <lb/>der den Außenverhältniſſen durchaus angepaßten Eigentümlich-<lb/>keiten des Baues und Lebens der Organismen einen tiefen Ein-<lb/>blick in die organiſche Natur gewährt und uns einen mächtigen <lb/>Schritt dem Verſtändnis der Lebewelt näher geführt hat, ſo <lb/>können wir hoffen, mit Anwendung der gleichen Methode auch <lb/>die ohne Betrachtung ihrer Entwickelung uns ebenfalls wunder-<lb/>bar erſcheinenden, mit den Weltverhältniſſen in Einklang ſtehen-<lb/>den normalen Denkformen ihrer Entſtehung nach zu begreifen.</s>
  <s xml:id="echoid-s383" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s384" xml:space="preserve">Die Parallelen, die wir bis jetzt zwiſchen Körper und Geiſt <lb/>gezogen haben, ſind nicht die einzig zuläſſigen: </s>
  <s xml:id="echoid-s385" xml:space="preserve">es finden ſich <lb/>deren noch mehr, und ſie können — wie wir gleich ſehen werden — <lb/>auch fernerhin Dienſte leiſten.</s>
  <s xml:id="echoid-s386" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s387" xml:space="preserve">Wir ſagten, daß die Organe den Außenverhältniſſen durch-<lb/>aus entſprechen, ganz vorſichtig ausgedrückt, hätten wir hinzu-<lb/>fügen müſſen “im allgemeinen”. </s>
  <s xml:id="echoid-s388" xml:space="preserve">Denn weiteres Eindringen <lb/>in den Gegenſtand zeigt bald, daß es auch Organeigentümlich-
<pb o="28" file="0036" n="36"/>
keiten giebt, die keineswegs als zweckmäßige bezeichnet werden <lb/>können, die aber dennoch nicht lebengefährdend ſind, weil ſie, <lb/>wenn auch nicht den Außenverhältniſſen angepaßt, ſo doch auch <lb/>nicht in Widerſpruch mit ihnen ſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s389" xml:space="preserve">Solche Organe dürfen <lb/>daher auch nicht als unzweckmäßig bezeichnet werden: </s>
  <s xml:id="echoid-s390" xml:space="preserve">ſie ſind <lb/>indifferent. </s>
  <s xml:id="echoid-s391" xml:space="preserve">In ihrem Daſein, in ihrem Auftreten äußert ſich <lb/>eben die Variationsfähigkeit der Organismen. </s>
  <s xml:id="echoid-s392" xml:space="preserve">Würde ſich in <lb/>dem Vorhandenſein eines ſolchen indifferenten Organes eine <lb/>Unzweckmäßigkeit herausbilden, ſo würde der Beſitzer dieſes <lb/>Organes darunter leiden, eventuell darüber zu Grunde gehen, <lb/>und die Vererbung der ſchädlichen Organiſation würde allmäh-<lb/>lich ausgemerzt werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s393" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s394" xml:space="preserve">Es giebt ſehr viele Organeigentümlichkeiten, die — wie <lb/>wir uns ausdrückten — indifferent und zwar ganz indifferent <lb/>für das Leben ſind, deren Vorhandenſein oder Fehlen von <lb/>keinerlei Bedeutung für das Lebeweſen iſt, und ferner ſei an <lb/>die jedem Naturforſcher geläufige Thatſache, daß viele Organe <lb/>gleicher Verrichtung bei den verſchiedenen Lebeweſen ver-<lb/>ſchiedenen Bau aufweiſen können, erinnert. </s>
  <s xml:id="echoid-s395" xml:space="preserve">Dieſe Thatſachen <lb/>ſeien mit dem Geiſtesleben verglichen, um weitere Parallelen <lb/>nachzuweiſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s396" xml:space="preserve">Wir bitten dabei feſtzuhalten, daß für den Be-<lb/>ſtand oder das Verſchwinden körperlicher Eigentümlichkeiten <lb/>einzig und allein Förderung oder Behinderung im Leben aus-<lb/>ſchlaggebend iſt und ſich gleichzeitig die Übereinſtimmung hiermit <lb/>im Verhalten des Geiſtes klar zu machen, indem Äußerungen <lb/>desſelben, die auf das Leben Einfluß haben, alſo Handlungen <lb/>veranlaſſen, naturgemäß ebenfalls nur dann erhalten bleiben <lb/>und ſich vererben können, wenn die aus ihnen hervorgegangenen <lb/>Handlungen nicht lebenſchädigend auftreten. </s>
  <s xml:id="echoid-s397" xml:space="preserve">Hieraus ergiebt <lb/>ſich ſchon ohne weiteres die aufzuweiſende Parallele, mit der <lb/>vor allen Dingen ausgedrückt werden ſollte, daß auch geiſtige <lb/>Äußerungen beſtehen bleiben und ſich vererben können, ſofern ſie <lb/>nicht lebenſtörend ſind, und ferner, daß geiſtige Äußerungen,
<pb o="29" file="0037" n="37"/>
die gleiche lebenfördernde Ziele haben, doch verſchieden ſein <lb/>können.</s>
  <s xml:id="echoid-s398" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s399" xml:space="preserve">Wie alſo viele Organe in ihrer Geſtaltung ein Pendeln <lb/>vertragen, ohne deshalb in ihrer Verrichtung eine Änderung <lb/>zu erfahren, ſo giebt es auch im Gebiete des Gedankens ſolche <lb/>Vorſtellungsweiſen, die von einander abweichen können, ohne <lb/>daß deshalb die aus ihnen eventuell folgenden Handlungen <lb/>lebenſtörend wirken.</s>
  <s xml:id="echoid-s400" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s401" xml:space="preserve">Anders iſt es für die Erreichung vieler Ziele der Lebens-<lb/>verrichtung in beſtimmten andern Fällen; </s>
  <s xml:id="echoid-s402" xml:space="preserve">ſo iſt auf den <lb/>Gebieten, wo Zahl und Maß herrſchen, ein Pendeln meiſtens <lb/>nicht möglich: </s>
  <s xml:id="echoid-s403" xml:space="preserve">es iſt nicht gleichgültig für das Leben eines <lb/>Tieres, ob es die Breite einer zu überſpringenden tiefen <lb/>Felſenkluft richtig ſchätzt, oder ob es infolge falſcher Schätzung <lb/>die Füße auch nur um ein ganz Geringes zu früh aufſetzt, um in <lb/>dieſem Falle notwendig in die Tiefe zu ſtürzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s404" xml:space="preserve">Die Sinne <lb/>müſſen hier, ſoll das Leben keinen Nachteil erleiden, die <lb/>Außenverhältuiſſe richtig beurteilen, denn falſche Beurteilungen <lb/>führen in ſolchen Fällen zum Verderben.</s>
  <s xml:id="echoid-s405" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s406" xml:space="preserve">Die Verſtandeskräfte aber werden durch die Sinne gebildet, <lb/>und es müſſen Verſtaudesäußerungen bei allen Weſen dort <lb/>übereinſtimmen, wo eine falſche Beurteilung lebengefährdend <lb/>wirkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s407" xml:space="preserve">Letzteres trifft aber u. </s>
  <s xml:id="echoid-s408" xml:space="preserve">a. </s>
  <s xml:id="echoid-s409" xml:space="preserve">bei einer Nichtbefolgung <lb/>mathematiſcher Geſetze — ſofern ſie mit Handlungen in Bezie-<lb/>hung ſtehen — zu.</s>
  <s xml:id="echoid-s410" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s411" xml:space="preserve">Die Mathematik iſt eine Erfahrungswiſſenſchaft: </s>
  <s xml:id="echoid-s412" xml:space="preserve">ſie benutzt <lb/>— von Thatſachen und einfachſten Handlungen (Bewegungen) <lb/>ausgehend — lange Gedankenketten (Schlüſſe), deren einzelne <lb/>Glieder einfache Erfahrungsgedanken ſind, und ſie kann eventuell <lb/>zum Schluſſe an der Natur experimentell prüfen, ob ſie richtig <lb/>gedacht (gerechnet) hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s413" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s414" xml:space="preserve">Scheinen uns die mathematiſchen Geſetze in unſerem Denken <lb/>auch ſelbſtverſtändlich, ſo ſind ſie wie die Denkformen und
<pb o="30" file="0038" n="38"/>
Anſchauungen doch erſt durch Reibung mit der Natur erworben <lb/>worden, während es für die Erhaltung des einzelnen Menſchen <lb/>nicht in Betracht kommt, ob er als Philoſoph Materialiſt, <lb/>Realiſt oder Idealiſt iſt, da es ſich bei den Anſichten dieſer <lb/>nur um Gedanken handelt, die <emph style="sp">keinen</emph> entſcheidenden Einfluß <lb/>auf das alltägliche Benehmen ausüben: </s>
  <s xml:id="echoid-s415" xml:space="preserve">ſobald der Materialiſt <lb/>oder Idealiſt mit der “rauhen” Wirklichkeit zu thun hat, ſieht <lb/>man beide übereinſtimmend ſich gleichmäßig verhalten, und es <lb/>entſpringt das übereinſtimmende Verhalten aus übereinſtimmen-<lb/>dem Denken, wenigſtens dann, ſobald es ſich um die Alltäglich-<lb/>keit handelt.</s>
  <s xml:id="echoid-s416" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s417" xml:space="preserve">Auch die Mathematik alſo gründet ſich auf Erfahrungen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s418" xml:space="preserve">Erfahrungen der Raumverhältniſſe liegen ſpeziell der Geometrie <lb/>zu Grunde, die aus ihnen entnommenen grundlegenden An-<lb/>ſchauungen ſind die einzigen, die in geometriſchen Erörterungen <lb/>zur Anwendung kommen, und wenn wir mit Zuhilfenahme <lb/>dieſer eine Rechnung ausführen und zu einem Reſultat gelangen, <lb/>das wir wieder mit dem Auſchauungsſinn zu erfaſſen vermögen <lb/>und es ſo beſtätigt finden, ſo zeigt uns dies, daß das in der <lb/>angedeuteten Weiſe gewonnene Reſultat der Wahrheit entſpricht.</s>
  <s xml:id="echoid-s419" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s420" xml:space="preserve">Dasjenige, deſſen Wahrheit uns ohne Weiteres bewußt, <lb/>klar iſt, nennen wir eine “ewige Wahrheit” (ein Axiom). <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s421" xml:space="preserve">Andere Wahrheiten ſind uns nicht ohne Weiteres bewußt, wir <lb/>müſſen ſie beweiſen, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s422" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s423" xml:space="preserve">ſie uns als wahr durch Zuhilfe-<lb/>nahme der Axiome ins Bewußtſein führen. </s>
  <s xml:id="echoid-s424" xml:space="preserve">Demnach iſt es <lb/>eine Unklarheit, oder, ſagen wir direkt, durchaus falſch, für <lb/>Axiome “Beweiſe” zu ſuchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s425" xml:space="preserve">Auch unſere logiſchen Denk-<lb/>formen ſind aus der Erfahrung gewonnene Axiome, Beziehungen, <lb/>die uns ohne Weiteres einleuchten. </s>
  <s xml:id="echoid-s426" xml:space="preserve">Daß uns nun die mathe-<lb/>matiſchen Begriffe und die logiſchen Denkformen ſo zwingend <lb/>erſcheinen, hat alſo ſeinen Grund darin, daß eine Nichtbefolgung <lb/>derſelben, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s427" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s428" xml:space="preserve">eine Nichtberückſichtigung der Axiome der <lb/>Geometrie in ſolche Kolliſionen bringt, die das Leben unmög-
<pb o="31" file="0039" n="39"/>
lich machen, wie dies durch das oben erwähnte Beiſpiel des <lb/>ſpringenden Tieres bereits angedeutet wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s429" xml:space="preserve">Würde dieſes <lb/>Tier z. </s>
  <s xml:id="echoid-s430" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s431" xml:space="preserve">nicht die Einſicht beſitzen, daß zwiſchen zwei Punkten <lb/>die grade Linie die kürzeſte iſt, ſo läge die Gefahr, daß es bei <lb/>Ausführung des Sprunges zu Grunde ginge, begreiflicher Weiſe <lb/>noch näher.</s>
  <s xml:id="echoid-s432" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s433" xml:space="preserve">Werden demnach die Denkweiſen im allgemeinen not-<lb/>wendig übereinſtimmen, wenn Handlungen aus ihnen folgen, <lb/>die das Leben hindern oder gefährden, ſo werden ſie anderer-<lb/>ſeits oft dann bei den verſchiedenen Individuen keine Überein-<lb/>ſtimmung zeigen, wenn der Kampf ums Daſein keine Veran-<lb/>laſſung hatte, klärend zu wirken, weil dieſe Denkweiſe nicht zu <lb/>lebengefährdenden Handlungen führen, anders ausgedrückt weil <lb/>“der Irrtum in praktiſch gleichgültigen Dingen unſchädlich” <lb/>(E. </s>
  <s xml:id="echoid-s434" xml:space="preserve"><emph style="sp">Dühring</emph>) iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s435" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s436" xml:space="preserve">Es iſt — das muß immer wieder betont werden — die <lb/>Rückſicht auf die Erhaltung des Lebens das einzig Ausſchlag-<lb/>gebende für den Beſtand körperlicher oder geiſtiger Eigen-<lb/>tümlichkeiten, abgeſehen, wenn es ſich in beiden Fällen um in <lb/>der genannten Beziehung gleichgültige Erſcheinungen handelt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s437" xml:space="preserve">Dieſer Satz iſt deshalb ſo wichtig, weil wir — wie ſchon <lb/>angedeutet — aus ihm heraus verſtehen lernen, woran es <lb/>liegt, daß die Menſchen bei ihren geiſtigen Beurteilungen in <lb/>gewiſſen Punkten alle zu dem gleichen, in anderen zu ver-<lb/>ſchiedenen Reſultaten gelangen.</s>
  <s xml:id="echoid-s438" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s439" xml:space="preserve">Es iſt hierbei ſehr bemerkenswert, daß einmal gewonnene <lb/>Denk-Anſchauungen mit außerordentlicher Zähigkeit feſtgehalten <lb/>werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s440" xml:space="preserve">Die Macht der Gewohnheit ſpielt hier eine gewaltige <lb/>und — man muß wohl auch ſagen — berechtigte Rolle; </s>
  <s xml:id="echoid-s441" xml:space="preserve">denn <lb/>hat ſich eine Denkrichtung im Leben bewährt, oder hat ſie doch <lb/>keinen Anſtoß gefunden, ſo liegt ja keine äußere Urſache vor, <lb/>ſie aufzugeben oder verſchwinden zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s442" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s443" xml:space="preserve">Folgen wir einer erſt durch Denken erworbenen, nützlich
<pb o="32" file="0040" n="40"/>
gefundenen Gewohnheit, ſo ſchwindet uns allmählich das <lb/>Bewußtſein des aus der Erfahrung geſchöpften Grundes, <lb/>warum wir ihr folgen. </s>
  <s xml:id="echoid-s444" xml:space="preserve">Ihr zu folgen erſcheint uns dann in <lb/>unſerem Handeln und Denken ohne weiteres ſelbſtverſtändlich.</s>
  <s xml:id="echoid-s445" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s446" xml:space="preserve">Werden nun auch die Laien in vielen Dingen in ihren <lb/>Denkrichtungen von einander abweichen, ſo iſt doch erſichtlich, <lb/>daß die Naturforſcher ſpeziell ſchließlich im Ganzen deshalb zu <lb/>denſelben Reſultaten gelangen müſſen, weil ſie das gleiche Ziel <lb/>mit den gleichen Mitteln verfolgen: </s>
  <s xml:id="echoid-s447" xml:space="preserve">die reine Wahrheit zu er-<lb/>kennen und zwar alle mit dem einzigen Mittel, das es giebt, um <lb/>dies zu erreichen, nämlich durch Sammlung von Erfahrungen, <lb/>durch Anſtellung von Experimenten dort, wo die Natur nicht <lb/>ohne weiteres Aufſchluß giebt, durch kritiſche Prüfung der All-<lb/>tagsanſchauungen, die ſich dann in ſo vielem als falſch ergeben.</s>
  <s xml:id="echoid-s448" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s449" xml:space="preserve">Die erſt mit Hilfe der Wiſſenſchaft erkannten Wahrheiten <lb/>ſind naturgemäß ſolche, deren Kenntniß für das Leben gleich-<lb/>gültig iſt, da ſie ſonſt notgedrungen bereits vor der Wiſſenſchaft <lb/>bekannt ſein müßten. </s>
  <s xml:id="echoid-s450" xml:space="preserve">Man kann ſomit unterſcheiden: </s>
  <s xml:id="echoid-s451" xml:space="preserve">1. </s>
  <s xml:id="echoid-s452" xml:space="preserve">Lebens-<lb/>wahrheiten, 2. </s>
  <s xml:id="echoid-s453" xml:space="preserve">Wiſſenſchaftliche Wahrheiten.</s>
  <s xml:id="echoid-s454" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s455" xml:space="preserve">Der zu weit gehende <emph style="sp">Schillerſche</emph> Ausſpruch “Nur der <lb/>Irrtum iſt das Leben und das Wiſſen iſt der Tod” (Kaſſandra) <lb/>fließt aus einer Einſicht, die <emph style="sp">Byron</emph> beſſer ſo ausdrückt: </s>
  <s xml:id="echoid-s456" xml:space="preserve">“Der <lb/>Baum des Wiſſens iſt nicht der des Lebens” (Manfred).</s>
  <s xml:id="echoid-s457" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s458" xml:space="preserve">Denn man mache ſich nochmals klar, daß die erſt durch <lb/>die Wiſſenſchaft gewonnenen Wahrheiten niemals Lebenswahr-<lb/>heiten und die Lebenswahrheiten außerordentlich häufig keine <lb/>wiſſenſchaftlichen Wahrheiten ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s459" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s460" xml:space="preserve">Sind nun alſo unſere Denkformen die Folge der gewon-<lb/>nenen Erfahrungen, anders ausgedrückt die Erfahrungen die <lb/>Urſachen der Logik, ſo erhellt ohne weiteres, daß die Natur <lb/>ſelbſt das Denken regelt, ſie zwingt uns logiſch zu bleiben, <lb/>wenigſtens dort, wo es ſich um das wahre Wohl und Wehe <lb/>der Organismen handelt.</s>
  <s xml:id="echoid-s461" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="33" file="0041" n="41"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div16" type="section" level="1" n="15">
<head xml:id="echoid-head19" xml:space="preserve"><emph style="bf">X. Die Moral.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s462" xml:space="preserve">Ebenſo gleich wie die Menſchen ſich in hiſtoriſcher Zeit in <lb/>Bezug auf die Art und Weiſe des Denkens geblieben ſind, ebenſo <lb/>gleich bleiben ſie ſich im weſentlichen in dem, was man Moral <lb/>nennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s463" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s464" xml:space="preserve">Wir haben angedeutet, daß die Menſchheit ſeit faſt vier-<lb/>tauſend Jahren in immer gleicher Weiſe dieſelben Geſetze des <lb/>Denkens angewendet. </s>
  <s xml:id="echoid-s465" xml:space="preserve">Die Menſchen ſind reicher an Erfahrungen <lb/>und deshalb auch reicher an richtigen Urteilen über die Dinge <lb/>in der Welt geworden; </s>
  <s xml:id="echoid-s466" xml:space="preserve">allein im Denken ſelbſt waren die <lb/>älteſten Menſchen von Bedeutung ebenſo ſcharfſinnig und klar <lb/>wie die bedeutendſten der jetzigen Zeit.</s>
  <s xml:id="echoid-s467" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s468" xml:space="preserve">In ganz gleichem Maße iſt dies mit der Moral der Fall. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s469" xml:space="preserve">Die Moral der älteſten Völker, von denen Nachrichten auf <lb/>uns gelangt ſind, iſt der Moral der jetzigen Zeit ziemlich <lb/>gleich. </s>
  <s xml:id="echoid-s470" xml:space="preserve">Das Unterſcheiden zwiſchen dem, was man das Gute <lb/>und dem, was man das Böſe nennt, iſt ſo alt, daß die <lb/>älteſten Sagen die Entſtehung dieſer Erkenntnis ſchon in die <lb/>Zeit des allererſten Menſchenpaares verlegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s471" xml:space="preserve">— Es haben <lb/>zwar verſchiedene Sitten und verſchiedene Verhältniſſe bei den <lb/>Völkern geherrſcht, durch welche die allgemeine Moral nicht <lb/>immer verwirklicht wurde, und auch jetzt iſt dies nicht der <lb/>Fall; </s>
  <s xml:id="echoid-s472" xml:space="preserve">desgleichen iſt oft ein Unterſchied zwiſchen Völkern und <lb/>Völkern vorhanden in Bezug auf die Art und Weiſe, wie <lb/>ihre Sprache ihrer Moral einen Ausdruck verleiht. </s>
  <s xml:id="echoid-s473" xml:space="preserve">Allein im <lb/>Grundton und Weſen iſt die Moral aller Zeiten dieſelbe, <lb/>und die Menſchheit hat wohl mit der Entwickelung der ge-<lb/>bildeteren Zeiten der Moral mehr Geltung im wirklichen Leben <lb/>zu verſchaffen gewußt; </s>
  <s xml:id="echoid-s474" xml:space="preserve">die Moralität der Maſſen iſt mit der <lb/>Bildung gewachſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s475" xml:space="preserve">die Moral ſelber aber, ihre Lehren und <lb/>Vorſchriften und Forderungen an den Menſchen ſind von den <lb/>
<pb o="34" file="0042" n="42"/>
älteſten Zeiten bis auf die heutigen Tage doch ſtets nahezu
dieſelben.</s>
  <s xml:id="echoid-s476" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s477" xml:space="preserve">In ihrem Urſprung hat die Moral große Ähnlichkeit mit <lb/>dem Inſtinkt, der in Tieren waltet, welche in Gemeinſchaft leben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s478" xml:space="preserve">Bei dieſen Tieren herrſcht eine Ordnung, welche es verhindert, <lb/>daß eins aus der Geſellſchaft das Zuſammenleben ſtört. </s>
  <s xml:id="echoid-s479" xml:space="preserve">Der <lb/>Unterſchied zwiſchen dieſer Ordnung und der menſchlichen <lb/>Moral beſteht darin, daß jener Inſtinkt alſo Naturzwaug iſt, <lb/>dem ſich das Tier unterwerfen muß, während die Moral eine <lb/>geiſtige Neigung der Menſchen iſt, die, wie alle Neigungen <lb/>der Menſchen, eine Freiheit des Willens zuläßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s480" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s481" xml:space="preserve">Wie ſehr die Moral ein Naturgeſetz des Menſchengeiſtes <lb/>iſt, das ergiebt ſich aus dem Wohlgefallen, das moraliſche, <lb/>edle Handlungen auch bei denen erwecken, die ſolcher Hand-<lb/>lungen nicht fähig ſind, ja ſelbſt bei denjenigen, die ſich grund-<lb/>ſätzlich von den Geſetzen der Moral losgeſagt haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s482" xml:space="preserve">— Selbſt <lb/>in Dichtungen, Erzählungen und Schauſpielen erweckt der <lb/>moraliſche Held ein inniges Intereſſe, dem ſich ſogar der ver-<lb/>dorbenſte Menſch nicht entziehen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s483" xml:space="preserve">Die unverdorbene <lb/>Jugend weint Thränen des Mitleids über ein Märchen, in <lb/>welchem ein Unſchuldiger leidet, und jauchzt in Freuden auf, <lb/>wenn das Ende die Tugend belohnt und das Laſter beſtraft. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s484" xml:space="preserve">— Selbſt Diebe und Räuber ſind oft nicht imſtande, ſich des <lb/>mächtigen Eindrucks zu erwehren, den ein edler Menſch auf <lb/>ſie macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s485" xml:space="preserve">Wo ſie unbeteiligt ſind und der menſchlichen Neigung <lb/>folgen, werden ſie unbedingt dem Guten ihren Beifall zollen <lb/>und das Schlechte verachten. </s>
  <s xml:id="echoid-s486" xml:space="preserve">Wer eine ſchlechte Handlung <lb/>begangen hat, fühlt oft zeitig genug in ſich eine innere Ab-<lb/>neigung gegen ſein eigenes Thun; </s>
  <s xml:id="echoid-s487" xml:space="preserve">es iſt dies, was man die <lb/>Stimme des Gewiſſens nennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s488" xml:space="preserve">Das Gewiſſen, die Reue, der <lb/>Wunſch, die Handlung nicht begangen zu haben, das ſind <lb/>nicht Einbildungen der Menſchen, und ſtammen nicht aus bloßer <lb/>Furcht vor Strafe oder aus dem Glauben oder dem Aber-
<pb o="35" file="0043" n="43"/>
glauben; </s>
  <s xml:id="echoid-s489" xml:space="preserve">ſondern die Quelle des Gewiſſens iſt die natur-<lb/>gemäße, moraliſche Neigung, von der der Menſch ſich zwar, <lb/>wie von allen Neigungen, auf Zeiten frei machen kann, die <lb/>aber unter Umſtänden mächtig genug erwacht, um ihr Recht <lb/>geltend zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s490" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s491" xml:space="preserve">Wir halten daher die Moral für eine dem Menſchen-<lb/>geſchlecht natürliche Neigung, für eine naturgemäße Richtung <lb/>ſeines Geiſtes, und finden es deshalb erklärlich, weshalb die <lb/>Moral-Lehren zwar ſich mehr oder weniger ausgebildet vorfinden <lb/>in verſchiedenen Völkern und Zeiten, jedoch das moraliſche Thun <lb/>und Laſſen eine ziemlich gleiche Stufe im geſamten Menſchen-<lb/>geſchlecht innehält. </s>
  <s xml:id="echoid-s492" xml:space="preserve">Der Einzelne kann ſich wohl von dieſem <lb/>Naturgeſetz ſeiner geiſtigen Neigung ebenſo mehr oder minder <lb/>losſagen, wie die einzelne Mutter es mit der natürlichen <lb/>Liebe zu ihrem Kinde vermag. </s>
  <s xml:id="echoid-s493" xml:space="preserve">Der Einzelne vermag wohl <lb/>mit einer höheren Bildung des Geiſtes eine klarere, ausdrucks-<lb/>vollere Moral an den Tag zu legen, wie es der gebildeten <lb/>Mutter leichter möglich iſt, ihrem Gefühl für ihr Kind Worte <lb/>zu geben. </s>
  <s xml:id="echoid-s494" xml:space="preserve">Im allgemeinen aber ſagt ſich die Menſchheit <lb/>ebenſowenig von der Moral los, ſo wenig ſich die Mütter im <lb/>allgemeinen von der Liebe zu den Kindern loszuſagen ver-<lb/>mögen. </s>
  <s xml:id="echoid-s495" xml:space="preserve">Beides ſind Neigungen, die der Natur des Menſchen <lb/>angehören, und die Menſchheit iſt nie ſo naturwidrig, ſich von <lb/>der Natur zu entfernen.</s>
  <s xml:id="echoid-s496" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s497" xml:space="preserve">Wie wir in Kapitel IX geſehen haben, daß die ewig er-<lb/>ſcheinenden Denkformen ſich dennoch leicht als allmählich ent-<lb/>wickelt ergeben, ſo iſt es auch mit den Forderungen der Moral.</s>
  <s xml:id="echoid-s498" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s499" xml:space="preserve">Es iſt wieder die Lebenserhaltung oder Lebensſtörung, die <lb/>für die Entſtehung und Erhaltung des moraliſchen Verhaltens <lb/>maßgebend ſind, nur daß es ſich hier nicht um die Lebens-<lb/>Erhaltung und -Störung der Einzelweſen handelt, ſondern viel-<lb/>mehr um diejenigen von Verbänden, Gemeinden.</s>
  <s xml:id="echoid-s500" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s501" xml:space="preserve">Der Menſch lebt geſellig, alſo in Verbänden, um dieſe
<pb o="36" file="0044" n="44"/>
aufrecht erhalten zu können, kann nicht jeder einzelne mit <lb/>ſeinen verſchiedenen Neigungen ganz und gar thun, was ihm <lb/>beliebt: </s>
  <s xml:id="echoid-s502" xml:space="preserve">da ginge eben das geſellige Leben in die Brüche. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s503" xml:space="preserve">Die moraliſchen Forderungen haben ſich alſo durch das Zu-<lb/>ſammenleben entwickelt; </s>
  <s xml:id="echoid-s504" xml:space="preserve">es iſt klar, daß es beſtimmte moraliſche <lb/>Geſetze giebt, ohne die ein dauerndes Zuſammenleben ganz <lb/>ausgeſchloſſen iſt, und dieſe erſcheinen uns, gefeſtigt durch <lb/>lange Vererbung, beſonders unbedingt (kategoriſch) und “ewig”.</s>
  <s xml:id="echoid-s505" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div17" type="section" level="1" n="16">
<head xml:id="echoid-head20" xml:space="preserve"><emph style="bf">XI. Die Kunſt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s506" xml:space="preserve">In ähnlicher Weiſe, wie wir den Inſtinkt der Ordnung, <lb/>der unter geſellig lebenden Tieren herrſcht, in eine freie Neigung <lb/>verwandelt ſehen, die im Menſchengeſchlecht als geſellige Moral <lb/>auftritt, ebenſo finden wir andere Inſtinkte der Tierwelt als <lb/>freie Neigungen ausgebildet bei dem Menſchengeſchlecht.</s>
  <s xml:id="echoid-s507" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s508" xml:space="preserve">Viele, ja faſt alle Tiere bringen inſtinktmäßig äußerſt <lb/>künſtliche Dinge hervor. </s>
  <s xml:id="echoid-s509" xml:space="preserve">Nicht nur Gewebe einer Spinne, die <lb/>Zellenwohnungen der Bienen, die Neſter faſt aller Vögel, <lb/>ſondern auch die Höhlen faſt aller Tiere ſind mehr oder <lb/>weniger nach einem Plan gebaut, den wir künſtlich nennen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s510" xml:space="preserve">Man hat daher von einem Kunſttrieb der Tiere geſprochen, <lb/>obwohl man im gewöhnlichen Sinne des Wortes unter Kunſt <lb/>etwas verſteht, was die Natur nicht herzuſtellen imſtande iſt, <lb/>obwohl niemand andererſeits es bezweifelt, daß nicht die Tiere <lb/>die Kunſt frei ausüben, ſondern von der Natur zur Ausübung <lb/>dieſer Kunſt angehalten ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s511" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s512" xml:space="preserve">Wir haben Grund zur Vermutung, daß das, was man <lb/>im menſchlichen Sinne und im menſchlichen Thun und Laſſen <lb/>Kunſt nennt, aus gleichem Urſprung ſtammt, wie das, was <lb/>wir bei den Tieren ſehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s513" xml:space="preserve">nur mit dem Unterſchied, daß die
<pb o="37" file="0045" n="45"/>
Kunſt der Menſchen eine Neigung, eine geiſtige Richtung iſt, <lb/>deren Schöpfungen den Stempel der Freiheit des Menſchen-<lb/>Geiſtes tragen.</s>
  <s xml:id="echoid-s514" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s515" xml:space="preserve">Was das Tier Kunſtähnliches hervorbringt, bringt es ge-<lb/>zwungen hervor, jede Gattung des Tieres ſchafft dasſelbe in <lb/>ganz gleicher Form, ohne es zu lernen und auch ohne es je <lb/>geſehen zu haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s516" xml:space="preserve">— Die Menſchen dagegen bringen ihre <lb/>Werke mit freier Einſicht, freiem Willen hervor, und deshalb <lb/>in ſehr veränderlicher Geſtalt und Form, und erſt nach Sinnen, <lb/>Verſuchen und Lehren in einer würdigen Vollendung.</s>
  <s xml:id="echoid-s517" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s518" xml:space="preserve">Man kann in vollem Sinne des Wortes ſagen, daß der Menſch <lb/>nur ein Daſein und Leben im Bereich der Kunſt lebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s519" xml:space="preserve">Wir <lb/>ſind ſo gewöhnt an ein kunſtvolles Leben, daß wir kaum daran <lb/>denken, daß alle unſere Speiſen einer äußerſt künſtlichen Zu-<lb/>bereitung bedürfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s520" xml:space="preserve">Außer dem wenigen Obſt, das wir roh <lb/>verzehren, wie es die Natur ſchafft, iſt all unſere Koſt ver-<lb/>arbeitetes Naturprodukt. </s>
  <s xml:id="echoid-s521" xml:space="preserve">Um einen einzigen Biſſen Brot her-<lb/>zuſtellen, iſt ein unendlich ſtarker Aufwand von künſtlichen <lb/>Vorrichtungen nötig, von denen das Tier nichts verſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s522" xml:space="preserve">Zu <lb/>einer Mahlzeit im gewöhnlichen Sinne des Wortes gehört eine <lb/>Fülle von Kunſt, die kaum zu berechnen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s523" xml:space="preserve">Es iſt ein ſchon <lb/>oft ausgeſprochener Gedanke, daß zu einer einzigen Mittags-<lb/>mahlzeit, wie man ſie gedankenlos alle Tage verzehrt, mehr als <lb/>tauſend Menſchenhände nötig waren, um alles, was drum und <lb/>dran hängt, ſo wie ſie iſt, herzuſtellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s524" xml:space="preserve">Das Tiſchtuch iſt eine <lb/>Leinen-Pflanze, das Meſſer, die Gabel, Holz und Eiſen, der <lb/>Teller eine Erdart, der Löffel ein Stück Metall. </s>
  <s xml:id="echoid-s525" xml:space="preserve">— Durch <lb/>wie viele Menſchenhände hat die Leinen-Pflanze wandern <lb/>müſſen, um zu einem Tiſchtuch zu werden? </s>
  <s xml:id="echoid-s526" xml:space="preserve">Durch wie viele <lb/>das Eiſen in Meſſer und Gabel, um von dem Eiſenerz, <lb/>wie es vom Bergwerk gebrochen wird, bis zu dieſer Geſtalt <lb/>gebildet zu werden? </s>
  <s xml:id="echoid-s527" xml:space="preserve">Was hat ein Teller für Kunſtſinn, was <lb/>hat ein Löffel für Aufwand von künſtlichen Vorrichtungen
<pb o="38" file="0046" n="46"/>
nötig gehabt, um dem Menſchen dienſtbar zu ſein, wie es jetzt <lb/>der Fall iſt? </s>
  <s xml:id="echoid-s528" xml:space="preserve">— Geht man gar zurück auf die Werkzeuge, die <lb/>nötig waren, um all das herzuſtellen, ſo häuft- ſich die Zahl <lb/>künſtlicher Vorrichtungen und Zuſtände, die nur die aller-<lb/>gewöhnlichſten Dinge erfordern, ins Unberechenbare.</s>
  <s xml:id="echoid-s529" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s530" xml:space="preserve">Bedenkt man aber, daß all’ dies uns ſchon ſo natürlich <lb/>vorkommt, daß man kaum mehr dieſes Kunſtdaſein als ein <lb/>ſolches betrachtet, bedenkt man, daß unſere Kleidung, unſere <lb/>Wohnung über- und übervoll iſt von künſtlichen Erzeugniſſen, <lb/>zu der die Natur die rohen Stoffe geliefert hat, ſo wird man <lb/>es recht inne, wie die Kunſt, das Element des Menſchenlebens, <lb/>ja, wie das Kunſtleben des Menſchen eigentlich ſein natürliches <lb/>Leben iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s531" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s532" xml:space="preserve">Da man aber ſelbſt bei den wildeſten und fernſten Völkern <lb/>mehr oder weniger den Trieb ausgebildet findet, ſich vom rohen <lb/>Naturzuſtand zu entfernen und eine künſtliche Umgebung ſich zu <lb/>ſchaffen, ſo iſt es keinem Zweifel unterworfen, daß der Kunſt-<lb/>ſinn eine natürliche Neigung des Menſchen iſt, eine Neigung <lb/>ſeines Geiſtes, die urſprünglich mit dem Kunſtwerke ſchaffenden <lb/>Inſtinkt der Tiere verwandt iſt, der aber der Natur des Menſchen <lb/>entſprechend ein mannigfaltiges und freies Walten zeigt.</s>
  <s xml:id="echoid-s533" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s534" xml:space="preserve">Der Kunſtſinn iſt ſo ſchöpferiſch im Menſchen, daß er <lb/>alles im Leben durch die Kunſt zu verſchönern den Trieb hat, <lb/>und ein inneres Wohlbehagen empfindet und erweckt durch <lb/>Genüſſe höherer Art, die zum Bereich der höheren Künſte ge-<lb/>hören. </s>
  <s xml:id="echoid-s535" xml:space="preserve">Hierbei wird der Menſch durch eine Eigentümlichkeit <lb/>ſeines Geiſtes unterſtützt, der von einem gewiſſen Schönheits-<lb/>Gefühl beherrſcht wird, und dem namentlich Auge und Ohr <lb/>unterworfen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s536" xml:space="preserve">Das Schönheits-Gefühl des Auges beruht <lb/>auf Naturgeſetzen, in denen vorzüglich eine Gleichmäßigkeit, <lb/>die man Symmetrie nennt, eine Hauptrolle ſpielt. </s>
  <s xml:id="echoid-s537" xml:space="preserve">Ganz ſo <lb/>wie die Natur Pflanzen-Zweige ſo bildet, daß ſie gleichmäßig <lb/>nach beiden Seiten eine Reihe Blätter zeigen, ganz ſo wie
<pb o="39" file="0047" n="47"/>
eine Blüte nach jeder Seite hin ein gleiches Blättchen ſtreckt <lb/>und ſo eine gewiſſe Gleichmäßigkeit und Ordnung zeigt; </s>
  <s xml:id="echoid-s538" xml:space="preserve">ganz <lb/>ſo wie höhere Tiere und Menſchen ſo geformt ſind, daß ſie <lb/>zu beiden Seiten des Körpers gleiche Glieder beſitzen, die <lb/>doppelt vorhanden ſind, während die einfach exiſtierenden <lb/>Glieder in der Mittellinie des Körpers ihre Stelle haben, ſo <lb/>hat auch der Geiſt des Menſchen ein Wohlgefallen an einer <lb/>gleichmäßig geſtalteten Figur. </s>
  <s xml:id="echoid-s539" xml:space="preserve">Das Schönheitsgefühl des <lb/>Ohres beruht auf der Wellenbewegung der Luft, die den Ton <lb/>erzeugt; </s>
  <s xml:id="echoid-s540" xml:space="preserve">der Naturwiſſenſchaft iſt es gelungen zu beweiſen, <lb/>daß ſolche Töne, deren Wellen in gewiſſen, mathematiſch be-<lb/>ſtimmten Verhältniſſen erfolgen, dem Ohr harmoniſch klingen, <lb/>während Abweichungen hiervon als Mißklänge vernommen <lb/>werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s541" xml:space="preserve">Es läßt ſich hieraus zeigen, daß unſerm Ohr nach <lb/>beſtimmten Naturgeſetzen ſein Geſchmack vorgeſchrieben iſt und <lb/>demnach die Schönheitsgeſetze der Muſik nicht Willkürlichkeiten, <lb/>ſondern Naturergebniſſe ſind, die im Menſchen als Neigungen <lb/>zum Vorſchein kommen.</s>
  <s xml:id="echoid-s542" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div18" type="section" level="1" n="17">
<head xml:id="echoid-head21" xml:space="preserve"><emph style="bf">XII. Die mannigfaltigen Einwirkungen des</emph> <lb/><emph style="bf">Geiſtes.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s543" xml:space="preserve">Wir fühlen ſehr wohl, wie das, was wir von den Nei-<lb/>gungen der Menſchen geſprochen, nur ſehr flüchtig auf natur-<lb/>wiſſenſchaftlichem Grunde aufgebaut iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s544" xml:space="preserve">bedenkt man aber, <lb/>daß eine mit den Neigungen ſo nahe verwandte Erſcheinung <lb/>wie der Inſtinkt der Tiere noch ſo außerordentlich dunkel iſt, <lb/>bedenkt man, daß es wiſſenſchaftlich kaum gelungen iſt, eine <lb/>genügend begründete Vermutung über den Inſtinkt darzulegen, ſo <lb/>wird man ſich mit flüchtigen Grundlagen über die Natur der <lb/>menſchlichen Neigungen begnügen müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s545" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="40" file="0048" n="48"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s546" xml:space="preserve">Wir wollen hier nur noch den leichten Umriſſen, die wir <lb/>bereits gegeben haben, einige Bemerkungen hinzufügen, die in <lb/>kurzem unſern Leſern den Beweis liefern ſollen, wie ſchwierig <lb/>es iſt, in dem eigentlichſten Leben der Menſchen die natur-<lb/>wiſſenſchaftlichen Grundlagen aufzufinden.</s>
  <s xml:id="echoid-s547" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s548" xml:space="preserve">Was den Menſchen zum Menſchen macht, iſt der Geiſt <lb/>desſelben. </s>
  <s xml:id="echoid-s549" xml:space="preserve">Nun aber iſt man in der Naturwiſſenſchaft noch <lb/>nicht einmal ſo weit, die innerſte Natur jener Kräfte, die in <lb/>der toten Natur wirkſam ſind, ſich klar zu machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s550" xml:space="preserve">Man kennt <lb/>dieſe Kräfte durch ihre Wirkungen, man weiß, daß z. </s>
  <s xml:id="echoid-s551" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s552" xml:space="preserve">die <lb/>Erde eine Anziehungskraft hat, weil man dieſe Kraft in jedem <lb/>Augenblicke wirkſam ſieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s553" xml:space="preserve">Man hat nun die Geſetze dieſer <lb/>Kraft ſo genau wie keine andere kennen gelernt, iſt imſtande, <lb/>im Voraus zu berechnen, wo der Mond durch die Wirkung <lb/>dieſer Kraft nach tauſend Jahren an jedem beliebigen Tage, <lb/>nach Stunde, Minute und Sekunde am Himmel ſichtbar ſein <lb/>wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s554" xml:space="preserve">Der rechnende Aſtronom kann das Fernrohr hinſtellen <lb/>und mit vollſter Sicherheit vorausſagen, wann, zu welcher Minute <lb/>und Sekunde man durch dasſelbe nur zu blicken braucht, um dieſe <lb/>und jene Erſcheinung am Monde beobachten zu können. </s>
  <s xml:id="echoid-s555" xml:space="preserve">Trotz-<lb/>dem aber, daß dieſe Kraft der Anziehung ſo genau in ihren <lb/>Geſetzen gekannt iſt, wird der Naturforſcher die Achſeln zucken, <lb/>wenn man ihn nach dem Grund, nach der Natur, nach dem <lb/>innerſten Weſen dieſer Kraft fragt: </s>
  <s xml:id="echoid-s556" xml:space="preserve">er wird eingeſtehen, daß wir <lb/>hierüber noch im Dunkeln ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s557" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s558" xml:space="preserve">Keine von allen andern Naturkräften iſt aber ſo genau <lb/>ſtudiert und erkannt wie dieſe Anziehungskraft, und doch iſt <lb/>man nicht imſtande zu ſagen, was eigentlich Kraft iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s559" xml:space="preserve">wie will <lb/>man ſich wundern, wenn man vom Geiſt, deſſen Erſcheinungen <lb/>ſelbſt im Tiere noch äußerſt dunkel ſind, deſſen Geſetze man <lb/>nur äußerſt bruchſtückweiſe kennt, deſſen Wirken im höchſten <lb/>Grade mannigfaltig iſt, wenn man vom Geiſt ſelber nur ver-
<pb o="41" file="0049" n="49"/>
mutungsweiſe ſprechen und über ſeine Natur nur ſehr unvoll-<lb/>ſtändige Vorſtellungen haben kann?</s>
  <s xml:id="echoid-s560" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s561" xml:space="preserve">Die Wiſſenſchaft vom Geiſte des Menſchen iſt und muß <lb/>für jetzt noch ſehr unvollkommen ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s562" xml:space="preserve">Nur ſolche von ihnen <lb/>haben einen Wert, die nicht den Anſpruch machen, alle Rätſel <lb/>zu löſen, ſondern ſich begnügen, die mannigfaltigen Erſchei-<lb/>nungen unter gewiſſe Gruppen zu bringen, ſie für weitere <lb/>Forſchungen zu ordnen und durch Beiſpiele aus dem Leben <lb/>ein reichhaltiges Material zum ferneren Nachdenken zu bieten.</s>
  <s xml:id="echoid-s563" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s564" xml:space="preserve">Die Erſcheinungen des geiſtigen Wirkens ſind ſo mannig-<lb/>faltig, ſo außerordentlich zuſammengeſetzt, daß man oft kein <lb/>richtiges Wort für das hat, was man im eignen Leben fühlt, <lb/>empfindet oder denkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s565" xml:space="preserve">— Wie ſchwierig iſt es z. </s>
  <s xml:id="echoid-s566" xml:space="preserve">B.</s>
  <s xml:id="echoid-s567" xml:space="preserve">, den Unter-<lb/>ſchied zwiſchen Heiterkeit und Freude klar zu machen! und doch <lb/>iſt dieſer Unterſchied nicht im bloßen Worte vorhanden, ſondern <lb/>er liegt unzweifelhaft in der Natur unſeres Geiſtes. </s>
  <s xml:id="echoid-s568" xml:space="preserve">Ent-<lb/>rüſtung, Zorn und Ärger ſind nicht bloß im Wort unterſchieden, <lb/>ſondern auch im Weſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s569" xml:space="preserve">wer aber vermag dieſen Unterſchied <lb/>in naturwiſſenſchaftlicher Weiſe genau darzulegen?</s>
  <s xml:id="echoid-s570" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s571" xml:space="preserve">Manche Vorſtellungen wirken auf unſere Atmungsorgaue <lb/>ein. </s>
  <s xml:id="echoid-s572" xml:space="preserve">Dieſe Vorſtellungen ſpielen ganz unzweifelhaft nur im <lb/>großen Gehirn ihre Rolle, und ſie verſetzen, wie man vermuten <lb/>darf, dieſes Großhirn in einen ſolchen Zuſtand, daß irgend <lb/>etwas, was wir nicht kennen, von dem Gehirn auf das ver-<lb/>längerte Mark wirkt und von hier aus die Nerven anregt, <lb/>daß dieſe eine ganz eigentümliche Erſchütterung auf die Atmungs-<lb/>muskeln ausüben. </s>
  <s xml:id="echoid-s573" xml:space="preserve">Etwas Komiſches z. </s>
  <s xml:id="echoid-s574" xml:space="preserve">B.</s>
  <s xml:id="echoid-s575" xml:space="preserve">, das nur auf das <lb/>Großhirn einen Eindruck machen kann, reizt uns zum Lachen, <lb/>zu einer Thätigkeit, die alle Atmungsmuskeln in Anſpruch nimmt, <lb/>und zugleich die Geſichtsmuskeln in eigner Weiſe zuſammen-<lb/>zieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s576" xml:space="preserve">Etwas Trauriges wirkt in ganz ähnlicher Weiſe; </s>
  <s xml:id="echoid-s577" xml:space="preserve">die <lb/>Geſichtsmuskeln werden in einer andern Art bewegt, und wir <lb/>müſſen tief aufatmen, und die eingezogene Luft mit Heftigkeit
<pb o="42" file="0050" n="50"/>
aus den Lungen entfernen, was wir im gewöhnlichen Leben <lb/>ſeufzen nennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s578" xml:space="preserve">Ein rührender Gedanke, der ebenfalls nur im <lb/>großen Gehirn Eingang findet, kann uns Thränen entpreſſen, <lb/>kann uns zu lautem Schluchzen zwingen. </s>
  <s xml:id="echoid-s579" xml:space="preserve">Eine freudige Über-<lb/>raſchung wirkt ähnlich wie ein entſetzlicher Schrecken und kann <lb/>in Ausnahmefällen ſogar tödlich und lähmend wirken. </s>
  <s xml:id="echoid-s580" xml:space="preserve">— Über <lb/>all’ das herrſcht immer noch keine wiſſenſchaftliche Klarheit, <lb/>wenn man auch imſtande iſt, einige Wahrſcheinlichkeiten und <lb/>Vermutungen hierüber auszuſprechen.</s>
  <s xml:id="echoid-s581" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s582" xml:space="preserve">Wie unterſcheidet ſich Furcht von Zaghaftigkeit und Feig-<lb/>heit? </s>
  <s xml:id="echoid-s583" xml:space="preserve">Wir meinen nicht, wie ſie ſich im Sprachgebrauch unter-<lb/>ſcheiden, ſondern welch’ ein eigentümliches naturgemäßes Ver-<lb/>halten ruft bald dieſe, bald jene Erſcheinung im Geiſte hervor? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s584" xml:space="preserve">Wie verhält ſich hierzu das Gehirn in einer dieſer Erſchei-<lb/>nungen?</s>
  <s xml:id="echoid-s585" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s586" xml:space="preserve">Und nun gar die Neigungen, die Begierden, die Wünſche, <lb/>die Hoffnungen, die Erwartungen, die Leidenſchaften der <lb/>Menſchen! Wie außerordentlich mannigfaltig und doch ver-<lb/>wandt ſind all’ dieſe Regungen, die gleichwohl verſchiedener <lb/>Natur ſind! Selbſtbewußtſein, Stolz, Hochmut, Ehrſucht, Herrſch-<lb/>ſucht, Rachſucht entſtehen ohne Zweifel durch ſehr verſchiedene <lb/>Zuſtände des Geiſtes, und doch iſt es wiſſenſchaftlich nicht <lb/>möglich anzugeben, wie ſie ſich entwickeln und oft in einander <lb/>übergehen!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s587" xml:space="preserve">Wir ſehen, daß zu einer wirklichen Wiſſenſchaft hierin noch <lb/>ſehr viel fehlt, und deshalb müſſen wir uns mit leichten Um-<lb/>riſſen und Vermutungen und mit Betrachtung ſolcher Erſchei-<lb/>nungen begnügen, die im ganzen und großen auftreten, und auf <lb/>das Leben und Daſein der ganzen Menſchheit beſtimmend ein-<lb/>wirken.</s>
  <s xml:id="echoid-s588" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="43" file="0051" n="51"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div19" type="section" level="1" n="18">
<head xml:id="echoid-head22" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIII. Leib und Geiſt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s589" xml:space="preserve">Wir haben ſchon mehrfach von dem Einfluß des körper-<lb/>lichen Zuſtandes auf den Geiſt des Menſchen geſprochen, wie <lb/>auch den Einfluß des Geiſtes auf das körperliche Befinden <lb/>erwähnt; </s>
  <s xml:id="echoid-s590" xml:space="preserve">nunmehr müſſen wir ein wenig näher auf dieſes <lb/>Thema eingehen, weil wir deutlich machen wollen, wie der <lb/>körperliche Zuſtand auf die Neigungen der Menſchen und <lb/>wieder die Neigungen auf die körperlichen Zuſtände von Ein-<lb/>fluß ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s591" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s592" xml:space="preserve">Schon die Wirkungen der Speiſen und Getränke auf den <lb/>Geiſt beweiſen den innigen Zuſammenhang und die Wechſel-<lb/>wirkung zwiſchen Geiſt und Stoff. </s>
  <s xml:id="echoid-s593" xml:space="preserve">Es iſt eine bekannte Er-<lb/>fahrung, daß der Hunger zornig macht, daß die Sättigung be-<lb/>ſänftigend auf den Geiſt wirkt, aber ihm auch zugleich eine <lb/>gewiſſe Trägheit giebt, welche die Urſache des ſo gebräuchlichen <lb/>Mittagsſchläfchens iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s594" xml:space="preserve">— Ein wenig Wein ermutigt und er-<lb/>freut, wie die Bibel ſagt, des Menſchen Herz; </s>
  <s xml:id="echoid-s595" xml:space="preserve">in Übermaß <lb/>genoſſen bringt er thörichte Vorſtellungen im Gehirn hervor <lb/>und regt dies derart auf, daß eine Abgeſpanntheit darauf er-<lb/>folgt, welche das Gehirn zum Denken unfähig macht und es <lb/>zum Schlaf zwingt.</s>
  <s xml:id="echoid-s596" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s597" xml:space="preserve">Die Erklärung dieſer Zuſtände iſt im ganzen nicht ſchwierig. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s598" xml:space="preserve">Man weiß es ſicher, daß das Gehirn ſtets ſauerſtoffhaltiges <lb/>Blut braucht, um thätig ſein zu können. </s>
  <s xml:id="echoid-s599" xml:space="preserve">Unterbindet man die <lb/>Schlagadern am Halſe, die ſolches Blut zum Gehirn führen, <lb/>ſo entſteht Ohnmacht und erfolgt ſehr ſchnell der Tod durch <lb/>Blutmangel. </s>
  <s xml:id="echoid-s600" xml:space="preserve">Beim Hungern tritt Blutmangel ein, und ob-<lb/>gleich man das Gefühl des Hungerns nur vom Magen aus er-<lb/>hält, ſo befinden ſich doch alle Glieder des Körpers in einem <lb/>mangelhaften, unbefriedigten Zuſtand. </s>
  <s xml:id="echoid-s601" xml:space="preserve">In dieſem Zuſtande leidet <lb/>auch das Gehirn und wird in einen gereizten Zuſtand verſetzt,
<pb o="44" file="0052" n="52"/>
der den Gedanken bei leichter Veranlaſſung jene heftige Rich-<lb/>tung verleiht, die als Zorn erſcheint. </s>
  <s xml:id="echoid-s602" xml:space="preserve">— Bei der Sättigung <lb/>ſchwindet dieſer krankhafte, gereizte Zuſtand des Gehirns, und <lb/>es tritt in den Gedanken ein richtiges Verhalten ein, das ſich <lb/>als Beſänftigung kundgiebt.</s>
  <s xml:id="echoid-s603" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s604" xml:space="preserve">Da aber nach einer ſtarken Mahlzeit nicht ſofort aller <lb/>Speiſeſaft des Darmes in wirklich vollendetes Blut ſich ver-<lb/>wandeln kann, ſo zirkuliert mit dem Blute noch unfertiges <lb/>Blut im Körper, und da dieſes nicht die volle Einwirkung auf <lb/>das Gehirn auszuüben vermag, ſo entſteht — nach der Anſicht <lb/>einiger Naturforſcher — hieraus jene Ermüdung, die unauf-<lb/>gelegt zum Denken macht, und das Schläfchen herbeiführt, das <lb/>nach dem Mittagseſſen für Viele ſo angenehm iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s605" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s606" xml:space="preserve">Gewiſſe Flüſſigkeiten aber, die, wie Wein, Alkohol enthalten, <lb/>oder, wie Kaffee und Thee, einen eigentümlichen Stoff in ſich haben, <lb/>welcher ſich dem Blut beimiſcht und auf das Gehirn anregend <lb/>wirkt (Theobromin), bringen infolge dieſer Anregung bei mäßigem <lb/>Genuß eine erhöhte Thätigkeit des Gehirns, alſo auch eine <lb/>leichtere Erzeugung der Gedanken und Vorſtellungen hervor. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s607" xml:space="preserve">Bei ſtärkerm Genuß, namentlich der Getränke, die Alkohol ent-<lb/>halten, iſt die Thätigkeit des Gehirns ſo ſehr angeregt, daß <lb/>die Gedanken und Vorſtellungen zu ſchnell aufeinanderfolgen, <lb/>und deshalb der einzelne Gedanke nicht feſtgehalten werden <lb/>kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s608" xml:space="preserve">Es entſteht jene Verwirrung im Kopfe, die dem Rauſche <lb/>vorangeht, bis dieſer vollſtändig wird und in Tobſucht aus-<lb/>artet, worauf dann jene Abſpannung folgt, die allenthalben in <lb/>den lebenden Organen eintritt, wo eine zu ſtarke Thätigkeit <lb/>vorangegangen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s609" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s610" xml:space="preserve">Aus dieſen Beiſpielen ſieht man, wie Stoffe auf den Geiſt <lb/>wirken; </s>
  <s xml:id="echoid-s611" xml:space="preserve">in dieſen Fällen kommt die Einwirkung von äußern <lb/>Stoffen, die in den Körper eingebracht werden und ins Blut <lb/>übergehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s612" xml:space="preserve">Es giebt aber auch Fälle, wo dieſe Einwirkung <lb/>eine mehr innerliche iſt, und dieſe tritt ein, wenn irgend ein
<pb o="45" file="0053" n="53"/>
Organ des Leibes in einem krankhaften oder heftig errregten <lb/>Zuſtand iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s613" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s614" xml:space="preserve">Das Gehirn ſteht nämlich in dreifacher Verbindung mit <lb/>jedem Organ des Leibes. </s>
  <s xml:id="echoid-s615" xml:space="preserve">Erſtens gehen Nervenfäden vom <lb/>Gehirn nach jedem Teil des Leibes, die einesteils die Bewe-<lb/>gung des Gliedes, andernteils die Ernährung und innere <lb/>Thätigkeit desſelben veranlaſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s616" xml:space="preserve">Zweitens gehen andere Nerven-<lb/>fäden zurück von allen Teilen des Leibes zum Gehirn, welche <lb/>die Empfindung und das Gefühl dorthin leiten. </s>
  <s xml:id="echoid-s617" xml:space="preserve">Drittens <lb/>zirkuliert alles Blut durch den ganzen Körper, und es kommen <lb/>alſo Blutteilchen nach dem Gehirn, die vor kurzem ſich in den <lb/>verſchiedenen Teilen des Körpers befunden haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s618" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s619" xml:space="preserve">Auf dem Wege dieſer dreifachen Verbindung geſchieht die <lb/>Einwirkung des leiblichen Zuſtandes auf das Gehirn, auf die <lb/>Gedanken, die Vorſtellungen derſelben oder einfacher: </s>
  <s xml:id="echoid-s620" xml:space="preserve">auf den <lb/>Geiſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s621" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s622" xml:space="preserve">Es kann ſich ein Glied in einem krankhaften Zuſtand durch <lb/>irgend welche innerliche oder äußerliche Urſache befinden; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s623" xml:space="preserve">dieſer Zuſtand kann die Ernährung dieſes Teiles unterdrücken, <lb/>und ſomit die Ernährungsuerven lähmen oder außer Thätig-<lb/>keit ſetzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s624" xml:space="preserve">Dieſe Nerven wirken auf das Gehirn zurück und <lb/>verurſachen hier Störungen der geſunden Thätigkeit, und alſo <lb/>auch Veränderungen auf den Geiſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s625" xml:space="preserve">— Es kann auch anderer-<lb/>ſeits in einem Gliede eine Partie Gefühlsnerven krankhaft er-<lb/>griffen ſein, und dies wird Schmerz im Gehirn verurſachen, <lb/>der, wie aller Welt bekannt, einen ſehr ſtarken Einfluß auf <lb/>den Geiſt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s626" xml:space="preserve">Es kann aber auch bei Eiterungen oder Ent-<lb/>zündungen das Blut, das durch das kranke Glied wandert, ſo <lb/>verändert werden, daß es ſtörend auf das Gehirn einwirkt, <lb/>wenn es auf ſeiner Rundreiſe durch den Körper dort ankommt, <lb/>und kann ſonach Erregung und Abſpannung verurſachen, eine <lb/>Einwirkung auf die Vorſtellungen und Gedanken ausüben, <lb/>die Phantaſien, Fieberträume und Beſinnungsloſigkeit zur Folge
<pb o="46" file="0054" n="54"/>
haben können. </s>
  <s xml:id="echoid-s627" xml:space="preserve">In den meiſten Fällen wirken die kranken Or-<lb/>gane durch alle drei Wege auf das Gehirn und rufen hier <lb/>einen Zuſtand hervor, der zu dem Ausſpruch berechtigt, daß <lb/>ein kranker Leib auch kranken Geiſtes iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s628" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s629" xml:space="preserve">So wirkt der Leib auf den Geiſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s630" xml:space="preserve">wir wollen nunmehr <lb/>ſehen, wie der Geiſt auf den Leib wirkt.</s>
  <s xml:id="echoid-s631" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div20" type="section" level="1" n="19">
<head xml:id="echoid-head23" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIV. Geiſt und Leib.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s632" xml:space="preserve">In vereinzelten Beiſpielen haben wir bereits gezeigt, wie <lb/>oft und wie entſchieden der Geiſt auf den Leib einwirkt; </s>
  <s xml:id="echoid-s633" xml:space="preserve">hier <lb/>jedoch wollen wir die nähere Beziehung zwiſchen beiden feſtzu-<lb/>ſtellen ſuchen, um zu dem zu gelangen, was wir eigentlich <lb/>deutlich zu machen haben, zu der merkwürdigen Erſcheinung <lb/>der Charaktere und der Temperamente.</s>
  <s xml:id="echoid-s634" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s635" xml:space="preserve">Der entſchiedene Einfluß des Gehirns auf den ganzen <lb/>Körper iſt allbekannt. </s>
  <s xml:id="echoid-s636" xml:space="preserve">Das Gehirn iſt der Sitz all’ unſerer <lb/>Sinnesempfindungen; </s>
  <s xml:id="echoid-s637" xml:space="preserve">es iſt zugleich die Quelle, von welcher <lb/>unſere willkürlichen Bewegungen ausgehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s638" xml:space="preserve">Da es aber auch <lb/>das Organ unſerer Vorſtellungen und Gedanken iſt, ſo liegt <lb/>ſchon in dieſem Umſtand hinlänglicher Grund zu der Annahme, <lb/>daß, wenn das Gehirn mit Gedanken und Vorſtellungen ſehr <lb/>beſchäftigt iſt, es gewiſſermaſſen nicht recht Zeit hat, um ſeine <lb/>anderweitigen Arbeiten zu verrichten und ſomit in ſeiner Ein-<lb/>wirkung auf den Leib gehemmt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s639" xml:space="preserve">Allein dies wäre noch <lb/>keineswegs eine wirkliche Einwirkung des Geiſtes auf den Leib; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s640" xml:space="preserve">es wäre nur eine Störung der leiblichen Thätigkeit des Gehirns, <lb/>wenn dies geiſtig angeſtrengt oder heftig ergriffen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s641" xml:space="preserve">— Wenn <lb/>wir mitten auf der Straße plötzlich ſtill ſtehen, weil uns ein <lb/>neuer Gedanke durch den Kopf geht; </s>
  <s xml:id="echoid-s642" xml:space="preserve">wenn wir vor Verwunde-<lb/>rung oder vor Schreck einen Augenblick ſtarr ſtehen bleiben
<pb o="47" file="0055" n="55"/>
und ſelbſt zu atmen vergeſſen, ſo iſt hierzu nicht nötig, die <lb/>direkte Einwirkung des Geiſtes auf den Leib anzunehmen, <lb/>ſondern wir können dies dem Umſtand zuſchreiben, daß das <lb/>Gehirn in ſolchen Momenten ſo eingenommen iſt von ſeiner <lb/>Gedankenfabrikation, daß es in ſeinem Leibesregiment eine <lb/>Pauſe machen muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s643" xml:space="preserve">— In gleicher Weiſe läßt ſich’s erklären, <lb/>weshalb Verliebte keinen Hunger verſpüren, weshalb auch <lb/>Traurige körperlichen Schmerz nicht empfinden, weshalb eine <lb/>heitere Stunde ein leibliches Unwohlſein vergeſſen machen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s644" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s645" xml:space="preserve">Anderer Art aber iſt das, was wir jetzt darzulegen haben, <lb/>denn hier iſt eine direkte Einwirkung des Geiſtes auf den Leib <lb/>unverkennbar, wenngleich auch dies höchſt wahrſcheinlich durch <lb/>Vermittelung des Gehirns und der Nerven geſchieht.</s>
  <s xml:id="echoid-s646" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s647" xml:space="preserve">Wir haben in dem Abſchnitt über den Hypnotismus ge-<lb/>ſehen, daß Einbildungen Menſchen krank und auch wiederum <lb/>von wirklichen Übeln geſund machen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s648" xml:space="preserve">Einbildungen ſind <lb/>aber unbegründete Vorſtellungen im Gehirn; </s>
  <s xml:id="echoid-s649" xml:space="preserve">wie und in welcher <lb/>Weiſe ſolche Vorſtellungen die leibliche Gehirnthätigkeit und <lb/>die Nervenzuſtände beherrſchen und ſelbſt auf Organe einwirken <lb/>können, die dem Willen der Menſchen gar nicht unterworfen <lb/>ſind, das iſt eine Frage, die noch keineswegs ganz klar be-<lb/>antwortet werden kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s650" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s651" xml:space="preserve">Man kann von den Medikamenten vieler einſichtigen Ärzte <lb/>ohne Übertreibung ſagen, daß mehr als Zweidrittel derſelben <lb/>durch bloße Einbildung wirken. </s>
  <s xml:id="echoid-s652" xml:space="preserve">Der Ausſpruch eines berühmten <lb/>Berliner Klinikers iſt bekannt, daß ein Arzt ſeine ſämtlichen <lb/>wirklichen Medikamente in der Weſtentaſche tragen könnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s653" xml:space="preserve">Die <lb/>Einbildung reicher Patienten geht oft ſo weit, daß ſie wirklich <lb/>nur nach einer <emph style="sp">teuern</emph> Medizin geſund werden, und ſelbſt Arme <lb/>fühlen eine Beſſerung, wenn ſie für mehrere Groſchen ein ganz <lb/>beliebiges Tränkchen aus der Apotheke erhalten, das ſie ſich <lb/>womöglich zu Hauſe für ein paar Pfennige hätten ſelbſt zu-<lb/>ſammenſtellen können.</s>
  <s xml:id="echoid-s654" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="48" file="0056" n="56"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s655" xml:space="preserve">Aber nicht nur hierin, ſondern auch in andern Erſcheinungen <lb/>giebt ſich die Einwirkung des Geiſtes auf den Leib, und zwar <lb/>in noch entſchiedenerem Maße kund.</s>
  <s xml:id="echoid-s656" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s657" xml:space="preserve">Von dem ſogenaunten “Verſehen” der Schwangern wollen <lb/>wir hier nicht ſprechen. </s>
  <s xml:id="echoid-s658" xml:space="preserve">Das Urteil der berühmteſten Natur-<lb/>forſcher ſteht hierüber feſt, daß dies nur ein Aberglaube iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s659" xml:space="preserve">Es ſtehen jedoch andere Thatſachen ganz außer Zweifel, die <lb/>es beweiſen, wie der geiſtige Zuſtand der Mutter auf das <lb/>Kind ihres Schoßes von leiblichem Einfluß iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s660" xml:space="preserve">wie Gram <lb/>und tiefe Beſorgnis, Ärger und geiſtiger Schmerz ſchädlich <lb/>auf die Entwickelung des Kindes einwirken. </s>
  <s xml:id="echoid-s661" xml:space="preserve">— Schreck, Augſt <lb/>und Zank kann die Milch der Amme derart verändern, daß <lb/>das Kind ſie nicht verträgt. </s>
  <s xml:id="echoid-s662" xml:space="preserve">Heiterkeit und Zufriedenheit macht <lb/>nicht nur die Amme geſund, ſondern auch das Kind.</s>
  <s xml:id="echoid-s663" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s664" xml:space="preserve">Noch ausgeſprochner iſt die Wirkung des Geiſtes auf das <lb/>leibliche Befinden beſtimmter Organe in anderen Fällen.</s>
  <s xml:id="echoid-s665" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s666" xml:space="preserve">Die Vorſtellung einer angenehmen Speiſe wirkt ſchon auf <lb/>die Speicheldrüſen und läßt den Speichel reichlicher abſondern. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s667" xml:space="preserve">Es giebt wenige Menſchen, die an Zitronenſäure denken köunen, <lb/>ohne daß ihnen ſozuſagen das Waſſer im Munde zuſammen-<lb/>läuft. </s>
  <s xml:id="echoid-s668" xml:space="preserve">— Sehr empfindliche Frauen bekommen leicht Zahnweh, <lb/>wenn ſie über Zahnweh klagen hören. </s>
  <s xml:id="echoid-s669" xml:space="preserve">Liebende Mütter fühlen <lb/>die Milch heftiger zur Bruſt ſtrömen, wenn ſie das Kind ver-<lb/>langend nach der Bruſt ſuchen ſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s670" xml:space="preserve">Wollüſtige, unzüchtige <lb/>Vorſtellungen und Erzählungen vermehren Abſonderungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s671" xml:space="preserve">— <lb/>Perſonen, die im allgemeinen an Nervenverſtimmung leiden, <lb/>können ſich wirkliche Leber- und Herz-Krankheiten zuziehen <lb/>wenn ſie an dieſe Krankheiten denken und ſich gewiſſe Vor-<lb/>ſtellungen davon machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s672" xml:space="preserve">— Junge Studenten der Medizin <lb/>auch wenn ſie nicht ſehr phantaſtiſcher Natur ſind, leiden oft <lb/>gerade an den innern Organen, mit welchen ſie ſich in der <lb/>Anatomie beſchäftigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s673" xml:space="preserve">Ja ein berühmter Arzt, der über <lb/>Herzkrankheiten ſchrieb, fing an, an Pulsunterbrechungen zu
<pb o="49" file="0057" n="57"/>
leiden, als er zu innig über dieſen Krankheitszuſtand nach-<lb/>dachte. </s>
  <s xml:id="echoid-s674" xml:space="preserve">— Das Alles ſind unzweifelhafte Thatſachen, die dar-<lb/>thun, wie reine Vorſtellungen auf den Leib einwirken.</s>
  <s xml:id="echoid-s675" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s676" xml:space="preserve">Wir ſehen: </s>
  <s xml:id="echoid-s677" xml:space="preserve">der Geiſt wirkt auf den Leib und der Leib <lb/>auf den Geiſt, und aus beiden werden wir das entſtehen ſehen, <lb/>was man Charakter und Temperament nennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s678" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div21" type="section" level="1" n="20">
<head xml:id="echoid-head24" xml:space="preserve"><emph style="bf">XV. Charakter und Temperament.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s679" xml:space="preserve">Es iſt nach dem bereits Geſagten natürlich, daß die <lb/>Menſchen weit verſchiedener im Charakter und Weſen ſein <lb/>müſſen, als irgend welche einzelnen Tiere einer und derſelben <lb/>Gattung. </s>
  <s xml:id="echoid-s680" xml:space="preserve">— Würden bei dem Menſchen die Neigungen die <lb/>Natur der Inſtinkte haben, ſo würden die Menſchen ſamt und <lb/>ſonders nur einen beſtimmten Charakter beſitzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s681" xml:space="preserve">Die Freiheit <lb/>der Neigungen bringt es beim Menſchen mit ſich, daß das, <lb/>was er thut, erſtrebt oder wünſcht, in ſehr gemiſchten Gefühlen <lb/>der Luſt, in ſehr verſchiedenem Grade der Heftigkeit bei ihm <lb/>vorgeht. </s>
  <s xml:id="echoid-s682" xml:space="preserve">Der Menſch kann durch freien Willen ſeinen Nei-<lb/>gungen, ſie mögen gut oder übel geartet ſein, Schranken auf-<lb/>erlegen, und in ſolcher Weiſe geiſtig auf ſich einwirken, daß <lb/>ſelbſt ſeine leiblichen Naturanlagen ſich ſeinem Willen unter-<lb/>werfen.</s>
  <s xml:id="echoid-s683" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s684" xml:space="preserve">Aus dieſer Einwirkung des Geiſtes auf die Neigungen und <lb/>Beſtrebungen der Menſchen bilden ſich wiederholte Lebensregeln <lb/>für den Einzelnen aus, entſtehen Grundſätze, die oft für die <lb/>Dauer ſeines Lebens gültig bleiben, und ſo treten Charakter-<lb/>züge hervor, die einem beſtimmten Menſchen ein Gepräge geben.</s>
  <s xml:id="echoid-s685" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s686" xml:space="preserve">Wer ſeinen Freund oder Feind genau beobachtet und Ge-<lb/>legenheit gehabt hat, die Züge ſeines Charakters kennen zu <lb/>lernen, der kann faſt mit Sicherheit vorausſagen, wie dieſer
<pb o="50" file="0058" n="58"/>
ſich in einer fraglichen Angelegenheit benehmen wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s687" xml:space="preserve">Der <lb/>Charakter entſteht eben aus dem beſtimmten Einfluß, den der <lb/>Geiſt eines Menſchen auf ſein ganzes Leben ausübt; </s>
  <s xml:id="echoid-s688" xml:space="preserve">wer dieſen <lb/>Geiſt eines charakterfeſten Menſchen beurteilt, der wird wiſſen, <lb/>was er ihm Gutes oder Übles zutrauen kann; </s>
  <s xml:id="echoid-s689" xml:space="preserve">denn beim Cha-<lb/>rakter herrſcht der Geiſt vor, und meiſt in ſolchem Maße, daß <lb/>er beſtimmend auf die Neigungen einwirkt.</s>
  <s xml:id="echoid-s690" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s691" xml:space="preserve">Bei den Temperamenten ſcheint uns das Gegenteil der <lb/>Fall zu ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s692" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s693" xml:space="preserve">Charaktere bilden ſich aus Geiſtesſtärke, aus Entſchieden-<lb/>heit des Willens heraus; </s>
  <s xml:id="echoid-s694" xml:space="preserve">Temperamente haben einen Urſprung <lb/>in dunkleren Neigungen und dieſe, die Neigungen, überwiegen <lb/>dann die Geiſteskraft. </s>
  <s xml:id="echoid-s695" xml:space="preserve">— Daher giebt es gute und böſe Cha-<lb/>raktere, wie es einen guten und einen böſen Willen giebt; </s>
  <s xml:id="echoid-s696" xml:space="preserve">aber <lb/>keine böſen oder guten Temperamente, ſondern angenehme oder <lb/>widerſtrebende. </s>
  <s xml:id="echoid-s697" xml:space="preserve">Das Temperament kann man ſich kaum an-<lb/>gewöhnen und mit Willen geben; </s>
  <s xml:id="echoid-s698" xml:space="preserve">es liegt in dem Gebiet der <lb/>dunklen Neigungen, die oft in der Leibesbeſchaffenheit ihren <lb/>Grund haben, und von denen man ſich ſonſt gar nicht losſagen <lb/>kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s699" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s700" xml:space="preserve">Die außerordentliche Mannigfaltigkeit der Menſchen in <lb/>Bezug auf Geiſtesſtärke macht es, daß es außerordentlich viel <lb/>verſchiedene Charaktere giebt, und bei weitem mehr noch <lb/>gemiſchte Charaktere, ſo daß die meiſten Menſchen kein be-<lb/>ſtimmtes charakteriſtiſches Gepräge beſitzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s701" xml:space="preserve">Ein Gleiches iſt <lb/>bei den Temperamenten nicht der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s702" xml:space="preserve">Bei den Tempera-<lb/>menten, wo der Geiſt von geringem gebieteriſchen Einfluß iſt und <lb/>meiſt von den Neigungen unwiderſtehlich beherrſcht wird, fehlt <lb/>jene Mannigfaltigkeit, ſo daß man Temperamente in vier Haupt-<lb/>gattungen einzuteilen imſtande war und man <emph style="sp">fa</emph> ſt von jedem <lb/>Menſchen ſagen kann, welchem Temperamente er ſich zuneigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s703" xml:space="preserve">— <lb/>Über den Charakter eines und desſelben Menſchen iſt man <lb/>nicht ſelten in Zweifel und in heftigem Streit mit vielen andern
<pb o="51" file="0059" n="59"/>
Beurteilern; </s>
  <s xml:id="echoid-s704" xml:space="preserve">über das Temperament eines Menſchen einigen <lb/>ſich die Urteile ſehr leicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s705" xml:space="preserve">Freilich wird man vielfach finden, <lb/>daß bei einem Menſchen auch 2 Temperamente gemiſcht auf-<lb/>treten können.</s>
  <s xml:id="echoid-s706" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s707" xml:space="preserve">Man darf ſich daher auch nicht wundern, daß man ſchon <lb/>in alten Zeiten die vier Temperamente erkannte und ſie in <lb/>ſanguiniſche, phlegmatiſche, choleriſche und melancholiſche ein-<lb/>geteilt hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s708" xml:space="preserve">eine Einteilung, die von den vorzüglichſten Natur-<lb/>forſchern noch heutigen Tages beihehalten wird und die <lb/><emph style="sp">Johannes Müller</emph> “vortrefflich”, ja “unverbeſſerlich” nennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s709" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s710" xml:space="preserve">Es läßt ſich zwar nicht mit Sicherheit ſagen, daß die <lb/>Temperamente aus der leiblichen Beſchaffenheit der Menſchen <lb/>herrühren; </s>
  <s xml:id="echoid-s711" xml:space="preserve">aber man darf vermuten, daß die leibliche Be-<lb/>ſchaffenheit dennoch in einem noch nicht näher gekannten Ver-<lb/>hältnis zum Temperament ſteht und auf dieſes Einfluß ausübt.</s>
  <s xml:id="echoid-s712" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s713" xml:space="preserve">Es fehlt nicht an heitern Sanguinikern, die fett und drall <lb/>werden, ohne ihre Leichtigkeit in Bewegung und Weſen zu <lb/>verlieren; </s>
  <s xml:id="echoid-s714" xml:space="preserve">gleichwohl werden die meiſten Sanguiniker eher mager <lb/>als fett ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s715" xml:space="preserve">Es fehlt nicht an magern Menſchen von entſetz-<lb/>lichem Phlegma; </s>
  <s xml:id="echoid-s716" xml:space="preserve">aber die bei weitem meiſten Phlegmatiker ſind <lb/>zum Fettwerden angelegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s717" xml:space="preserve">Choleriſche Menſchen ſind nicht <lb/>immer knochig, ſtarkſehnig und von gelblicher Hautfarbe; </s>
  <s xml:id="echoid-s718" xml:space="preserve">aber <lb/>gleichwohl hat der auffahrende, heftige, herrſchſüchtige und <lb/>rachgierige Menſch wenig Anlage zum geſunden Ausſehen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s719" xml:space="preserve">Der melancholiſche Menſch hat oft ein ganz geſundes Ausſehen, <lb/>gleichwohl tragen die Züge die Kennzeichen eines Unterleibs-<lb/>oder Gehirnleidens, das in der Regel auch wirklich vorhanden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s720" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s721" xml:space="preserve">Möglich iſt nun, daß die Temperamente nicht direkt von <lb/>den Leibesbeſchaffenheiten, die wir angeführt haben, herrühren, <lb/>ſondern daß umgekehrt die Leibesbeſchaffenheit in dem vor-<lb/>herrſchenden Temperament ihren Grund hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s722" xml:space="preserve">Es iſt daher <lb/>zweifelhaft anzugeben, wo die Quelle der Temperamente iſt, <lb/>wenn man auch zugeben muß, daß ein Zuſammenhang dieſer
<pb o="52" file="0060" n="60"/>
Erſcheinungen mit der körperlichen Beſchaffenheit wahrſchein-<lb/>lich iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s723" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s724" xml:space="preserve">Da aber in den Temperamenten ganz entſchiedene Nei-<lb/>gungen zum Vorſchein kommen, ſo wollen wir zu einer nähern <lb/>Betrachtung der einzelnen Temperamente ſchreiten.</s>
  <s xml:id="echoid-s725" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div22" type="section" level="1" n="21">
<head xml:id="echoid-head25" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVI. Das ſanguiniſche und das choleriſche</emph> <lb/><emph style="bf">Temperament.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s726" xml:space="preserve">Nach den Reſultaten der gründlichſten Naturforſcher beruhen <lb/>die Temperamente auf zwei Eigentümlichkeiten: </s>
  <s xml:id="echoid-s727" xml:space="preserve">auf der Energie <lb/>des Nervenſyſtems überhaupt und den Einflüſſen der leiblichen <lb/>Beſchaffenheit auf die Neigungen insbeſondere.</s>
  <s xml:id="echoid-s728" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s729" xml:space="preserve">Menſchen, in deren Nervenſyſtem eine heftige Energie <lb/>vorhanden iſt, haben Anlage entweder zum ſanguiniſchen oder <lb/>zum choleriſchen Temperament. </s>
  <s xml:id="echoid-s730" xml:space="preserve">Sind bei einem ſolchen Menſchen <lb/>die Neigungen ſehr mannigfaltig, ſo wechſeln ſie ſchnell ab, und <lb/>der Menſch wird ein ſanguiniſches Temperament beſitzen; </s>
  <s xml:id="echoid-s731" xml:space="preserve">haben <lb/>jedoch bei einem ſolchen Menſchen die Neigungen nur einen <lb/>kleinern Kreis, ſo wird der Menſch ſeine heftige Energie nur <lb/>auf einzelne ausgeprägte Neigungen richten, und er iſt in dieſen <lb/>heftig und rückſichtslos: </s>
  <s xml:id="echoid-s732" xml:space="preserve">er wird ein Choleriker.</s>
  <s xml:id="echoid-s733" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s734" xml:space="preserve">Mangelt es indeſſen dem Nervenſyſtem an Energie, ſo iſt <lb/>die Anlage entweder zum Phlegma oder zur Melancholie <lb/>vorhanden. </s>
  <s xml:id="echoid-s735" xml:space="preserve">Das Phlegma entſteht, wenn die leibliche Be-<lb/>ſchaffenheit geſund iſt, und deshalb die Neigungen nicht aus-<lb/>geprägt und heftig nach einer Richtung vorhanden ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s736" xml:space="preserve">Die <lb/>Melancholie entſteht, wenn zum Mangel an Energie eine <lb/>krankhafte Anlage im Körper vorhanden iſt, die den Neigungen <lb/>einen ſelbſtſüchtigen, nach Zufriedenheit ringenden Charakter
<pb o="53" file="0061" n="61"/>
verleiht, und dadurch das Streben erweckt wird, in einen <lb/>zufriedenſtellenden Zuſtand zu gelangen, ohne daß die Energie <lb/>da iſt, ſich dieſen zu ſchaffen.</s>
  <s xml:id="echoid-s737" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s738" xml:space="preserve">Der ſanguiniſche Menſch beſitzt eine Energie bei wechſelnden <lb/>Neigungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s739" xml:space="preserve">Er wird daher durch eine ſchnell eintretende Neigung <lb/>leicht erregt, aber nur auf kurze Dauer. </s>
  <s xml:id="echoid-s740" xml:space="preserve">Er iſt zu keiner guten, <lb/>nur mit Anſtrengung und Konſequenz durchzuführenden Thätig-<lb/>keit ſähig; </s>
  <s xml:id="echoid-s741" xml:space="preserve">aber auch zu keiner ſchlechten Handlung geeignet, <lb/>wenn ſie eine dauernde Konſequenz erfordert. </s>
  <s xml:id="echoid-s742" xml:space="preserve">Der Sanguiniker <lb/>wird von einer Neigung leicht hingeriſſen und iſt imſtande, <lb/>eine plötzliche Energie zu entwickeln, die das Maß der ge-<lb/>wöhnlichen Kräfte überſchreitet; </s>
  <s xml:id="echoid-s743" xml:space="preserve">aber nach der erſten geſtillten <lb/>Energie kann die entgegengeſetzte Neigung Platz greifen, und er <lb/>wird mit demſelben Eifer das Gegenteil von dem thun, was <lb/>er eben vorher gethan. </s>
  <s xml:id="echoid-s744" xml:space="preserve">— Er iſt heftig in ſeinen Hoffnungen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s745" xml:space="preserve">wendet ſich aber ebenſo ſchnell davon ab, wenn ihm ein Hinder-<lb/>nis in den Weg tritt, ſo daß er ſie nur durch anhaltendes <lb/>Streben verwirklichen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s746" xml:space="preserve">Er iſt gutmütig und leicht zu <lb/>großen Opfern geneigt, verſpricht daher mit großer Leichtigkeit <lb/>ſeine Mithilfe dem, der ſeiner Neigung eine beſtimmte Richtung <lb/>zu geben vermag. </s>
  <s xml:id="echoid-s747" xml:space="preserve">Iſt das, was er verſprochen, ſchnell aus-<lb/>zuführen, ſo wird er auch ſein Verſprechen ſofort erfüllen. </s>
  <s xml:id="echoid-s748" xml:space="preserve">Muß <lb/>man ihm aber Zeit laſſen, ſo bemächtigen ſich ſeiner neue <lb/>Neigungen, und er wird ſein Wort zurücknehmen oder umzu-<lb/>deuten ſuchen oder nur mit Unluſt dasſelbe erfüllen.</s>
  <s xml:id="echoid-s749" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s750" xml:space="preserve">Der Sanguiniker ſchließt leicht Freundſchaft, giebt ſie aber <lb/>auch leicht auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s751" xml:space="preserve">Er wallt leicht auf, aber bereut auch ſehr <lb/>leicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s752" xml:space="preserve">Er vertraut ſehr leicht, fühlt ſich aber auch eben <lb/>ſo ſchnell zum Mißtrauen geneigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s753" xml:space="preserve">Er faßt leicht Pläne und <lb/>traut ſich Ausdauer zu, ſie auszuführen; </s>
  <s xml:id="echoid-s754" xml:space="preserve">aber er entzückt ſich <lb/>ſelber derart mit dem Plan, daß er ſeinen Genuß in dem <lb/>Gedanken ſchon halb befriedigt hat und ſchlaff wird, wenn er <lb/>zur Ausführung kommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s755" xml:space="preserve">Er iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s756" xml:space="preserve">nachſichtig gegen die Fehler
<pb o="54" file="0062" n="62"/>
Anderer; </s>
  <s xml:id="echoid-s757" xml:space="preserve">nimmt aber auch für ſeine Fehler die Nachſicht <lb/>Anderer in Anſpruch. </s>
  <s xml:id="echoid-s758" xml:space="preserve">Er entzweit ſich leicht, aber verſöhnt <lb/>ſich auch leicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s759" xml:space="preserve">Er iſt ein liebenswürdiger Geſellſchafter, aber <lb/>ein unzuverläſſiger Freund. </s>
  <s xml:id="echoid-s760" xml:space="preserve">Er iſt ein zärtlicher Gatte, macht <lb/>ſich aber der Untreue ſchuldig, wenn die Verhältniſſe ihn nicht <lb/>feſſeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s761" xml:space="preserve">Er iſt oft ſcharfſinnig im Entwurf, aber fahrläſſig im <lb/>Vollbringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s762" xml:space="preserve">Er macht gern alle Menſchen glücklich, aber <lb/>ſtürzt ſie, weil er ſich zu viel aufbürdet, leicht ins Unglück. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s763" xml:space="preserve">Er iſt dichteriſch in ſeiner Anlage, aber ſtößt zu oſt an die <lb/>Proſa des Lebens, die ihm den Mut lähmt.</s>
  <s xml:id="echoid-s764" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s765" xml:space="preserve">Die Energie iſt in ſanguiniſchen Menſchen vorherrſchend: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s766" xml:space="preserve">er wechſelt nur mit den Gegenſtänden derſelben und ſpringt <lb/>oft in das Gegenteil deſſen über, was er eben erſt erſtrebt hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s767" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s768" xml:space="preserve">Anders iſt es bei dem choleriſchen Menſchen der Fall. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s769" xml:space="preserve">Zum Glück für die Menſchheit giebt es wenige Menſchen, die <lb/>ausgebildete, vollendete Choleriker ſind, denn Menſchen mit großer <lb/>Energie und ganz vollendeten, beſtimmt ausgeprägten Neigungen <lb/>ſind für die Freiheit der Nebenmenſchen in hohem Grade <lb/>gefährlich. </s>
  <s xml:id="echoid-s770" xml:space="preserve">In unziviliſierten Zuſtänden ſind es meiſt nicht die <lb/>klaren, einſichtsvollen Köpfe, die die Menſchen hinreißen und <lb/>beherrſchen, ſondern die Naturen, die ihrer eigenen Leidenſchaft <lb/>nicht gebieten und mit Ausdauer und Thatkraft zur Verwirk-<lb/>lichung ihrer Neigungen ſchreiten, jedes Hindernis hinweg-<lb/>räumend, das ſich ihnen in den Weg ſtellt. </s>
  <s xml:id="echoid-s771" xml:space="preserve">Der choleriſche <lb/>Menſch hat oft viel zur Rettung einer ganzen Nation gethan; </s>
  <s xml:id="echoid-s772" xml:space="preserve"><lb/>aber bei weitem öfter iſt aus dem Befreier einer Nation ein <lb/>Tyrann derſelben geworden. </s>
  <s xml:id="echoid-s773" xml:space="preserve">Faſt alle großen Kriegshelden <lb/>waren choleriſchen Temperaments und haben, um ihren Zweck <lb/>zu erreichen, Alles niedergetreten, was ſie auf ihrem Wege <lb/>ſtörte. </s>
  <s xml:id="echoid-s774" xml:space="preserve">Faſt immer reißen Menſchen dieſer Art ganze Maſſen <lb/>mit ſich fort und führen ſie zum Sieg oder zum Verderben, <lb/>je nach dem Ziel, das den choleriſchen Menſchen vorſchwebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s775" xml:space="preserve"><lb/>— Im Privatleben iſt er zu Zorn gereizt, und weil er nicht
<pb o="55" file="0063" n="63"/>
viel überlegt, ſondern ſchnell handelt, wirkt er auch oft zum <lb/>eignen und Anderer Nachteil haſtig und verderblich. </s>
  <s xml:id="echoid-s776" xml:space="preserve">Dabei <lb/>jedoch iſt ſeine Neigung ſo konſequent und ſtachelt ſeine Energie <lb/>derart an, daß er ſelbſt beim Scheitern all’ ſeines Strebens <lb/>nicht belehrt wird, ſondern, mit neuem Zorn und unauslöſchlicher <lb/>Rache erfüllt, jede Gelegenheit benutzt, um ſeinem Plan noch-<lb/>mals nachzugehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s777" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s778" xml:space="preserve">Im ganzen kann man alſo ſagen, daß die Energie des <lb/>ſanguiniſchen und des choleriſchen Temperaments ſich auf <lb/>gleicher Höhe erhalten können; </s>
  <s xml:id="echoid-s779" xml:space="preserve">nur wechſelt beim ſanguiniſchen <lb/>Menſchen die Neigung, und ſomit erhält ſeine Energie eine <lb/>neue Richtung, während beim choleriſchen Menſchen die Neigung <lb/>beharrt und die Energie nur nach einer ſich gleichbleibenden <lb/>Richtung hinlenkt.</s>
  <s xml:id="echoid-s780" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div23" type="section" level="1" n="22">
<head xml:id="echoid-head26" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVII. Das Phlegma und die Melancholie.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s781" xml:space="preserve">Das Phlegma beruht, wie bereits angedeutet, auf einer <lb/>im Nervenſyſtem herrſchenden gemäßigten Energie, wobei <lb/>zugleich die leibliche Beſchaffenheit geſund und die Neigungen <lb/>und Beſtrebungen nicht eine ausſchließliche beſondere Richtung <lb/>haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s782" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s783" xml:space="preserve">Der phlegmatiſche Menſch iſt ſelten ein Genie, ein Künſtler; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s784" xml:space="preserve">aber er kann in wiſſenſchaftlicher Beziehung Ausgezeichnetes <lb/>leiſten. </s>
  <s xml:id="echoid-s785" xml:space="preserve">Ja, es giebt gewiſſe Gebiete der Wiſſenſchaft, wo es <lb/>hauptſächlich auf Beobachtungen und zwar ſehr ſorgfältig <lb/>wiederholte und mit ungemeiner Geduld und Ruhe behandelte <lb/>Beobachtungen ankommt; </s>
  <s xml:id="echoid-s786" xml:space="preserve">in dieſen Zweigen können Phlegma-<lb/>tiker Ausgezeichnetes leiſten und ſich vorzügliche Verdienſte er-<lb/>werben. </s>
  <s xml:id="echoid-s787" xml:space="preserve">— Für Alles, wobei es auf Sorgfalt, ausdauernde <lb/>Berechnung ankommt, und wozu nicht ein energiſches Eingreifen
<pb o="56" file="0064" n="64"/>
paßt, wird der Phlegmatiker der zuverläſſigſte Menſch ſein; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s788" xml:space="preserve">und weil er eben ſeine Neigungen nicht leicht wechſelt, ſo wird <lb/>er durch Zeit und Ruhe ſicherer zu ſeinem Ziel kommen als <lb/>derjenige, der ſeinen Zweck auf kürzeſtem und ſchnellſtem Wege <lb/>zu erreichen ſtrebt.</s>
  <s xml:id="echoid-s789" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s790" xml:space="preserve">Der Phlegmatiſche bleibt im Privatleben ohne heftige <lb/>Begierden und Leidenſchaften; </s>
  <s xml:id="echoid-s791" xml:space="preserve">ſeine Gemütsbewegungen wie <lb/>ſeine Neigungen tragen ein mäßiges Gepräge; </s>
  <s xml:id="echoid-s792" xml:space="preserve">er bleibt kalt <lb/>und läßt ſich nicht zu Handlungen hinreißen, die er morgen <lb/>bereut. </s>
  <s xml:id="echoid-s793" xml:space="preserve">Er iſt alſo ſicherer, zuverläſſiger für Andere und iſt <lb/>für ſich ſelbſt imſtande, ſeine Erfolge ſicherer zu berechnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s794" xml:space="preserve">— <lb/>In Gefahr und in entſcheidenden Momenten, wo es auf einen <lb/>ſchnellen Entſchluß ankommt, wird der Phlegmatiſche freilich <lb/>einen Augenblick verdutzt ſtehen bleiben, und wenn dann Energie <lb/>nötig iſt, ſo wird er ſich weniger zu helfen wiſſen als der <lb/>ſanguiniſche und noch weniger entſchieden ſein als der choleriſche. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s795" xml:space="preserve">Aber er meidet ſchon vorher meiſt ſolche Gelegenheiten, die ihm <lb/>dergleichen Verlegenheiten bereiten, und wird ſeine Berechnungen <lb/>längſt gemacht haben, um nicht plötzlich überraſcht zu werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s796" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s797" xml:space="preserve">Der Phlegmatiſche erträgt ſeine Leiden und die Unbill <lb/>anderer Menſchen mit Ruhe. </s>
  <s xml:id="echoid-s798" xml:space="preserve">Er läßt ſich weder von Feind-<lb/>ſeligkeit noch von Liebe allzu ſchnell fortreißen; </s>
  <s xml:id="echoid-s799" xml:space="preserve">er wird aber <lb/>die Treue bewahren und in Not des Freundes ein hilfreicher <lb/>Freund ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s800" xml:space="preserve">— Wo es auf Eile ankommt, überholen ihn die <lb/>Andern; </s>
  <s xml:id="echoid-s801" xml:space="preserve">aber er wird ſie darum nicht beneiden, ſondern lang-<lb/>ſam ſeine Pläne und langſam ſeine Saaten reifen laſſen, und <lb/>er kommt in den meiſten Fällen beſſer und erfolgreicher zum <lb/>Ziel. </s>
  <s xml:id="echoid-s802" xml:space="preserve">Der phlegmatiſche Menſch giebt ſich wenig eignen und <lb/>fremden Täuſchungen hin, weshalb er auch eine zufriedene <lb/>Stimmung bewahrt und in Genüſſen ohne Stürme, aber auch <lb/>ohne tiefes Leid dahinlebt.</s>
  <s xml:id="echoid-s803" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s804" xml:space="preserve">Sehr merkwürdig iſt es, von ſolchen Temperamenten <lb/>ganze Nationalitäten ergriffen zu ſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s805" xml:space="preserve">Zwei der größten
<pb o="57" file="0065" n="65"/>
Nationen Europas, Frankreich und England, tragen das Ge-<lb/>präge der zwei Haupt-Temperamente. </s>
  <s xml:id="echoid-s806" xml:space="preserve">Frankreich iſt ſanguiniſch; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s807" xml:space="preserve">England iſt phlegmatiſch. </s>
  <s xml:id="echoid-s808" xml:space="preserve">Frankreich macht lauter geniale <lb/>Streiche in ſeiner Politik; </s>
  <s xml:id="echoid-s809" xml:space="preserve">aber es iſt nach kurzer Zeit ſchon <lb/>genötigt, ſie in ihr Gegenteil umzuwandeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s810" xml:space="preserve">Mit jedem Jahr-<lb/>zehnt faſt kann man in Frankreich eine neue Richtung im <lb/>Aufſchwung ſehen, die die Nation hinreißt. </s>
  <s xml:id="echoid-s811" xml:space="preserve">Aber kaum erreicht <lb/>dieſes Streben einen entſcheidenden Höhepunkt, und es wird <lb/>ſofort von einem Teil bis in alle Überſpanntheit hinaus über-<lb/>trieben, während es ſchon in einem andern Teil verblaßt und <lb/>mit eben ſolcher Energie als ein Verderben gehaßt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s812" xml:space="preserve">Frank-<lb/>reich will ſtets etwas Neues, und wer es ihm nicht bietet, über <lb/>den geht es mit einer Verachtung hinweg, die der Vergötterung <lb/>gleicht, mit welcher ein anderer neuer Götze des Tages ver-<lb/>herrlicht wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s813" xml:space="preserve">Das iſt die Natur des Sanguiniſchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s814" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s815" xml:space="preserve">England iſt phlegmatiſch. </s>
  <s xml:id="echoid-s816" xml:space="preserve">Genialitäten und Sonderbar-<lb/>keiten kommen freilich vor, aber ſie erregen niemals einen ſchnell <lb/>um ſich greifenden Enthuſiasmus; </s>
  <s xml:id="echoid-s817" xml:space="preserve">dafür aber iſt die kluge <lb/>Vorausſicht und Berechnung das Erbe dieſer großen Nation, <lb/>und alles, was Fleiß, Ausdauer und ruhiger Scharſſinn nur <lb/>Großes zu ſchaffen vermag, findet in England ſeine Anwendung <lb/>und Ausführung.</s>
  <s xml:id="echoid-s818" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s819" xml:space="preserve">Während Deutſchland ſehr gemiſchten Temperaments iſt, <lb/>beſitzt Holland ein noch ausgeprägteres phlegmatiſches Tempe-<lb/>rament; </s>
  <s xml:id="echoid-s820" xml:space="preserve">daher denn das große Handelstalent dieſes kleinen <lb/>Volkes, daher ſeine Selbſtändigkeit und Ruhe, ſeine Mäßigung <lb/>und Leiſtungsfähigkeit, ſeine Sicherheit und Zuverläſſigkeit.</s>
  <s xml:id="echoid-s821" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s822" xml:space="preserve">Der Melancholiſche leidet an einer Verſtimmung, weil er <lb/>mit ſeinem eigenen Zuſtand nicht zufrieden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s823" xml:space="preserve">Er findet nur <lb/>Beruhigung, wenn er an ſein eigenes Mißgeſchick denkt und <lb/>ſich einbil@et, daß es einmal ſein Los iſt, vom Unglück ver-<lb/>folgt zu werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s824" xml:space="preserve">In allem, was ihm und andern begegnet, <lb/>ſieht er nur das Trübe, was geeignet iſt, ſeinem Hang Nahrung
<pb o="58" file="0066" n="66"/>
zu geben. </s>
  <s xml:id="echoid-s825" xml:space="preserve">Er iſt daher gleich dem Phlegmatiſchen unempfindlich <lb/>für flüchtige Freuden und verſinkt gleich dem Choleriſchen <lb/>immer ſchnell in ſeine Neigung zurück, ſich als ein Weſen zu <lb/>betrachten, das zur Freude nicht geſchaffen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s826" xml:space="preserve">Er mißtraut <lb/>daher jeder angenehmen Begegnung und ahnt, daß Unheil da-<lb/>hinter für ihn lauert. </s>
  <s xml:id="echoid-s827" xml:space="preserve">Er empfindet die Beleidigung, wo ſie <lb/>ihm gar nicht galt, ſieht ſich zurückgeſetzt, gekränkt und wird <lb/>mutlos, zaghaft, verzweifelnd und gefällt ſich derart in ſeinem <lb/>Mißgeſchick, daß es ihn ärgert, wenn er eine freudige Über-<lb/>raſchung erfährt, und er ſich einbildet, daß man ihn nur habe <lb/>freudig anregen wollen, um ihn durch das Gegenteil zu erinnern, <lb/>wie unglücklich er ſei.</s>
  <s xml:id="echoid-s828" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s829" xml:space="preserve">Ob die Melancholie wirklich ein Temperament oder nur <lb/>eine krankhafte Erſcheinung iſt, läßt ſich ſchwer entſcheiden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s830" xml:space="preserve">Für unſer Thema muß es genügen zu erkennen, wie die geiſtigen <lb/>Richtungen der Menſchen in gewiſſe Klaſſen zu bringen ſind, <lb/>und in dieſe Klaſſen gehören jedenfalls die zwei Haupt-Tempe-<lb/>ramente, das ſanguiniſche und phlegmatiſche, welche wir als <lb/>Gepräge ganzer Nationen wahrnehmen, während das choleriſche <lb/>und melancholiſche nur vereinzelt und möglicherweiſe nur als <lb/>krankhafte Abarten auftreten.</s>
  <s xml:id="echoid-s831" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div24" type="section" level="1" n="23">
<head xml:id="echoid-head27" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVIII. Das Rätſel des Todes.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s832" xml:space="preserve">Wir haben vom Leben und ſeinen wichtigſten Erſcheinungen <lb/>in Pflanze, Tier und Menſch geſprochen und wollen nun vom <lb/>Ende, vom letzten Rätſel des Lebens, dem Tode, ein Wort <lb/>ſagen.</s>
  <s xml:id="echoid-s833" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s834" xml:space="preserve">Freilich ſpricht man vom Leben lieber, weil das Leben <lb/>ſelbſt den Unglücklichſten mit tiefen, geheimnisvollen Banden <lb/>der Liebe umſchlingt; </s>
  <s xml:id="echoid-s835" xml:space="preserve">vom Gedanken des Todes wendet man
<pb o="59" file="0067" n="67"/>
ſich gern ab, wie man ſich abwendet von der Erſcheinung des <lb/>Todes. </s>
  <s xml:id="echoid-s836" xml:space="preserve">Wie man es für eine Liebespflicht hält, das Auge der <lb/>Leiche, den Mund, der den letzten Atemzug, den letzten Seufzer <lb/>ausgehaucht, mit ſanfter Hand zu ſchließen, ſo deckt auch der <lb/>Unglücklichſte der Lebenden das eigene Auge vor den Tiefen, <lb/>die der Tod ahnen läßt, und verſchließt ſeinen Mund, um <lb/>nicht von dem zu ſprechen, was das ſicherſte und unver-<lb/>meidlichſte Geſchick alles Lebens iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s837" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s838" xml:space="preserve">Gleichwohl jedoch müſſen wir vom Tode ſprechen!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s839" xml:space="preserve">Von den älteſten Zeiten her hat ſich ein Ausſpruch auf <lb/>die Menſchheit vererbt, der noch jetzt als letzte Weisheit des <lb/>Lebens gilt, es iſt der Spruch: </s>
  <s xml:id="echoid-s840" xml:space="preserve">“Vom Staube ſtammſt Du, <lb/>zum Staube ſollſt Du zurückkehren!” Obwohl jedoch dieſer <lb/>Spruch ſich durch Jahrtauſende erhalten hat, ſo iſt er doch das <lb/>nicht, was man verſucht hat, naturwiſſenſchaftlich aus ihm zu <lb/>machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s841" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s842" xml:space="preserve">Auch naturwiſſenſchaftlich hat man gemeint, daß der Tod <lb/>nur darum erfolge und erfolgen müſſe, weil die Stoffe, die <lb/>den Leib des Menſchen bilden, zurückzukehren beſtimmt ſind in <lb/>das Reich einer ewig wandernden und wandelnden Natur. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s843" xml:space="preserve">Man ſtelle ſich vor, daß der Menſch während ſeines Lebens <lb/>ſeinen Leib geliehen habe von den Stoffen der Erde, und daß <lb/>die Erde dieſes Darlehen zurückfordere, und dem Leben ſein <lb/>Ziel und Ende ſetze.</s>
  <s xml:id="echoid-s844" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s845" xml:space="preserve">In Wahrheit jedoch iſt dieſe Auffaſſung eine falſche <lb/>Sollte der Menſch nur deshalb ſterben müſſen, weil der Staub <lb/>zum Staube, weil der Stoff nach einer unwiderſtehlichen Ge-<lb/>ſetzlichkeit wieder zum lebloſen Stoffe werden muß, ſo müßte <lb/>das Leben gerade nicht aufhören, denn jene Schuld, jenes <lb/>Darlehen zahlen wir in jedem Augenblick des Lebens ab und <lb/>verſagen unſere Abzahlung vom erſten Moment des Daſeins <lb/>bis zum letzten der Atemzüge nicht, weil wir eben leben wollen <lb/>und müſſen</s>
</p>
<pb o="60" file="0068" n="68"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s846" xml:space="preserve">Der Menſch braucht nicht zu ſterben, um die Stoffe wieder <lb/>der lebloſen Natur zurückzuerſtatten, denn er ſtattet ſie mit jedem <lb/>Aushauchen ſeines Atems, mit jedem Tröpfchen Schweiß, mit <lb/>jeder Ausſcheidung ſeines Leibes zurück; </s>
  <s xml:id="echoid-s847" xml:space="preserve">der Stoff wechſelt <lb/>fortwährend in ihm, und er vermag auch lebend nicht der <lb/>Natur zu verſagen, was ſie von ihm zu fordern hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s848" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s849" xml:space="preserve">Der Tod iſt auf ein anderes Geſetz gegründet; </s>
  <s xml:id="echoid-s850" xml:space="preserve">er liegt in <lb/>der Natur des Lebens ſelber.</s>
  <s xml:id="echoid-s851" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s852" xml:space="preserve">Vom erſten Moment ab, wo ein Keim im Mutterſchoß <lb/>zum Leben befruchtet wird, iſt ihm der einſtige Tod ſchon mit <lb/>eingeboren. </s>
  <s xml:id="echoid-s853" xml:space="preserve">Leben und Tod ſind nicht zwei entgegengeſetzte <lb/>Erſcheinungen des Stoffes, ſondern ihr Zuſammenwirken iſt <lb/>zum Leben gerade notwendig.</s>
  <s xml:id="echoid-s854" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s855" xml:space="preserve">Der zarte Keim im Mutterſchoße, der von dem Blute der <lb/>Mutter ernährt wird, erhält von dieſem den Stoff, um ſich <lb/>auszubilden; </s>
  <s xml:id="echoid-s856" xml:space="preserve">aber der Keim giebt auch ſofort einen verbrauchten <lb/>Teil des Stoffes dem Blute der Mutter zurück. </s>
  <s xml:id="echoid-s857" xml:space="preserve">Schon im <lb/>Beginn des Lebens ſtirbt ein Blutteilchen, das eben erſt gelebt <lb/>hat, ſchnell wieder ab. </s>
  <s xml:id="echoid-s858" xml:space="preserve">Es weilt nur kurze, vielleicht nur <lb/>außerordentlich kurze Zeit lebend im Körper, und kaum hat es <lb/>den Stoff zum leiblichen belebten Weſen gebildet, ſo kehrt es <lb/>ſofort zurück, um als tot aus dem Körper ausgeſchieden zu <lb/>werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s859" xml:space="preserve">Das, was wir “belebt ſein” nennen, findet nur in <lb/>der äußerſt kurzen Zeit ſtatt, die zwiſchen der unaufhörlichen <lb/>Bildung des Leibes und der unaufhörlichen Rückbildung des-<lb/>ſelben liegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s860" xml:space="preserve">Was wir in dieſem Augenblick eſſen, iſt ſchon <lb/>bei der Berührung mit dem Speichel chemiſch verändert worden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s861" xml:space="preserve">Es ſendet vom Magen aus ſchon den flüſſigen Teil ins Blut. </s>
  <s xml:id="echoid-s862" xml:space="preserve"><lb/>Es verwandelt ſich im Darm ſchon in Speiſeſaft, der, als <lb/>Blut verwandelt, zum Herzen wandert. </s>
  <s xml:id="echoid-s863" xml:space="preserve">Es zirkuliert von hier <lb/>aus nach den Lungen, um einen Teil, der ſchon abgeſtorben iſt, <lb/>auszuatmen, und einen Teil, der noch weitere Verwandlungen <lb/>zu machen imſtande iſt, mit Sauerſtoff zu ſättigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s864" xml:space="preserve">Von den
<pb o="61" file="0069" n="69"/>
Lungen kehrt das Blut, lebensfähiger geworden, zum Herzen <lb/>zurück, um in den Adern durch den ganzen Körper ohne Ruhe <lb/>getrieben zu werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s865" xml:space="preserve">Ein Teil davon bildet Nerven, Knochen, <lb/>Muskeln, Sehnen und andere Dinge des Leibes, und ein <lb/>anderer Teil iſt wiederum ſchon im Begriff als Schweiß, als <lb/>Atem und ſonſtige Ausſcheidung tot aus dem Körper zu <lb/>wandern. </s>
  <s xml:id="echoid-s866" xml:space="preserve">Selbſt derjenige Teil, der leiblich belebten Stoff <lb/>bildet, ruht hier nicht, denn ſchon eilt ein neues Blutteilchen <lb/>hinzu, um dieſes eben erſt entſtandene Leben zu verdrängen, als <lb/>tot zu beſeitigen, und ſich ſelbſt als lebendes Gebilde an die <lb/>Stelle zu ſetzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s867" xml:space="preserve">— So findet denn ein ewiges Entſtehen und <lb/>Vergehen, ein ewiges Bilden und Abſterben, ein fortwährendes <lb/>Wandern, ein fortwährendes Wandeln, ein unausgeſetztes Be-<lb/>leben, ein unausgeſetztes Töten im Körper ſtatt, ein ununter-<lb/>brochenes Wechſeln des Stoffes, ein Wechſeln, das, ſo lange <lb/>es ſtattfindet, eben als Erſcheinung des Lebens hervortritt.</s>
  <s xml:id="echoid-s868" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s869" xml:space="preserve">Von dieſen erſt in der neueren Zeit genauer erkannten <lb/>Zuſtänden geleitet, haben berühmte Männer der Wiſſenſchaft <lb/>das Leben ſelber nur als Stoffwechſel betrachtet und in dieſem <lb/>Stoffwechſel das große Geheimnis des Lebens zu finden ge-<lb/>glaubt.</s>
  <s xml:id="echoid-s870" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s871" xml:space="preserve">Allein ſo beliebt dieſe Lehre in der jünſten Zeit geworden <lb/>iſt, ſo wenig haltbar iſt ſie, wenn wir auf den Vorgang des <lb/>Lebens den Blick richten. </s>
  <s xml:id="echoid-s872" xml:space="preserve">— Wäre das Leben nichts als ein <lb/>Wechſel des Stoffes, ſo wäre Ausgabe und Einnahme ſtets <lb/>gleich; </s>
  <s xml:id="echoid-s873" xml:space="preserve">es wäre das nicht möglich, was wir Wachstum nennen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s874" xml:space="preserve">es wäre auch das nicht vorhanden, was wir als Rückbildung <lb/>des ganzen Leibes kennen lernen werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s875" xml:space="preserve">es wäre endlich auch <lb/>der Tod des ganzen Körpers nicht vorhanden; </s>
  <s xml:id="echoid-s876" xml:space="preserve">denn es giebt <lb/>keinen Grund, weshalb der Stoffwechſel naturgemäß mit einem <lb/>Male unterbrochen wird, den man als Leben anſieht und ein <lb/>chemiſches Zerfallen ſtatt hat, das eben ſo gut ein Stoffwechſel <lb/>genannt werden kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s877" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="62" file="0070" n="70"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s878" xml:space="preserve">Der Stoffwechſel iſt nicht das gelöſte Rätſel des Lebens, <lb/>das lehrt uns das Rätſel des Todes, von dem wir nunmehr <lb/>zu ſprechen haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s879" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div25" type="section" level="1" n="24">
<head xml:id="echoid-head28" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIX. Entſtehen und Vergehen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s880" xml:space="preserve">Der Stoffwechſel iſt nicht das ganze Leben; </s>
  <s xml:id="echoid-s881" xml:space="preserve">es ſpielt <lb/>vielmehr hierbei noch etwas eine Rolle, für welches man noch <lb/>keine genügende Erklärung gefunden hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s882" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s883" xml:space="preserve">Der Leib macht ein fortwährendes Tauſchgeſchäft; </s>
  <s xml:id="echoid-s884" xml:space="preserve">er <lb/>nimmt in Speiſe und Atem neuen Stoff ein, und giebt in <lb/>Atem, Schweiß, Ausdünſtung und Ausſcheidung abgenutzten, <lb/>abgelebten Stoff aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s885" xml:space="preserve">Allein das Tauſchgeſchäft iſt natur-<lb/>geſetzlich während der Lebenszeit ſehr ungleich. </s>
  <s xml:id="echoid-s886" xml:space="preserve">Es wird in <lb/>der erſten Zeit mit großem Vorteil betrieben, indem die Ein-<lb/>nahme größer iſt als die Ausgabe. </s>
  <s xml:id="echoid-s887" xml:space="preserve">Sodann kommt eine Zeit, <lb/>wo wenigſtens Einnahme und Ausgabe nicht merklich verſchieden <lb/>groß ſind, und man von einem Gleichgewicht des Stoffwechſels <lb/>ſprechen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s888" xml:space="preserve">Endlich kommt eine Zeit, in welcher das Tauſch-<lb/>geſchäft merklich ſchlechter wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s889" xml:space="preserve">Der Körper nimmt wenig <lb/>auf, aber giebt doch mehr aus, als er einnimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s890" xml:space="preserve">Er zehrt ab <lb/>und verkümmert — bis zur beſtimmten Stunde der Stoff-<lb/>wechſel des Lebens ſtockt und eine andere Stoffveränderung <lb/>eintritt, von der ſich der Lebende mit tief innerſter Er-<lb/>ſchütterung abwendet.</s>
  <s xml:id="echoid-s891" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s892" xml:space="preserve">Es iſt deutlich, daß wir unter der Verſchiedenheit des <lb/>Tauſchgeſchäftes nichts anderes gemeint haben, als die Ver-<lb/>ſchiedenheit des Lebens in der Iugend, dem reifen Alter und <lb/>im Greiſentum. </s>
  <s xml:id="echoid-s893" xml:space="preserve">In der Iugend iſt der Stoffwechſel lebhaft, <lb/>und er iſt naturgemäß ſo eingerichtet, daß der Körper in allen <lb/>ſeinen einzelnen Teilen zunimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s894" xml:space="preserve">Wäre das Leben nur Stoff-
<pb o="63" file="0071" n="71"/>
wechſel und nichts weiter, ſo würde der kleine Keim beim <lb/>Überſchuß der Einnahme auch wachſen, aber ſich nicht ver-<lb/>ändern, und zu einem ganz andern Dinge ausbilden. </s>
  <s xml:id="echoid-s895" xml:space="preserve">Nach <lb/>einem Naturgeſetz aber, das durchaus unbekannt iſt, wächſt <lb/>nicht nur der Keim, ſondern es wird ein lebendes Weſen <lb/>daraus, das keine Ähnlichkeit mehr mit dem Keime hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s896" xml:space="preserve">Es <lb/>wächſt nun das lebende Weſen in allen ſeinen Gliedern nach <lb/>beſtimmten Geſetzen, bis zu einer gewiſſen Zeit, und es tritt <lb/>ſodann eine “Rückbildung” ein; </s>
  <s xml:id="echoid-s897" xml:space="preserve">aber nicht etwa eine ſolche <lb/>Rückbildung, daß aus dem Weſen nach und nach wieder das <lb/>wird, was es früher war, ein bloßer Keim, ſondern eine <lb/>Rückbildung, die man auch eine Fortbildung nennen kann; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s898" xml:space="preserve">denn es iſt ein Fortbilden, ein Reifen in dem Greiſenalter <lb/>vorhanden: </s>
  <s xml:id="echoid-s899" xml:space="preserve">ein Reifwerden für den Tod.</s>
  <s xml:id="echoid-s900" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s901" xml:space="preserve">Es iſt bekannt, daß der Tod durch äußere Urſachen auch <lb/>während der Kindheit und der Iugend erfolgen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s902" xml:space="preserve">Wahr-<lb/>ſcheinlich iſt alle Krankheit oder innere Mißbildung nur die <lb/>Folge äußerer Einflüſſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s903" xml:space="preserve">Selbſt wo eine Krankheit oder eine <lb/>Mißbildung bereits bei der Geburt an einem Weſen haftet, <lb/>kann man dies immer noch äußeren Einflüſſen zuſchreiben, die <lb/>bereits im Mutterleibe eingewirkt haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s904" xml:space="preserve">Sogar die Vererbung <lb/>gewiſſer Krankheiten kann als äußerlich angeſehen werden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s905" xml:space="preserve">Von dieſen Todesurſachen, die das Leben abkürzen und vor-<lb/>zeitig beenden, ſprechen wir hier nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s906" xml:space="preserve">Wir ſprechen nur von <lb/>jener Todesurſache, die naturgemäß eintritt, ſelbſt wenn wir <lb/>die Möglichkeit, jede äußere Störung des Lebens meiden zu <lb/>zu können, vorausſetzen, von jener Urſache, die uns die Über-<lb/>zeugung gewährt, daß nichts ſicherer iſt im Leben als der Tod.</s>
  <s xml:id="echoid-s907" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s908" xml:space="preserve">Dieſer Tod hat ganz unzweifelhaft ſeine innere Urſache. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s909" xml:space="preserve">Es liegt dieſes Ende des Lebens bereits im erſten Moment, <lb/>in welchem das Leben beginnt. </s>
  <s xml:id="echoid-s910" xml:space="preserve">Ein Naturgeſetz, das wir <lb/>nicht kennen, beherrſcht jeden Keim, daß er ſich unter günſtigen <lb/>Umſtänden zu einer Leibesfrucht entwickele. </s>
  <s xml:id="echoid-s911" xml:space="preserve">Dasſelbe Natur-
<pb o="64" file="0072" n="72"/>
geſetz iſt es höchſt wahrſcheinlich, welches in der entwickelten <lb/>Frucht den Lebenstrieb anfacht, im Tiere als Inſtinkt zur <lb/>Erſcheinung kommt, im Menſchengeiſt als Lebensliebe auftritt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s912" xml:space="preserve">Dasſelbe Naturgeſetz teilt auch die ganze Lebenzeit in drei <lb/>ziemlich deutliche Abteilungen und verleiht jedem dieſer Lebens-<lb/>abſchnitte ſein ganz beſtimmtes Gepräge, ſeine ganz beſtimmte <lb/>Aufgabe und bereitet ſo das Ende ſchon im erſten Anfang vor.</s>
  <s xml:id="echoid-s913" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s914" xml:space="preserve">Iugend, Reiſheit und Alter giebt ſich in der lebloſen <lb/>Natur nicht zu erkennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s915" xml:space="preserve">Wir wiſſen zwar, daß die Erde <lb/>ſelber verſchiedene Zuſtände bereits durchgemacht hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s916" xml:space="preserve">allein <lb/>nichts läßt mit Sicherheit darauf ſchließen, daß die Erde <lb/>deshalb gealtert ſei, daß ſie nicht in ewiger Entwickelung und <lb/>Veränderung ihrer Zuſtände verbleiben wird, ohne jemals ab-<lb/>zuſterben. </s>
  <s xml:id="echoid-s917" xml:space="preserve">Anders iſt es in den Weſen, die lebend auf der <lb/>Oberſtäche der Erde ihr Daſein haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s918" xml:space="preserve">Die Pflanze hat eine <lb/>Iugend, ſie hat eine Zeit der Blüte, eine Zeit der Reife ihres <lb/>Samens, eine Zeit des Abfallens, des Melkens, des Sterbens; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s919" xml:space="preserve">das Tier und ganz in gleicher Weiſe der Menſch hat ſein <lb/>Entſtehen und ſein Vergehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s920" xml:space="preserve">ja in ihrem Entſtehen zu einer <lb/>beſtimmten Zeit liegt auch das Geſetz des Vergehens in einer <lb/>beſtimmten Zeit.</s>
  <s xml:id="echoid-s921" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s922" xml:space="preserve">Die Naturwiſſenſchaft vermag es nicht anzugeben, woher <lb/>die eine Pflanze nur eine kurze, die andere eine lange Lebens-<lb/>dauer hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s923" xml:space="preserve">weshalb es Pflänzchen giebt, die im erſten warmen <lb/>Sonnenſtrahl entſtehen und inmitten des Frühlings, wo andere <lb/>Gattungen erſt zu einem langen Daſein erwachen, ſchon ver-<lb/>gehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s924" xml:space="preserve">Nur ſoviel hat die Beobachtung gelehrt, daß die <lb/>Pflanze an Kraft und Fülle zunimmt bis zu der Zeit, wo ſie <lb/>befruchtet iſt und neuen Samen für eine Nachkommenſchaft <lb/>ausſtreut, und daß ſie erſt dann verdorrt und abſtirbt, wenn <lb/>ſie durch ihr Leben das Daſein künftiger Geſchlechter ge-<lb/>ſichert hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s925" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s926" xml:space="preserve">Es iſt mit dem Tier nicht minder ſo. </s>
  <s xml:id="echoid-s927" xml:space="preserve">Die Zeit des Tier-
<pb o="65" file="0073" n="73"/>
lebens, ſo verſchieden die Dauer jeder einzelnen Gattung auch <lb/>iſt, läßt ſich in jene drei Abſchnitte einteilen, von denen der <lb/>erſte die Vorbereitung zur Fortpflanzung ſeiner Gattung, die <lb/>zweite die Zeit iſt, in welcher das Tier ſich fortpflanzt, und <lb/>die dritte, in welcher es hinwelkt, ſobald das Daſein der <lb/>künftigen Gattung geſichert iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s928" xml:space="preserve">Der größte Teil der Inſekten, <lb/>der im Frühling aus den Eiern kriecht, hat zwar nie die <lb/>Eltern geſehen, die bereits im verwichenen Herbſt geſtorben <lb/>ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s929" xml:space="preserve">und ſie legen noch im Lauf desſelben Sommers neue <lb/>Eier und ſterben ſelbſt im Herbſte, ohne die Jungen, für die <lb/>ſie gelebt, geſehen zu haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s930" xml:space="preserve">Aber doch iſt es unverkennbar, <lb/>daß ein und dasſelbe Geſetz dieſes erziehungsloſen Lebens <lb/>durch alle Geſchlechter dieſer Gattung thätig iſt, daß Entſtehen, <lb/>Wachstum, Reife, Fortpflanzung, Hinwelken und Sterben nach <lb/>denſelben Naturgeſetzen erfolgen, wenn auch Geſchöpfe ſolcher <lb/>Art nie erfahren können, daß ſie Eltern gehabt, und daß ſie <lb/>Junge zu erzeugen da ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s931" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s932" xml:space="preserve">Auch im Menſchenleben — und was dasſelbe iſt — auch <lb/>im Tode der Menſchen waltet ein gleiches Geſetz. </s>
  <s xml:id="echoid-s933" xml:space="preserve">Die Vor-<lb/>bereitung zur Fortpflanzung des Geſchlechts iſt die Iugend, in <lb/>der Zeit des Geſchlechtslebens iſt die Reife, und nach dieſer folgt <lb/>naturgemäß das Alter, das ein Heranreifen für den Tod iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s934" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s935" xml:space="preserve">Und doch iſt es mit dem Menſchen ganz eigentümlich; </s>
  <s xml:id="echoid-s936" xml:space="preserve">die <lb/>leibliche Fortpflanzung geht mit einer geiſtigen Hand in Hand <lb/>und beweiſt auch hierin, daß der Menſch ein geiſtiges Weſen <lb/>iſt und ſein Leben zugleich eine geiſtige Geſchichte in ſich birgt.</s>
  <s xml:id="echoid-s937" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div26" type="section" level="1" n="25">
<head xml:id="echoid-head29" xml:space="preserve"><emph style="bf">XX. Wie Leib und Geiſt ſtirbt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s938" xml:space="preserve">Wenn es richtig iſt, daß das Leben in Pflanze und Tier <lb/>in dem Zeitabſchnitt ſeine Hauptbeſtimmung erfüllt, wo die <lb/>Fortpflanzung ſtattfindet, wenn es wahr iſt, daß die Iugend der
<pb o="66" file="0074" n="74"/>
Pflanzen und Tiere nur eine Vorbereitung zur Reife iſt, in <lb/>welche die Befruchtungszeit fällt, daß der nachfolgende Lebens-<lb/>abſchnitt des Alters nur das langſame Vergehen des Lebens <lb/>iſt, ſobald dieſes ſeinen Zweck erfüllt hat, wenn dies richtig <lb/>iſt, ſo muß man anerkennen, daß ein Gleiches im Menſchen <lb/>ebenfalls ſtattfindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s939" xml:space="preserve">Allein es iſt ein Beweis der höheren <lb/>Natur des Menſchen, ein Beweis ſeines geiſtigen Lebens, daß <lb/>im Leben der Menſchengeſchlechter eine geiſtige Fortpflanzung <lb/>ſtattſindet, von der wir ſonſt im Tier- und Pflanzenleben nichts <lb/>vorfinden.</s>
  <s xml:id="echoid-s940" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s941" xml:space="preserve">Nicht der Leib des Menſchen allein entwickelt ſich und <lb/>zeigt ein Wachstum bis zur Reife, nicht der Leib des Menſchen <lb/>allein hält nach Entwickelung der Neife im Wachstum inne <lb/>und erfüllt ſeine Naturbeſtimmung in Fruchtbarkeit und Ver-<lb/>mehrung, ſondern auch der Geiſt zeigt dieſelben Lebensgeſetze. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s942" xml:space="preserve">Nicht bloß das leibliche Geſchlecht der Menſchen pflanzt ſich <lb/>fort, ſondern auch das geiſtige Leben iſt in einer Fortpflanzung <lb/>begriffen.</s>
  <s xml:id="echoid-s943" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s944" xml:space="preserve">Ganz wie der Körper in dem Iugendalter, welcher ge-<lb/>fügiger und empfänglicher iſt für äußere Einflüſſe und Ein-<lb/>drücke, ganz ſo iſt es mit dem Geiſte im Iugendalter der <lb/>Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s945" xml:space="preserve">— Das Kind nimmt im Mutterleibe von der Größe <lb/>eines zu Anfang kaum ſichtbaren Bläschens bis zu der Größe <lb/>des neugeborenen Kindes in ungeheurem Maße zu, ſo daß es <lb/>faſt ſieben Pfund ſchwer auf die Welt kommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s946" xml:space="preserve">In dem erſten <lb/>Jahre ſchon wird es an dreimal ſo ſchwer und wiegt an <lb/>zwanzig Pfund. </s>
  <s xml:id="echoid-s947" xml:space="preserve">Hätten wir eine Wagſchale, auf welcher man <lb/>die geiſtige Fähigkeit ebenſo wiegen könnte als die leibliche <lb/>Größe, es würde ohne Zweifel das geiſtige Wachstum des <lb/>erſten Jahres noch bedeutender in die Wagſchale fallen. </s>
  <s xml:id="echoid-s948" xml:space="preserve">Dieſes <lb/>geiſtige Wachstum iſt nur dem menſchlichen Körper eigen; </s>
  <s xml:id="echoid-s949" xml:space="preserve">das <lb/>junge Tier hat eine Portion von Fähigkeiten bei der Geburt <lb/>erhalten, die ſich weiterhin nicht oder nur wenig verſtärkt.</s>
  <s xml:id="echoid-s950" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="67" file="0075" n="75"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s951" xml:space="preserve">Während im erſten Jahre die Körperzunahme ſo ſtark iſt, <lb/>beginnt ſie ſich in den weitern Jahren der Kindheit zu <lb/>verlangſamen. </s>
  <s xml:id="echoid-s952" xml:space="preserve">Aus einem Kinde von ſieben Pfund Gewicht <lb/>iſt in einem Jahre ein Kind von einundzwanzig Pfund ge-<lb/>worden. </s>
  <s xml:id="echoid-s953" xml:space="preserve">Würde dies ſo fortgehen, ſo müßte ein Kind im <lb/>dritten Jahre wieder dreimal ſo ſchwer, alſo etwa ſechszig Pfund <lb/>an Gewicht werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s954" xml:space="preserve">Allein die Erfahrung lehrt, daß es bis <lb/>zum vierzehnten Jahre etwa dauert, bevor ein Kind ſolches <lb/>Gewicht erhält; </s>
  <s xml:id="echoid-s955" xml:space="preserve">es war alſo das Wachstum im erſten Jahre <lb/>am kräftigſten und wurde in den weiteren Jahren des Kindes-<lb/>alters ſchwächer.</s>
  <s xml:id="echoid-s956" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s957" xml:space="preserve">Jetzt jedoch während der heranwachſenden Reife und ge-<lb/>ſchlechtlichen Ausbildung des Körpers tritt wiederum ein kräftiger <lb/>Anſatz zur körperlichen Entwickelung hervor. </s>
  <s xml:id="echoid-s958" xml:space="preserve">Vom fünfzehnten <lb/>bis zum zwanzigſten Jahre hat ſich das Gewicht des Menſchen <lb/>verdoppelt, er hat in den fünf Jahren wiederum an ſechszig <lb/>Pfund zugenommen, und wiegt nun etwa 120 Pfund; </s>
  <s xml:id="echoid-s959" xml:space="preserve">es war <lb/>dieſes kräftige Wachstum der zweite Aufſchwung der leiblichen <lb/>Entwickelung. </s>
  <s xml:id="echoid-s960" xml:space="preserve">Demſelben jedoch folgt nun wiederum nur ein <lb/>ſchwächeres Wachstum; </s>
  <s xml:id="echoid-s961" xml:space="preserve">denn in den nächſten zwanzig Jahren <lb/>nimmt er im gewöhnlichen Zuſtand kaum mehr als zehn Pfund <lb/>zu, und mit dieſer Zunahme iſt das Wachstum beendet und <lb/>nimmt wahrſcheinlich ſchon die Rückbildung ihren unmerklichen <lb/>Anfang. </s>
  <s xml:id="echoid-s962" xml:space="preserve">Während der Menſch im fünfzigſten Jahre noch <lb/>etwa ſo ſchwer iſt wie im vierzigſten, zeigen doch ſchon die <lb/>Hautfalten, die bleichenden Haare, die Lückenhaftigkeit der <lb/>Zähne, die Steifheit der Glieder, daß die Fülle der Kraft im <lb/>Schwinden begriffen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s963" xml:space="preserve">In den folgenden Jahrzehnten nimmt <lb/>der Körper merklich an Gewicht ab; </s>
  <s xml:id="echoid-s964" xml:space="preserve">aber die Abnahme iſt an <lb/>ſich geringfügig: </s>
  <s xml:id="echoid-s965" xml:space="preserve">der neunzigjährige Greis iſt ungefähr noch ſo <lb/>ſchwer wie der zwanzigjährige Iüngling. </s>
  <s xml:id="echoid-s966" xml:space="preserve">Allein am Greis iſt <lb/>alle Weichheit und Fülle geſchwunden. </s>
  <s xml:id="echoid-s967" xml:space="preserve">Die Häute verdicken <lb/>ſich. </s>
  <s xml:id="echoid-s968" xml:space="preserve">Die Adern werden in ihren feinen Gezweigen unwegſam.</s>
  <s xml:id="echoid-s969" xml:space="preserve">
<pb o="68" file="0076" n="76"/>
Die Muskeln ſind ſchlaff geworden. </s>
  <s xml:id="echoid-s970" xml:space="preserve">Die Knorpel verknöchern. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s971" xml:space="preserve">Die Lager zwiſchen den Knochen verlieren ihre Fettigkeit, ſo <lb/>daß ſelbſt die Körperlänge des Greiſes abnimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s972" xml:space="preserve">Das Knochen-<lb/>gerüſte tritt aus der Umhüllung kenntlicher als ſonſt im Leben <lb/>hervor. </s>
  <s xml:id="echoid-s973" xml:space="preserve">Der Blick iſt erſtarrt, das Ohr iſt ſtumpf, das Haupt <lb/>iſt gebeugt, der Unterkiefer ſinkt unwillkürlich nieder. </s>
  <s xml:id="echoid-s974" xml:space="preserve">Der <lb/>ſeltener werdende Atem dehnt kaum mehr die eingeſunkene <lb/>Bruſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s975" xml:space="preserve">Das Blut ſtrömt ſchwach und langſam durch ſeine <lb/>Bahn, — bis die letzte Stunde naht, in welcher der Menſch <lb/>aufhört ein Bürger dieſer Welt zu ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s976" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s977" xml:space="preserve">Gleicht der Menſch in dieſem Punkte der Pflanze und dem <lb/>Tiere, ſo unterſcheidet er ſich doch darin von dieſen Weſen, <lb/>daß auch ſein Geiſt eine Lebensgeſchichte hat, eine Geſchichte <lb/>des Aufſchwunges, der Ausdehnung, der Entfaltung und des <lb/>Wachstums während der Kindheit und der Jugend. </s>
  <s xml:id="echoid-s978" xml:space="preserve">Wie der <lb/>Leib in dieſem Lebensabſchnitt mit ungemeiner Kraft ſich ſtärkt <lb/>und zunimmt, ebenſo iſt es mit dem Geiſte der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s979" xml:space="preserve">Wenn <lb/>der Leib der Jugend am lieblichſten iſt, iſt auch der Geiſt am <lb/>ſchönſten und poetiſchſten. </s>
  <s xml:id="echoid-s980" xml:space="preserve">Mit dem Mannesalter iſt die Leibes-<lb/>kraft am ſtärkſten, und ſie erfüllt ihre Beſtimmung in der Fort-<lb/>pflanzung; </s>
  <s xml:id="echoid-s981" xml:space="preserve">und ganz in gleichem Maße iſt auch die Geiſtes-<lb/>kraft hier am reichſten vorhanden, und hat das Beſtreben, <lb/>auch andere zu belehren, zu erziehen und geiſtig reifer zu <lb/>machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s982" xml:space="preserve">In der Jugend lernt der Menſch; </s>
  <s xml:id="echoid-s983" xml:space="preserve">im Mannesalter <lb/>erzieht und lehrt er. </s>
  <s xml:id="echoid-s984" xml:space="preserve">— Dies thut der Wilde ebenſo wie der <lb/>Gebildete, der Vater, die Mutter nicht minder wie der Lehrer, <lb/>die Lehrerin. </s>
  <s xml:id="echoid-s985" xml:space="preserve">— Nur ſelten iſt der fertige Mann empfänglich <lb/>für neue Lehren, die die Jugend entzücken und begeiſtern, wie <lb/>der Leib des Mannes nicht mehr fähig iſt für neue, ungewohnte <lb/>Bewegungen und Anſtrengungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s986" xml:space="preserve">— Mit dem Herannahen des <lb/>Alters endlich entfremdet ſich der Geiſt des Menſchen von dem <lb/>Geiſte der fortgeſchrittenen Zeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s987" xml:space="preserve">Er wird unfruchtbar, wie der <lb/>Leib unfruchtbar wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s988" xml:space="preserve">Er fühlt ſich bald nur noch als ein
<pb o="69" file="0077" n="77"/>
verſpäteter Gaſt im geiſtigen Kreiſe, der die junge Welt in Be-<lb/>wegung ſetzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s989" xml:space="preserve">Er paßt zur kommenden Welt nicht mehr und <lb/>verſenkt ſich gern in die Vergangenheit, wie er in der Jugend <lb/>ſich gern in die Zukunft verſenkt hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s990" xml:space="preserve">Seine Anſchauungen <lb/>werden ſtarr und verknöchern wie ſeine Knorpel. </s>
  <s xml:id="echoid-s991" xml:space="preserve">Sein Scharf-<lb/>blick wird träge wie ſein Auge, ſeine Auffaſſung ſchwer wie <lb/>ſein Ohr. </s>
  <s xml:id="echoid-s992" xml:space="preserve">Veraltete Bilder, veraltete Erinnerungen, veraltete <lb/>Ideen umſchweben ihn, bis der Geiſt ſich nach ſeiner Ruhe <lb/>ſehnt, wie der Leib.</s>
  <s xml:id="echoid-s993" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s994" xml:space="preserve">Und dies eben iſt der Vorzug des Menſchengeſchlechtes <lb/>vor allen andern Weſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s995" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s996" xml:space="preserve">Und dennoch werden wir finden, daß alles, was der <lb/>Menſchen Geiſt in immer fortſchreitender Entwickelung erfunden <lb/>und erdacht, nur Flickwerk iſt gegen das, was die Natur ſelbſt <lb/>in ihm geſchaffen und vorgebildet hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s997" xml:space="preserve">Indem wir dem Leſer <lb/>in den nachſolgenden Abſchnitten die innern Einrichtungen des <lb/>lebenden Menſchen vorführen werden, wird uns der Nachweis <lb/>leicht gelingen, daß die ſinnreichſten Erfindungen der Menſchen <lb/>weit, unendlich weit an Einfachheit und Zweckmäßigkeit von <lb/>den Anordnungen unſerer eigenen Orgaue übertroffen werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s998" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div27" type="section" level="1" n="26">
<head xml:id="echoid-head30" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXI. Wie alt eine neue Erfindung iſt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s999" xml:space="preserve">Wie jeder einzelne Menſch ſich gar zu gern bewundern <lb/>ſieht, ſo iſt es auch mit der ganzen Menſchheit der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s1000" xml:space="preserve">— <lb/>Gar zu gern hört das Menſchengeſchlecht ſeine Weisheit rühmen, <lb/>ſeine Einſicht preiſen und die Vorzüge anſtaunen, die den <lb/>Menſchen hoch über die andern Weſen der Erde erheben.</s>
  <s xml:id="echoid-s1001" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1002" xml:space="preserve">Macht man inmitten eines ſolchen Lobes den Einwand, <lb/>daß all’ dies gar herrlich, aber eigentlich doch nicht ein eigen <lb/>Verdienſt des Menſchengeſchlechts, ſondern ein Gnadengeſchenk
<pb o="70" file="0078" n="78"/>
ſei, das ihm von unbekannter Hand ſchon im Mutterleibe als <lb/>Befähigung geworden, ſo flüchtet der ſich ſelbſt bewundernde <lb/>Menſch gar zu gern in das Gebiet ſeiner reichen Erfindungen, <lb/>um darzuthun: </s>
  <s xml:id="echoid-s1003" xml:space="preserve">wie Tauſende von Geſchlechtern vor uns ge-<lb/>lebt, welche mit gleichen Befähigungen dem Mutterſchoß ent-<lb/>ſprungen, gar tief unter uns geſtanden haben, und wie es alſo <lb/>ein eignes Verdienſt der Entwickelung der Menſchheit ſein muß, <lb/>der wir unſere ſchönen Einrichtungen, unſere naturbeherrſchen-<lb/>den Erfindungen, unſere weltbezwingenden Maſchinen ver-<lb/>danken.</s>
  <s xml:id="echoid-s1004" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1005" xml:space="preserve">Haben wir aber wirklich Urſache, hierauf ſo ſtolz zu <lb/>ſein? </s>
  <s xml:id="echoid-s1006" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1007" xml:space="preserve">Nun das eben wollen wir einmal in Betracht ziehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1008" xml:space="preserve">und <lb/>zu dieſem Zweck wollen wir den Blick auf den Menſchen und <lb/>auf ſeine Erfindungen richten.</s>
  <s xml:id="echoid-s1009" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1010" xml:space="preserve">Was hat der Menſch nicht im Lauf der Zeit erfunden, <lb/>wovon die Menſchengeſchlechter vor ihm nicht die geringſte <lb/>Ahnung hatten! Wir brauchen gar nicht weit zu ſuchen, wenn <lb/>wir uns von Bewunderung wollen fortreißen laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1011" xml:space="preserve">Überall <lb/>in unſerer Umgebung iſt der Naturzuſtand bereits verſchwunden, <lb/>und alles, was wir um uns ſehen, iſt ein Werk menſchlicher <lb/>Kunſt, menſchlicher Erfindungsgabe; </s>
  <s xml:id="echoid-s1012" xml:space="preserve">ja es iſt bereits ſo weit, <lb/>daß wir in eine ferne Wildnis hinausfliehen müſſen, wenn <lb/>wir die Natur ſo erblicken wollen, wie ſie war, als der Menſch <lb/>in ſie hinein verſetzt wurde.</s>
  <s xml:id="echoid-s1013" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1014" xml:space="preserve">Wie anders aber ſieht es um unſere großen Erfindungen <lb/>aus, wenn wir uns die Dinge von einer andern Seite be-<lb/>trachten! und zu dieſem Zweck ſtellen wir die folgende Frage <lb/>auf: </s>
  <s xml:id="echoid-s1015" xml:space="preserve">Was erfindet der Menſch, und was brachte er ſchon vor <lb/>Jahrtauſenden mit zur Welt? </s>
  <s xml:id="echoid-s1016" xml:space="preserve">— Wahrlich, auf dieſe Frage <lb/>müſſen wir kleinmütig zuſammenſinken, wenn wir ſie uns ernſt-<lb/>lich beantworten wollen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1017" xml:space="preserve">denn die Antwort lehrt uns, daß wir <lb/>mit all’ unſern Erfindungen weit, weit zurückſtehen gegen den
<pb o="71" file="0079" n="79"/>
großen Schatz unübertrefflicher Erfindungen, mit welchen wir <lb/>ſchon die Welt betreten.</s>
  <s xml:id="echoid-s1018" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1019" xml:space="preserve">Als vor mehreren Jahrtauſenden ein denkender Menſch <lb/>den Blaſebalg erfunden hatte, da war er ſicherlich ſo überaus <lb/>weiſe in ſeinen Augen, daß er mit Stolz oder Mitleid auf die <lb/>ganze Menſchheit herabſah, die vor ihm gelebt hatte, und er <lb/>rief gewiß jubelnd aus: </s>
  <s xml:id="echoid-s1020" xml:space="preserve">ich habe Neues geſchaffen, Niedage-<lb/>weſenes erfunden! — Wie, wenn ihm jemand geſagt hätte: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1021" xml:space="preserve">“Thörichtes Menſchenkind, was du da erfunden haſt, kennſt du <lb/>ſelber nicht! Jahrtauſende nach dir wird die Menſchheit den <lb/>von dir erfundenen Blaſebalg benutzen, ohne zu verſtehen, <lb/>welchen Dienſt er ihr leiſtet. </s>
  <s xml:id="echoid-s1022" xml:space="preserve">Erſt ſpät, ſehr ſpät wird man <lb/>dahinter kommen, daß die Luft Sauerſtoff in ſich habe, daß <lb/>dieſer Sauerſtoff eine chemiſche Verbindung eingehe mit der <lb/>glühenden Kohle, daß dieſe chemiſche Verbindung es eben iſt, <lb/>die man Verbrennung nennt, und erſt dann, wenn die Menſch-<lb/>heit zu dieſer Entdeckung kommt, wird ſie wiſſen, was du nicht <lb/>weißt, wird ſie wiſſen, was ein Blaſebalg eigentlich bedeutet!” <lb/>— Wie, ſagen wir, wenn jemand dem Erfinder vor Jahr-<lb/>tauſenden dies hätte zurufen können, gewiß der Erfinder würde <lb/>ihn nicht verſtanden oder würde ſchmerzlich eingeſehen haben, <lb/>daß das, was er ein neues nennt, erſt ſehr, ſehr alt werden <lb/>muß, um eine wirkliche verſtandene Erfindung genannt werden <lb/>zu können.</s>
  <s xml:id="echoid-s1023" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1024" xml:space="preserve">Wie aber gar, wenn jemand dem Erfinder einen Blick <lb/>in die ihm ſehr fern liegende Zukunft hätte öffnen können, <lb/>und hätte ihm zu zeigen vermocht, daß nach der Entdeckung <lb/>des Sauerſtoffs noch ein halbes Jahrhundert vergehen wird, <lb/>bis ein Naturforſcher dahinter kommt, zu zeigen, daß jeder <lb/>Menſch einen Blaſebalg mit auf die Welt bringt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1025" xml:space="preserve">daß die <lb/>Lungen, wenn ſie Atem ſchöpfen, nichts anderes thun, als daß <lb/>ſie eine Verbrennung der Kohle des Blutes bewirken, daß ſie <lb/>alſo den Dienſt eines Blaſebalges in nie geahntem, ausgezeich-
<pb o="72" file="0080" n="80"/>
netſten Maße verſehen, — wahrlich, es würde ſich jener Er-<lb/>finder haben ſagen müſſen: </s>
  <s xml:id="echoid-s1026" xml:space="preserve">Nein! ich habe nicht neues er-<lb/>funden, ich habe nur ohne Einſicht in den wahren Zuſammen-<lb/>hang ein äußerſt kleines, unbedeutendes Teilchen einer merk-<lb/>würdigen Maſchinerie hergeſtellt, mit der ich, ohne es zu wiſſen, <lb/>ſchon in die Welt gekommen bin! einer Maſchinerie, ohne die <lb/>ich nicht einen Augenblick zu leben vermocht hätte, eine Ma-<lb/>ſchinerie, die alt, ſehr alt iſt!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1027" xml:space="preserve">Und hätte nur dieſer unbekannte Erfinder, der vor Jahr-<lb/>tauſenden gelebt hat, Urſache alſo zu ſprechen? </s>
  <s xml:id="echoid-s1028" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1029" xml:space="preserve">Wir ſagen: </s>
  <s xml:id="echoid-s1030" xml:space="preserve">Nein! Wir behaupten, daß die erſindungs-<lb/>ſtolze Menſchheit vielleicht noch nicht eine einzige Erfindung <lb/>gemacht hat, von der nicht nachgewieſen werden kann, daß ſie <lb/>in weit vorzüglicherem, unvergleichlich vollendeteren Maße <lb/>ſchon mit dem erſten Weſen auf die Welt gekommen iſt, als <lb/>es lebend das Licht der Welt erblickt hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s1031" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1032" xml:space="preserve">Ein Blaſebalg iſt eine ſehr unbedeutende Erfindung, zumal <lb/>jetzt, wo man vortreffliche rotierende Gebläſe eingerichtet hat. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1033" xml:space="preserve">Eine menſchliche Lunge aber iſt, wie die Wiſſenſchaft der neueſten <lb/>Zeit erſt gelehrt hat, mehr, weit mehr noch als ein Gebläſe, <lb/>ſie iſt zugleich ein Heiz-Apparat, ein Filtrier-Apparat und eine <lb/>chemiſche Fabrik und iſt, wie wir ſehen werden, ſo merkwürdig <lb/>gebaut, daß man durch Rechnung Folgendes feſtſtellen kann:</s>
  <s xml:id="echoid-s1034" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1035" xml:space="preserve">Wenn ein vorzüglicher Mechaniker durch eine von ihm <lb/>aufzuſtellende Maſchinerie all’ diejenigen Summen von ver-<lb/>ſchiedenen Arbeiten verrichten laſſen ſoll, die eine Lunge während <lb/>der Lebensdauer eines Menſchen verrichtet, ſo wird er mindeſtens <lb/>einen Raum gebrauchen, in welchem zur Not drei Familien <lb/>leben können, dabei wird er Keſſel, Räder, Stangen, Hebel, <lb/>Zangen, Schrauben, Zapfen, Kurbeln, Riemen und Nägel ge-<lb/>brauchen, mit denen man eine kleine Welt zertrümmern kann, <lb/>und zu all’ dem wird er einen Maſchinenmeiſter noch hinſtellen <lb/>müſſen, der die Maſchinerie in Gang erhält.</s>
  <s xml:id="echoid-s1036" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="73" file="0081" n="81"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1037" xml:space="preserve">Die Lunge dagegen, die all’ das gewiß vorzüglich arbeitet, <lb/>hat Platz in einem Raum, den man mit zwei Händen bedeckt, <lb/>hat nicht ein einziges Rädchen, ja nicht einmal ein Nägelchen <lb/>von einer Maſchine und iſt ſo fleißig ohne ſichtbaren Ma-<lb/>ſchinenmeiſter, daß ſie ſogar fortarbeitet, wenn wir uns <lb/>aufs Ohr legen und im Schlafe Gott und die Welt vergeſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1038" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1039" xml:space="preserve">Doch — das iſt alles unbedeutend, wenn wir weiter <lb/>darüber nachdenken, was der Menſch erfindet, und was er mit <lb/>zur Welt bringt!</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div28" type="section" level="1" n="27">
<head xml:id="echoid-head31" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXII. Wie wenig das Herz die Wahrheit ahut,</emph> <lb/><emph style="bf">und wie blind man mit ſehendem Auge iſt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1040" xml:space="preserve">Zu den alten Erfindungen der Menſchen gehört auch die <lb/>Pumpe, die wie unſere Straßen-Brunnen Waſſer aus der Tiefe <lb/>auſſaugen, und es durch eine Öffnung in einem aufſteigenden <lb/>Rohr ausfließen laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1041" xml:space="preserve">Man nennt dieſe: </s>
  <s xml:id="echoid-s1042" xml:space="preserve">Saug-Pumpen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1043" xml:space="preserve">Weit ſpäter erſt wurde die Druck-Pumpe erfunden, die in viel-<lb/>fach verbeſſerter Form jetzt als Feuerſpritze bekannt iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1044" xml:space="preserve">allein <lb/>ſie iſt immer noch nicht ſo vollendet, daß man ſie für unver-<lb/>beſſerlich halten darf, und fortwährend kann man die geiſt-<lb/>vollſten Mechaniker und Maſchinenbauer mit der Aufgabe be-<lb/>ſchäftigt finden, neue und verbeſſerte Saug- und Druck-Pumpen <lb/>herzuſtellen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1045" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1046" xml:space="preserve">Da ſich ſchon die griechiſchen Naturforſcher mit Erfindungen <lb/>dieſer Art viel abgegeben haben, ſo kann man wohl ohne <lb/>Übertreibung ſagen, daß das Menſchengeſchlecht ſchon drei <lb/>Jahrtauſende über die Verbeſſerung dieſer ſehr nützlichen In-<lb/>ſtrumente nachdenkt, und ſicherlich iſt jeder Fortſchritt darin <lb/>mit großem Jubel als etwas Neues aufgenommen worden, <lb/>das dem Erfindungsgeiſt der Menſchen unendliche Ehre macht.</s>
  <s xml:id="echoid-s1047" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="74" file="0082" n="82"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1048" xml:space="preserve">Wie aber, wenn man jetzt weiß, daß ſchon der erſte <lb/>Menſch, der auf Erden lebte, eine Druckpumpe von unüber-<lb/>trefflicher Meiſterhaftigkeit mit ſich herumtrug? </s>
  <s xml:id="echoid-s1049" xml:space="preserve">Wie, wenn <lb/>wir bedenken, daß das Herz ein herrliches Pumpwerk iſt, das <lb/>unermüdlich ſchon im Mutterleibe den weſentlichſten Teil ſeiner <lb/>Arbeit beginnt, das mit einer wichtigen Abänderung im Mo-<lb/>ment der Geburt ſeine Arbeit fortſetzt, und unausgeſetzt ſaugt <lb/>und drückt, bis der Menſch im hohen Alter am Ende ſeines <lb/>Erdenlebens anlangt!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1050" xml:space="preserve">So alt das Menſchengeſchlecht auf Erden iſt, — und dies <lb/>Alter iſt ſehr bedeutend, — ſo lange ſchon trägt jeder Menſch <lb/>einen der herrlichſten Apparate mit ſich in der Bruſt herum, <lb/>und doch hob ſich dieſe Bruſt ſo ſtolz, als der Kopf auch nur <lb/>den geringfügigſten Teil dieſes Apparates herzuſtellen und als <lb/>neue Erfindung auszugeben vermochte! — In jedem erwachſenen <lb/>Menſchen werden circa dreißig Pfund Blut etwa 500 mal in <lb/>einem Tage vom Herzen aufgenommen und mit einer kräftigen <lb/>Druckbewegung durch ein unendlich verzweigtes Röhrenſyſtem, <lb/>das man Adern nennt, getrieben. </s>
  <s xml:id="echoid-s1051" xml:space="preserve">Was iſt alle künſtliche <lb/>Waſſerleitung gegen dieſen feinen Mechanismus, der das Blut <lb/>durch Wege hindurchzwängt, die ſo zart ſind, daß man die <lb/>Röhrchen nicht einmal mit dem Auge mehr ſehen kann! An <lb/>ſiebzig bis achtzigmal iſt das Herz in jeder Minute des Lebens <lb/>mit dieſer Arbeit beſchäftigt, und verſetzt dem Menſchen von <lb/>innen ebenſo oft einen ſanften Rippenſtoß, als wollte es ihn <lb/>aufmerkſam machen auf ſeine Wirkſamkeit und ihn auffordern, <lb/>darüber nachzuſinnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1052" xml:space="preserve">— Wie lange aber hat es gedauert, <lb/>ehe der Menſch, der alles erfindende Menſch, auf die Ahnung <lb/>kam, was das Herz iſt, das er im Leibe trägt?</s>
  <s xml:id="echoid-s1053" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1054" xml:space="preserve">Die Antwort hierauf iſt wirklich ſehr beſchämend!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1055" xml:space="preserve">Von den dunkeln Zeiten vor Erfindung der Pump-Werke <lb/>wollen wir gar nicht ſprechen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1056" xml:space="preserve">aber in den drei Jahrtauſenden, <lb/>die ſeit dieſer Erfindung etwa verfloſſen, in dieſen Zeiten, ſollte
<pb o="75" file="0083" n="83"/>
man meinen, hätte jeder Pulsſchlag den Menſchen lehren müſſen, <lb/>welch’ eine bekannte Maſchine er mit ſich herumträgt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1057" xml:space="preserve">Allein dem <lb/>war leider nicht im mindeſten ſo. </s>
  <s xml:id="echoid-s1058" xml:space="preserve">Erſt im Jahre 1619 hat ein <lb/>engliſcher Arzt und ſinniger Naturforſcher <emph style="sp">William Harvey</emph> <lb/>(1578—1657) die Thätigkeit des Herzens und die Bewegung des <lb/>Blutes richtig erkannt, ſo daß es demnach mehr als zwei Jahr-<lb/>tauſende nach Erfindung der Pump-Werke gedauert hatte, bis <lb/>ein ausgezeichneter Menſch auf ſolche Gedanken kam. </s>
  <s xml:id="echoid-s1059" xml:space="preserve">— Das <lb/>iſt wahrlich ſchon ſehr demütigend! — Wie aber nahmen ſeine <lb/>Zeitgenoſſen und ſeine Mitgelehrten dieſe Wahrheit auf? </s>
  <s xml:id="echoid-s1060" xml:space="preserve">— Es <lb/>iſt noch demütigender, es zu erzählen, daß Harvey mit Schimpf <lb/>und Spott verfolgt wurde, daß ſeine Kollegen ihn anfeindeten <lb/>und die Patienten ſich von ihm, als einem Barbaren, der <lb/>das Herz wie eine Pumpe behandelt wiſſen wolle, zurückzogen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1061" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1062" xml:space="preserve">Zum Glück nahm ſich’s Harvey nicht ſehr zu Herzen, <lb/>denn er erreichte ein hohes Alter, und hatte die Freude, daß <lb/>er als Greis die Auerkennung fand, die man dem verdienſt-<lb/>vollen Manne verſagte.</s>
  <s xml:id="echoid-s1063" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1064" xml:space="preserve">Wir werden dieſe vortreffliche Maſchinerie unſern Leſern <lb/>noch näher vorführen und wollen hier nur vorübergehend <lb/>bemerken, daß die wundervollſte Einrichtung derſelben vor-<lb/>nehmlich in den Ventilen beſteht, die für ihren Zweck nicht <lb/>vorzüglicher ausgeſonnen werden können; </s>
  <s xml:id="echoid-s1065" xml:space="preserve">wir erwähnen dies <lb/>nur, weil gute Ventile zu denjenigen Maſchinenteilen gehören, <lb/>die noch gegenwärtig jedem ſinnenden Mechaniker als eine <lb/>wichtige Aufgabe gelten.</s>
  <s xml:id="echoid-s1066" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1067" xml:space="preserve">Vielleicht macht man uns den Einwand, daß Lunge und <lb/>Herz von der Bruſthöhle eingeſchloſſen, alſo der Wahrnehmung <lb/>der Menſchen zu ſehr verborgen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s1068" xml:space="preserve">Lunge und Herz kann <lb/>man nur an Leichen offen darlegen, und alſo nur ſehen, wenn <lb/>ſie nicht mehr wirkſam ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s1069" xml:space="preserve">Lunge und Herz ſind auch in <lb/>ihrer Thätigkeit unabhängig von unſerm Willen und Wiſſen, <lb/>und deshalb gerade käme es, daß ſie ſich der Kenntnis der
<pb o="76" file="0084" n="84"/>
Menſchen entzogen haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s1070" xml:space="preserve">Lägen ſie offen im Leben dar, <lb/>würde man Gelegenheit gehabt haben, ihre Geſchäftigkeit zu <lb/>beobachten, ſo wären die klugen Menſchen gewiß weit, weit <lb/>früher hinter all’ dieſe ſinnreichen Mechanismen gekommen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1071" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1072" xml:space="preserve">Leider jedoch können wir dieſe beſchönigende Ausrede nicht <lb/>gelten laſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1073" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1074" xml:space="preserve">Was liegt in ſeiner Wirkſamkeit offener als das menſchliche <lb/>Auge? </s>
  <s xml:id="echoid-s1075" xml:space="preserve">Merkt nicht jedes Kind, daß man mit dem Auge <lb/>ſieht? </s>
  <s xml:id="echoid-s1076" xml:space="preserve">Bietet nicht jedes Tier, das man ſchlachtet und zer-<lb/>ſtückelt, um den leiblichen Hunger zu ſtillen, die leichteſte Ge-<lb/>legenheit, ein Auge näher zu unterſuchen und den geiſtigen <lb/>Hunger zu ſtillen? </s>
  <s xml:id="echoid-s1077" xml:space="preserve">— Und doch dauerte es Tauſende und aber <lb/>Tauſende von Jahren, bevor der erfindungsreiche Menſch <lb/>dahinter kam, was das Licht im Auge für eine Rolle ſpiele!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1078" xml:space="preserve">Und wie kam er dahinter?</s>
  <s xml:id="echoid-s1079" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1080" xml:space="preserve">Wiederum durch eine neue, nagelneue Erfindung, die vor <lb/>dreihundert Jahren (1558) ein Italiener Namens <emph style="sp">Porta</emph> machte. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1081" xml:space="preserve">und die man “eine dunkele Kammer” oder “Camera obſcura” <lb/>nennt, das Ding, vor das man ſich jetzt hinſetzt, wenn man <lb/>ſich photographieren laſſen will. </s>
  <s xml:id="echoid-s1082" xml:space="preserve">Als Porta das erfunden und <lb/>die überraſchenden Erſcheinungen ſah, die es darbietet, war er <lb/>gewiß außer ſich vor Erfindungsſtolz und mochte ausgerufen <lb/>haben: </s>
  <s xml:id="echoid-s1083" xml:space="preserve">Wo im Himmel und auf Erden iſt jemand, der der-<lb/>gleichen aufweiſen kann!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1084" xml:space="preserve">Armer Porta! Wo iſt jemand, der nicht dergleichen ſchon <lb/>vom Mutterleibe aus hat! Hundert Jahre nach Porta wußte <lb/>man erſt, daß die optiſche Einrichtung des Auges ganz und <lb/>gar die einer Camera obſcura iſt! — Hatten die Menſchen <lb/>vor Porta’s Erfindung keine Augen? </s>
  <s xml:id="echoid-s1085" xml:space="preserve">— Sie hatten ſie wie <lb/>wir; </s>
  <s xml:id="echoid-s1086" xml:space="preserve">aber leider muß man von den erfindungsſtolzen Menſchen <lb/>ſagen: </s>
  <s xml:id="echoid-s1087" xml:space="preserve">ſie haben Augen, und — ſie ſehen nicht!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1088" xml:space="preserve">Doch — wir müſſen noch ein paar Schritte weiter gehen, um <lb/>das, was wir eigentlich wollen, noch deutlicher ſagen zu können.</s>
  <s xml:id="echoid-s1089" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="77" file="0085" n="85"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div29" type="section" level="1" n="28">
<head xml:id="echoid-head32" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXIII. Die Kunſtſtücke der Hände, der Füße</emph> <lb/><emph style="bf">und der Nerven.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1090" xml:space="preserve">In unſern Zeiten, wo Hunderttauſende von Menſchen, die <lb/>als Fabrikarbeiter leben, eigentlich als nichts betrachtet werden <lb/>wie als Diener der Maſchine, die unermüdlich ein gewiſſes <lb/>Fabrikat ſchafft, in unſern Zeiten, wo man Maſchinen nach <lb/>Pferdekräften und Pferdekräfte nach dem Preis abſchätzt, um <lb/>wie vielmal ſie billiger ſind als Menſchenkräfte; </s>
  <s xml:id="echoid-s1091" xml:space="preserve">in ſolchen <lb/>Zeiten nimmt es uns nicht Wunder, daß man die Maſchine <lb/>höher hält als den Menſchen und es oft vergißt, daß die <lb/>Maſchine nur ein Werk des Menſchen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1092" xml:space="preserve">— Aber ein wenig <lb/>ernſteres Nachdenken über den mechaniſchen Wert der wert-<lb/>vollſten Maſchine verglichen mit der mechaniſchen Fertigkeit der <lb/>unbeholfenſten Menſchenhand lehrt hinreichend, daß die vor-<lb/>züglichſte Maſchine doch nur ein Stümperwerk iſt und die <lb/>unfertigſte Menſchenhand alle kunſtvollſten Erfindungen über-<lb/>ragt, die man gegenwärtig als den Stolz der Menſchheit be-<lb/>trachtet.</s>
  <s xml:id="echoid-s1093" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1094" xml:space="preserve">Es iſt wahr, eine Maſchine arbeitet oft mit fünfhundert <lb/>Menſchen um die Wette. </s>
  <s xml:id="echoid-s1095" xml:space="preserve">Eine Maſchine ſtrickt, webt, druckt, <lb/>preßt, hämmert, bohrt, hobelt, feilt, ſchleift, ſägt, mahlt, drechſelt <lb/>und verrichtet wer weiß was für Arbeiten mit einer Pünkt-<lb/>lichkeit, einer Schnelligkeit, einer Genauigkeit, wie es die <lb/>Menſchenhand zu machen ermüdet; </s>
  <s xml:id="echoid-s1096" xml:space="preserve">aber giebt es einen <lb/>Mechaniker, der ſchon eine Maſchine aufgeſtellt hat, welche auch <lb/>nur zu zwei von den verſchiedenen genannten Arbeiten tauglich <lb/>iſt? </s>
  <s xml:id="echoid-s1097" xml:space="preserve">Kann man mit einer Strickmaſchine weben? </s>
  <s xml:id="echoid-s1098" xml:space="preserve">mit einer <lb/>Webemaſchine drucken? </s>
  <s xml:id="echoid-s1099" xml:space="preserve">mit einer Druckmaſchine hämmern? </s>
  <s xml:id="echoid-s1100" xml:space="preserve">mit <lb/>einer Hämmermaſchine bohren? </s>
  <s xml:id="echoid-s1101" xml:space="preserve">mit einer Bohrmaſchine <lb/>hobeln? </s>
  <s xml:id="echoid-s1102" xml:space="preserve">Keineswegs! — Welch’ eine wundervolle Maſchine <lb/>iſt dagegen eine Menſchenhand, die, wenn man ſie nur dazu
<pb o="78" file="0086" n="86"/>
dirigiert, all’ das und noch viel mehr macht, und abwechſelnd <lb/>macht, und doch bei all’ dem ein Werkzeug iſt am lebenden <lb/>Leibe, welches eigentlich auch ſeinen Wert nicht einbüßt, wenn <lb/>es ruht!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1103" xml:space="preserve">Zwei Kinder-Händchen mit vier Stricknadeln bringen <lb/>einen Strumpf zu ſtande. </s>
  <s xml:id="echoid-s1104" xml:space="preserve">Nun aber halte man einmal dieſe <lb/>zarten Kinder-Händchen gegen eine Strickmaſchine und frage <lb/>ſich, welcher Mechanismus vorzüglicher iſt? </s>
  <s xml:id="echoid-s1105" xml:space="preserve">Liegt ſchon die <lb/>Vorzüglichkeit der Kinder-Händchen darin, daß ſie an tauſend-<lb/>mal kleiner ſind als ſolche Maſchine, daß ſie keine Spur von <lb/>Rädern und Tritt-Kurbeln und Stangen und Schrauben und <lb/>Riemen und Hebeln und dergleichen eiſernen und meſſingenen <lb/>Gliedmaßen an ſich haben, die größer ſind als zwei Kinder <lb/>ganz und gar, liegt ſchon darin die Vorzüglichkeit einer Hand, <lb/>ſo übertriſſt ſie noch alle Maſchinen der Welt ohne Ausnahme <lb/>dadurch, daß die Menſchenhand zu allem in der Welt zu ge-<lb/>brauchen iſt, eine Maſchine aber ausſchließlich nur zu dem einen <lb/>einzigen Werk, zu welchem man ſie urſprünglich eingerichtet <lb/>hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s1106" xml:space="preserve">Die Menſchenhand iſt nicht ſo ſtark wie die Maſchine, <lb/>iſt nicht ſo ſchnell, iſt nicht ſo ſicher, iſt nicht ſo pünktlich, nicht <lb/>ſo unermüdlich, nicht ſo leicht zu reparieren wie die Maſchine; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1107" xml:space="preserve">will man nur Ein Werk, ein beſtimmtes Werk verrichtet haben, <lb/>nun ſo muß man der Maſchine den Vorzug geben; </s>
  <s xml:id="echoid-s1108" xml:space="preserve">will man <lb/>aber den Wert des Mechanismus abſchätzen, ſo muß man <lb/>ſagen, daß die ungeübteſte Menſchenhand zehntauſendmal <lb/>mehr mechaniſchen Wert beſitzt, als die künſtlichſte aller <lb/>Maſchinen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1109" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1110" xml:space="preserve">Wir wollen den Mechanismus der Menſchenhand einmal <lb/>gelegentlich unſern Leſern noch näher vorführen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1111" xml:space="preserve">für jetzt <lb/>jedoch iſt es Zeit, daß wir zwei gewaltigen Einwendungen be-<lb/>gegnen, die ſicherlich ſchon einem großen Teil unſerer Leſer <lb/>auf der Zunge ſchweben. </s>
  <s xml:id="echoid-s1112" xml:space="preserve">Dieſe Einwendungen ſind mit zwei <lb/>Worten ausgeſprochen, die in der That gewichtvoll in die
<pb o="79" file="0087" n="87"/>
Wage unſerer Zeit und Verhältniſſe fallen, mit den zwei <lb/>Worten: </s>
  <s xml:id="echoid-s1113" xml:space="preserve">Eiſenbahnen! Telegraphen!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1114" xml:space="preserve">Wir aber entgegnen Folgendes:</s>
  <s xml:id="echoid-s1115" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1116" xml:space="preserve">Wer uns für Verächter der menſchlichen Erfindungen hält, <lb/>iſt ſicherlich im ſchwerſten Irrtum. </s>
  <s xml:id="echoid-s1117" xml:space="preserve">Wir ſind wahrlich nach <lb/>Kräften bemüht, die Kenntnis der Naturzuſtände dem Volke <lb/>zu erleichtern, und zwar deshalb zu erleichtern, weil wir es <lb/>unſererſeits der Menſchenwürde angemeſſen halten, ſich zum <lb/>Herrn der Natur emporzuſchwingen, und weil wir andererſeits <lb/>die Zeit nahen fühlen, wo die Naturwiſſenſchaft ein unum-<lb/>gängliches Mittel zum leiblichen Wohl des Volkes iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1118" xml:space="preserve">— Aber <lb/>die menſchlichen Erfindungen der jetzigen Zeit ſo ganz und gar <lb/>über alles zu erheben, was wir in und an uns haben, das <lb/>können wir ſchon darum nicht, weil wir die tief innerſte Über-<lb/>zeugung in uns tragen, daß noch das jetzt lebende Geſchlecht <lb/>viel weiter wird fortſchreiten in den kommenden Zeiten als wir <lb/>ſelbſt in den jüngſten Zeiten der Vergangenheit, und daß <lb/>unſere Kinder uns belächeln werden, wie wir noch immer voll <lb/>ſind von den Wundern der Eiſenbahn und der Telegraphen, <lb/>wie wir die Väter belächeln, daß ſie ihrer Zeit die Chauſſee <lb/>als ein Wunder uud die optiſchen Telegraphen als eine un-<lb/>übertreffliche Erfindung anſtaunten.</s>
  <s xml:id="echoid-s1119" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1120" xml:space="preserve">Aber, wird man uns einwenden, die Lokomotive, der <lb/>Telegraph, ſind ſie nicht neu, ſind dies nicht ganz eigene <lb/>Schöpfungen des Menſchengeiſtes?</s>
  <s xml:id="echoid-s1121" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1122" xml:space="preserve">Nun, man halte uns nicht ſür griesgrämlich, wenn wir <lb/>auch hierauf mit nein! antworten.</s>
  <s xml:id="echoid-s1123" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1124" xml:space="preserve">So lange man einer Lokomotive nicht einen Mechanismus <lb/>giebt, durch den man ſie mindeſtens ebenſo eine Treppe hinauf <lb/>dirigieren kann, wie ein vierjähriges Kind ſeine Beinchen, ſo <lb/>lange wird man uns geſtatten müſſen zu ſagen, daß die zwei <lb/>Stangen, welche der Menſch mit auf die Welt bringt, und die <lb/>man die Beine nennt, eine Lokomotive der vorzüglichſten Art
<pb o="80" file="0088" n="88"/>
ſind, ſo vorzüglich, daß es ſich lohnt, ſie etwas näher kennen <lb/>zu lernen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1125" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1126" xml:space="preserve">Die Telegraphen aber; </s>
  <s xml:id="echoid-s1127" xml:space="preserve">ja, das iſt eigentlich das Komiſche <lb/>an unſerm Thema! Die Telegraphen, dieſe neueſte, allerneueſte <lb/>Erfindung — es iſt zum Erſchrecken, wie alt ſie iſt! denn die <lb/>neueſten Forſchungen über die Wirkſamkeit der Nerven im <lb/>menſchlichen Körper laufen, wie wir früher ſahen, einſtimmig <lb/>darauf hinaus, daß ſie wie elektriſche Telegraphendrähte ſind, <lb/>und ſchon in alten, alten, ſehr alten Zeiten ihre Depeſchen <lb/>nach dem Gehirn des erſten Menſchen brachten, deſſen Ur-Ur-<lb/>Ur-Nachkommen nach wer weiß wie viel Tauſenden von Jahren <lb/>jetzt erſt dahinter kommen, ſie neu zu erfinden!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1128" xml:space="preserve">Darum eben meinen wir, iſt es gut, daß wir, ſoweit es <lb/>eben geht, den Menſchen kennen lernen, wie er iſt, und in <lb/>möglichſt beſcheidener Erwartung anſehen — was er erfindet.</s>
  <s xml:id="echoid-s1129" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1130" xml:space="preserve">Und nun — zur Sache.</s>
  <s xml:id="echoid-s1131" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div30" type="section" level="1" n="29">
<head xml:id="echoid-head33" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXIV. Zur Vermeidung von Mißverſtändniſſen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1132" xml:space="preserve">Indem wir nunmehr zur Betrachtung einzelner Organe <lb/>im menſchlichen Körper kommen, um einen Vergleich derſelben <lb/>mit einzelnen Erfindungen anzuſtellen, welche auf gleichem <lb/>Prinzip gebaut ſind, müſſen wir eine weſentliche Bemerkung <lb/>vorausſchicken, die viel dazu beitragen wird, daß man uns <lb/>nicht mißverſtehe.</s>
  <s xml:id="echoid-s1133" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1134" xml:space="preserve">Wir ſind weit davon entfernt, eine Vergleichung anzu-<lb/>ſtellen zwiſchen wirklichen Produkten lebender Weſen und den <lb/>Produkten toter Maſchinen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1135" xml:space="preserve">Wollten wir dies, ſo wäre es <lb/>ſehr leicht zu zeigen, wie von lebenden Weſen, mögen ſie ein <lb/>Pflanzen- oder Tierleben beſitzen, weit künſtlichere Produkte
<pb o="81" file="0089" n="89"/>
hergeſtellt werden als von toten Maſchinen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1136" xml:space="preserve">Die künſtlichſte <lb/>chemiſche Fabrik kann nicht eine Kartoffel machen, wenn man <lb/>ihr auch die einzelnen Stoffe dazu giebt, während jeder Kar-<lb/>toffelkeim dies Kunſtſtück verſteht, den man dem Erdboden <lb/>anvertraut und ihn der Einwirkung des Waſſers, des Lichtes <lb/>und der Wärme überläßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1137" xml:space="preserve">Es kommt uns noch weniger in den <lb/>Sinn, von einer noch ſo künſtlichen, toten Maſchine zu ver-<lb/>langen, daß ſie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s1138" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s1139" xml:space="preserve">Milch erzeuge, ein Kunſtſtück, das be-<lb/>kanntlich jede Mutterbruſt wie jedes Euter eines weiblichen <lb/>Säugetiers vortrefflich zu produzieren verſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1140" xml:space="preserve">Ein Verlangen <lb/>der Art wäre müßig und thöricht und wäre nicht geſcheiter, wie <lb/>wenn wir verlangten, daß ein Kaninchen einen Häring ge-<lb/>bären ſolle.</s>
  <s xml:id="echoid-s1141" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1142" xml:space="preserve">Was wir aber vergleichend neben einander ſtellen wollen, <lb/>iſt ganz etwas Anderes. </s>
  <s xml:id="echoid-s1143" xml:space="preserve">Wir ſtellen nur ſolche Teile der <lb/>menſchlichen Maſchinerie mit Maſchinen menſchlicher Erfindung <lb/>zuſammen, die beide gleiche Produkte zu Wege bringen oder <lb/>wenigſtens zu Wege bringen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s1144" xml:space="preserve">Wir ſtellen die Lunge <lb/>und den Blaſebalg zum gegenſeitigen Vergleich miteinander <lb/>hin. </s>
  <s xml:id="echoid-s1145" xml:space="preserve">Was die Lunge thut, kann oder könnte wenigſtens auch <lb/>ein künſtlicher Blaſebalg thun, und wir betrachten ſie beider-<lb/>ſeits, damit man den mechaniſchen, vorteilhaften Bau vergleiche. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1146" xml:space="preserve">Wir ſehen hierbei ganz davon ab, daß die Lunge zu ihrer <lb/>Thätigkeit von andern Kräften angetrieben wird, als irgend <lb/>ein künſtliches Gebläſe, daß die Lunge durch einen lebendigen <lb/>Mechanismus, ein Gebläſe dagegen durch einen Menſchenfuß, <lb/>eine Hand, eine Windmühle, ein Waſſerrad, ein Pferd oder <lb/>durch Dampf in Betrieb geſetzt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s1147" xml:space="preserve">Es ſoll uns gleich ſein, <lb/>was die betrachtete Maſchine in Gang bringt, denn wir wollen <lb/>nicht die Betriebskraft, ſondern die Einrichtung, den Bau und <lb/>die daraus folgende Fähigkeit der Maſchine zu ihrer Leiſtung <lb/>betrachten.</s>
  <s xml:id="echoid-s1148" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1149" xml:space="preserve">In gleichem Sinne werden wir das Herz mit einer Druck-
<pb o="82" file="0090" n="90"/>
pumpe vergleichen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1150" xml:space="preserve">Wir wiſſen ſehr wohl, daß manches zarte <lb/>Herz bei dieſem Vergleich ſchaudern und ſich ſträuben wird, <lb/>auch nur einen Augenblick anzunehmen, daß man ſtatt eines <lb/>Herzens eine vortreffliche Feuerſpritze zwiſchen den Rippen <lb/>haben könnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s1151" xml:space="preserve">Wir legen in der That zu viel Wert auf das, <lb/>was man ein edles Herz nennt, um nicht zu wiſſen, daß es <lb/>eine Beleidigung wäre, wollte man es ſelbſt als alleredelſte <lb/>Pumpe anſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1152" xml:space="preserve">Was ein Menſchenherz erregt und lebhafter <lb/>bewegt, iſt auch in unſern Augen zu zarter Natur, um es bloß <lb/>nach Pferdekräften zu meſſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1153" xml:space="preserve">obgleich es wirklich und wahr-<lb/>haftig Inſtrumente giebt, mit welchen man, wie wir ſehen <lb/>werden, genau meſſen kann, wie kräftig die Blutwelle iſt, welche <lb/>durch den Druck des Herzens erregt wird, und es infolgedeſſen <lb/>von ſehr großem wiſſenſchaftlichen Wert geweſen iſt, die Ge-<lb/>ſamtkraft des Herzens nach ſehr üblicher, aber auch ſehr un-<lb/>zarter Schätzungsmethode: </s>
  <s xml:id="echoid-s1154" xml:space="preserve">nach Pferdekraft abzumeſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1155" xml:space="preserve">Eine <lb/>Welt, in welcher man das ganze Leben ſoweit als bloße Me-<lb/>chanik anſehen wollte, daß man einen ſolchen Blutwellen-<lb/>Meſſer an alle Gefühle und Empfindungen anlegen möchte, die <lb/>als Liebe oder Haß, als Jubel oder Schmerz ein Menſchen-<lb/>herz hoch aufſchlagen laſſen, wäre auch uns ein Greuel, und <lb/>des Lebens innerſte Geheimniſſe ſind auch für uns, ſelbſt im <lb/>Augenblick unſerer naturwiſſenſchaftlichen Beſchäftigungen, die <lb/>tiefſten und innigſten Lebensbeziehungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1156" xml:space="preserve">Gleichwohl jedoch wird <lb/>es ſelbſt das liebevollſte Frauenherz eingeſtehen müſſen, daß der <lb/>Arzt, wenn er in wärmſter Teilnahme nach dem Pulſe greift und <lb/>deſſen Schläge zählt und deſſen Fülle durch leiſen Druck probiert, <lb/>am Ende doch nichts anderes thut, wie ſolch’ ein Blutwell-<lb/>Meſſer, der ſo roh die Stärke der innerſten Maſchinerie abmißt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1157" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1158" xml:space="preserve">In Behandlung unſeres Themas indeſſen wollen wir gern <lb/>noch zarter als der zärtlichſte Damenarzt ſein, und wenn wir <lb/>trotzdem das Herz neben eine Druckpumpe ſtellen, wollen wir <lb/>damit nur Folgendes ausdrücken und darthun.</s>
  <s xml:id="echoid-s1159" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="83" file="0091" n="91"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1160" xml:space="preserve">Geſetzt, wir laſſen das, was ein Menſchenherz regt und <lb/>bewegt, einmal ganz unbetrachtet und halten uns nur an die <lb/>Arbeit, die es verrichtet und an die Vorteilhaftigkeit ſeines <lb/>Baues, an die Zweckmäßigkeit ſeiner mechaniſchen Einrichtung, <lb/>ſo finden wir an demſelben nicht nur die vollſte Ähnlichkeit, <lb/>ſondern die abſolute Gleichheit mit einer künſtlichen Druck-<lb/>pumpe, und von dieſem Geſichtspunkte aus wollen wir den <lb/>Bau und die mechaniſche Vorrichtung ſchildern und die merk-<lb/>würdigen Vorzüge kennen lernen, die es vor allen Maſchinen <lb/>gleicher Wirkung beſitzt, welche Menſchen erfunden haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s1161" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1162" xml:space="preserve">In ähnlicher Weiſe wird auch das gemeint ſein, was wir zum <lb/>Vergleich des menſchlichen Auges mit einer Camera obſkura zu <lb/>ſageu haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s1163" xml:space="preserve">Die ſeelenvolle Tiefe, die im Blick des menſchlichen <lb/>Auges liegt, ſteht auch uns zu hoch, um von einer toten Cumera <lb/>obſkura auch nur entfernt ein Gleiches zu verlangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1164" xml:space="preserve">Liebe <lb/>und Abſcheu, Schmerz und Wehmut, die aus einem lebeuden <lb/>Auge uns entgegenſtrahlen, wollen wir nicht im mindeſten in <lb/>einem Menſchenkunſtwerk ſuchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1165" xml:space="preserve">Auch laſſen wir ganz un-<lb/>beachtet bei dieſem Vergleich, daß das menſchliche Auge noch <lb/>einen Apparat hat, den Nervenapparat, der mit dem Gehirn in <lb/>Verbindung ſteht, und durch welchen die Bilder des Auges <lb/>zum Verſtändnis des Geiſtes kommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1166" xml:space="preserve">— Wir wollen ver-<lb/>gleichend nur zeigen, daß, ſelbſt wenn ein Auge nichts weiter <lb/>ſein ſollte als eine Camera obſkura, es doch dies in einer Vor-<lb/>züglichkeit und Meiſterhaftigkeit iſt, gegen welche jede noch ſo <lb/>kunſtvoll gearbeitete Maſchine menſchlicher Erfindung ganz und <lb/>gar unbedeutend wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s1167" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1168" xml:space="preserve">Wenn wir nun verſichern, daß alle übrigen Vergleiche in <lb/>eben ſolchem Sinne gemeint ſind, ſo wird ein Mißverſtändnis <lb/>hierüber nicht möglich ſein, und ſomit gehen wir denn frohen <lb/>Mutes über dieſe Vorbemerkung, wie man zu ſagen beliebt, <lb/>zur Tagesordnung über.</s>
  <s xml:id="echoid-s1169" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="84" file="0092" n="92"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div31" type="section" level="1" n="30">
<head xml:id="echoid-head34" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXV. Die Lunge im Bruſtkaſten.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1170" xml:space="preserve">Die Maſchinerie des menſchlichen Leibes, die wir zuerſt <lb/>betrachten wollen, iſt die Lunge, dieſes Werkzeug, welches un-<lb/>unterbrochen bald Luft in ſich einſaugt, bald Luft von ſich aus-<lb/>ſtößt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1171" xml:space="preserve">die Lunge, welche wir dieſerhalb mit einem Blaſebalg <lb/>verglichen haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s1172" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1173" xml:space="preserve">So eigentlich paßt der Vergleich nicht recht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1174" xml:space="preserve">So ver-<lb/>ſchiedenartig man auch jetzt Blaſebälge gemacht, und ſo viel <lb/>Sorgfalt man auch auf Herſtellung großer, künſtlicher Gebläſe <lb/>verwendet hat, ſo bleibt der Blaſebalg doch immer nur ein <lb/>großer, hohler Raum, welchen man auſ der einen Seite mit <lb/>Luft füllt, um ſie an einer andern Stelle durch einen verengten <lb/>kleinern Raum wieder hinauszupreſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1175" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1176" xml:space="preserve">Die Luft ſpielt im Blaſebalg ſelber keine Rolle; </s>
  <s xml:id="echoid-s1177" xml:space="preserve">ſie wird <lb/>nur durch eine weite Öffnung hinein getrieben und durch eine <lb/>enge Öffnung hinausgepreßt, damit man durch den Strom ver-<lb/>dichteter Luſt, der den Blaſebalg verläßt, eine Wirkung aus-<lb/>üben, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s1178" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s1179" xml:space="preserve">Feuer zur hellern Flamme anblaſen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s1180" xml:space="preserve">Die <lb/>Luft hat im Blaſebalg ſelber nichts zu verrichten gehabt, <lb/>ſondern verrichtet erſt ihre Aufgabe, wenn ſie aus dem Blaſe-<lb/>balge hinaustritt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1181" xml:space="preserve">— Deshalb iſt auch die Luft, wenn ſie den <lb/>Blaſebalg verlaſſen hat, nicht in anderer Beſchaffenheit als ſie <lb/>vor dem Eintritt in denſelben war.</s>
  <s xml:id="echoid-s1182" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1183" xml:space="preserve">Mit der Lunge iſt es, wie wir ſofort ſehen werden, nicht <lb/>ſo. </s>
  <s xml:id="echoid-s1184" xml:space="preserve">Die Lunge ſaugt die Luft ein, in welcher wir auf dem <lb/>Erdenrund, das von Luft umgeben iſt, leben; </s>
  <s xml:id="echoid-s1185" xml:space="preserve">aber ſie giebt <lb/>ſie verändert beim Ausatmen wieder.</s>
  <s xml:id="echoid-s1186" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1187" xml:space="preserve">In dieſer Beziehung gleicht die Lunge ſchon weit eher <lb/>einem gewöhnlichen Zugofen, mit dem wir die Stuben heizen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1188" xml:space="preserve">Durch die kleine Zugklappe, die in der Ofenthür angebracht iſt, <lb/>ſtrömt die Luft aus der Stube in den Ofen, ſie bleibt aber
<pb o="85" file="0093" n="93"/>
nicht im Ofen, ſondern es ſtrömt in gleichem Maße wieder <lb/>durch die Ofenröhre eine Luftart in den Schornſtein hinaus; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1189" xml:space="preserve">allein die ausſtrömende Luft iſt von anderer Beſchaffenheit, <lb/>als die eingeſtrömte geweſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1190" xml:space="preserve">Die Luft iſt im Ofen und ge-<lb/>rade durch die Verbrennung, die ſie veranlaßt hat, verändert <lb/>worden, und wirklich ganz in demſelben Sinne verändert <lb/>worden, wie die Luft in der Lunge. </s>
  <s xml:id="echoid-s1191" xml:space="preserve">In beiden, in Ofen und <lb/>Lunge, wird, wie wir ſehen werden, der Sauerſtoff der Luft <lb/>in Kohlenſäure umgewandelt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1192" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1193" xml:space="preserve">Da die Lunge wirklich auch zugleich ein Heizapparat im <lb/>Körper iſt, ſo hat man mit vollem Recht die Lunge mit einem <lb/>Ofen verglichen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1194" xml:space="preserve">und das iſt’s eben, worauf wir auch auf-<lb/>merkſam machen wollen, um zu zeigen, wie die Lunge eine <lb/>gar merkwürdige Maſchine iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1195" xml:space="preserve">denn ſie iſt in Wahrheit Blaſe-<lb/>balg und Ofen zugleich und noch einiges andere obenein.</s>
  <s xml:id="echoid-s1196" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1197" xml:space="preserve">Um es in Kürze einſehen zu können, was eigentlich die <lb/>Lunge für Arbeit verrichtet und in welcher Weiſe ſie dies ver-<lb/>richtet und wie vorteilhaft ſie gebaut iſt, um all’ das verrichten <lb/>zu können, wollen wir uns für jetzt folgendes merken.</s>
  <s xml:id="echoid-s1198" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1199" xml:space="preserve">Die Speiſen, die wir lebenden Weſen genießen, verwandeln <lb/>ſich in unſerm Körper in höchſt merkwürdiger Weiſe in Blut; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1200" xml:space="preserve">das Blut iſt der Stoff, aus dem ſich alle Teile unſeres Leibes <lb/>bilden. </s>
  <s xml:id="echoid-s1201" xml:space="preserve">Allein das Blut wird hierzu nur fähig, wenn es den <lb/>Sauerſtoff der Luft in ſich aufgenommen und dafür eine <lb/>andere Luftart, die Kohlenſäure, ausgeſchieden. </s>
  <s xml:id="echoid-s1202" xml:space="preserve">Geſchieht dies <lb/>nicht, vermag das Blut nicht Sauerſtoff aufzunehmen und <lb/>Kohlenſäure auszuſcheiden, ſo erfolgt der Tod ſchon nach <lb/>wenigen Minuten.</s>
  <s xml:id="echoid-s1203" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1204" xml:space="preserve">Zu dieſem Hauptzweck, — um eben das Blut mit Sauer-<lb/>ſtoff zu verſorgen und um die Kohlenſäure des Blutes fort-<lb/>zuſchaffen — dient die Lunge, dient ihr Atmen, und deshalb <lb/>ſagt man im gewöhnlichen Sprachgebrauch ſtatt “Alles, was da <lb/>lebt”, mit Recht “Alles, was da atmet”.</s>
  <s xml:id="echoid-s1205" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="86" file="0094" n="94"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1206" xml:space="preserve">Allein ſo bekannt dieſes in den Hauptſachen iſt, ſo ſehr <lb/>falſch ſind die Vorſtellungen, die man ſich im gewöhnlichen Leben <lb/>von dem Geſchäft und der Einrichtung der Lunge macht, und <lb/>deshalb wollen wir uns dies merkwürdige und wichtige Werkzeug <lb/>unſeres Körpers etwas näher anſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1207" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1208" xml:space="preserve">Die Lunge liegt im Bruſtkaſten, in dem Kaſten, der unter <lb/>dem Halſe beginnt und am Bauch endet. </s>
  <s xml:id="echoid-s1209" xml:space="preserve">Dieſer Kaſten iſt <lb/>ganz und gar geſchloſſen, denn zwiſchen ihm und dem Bauch <lb/>iſt ein ſtarkes Fell ausgeſpannt, das beide Teile des Leibes <lb/>vollkommen abſondert; </s>
  <s xml:id="echoid-s1210" xml:space="preserve">dies Fell heißt das Zwerchfell <anchor type="note" xlink:href="" symbol="*)"/>, deſſen
Erſchütterung beim Lachen ſprichwörtlich geworden iſt, und das <lb/>auch eine ſehr wichtige Rolle beim Atmen ſpielt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1211" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1212" xml:space="preserve">In dieſem ringsum abgeſchloſſenen Kaſten hängt die <lb/>Lunge an einer knorpeligen Röhre, welche die Luftröhre heißt, <lb/>und die hinten im Munde, oder richtiger im Rachen ange-<lb/>wachſen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1213" xml:space="preserve">Dieſe Röhre iſt hohl und läuft vom Rachen in <lb/>den Hals, wo ſie vorn namentlich bei Männern ſehr fühlbar <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1214" xml:space="preserve">Vom Hals geht ſie abwärts in den Bruſtkaſten, und hier <lb/>endet ſie in den zwei Teilen der Lunge, die rechts und links <lb/>im Bruſtkaſten liegen oder richtiger hängen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1215" xml:space="preserve">Da beide Teile <lb/>der Lunge von gleicher Beſchaffenheit ſind — nnd nur deshalb <lb/>doppelt vorhanden zu ſein ſcheinen, damit die eine ihr Werk zur <lb/>Not verrichte, wenn die andere verletzt iſt oder ganz und gar <lb/>ſtirbt, was gar nicht ſelten der Fall iſt, — ſo wollen wir nicht <lb/>von den einzelnen Teilen, ſondern von der Lunge im ganzen <lb/>ſprechen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1216" xml:space="preserve">Um aber vorläufig das Verſtändnis nicht zu erſchweren <lb/>und zunächſt nur die rein mechaniſche Einrichtung des Atmens <lb/>deutlicher zu machen, wollen wir annehmen, die Lunge ſei ein <lb/>durchweg hohler, weicher Beutel, der ſich aufbläht, wenn man Luft <lb/>einbläſt, und der zuſammenklappt, wenn man die Luft auspreßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1217" xml:space="preserve"/>
</p>
<note symbol="*)" position="foot" xml:space="preserve"> “Zwerch” iſt ein altes, deutſches Wort für “Quer”. Zwerchfell <lb/>alſo = Querfell.</note>
<pb o="87" file="0095" n="95"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1218" xml:space="preserve">Die Lunge hängt aber nicht ganz nackt im Bruſtkaſten, <lb/>ſondern iſt mit einem Hautüberzug verſehen, der ſie voll-<lb/>kommen luftdicht macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1219" xml:space="preserve">Dieſer Hautüberzug gehört jedoch <lb/>nicht der Lunge allein, ſondern iſt eigentlich die Fortſetzung <lb/>einer Haut, mit welcher der ganze Bruſtkaſten und alles, was <lb/>in ihm noch ſonſt Platz hat, austapeziert iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1220" xml:space="preserve">Wenn man ſich <lb/>ein ungefähres Bild von der Haut machen will, die zugleich <lb/>den Bruſtkaſten und die in denſelben hineingehängte Lunge <lb/>umkleidet, ſo denke man ſich, daß jemand ſeine Hand in eine <lb/>baumwollene, doppelbeutelige Schlafmütze ſteckt und dieſe mit <lb/>doppeltem Überzug verſehene Hand in die Rocktaſche ſteckt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1221" xml:space="preserve">Zwiſchen Hand und Rocktaſche ſind dann zwei baumwollene <lb/>Scheidewände, die beide die Form eines Sackes haben und <lb/>doch nur ein in ſich ſelbſt eingeſtülpter Sack ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s1222" xml:space="preserve">Denkt man <lb/>ſich’s nun mit der Haut bei Bruſtkaſten und Lungen ebenſo, <lb/>ſo wird man es leicht einſehen, wie es eigentlich nur eine <lb/>Haut iſt, welche den Bruſtkaſten inwendig austapeziert, und es <lb/>nur eine Schlafmützenfalte derſelben Haut iſt, die den Beutel <lb/>bildet, welcher die Lunge von außen tapeziert.</s>
  <s xml:id="echoid-s1223" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1224" xml:space="preserve">Und nun ſind wir vorläufig ſo weit, daß wir zum Atem <lb/>kommen können.</s>
  <s xml:id="echoid-s1225" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div32" type="section" level="1" n="31">
<head xml:id="echoid-head35" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXVI. Wie wir atmen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1226" xml:space="preserve">Durch den Bruſtkaſten, worin die Lunge aufgehängt iſt, <lb/>gehen zwar noch, wie wir ſehen werden, wichtige Adern, <lb/>Nerven und Röhren; </s>
  <s xml:id="echoid-s1227" xml:space="preserve">auch befindet ſich in demſelben das <lb/>wichtigſte Organ des Leibes, das Herz und all’ dies füllt den <lb/>Bruſtkaſten vollſtändig aus, ſo daß kein leerer Raum darin <lb/>vorhanden iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1228" xml:space="preserve">wir wollen uns jedoch für jetzt nur mit der <lb/>Lunge und dem Kaſten, der ſie umſchließt, beſchäftigen und
<pb o="88" file="0096" n="96"/>
von allem Übrigen ganz abſehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1229" xml:space="preserve">und deshalb wollen wir <lb/>uns auch vorerſt vorſtellen, daß die Lunge allein den ganzen <lb/>Raum einnimmt, um unſere Aufmerkſamkeit beſſer auf den <lb/>Mechanismus des Atmens richten zu können.</s>
  <s xml:id="echoid-s1230" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1231" xml:space="preserve">Das Atmen geſchieht nun in folgender Weiſe.</s>
  <s xml:id="echoid-s1232" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1233" xml:space="preserve">Das Zwerchfell, welches die Scheidewand zwiſchen Bauch-<lb/>und Bruſthöhle bildet, zieht ſich durch eine eigene Kraft, von <lb/>der wir noch ſprechen werden, zuſammen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1234" xml:space="preserve">Dadurch wird der <lb/>Raum der Bauchhöhle verengt und der Raum der Bruſthöhle <lb/>in gleichem Grade vergrößert; </s>
  <s xml:id="echoid-s1235" xml:space="preserve">zu gleicher Zeit dehuen ſich die <lb/>Seitenwände des Bruſtkaſtens, die Rippen, und erweitern gleich-<lb/>falls die innere Höhlung. </s>
  <s xml:id="echoid-s1236" xml:space="preserve">Dadurch entſteht rings um die Lungen <lb/>ein leerer Raum. </s>
  <s xml:id="echoid-s1237" xml:space="preserve">Da nun die Lunge hohl iſt, und ein hohles Rohr <lb/>von ihr bis in die Mundhöhle hinauf geht, woſelbſt durch <lb/>Mund und Naſe Luft eindringen kann, ſo ſtrömt die Luft <lb/>von außen in die Lunge hinein und dehnt dieſe ſo aus, daß <lb/>ſie den ganzen erweiterten Raum des Bruſtkaſtens ausfüllt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1238" xml:space="preserve">Dies nennt man das Einatmen der Luft in die Lunge.</s>
  <s xml:id="echoid-s1239" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1240" xml:space="preserve">Sobald dies geſchehen, läßt die Kraft, welche das Zwerch-<lb/>fell nach unten hin geſenkt hatte, nach; </s>
  <s xml:id="echoid-s1241" xml:space="preserve">zu gleicher Zeit er-<lb/>ſchlaffen auch die Rippenwände des Bruſtkaſtens und ſinken <lb/>wieder in ihre natürliche Lage zuſammen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1242" xml:space="preserve">Hierdurch wird <lb/>der innere Raum des Bruſtkaſtens wieder verengt, die aus-<lb/>gedehnte, mit Luft angefüllte Lunge hat nicht Platz und wird <lb/>zuſammengedrückt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1243" xml:space="preserve">So muß denn die Luft wieder durch die <lb/>Röhre, die Mundhöhle, und ſie ſtrömt denn auch wirklich <lb/>durch Mund oder Naſe hinaus in die Welt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1244" xml:space="preserve">— Dies nennt <lb/>man das Ausatmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1245" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1246" xml:space="preserve">Im eigentlichen Sinne iſt es demnach nicht die Lunge, <lb/>welche beim Atmen die Arbeit verrichtet, ſondern das Zwerch-<lb/>fell und der Bruſtkaſten ſind es, welche den Raum um die <lb/>Lunge erweitern; </s>
  <s xml:id="echoid-s1247" xml:space="preserve">und der Druck der Luft, welche die Erde <lb/>umgiebt und ſchwer wie jedes Ding auf der Erde laſtet, weil
<pb o="89" file="0097" n="97"/>
ſie von der Erde angezogen wird, dieſer Druck der Luft iſt <lb/>es, welcher den leer gewordenen Raum ausfüllt und die Luft <lb/>in die Lunge einpreßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1248" xml:space="preserve">Die Lunge giebt nur nach, weil ſie <lb/>dehnbar iſt und füllt ſich ganz in derſelben Weiſe, wie ſich <lb/>jede Blaſe unter gleichen Verhältniſſen füllen würde. </s>
  <s xml:id="echoid-s1249" xml:space="preserve">— Eben-<lb/>ſowenig bewirkt die Lunge das Ausatmen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1250" xml:space="preserve">denn ſie zieht ſich <lb/>nicht zuſammen und treibt die Luft aus, ſondern wird nur <lb/>zuſammengepreßt durch Zwerchfell und Bruſtkaſten, die ihre <lb/>natürliche Lage annehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1251" xml:space="preserve">Soweit der Raum es geſtattet <lb/>und die natürliche Beſchaffenheit der Lunge es zuläßt, bleibt <lb/>auch ein Reſt von Luft in derſelben zurück. </s>
  <s xml:id="echoid-s1252" xml:space="preserve">Dies werden viele <lb/>unſerer Leſer ſchon bemerkt haben, wenn ſie die Lunge irgend <lb/>eines Tieres beſühlten, denn ſie fühlt ſich ſelbſt im toten <lb/>Zuſtand luftgefüllt an, und ſie ſchwimmt auch deshalb im <lb/>Waſſer obenauf. </s>
  <s xml:id="echoid-s1253" xml:space="preserve">— Wir werden noch ſehen, wie wichtig dieſer <lb/>Umſtand, daß ein Reſt von Luft in der Lunge zurückbleibt, <lb/>für die Thätigkeit derſelben im Leben iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1254" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1255" xml:space="preserve">Man wird geſtehen, daß dieſe mechaniſche Einrichtung der <lb/>eines Blaſebalges ſehr ähnlich iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1256" xml:space="preserve">Zwerchfell und Bruſtkaſten <lb/>erweitern und verengen abwechſelnd den Raum, den ſie ein-<lb/>ſchließen und laſſen deshalb die Luft abwechſeld ein- und <lb/>ausſtrömen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1257" xml:space="preserve">aber ſchon hierbei, bei dieſer rein mechaniſchen <lb/>Arbeit kommen Nebenumſtände vor, die dieſe Maſchinerie vor <lb/>jeder künſtlichen Maſchine menſchlicher Erfindung auszeichnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1258" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1259" xml:space="preserve">Die Bewegungen des Atems werden von einer großen <lb/>Reihe von Muskeln bewerkſtelligt, die zugleich und in regel-<lb/>mäßigem Tempo ihre Arbeit verrichten. </s>
  <s xml:id="echoid-s1260" xml:space="preserve">Außer dem Zwerch-<lb/>fell, das ſelber eine muskelartige Wand iſt und das Kunſt-<lb/>ſtück des Zuſammenziehens und Erſchlaffens verſteht, ſind noch <lb/>die Bauchmuskeln, die Muskeln, welche die Rippen bedecken, <lb/>die an den Schulterblättern und an den Schultern ſitzen, wie <lb/>diejenigen, welche vom Halſe abwärts laufen, dabei in Thätig-<lb/>keit. </s>
  <s xml:id="echoid-s1261" xml:space="preserve">Es ſind über zwei Dutzend Muskeln, die ſich hierbei
<pb o="90" file="0098" n="98"/>
zu einem gemeinſamen, gleichmäßigen Geſchäft vereinigen, und <lb/>Naſe, Mund, Zunge, Kehlkopf und Gaumen ſind nebenher <lb/>gleichfalls mit in dies Geſchäft verwickelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1262" xml:space="preserve">Es könnte nun <lb/>ſcheinen, daß dies gar ein unnötiger Aufwand ſei, und eigent-<lb/>lich beim Atmen ein zu großer Anſpruch an zu verſchiedene <lb/>Körperteile gemacht werde, daß ſomit die Maſchinerie <lb/>nicht jene Einfachheit beſitze, welche ſtets ein Zeichen der <lb/>Meiſterhaftigkeit des Planes iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1263" xml:space="preserve">Allein die Erwägung einiger <lb/>ſehr bekannten Thatſachen wird die Zweckmäßigkeit dieſes <lb/>Mechanismus leicht darthun und jeden Weltverbeſſerer, der’s <lb/>einfacher haben möchte, dankbarer ſtimmen gegen jene Plan-<lb/>mäßigkeit, die dieſe eine Arbeit ſo vielen Muskeln zutheile.</s>
  <s xml:id="echoid-s1264" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1265" xml:space="preserve">Ein künſtlicher Blaſebalg braucht in der That nur eine <lb/>bewegliche Wand, um Luft einzuſaugen und auszuſtoßen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1266" xml:space="preserve">Allein er iſt darum auch unthätig, wenn dieſer ein Hindernis <lb/>entgegenſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1267" xml:space="preserve">Der Mechanismus des Atems aber iſt in ſo <lb/>vielen Muskeln verteilt, daß die Störung einer ganzen Partie <lb/>derſelben dem Atmen keinen weſentlichen Eintrag thut, wenigſtens <lb/>das Leben nicht gefährdet.</s>
  <s xml:id="echoid-s1268" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1269" xml:space="preserve">Daß wir beim Liegen ganz andere Atembewegungen machen <lb/>als beim Sitzen, wird ſchon jeder bemerkt haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s1270" xml:space="preserve">Liegt man <lb/>auf einer Seite, ſo arbeitet die andere dafür deſto kräftiger. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1271" xml:space="preserve">Durch einen Stoß, einen Fall, einen Druck verletzt man ſich <lb/>leicht einen der Muskeln, die das Atemgeſchäft beſorgen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1272" xml:space="preserve">ſofort <lb/>ſetzt er ſich außer Thätigkeit und überträgt den Genoſſen das <lb/>wichtige Geſchäft. </s>
  <s xml:id="echoid-s1273" xml:space="preserve">Unſere jungen Damen ſchnüren ſich den <lb/>Leib oft derart ein, daß ſie mit den Rippenmuskeln und dem <lb/>Zwerchfell nicht hinreichend atmen können; </s>
  <s xml:id="echoid-s1274" xml:space="preserve">wer hat aber nicht <lb/>beobachtet, wie thätig das Spiel ihrer oberen Bruſt- und <lb/>Schultermuskeln iſt, um nur den Mechanismus im Gang zu <lb/>erhalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s1275" xml:space="preserve">— Man kann an Tieren jeden einzelnen Muskel, der <lb/>beim Atmen thätig iſt, durch ein Zerſchneiden des Nervs, der <lb/>ihn bewegt, unthätig machen, und die Atmung wird ſofort
<pb o="91" file="0099" n="99"/>
von den übrigen Muskeln vollſtreckt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1276" xml:space="preserve">— Wenn es nun auch <lb/>zugegeben werden muß, daß die Maſchine ſchon einfacher <lb/>hätte im Gang gehalten werden können, ſo wird man hoffentlich <lb/>dieſe Mannigfaltigkeit nicht tadeln, da ſie, wie dieſe Beiſpiele <lb/>zeigen, den wichtigen Zweck haben, den wichtigen Poſten nicht <lb/>einem Hauptmuskel anzuvertrauen, der, wenn ihm ein Miß-<lb/>geſchick zukommt, den ſofortigen Tod herbeiführen würde.</s>
  <s xml:id="echoid-s1277" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div33" type="section" level="1" n="32">
<head xml:id="echoid-head36" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXVII. Das Luftrohr der Lunge.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1278" xml:space="preserve">Nachdem wir die mechaniſche Einrichtung betrachtet haben, <lb/>welche Bruſtkaſten und Zwerchfell derart in Bewegung ſetzt, <lb/>daß die Lunge ſich abwechſelnd bald mit Luft füllt, bald dieſe <lb/>wieder von ſich giebt, wollen wir nun näher auf die Beſchaffen-<lb/>heit der Lunge und deren Thätigkeit eingehen, die wir des <lb/>leichteren Verſtändniſſes halber bis jetzt nur als einen einfachen <lb/>Luftſack dargeſtellt haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s1279" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1280" xml:space="preserve">Zuerſt wollen wir uns aber das hohle Rohr anſehen, das <lb/>vom Munde in die Lunge führt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1281" xml:space="preserve">denn auch dieſe Einrichtung <lb/>gehört zu den merkwürdigſten Mechanismen des menſchlichen <lb/>Körpers, namentlich dadurch, daß es ſich in ſehr gefähr-<lb/>licher Nachbarſchaft befindet und deshalb mit beſonderer Vor-<lb/>ſicht gebaut iſt, damit ihm kein Ungemach zuſtoße.</s>
  <s xml:id="echoid-s1282" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1283" xml:space="preserve">Die gefährliche Nachbarſchaft beſteht darin, daß außer <lb/>dem Luftrohr der Lunge noch ein zweiter Weg vom Mund <lb/>in den Körper hineinführt, und der iſt die Speiſeröhre, durch <lb/>welche alles hinunterpaſſieren muß, was wir eſſen oder trinken.</s>
  <s xml:id="echoid-s1284" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1285" xml:space="preserve">Mit Recht macht einer der geiſtreichſten Phyſiologen die <lb/>Bemerkung, daß die Menſchen die Hände über dem Kopf vor <lb/>Verwunderung zuſammenſchlagen würden, wenn ſie ſehen <lb/>könnten, wie das Luftrohr ſich noch vor der Speiſeröhre be-<lb/>findet, wie jeder Biſſen Speiſe, jeder Schluck Getränk über die
<pb o="92" file="0100" n="100"/>
obere Öffnung der Luftröhre hinübergleiten muß, um in die <lb/>Speiſeröhre zu gelangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1286" xml:space="preserve">Sie würden es für rein unmöglich <lb/>halten, daß eine Mahlzeit ſo ganz ohne Ungemach ablaufen <lb/>könne und ein ſogenanntes Verſchlucken nicht noch häufiger ſei, <lb/>als das richtige Schlucken, das alle Welt ſo geläufig verſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s1287" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1288" xml:space="preserve">In der That würde Speiſe und Trank ſehr leicht in die <lb/>Luftröhre hineinkommen und namentlich beim Einatmen un-<lb/>fehlbar bis in die Lunge gelangen, wenn dies nicht durch <lb/>ſorgfältige Vorrichtungen behindert würde.</s>
  <s xml:id="echoid-s1289" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1290" xml:space="preserve">Die Vorrichtungen beſtehen in Folgendem.</s>
  <s xml:id="echoid-s1291" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1292" xml:space="preserve">Das Luftrohr mündet nicht offen in die Mundhöhle, ſon-<lb/>dern iſt ſchon ein Stück davor mit einer Haut verſchloſſen, <lb/>welche nur eine feine Spalt-Öffnung für die ein- und aus-<lb/>ſtrömende Luft hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s1293" xml:space="preserve">Dieſe Öffnung nennt man die Stimm-<lb/>ritze; </s>
  <s xml:id="echoid-s1294" xml:space="preserve">denn nur durch die Schwingung der Luft, welche durch <lb/>dieſe aufgeſchlitzte Haut ſtreicht, entſteht die Stimme. </s>
  <s xml:id="echoid-s1295" xml:space="preserve">Über <lb/>dieſer Stimmritze aber befindet ſich noch am Kehlkopf ein be-<lb/>ſonderer, feiner, knorpeliger Deckel, der es vortrefflich verſteht, <lb/>denſelben zu verſchließen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1296" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1297" xml:space="preserve">Der Deckel iſt eine Klappe, die vorne am Kehlkopf ange-<lb/>wachſen iſt und die ſich ſofort ſchließt, ſobald von vorne <lb/>von der Zunge her etwas nach der Speiſeröhre geleitet wird; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1298" xml:space="preserve">außerdem legt ſich beim Schlucken auch noch der hinterſte Teil <lb/>der Zunge über den Deckel und macht den Verſchluß noch <lb/>ſorgfältiger. </s>
  <s xml:id="echoid-s1299" xml:space="preserve">Da nun dieſer Deckel beim jedesmaligen Atmen <lb/>geöffnet ſein muß und man während der Mahlzeit auch das <lb/>Atmen nicht einſtellen kann, ja, da man, wie ein jeder weiß, <lb/>bei Tiſch oft erſt recht geſprächig wird und außer beim <lb/>Atmen noch beim Sprechen genötigt iſt den Deckel zu öffnen, <lb/>ſo wird man einſehen, daß dieſe Vorrichtung mit ganz be-<lb/>ſonderen Feinheiten verſehen ſein muß, damit der Kehldeckel <lb/>einer fröhlichen Tiſchgeſellſchaft ſeinen Dienſt ſo ausübe, daß <lb/>weder ein Wort noch ein Biſſen einen unrichtigen Weg nimmt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1300" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="93" file="0101" n="101"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1301" xml:space="preserve">Gleichwohl wird es ſchon jedem paſſiert ſein, daß ihm ein <lb/>Ungemach begegnet,– und namentlich wenn man während des <lb/>Eſſens oder Trinkens lacht, wodurch der Kehlkopf geöffnet <lb/>wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s1302" xml:space="preserve">In ſolchem Falle dringt wirklich zuweilen ein Krümelchen <lb/>oder Tröpfchen in den Kehlkopf ein, wo es einmal nicht hin-<lb/>gehört.</s>
  <s xml:id="echoid-s1303" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1304" xml:space="preserve">Was geſchieht dann? </s>
  <s xml:id="echoid-s1305" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1306" xml:space="preserve">Nun, es iſt auch für dieſen Fall Sorge getragen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1307" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1308" xml:space="preserve">Oberhalb der Stimmritze befindet ſich an jeder Seite eine <lb/>taſchenförmige Vertiefung in der Wand des Kehlkopfes, und <lb/>wenn nun ein Krümelchen ſich über den Kehldeckel in den <lb/>Kehlkopf hinein verirrt hat, ſo bleibt es in einer dieſer <lb/>Taſchen ſtecken und gelangt zumeiſt gar nicht bis zur Stimm-<lb/>ritze, welche in dieſem Punkte ſehr empfindlich iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1309" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1310" xml:space="preserve">Aber auch in ſolcher Taſche hat das Krümelchen nichts zu <lb/>ſuchen und iſt deshalb keineswegs gaſtlich aufgenommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1311" xml:space="preserve">Es <lb/>findet ſich vielmehr hier noch eine andere Vorrichtung, die <lb/>freilich nicht mehr mechaniſcher Natur iſt, aber doch dazu <lb/>dient, das Krümelchen wieder in möglichſt unſchädlicher Weiſe <lb/>hinauszubefördern.</s>
  <s xml:id="echoid-s1312" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1313" xml:space="preserve">In den Taſchen ſitzen nämlich eine Reihe von Schleim-<lb/>drüſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1314" xml:space="preserve">Es ſind dies feine Träubchen, die auf den leiſeſten <lb/>Reiz einen eigenen Schleim abſondern, der den Kehlkopf und <lb/>die dort ſitzenden Stimmwerkzeuge nicht trocken und heiſer <lb/>werden läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1315" xml:space="preserve">Mit ſolchen fremdartigen Krümelchen machen ſich <lb/>nun die Drüſen ein Nebengeſchäft; </s>
  <s xml:id="echoid-s1316" xml:space="preserve">ſie hüllen es in Schleim <lb/>und machen es dadurch ſchlüpfrig, um es ſofort hinaus ſpedieren <lb/>zu können.</s>
  <s xml:id="echoid-s1317" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1318" xml:space="preserve">Dies Geſchäft des Hinauswerfens wird nun zunächſt von <lb/>den Stimmbändern eingeleitet. </s>
  <s xml:id="echoid-s1319" xml:space="preserve">— Sofort, wie man ſich ver-<lb/>ſchluckt hat, ſchließen ſie den Kehlkopf zu, damit vorerſt nicht <lb/>noch mehr Unheil angerichtet wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s1320" xml:space="preserve">Hierauf ſtemmt ſich die <lb/>zum Ausatmen bereite Luft gegen die verſchloſſenen Stimm-
<pb o="94" file="0102" n="102"/>
bänder, und weil ſie ſich nicht willig öffnen, werden ſie von <lb/>der gepreßten Luft gewaltſam aufgeſchleudert, wobei ſie den <lb/>bekannten Ton von ſich geben, den man Huſten uennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1321" xml:space="preserve">Mit <lb/>dieſem plötzlichen, gewaltſamen Hinausſchleudern der Luft wird <lb/>auch das in Schleim gehüllte Krümelchen meiſt hinausgeſtoßen, <lb/>und dann iſt es gut. </s>
  <s xml:id="echoid-s1322" xml:space="preserve">Geſchieht dies aber nicht ſogleich, wie <lb/>etwa, wenn das Krümelchen noch zu feſt in einer Taſche ſitzt, <lb/>ſo ſchließen ſich die Stimmbänder wieder, das vorige Stück <lb/>wiederholt ſich, man muß nochmals huſten, bis der Zweck er-<lb/>reicht und der fremde Körper aus der Luftröhre entferut iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1323" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1324" xml:space="preserve">Aber nicht dies allein iſt Aufgabe der Stimmbänder, ſon-<lb/>dern ſie verſchließen ſich auch in vielen Fällen, wo man im <lb/>Begriff iſt, eine giftige Luftart einzuatmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1325" xml:space="preserve">— Freilich ge-<lb/>ſchieht dies nicht bei allen giftigen Luftarten, wie es denn <lb/>allbekannt iſt, daß alljährlich Viele durch unvorſichtiges Schließen <lb/>der Ofenklappe am giftigen Kohlendunſt ihr Leben einbüßen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1326" xml:space="preserve">Würden ſich hier die Stimmbänder verſchließen, ſo würde ein <lb/>unwiderſtehlicher Huſten die Unvorſichtigen vor Unglück be-<lb/>wahren. </s>
  <s xml:id="echoid-s1327" xml:space="preserve">Dieſer Huſten erfolgt bei einigen andern Gaſen und <lb/>rührt von dem heftigen Reiz her, den ſie auf den Kehlkopf <lb/>ausüben. </s>
  <s xml:id="echoid-s1328" xml:space="preserve">Wir müſſen zufrieden ſein, daß uns mindeſtens in <lb/>einzelnen Fällen ſolch’ ein Liebesdienſt erwieſen wird von einer <lb/>Maſchinerie, die nur ſehr nebenher beim Atmen beſchäftigt <lb/>wird, die aber hinreichend von der Sorgfalt Zeugnis ablegt, <lb/>mit welcher dieſe Maſchine vor Schaden gewahrt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1329" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div34" type="section" level="1" n="33">
<head xml:id="echoid-head37" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXVIII. Die Lunge, wie ſie wirklich iſt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1330" xml:space="preserve">Wenden wir uns nun zum Bau der Lunge, ſo werden <lb/>wir ſogleich ſehen, wie gut es iſt, daß ſie durch die er-<lb/>wähnten Vorrichtungen vor dem Eindringen fremder Beſtand-<lb/>teile geſchützt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1331" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="95" file="0103" n="103"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1332" xml:space="preserve">Die Lunge iſt kein hohler Luftſack, ſondern ein äußerſt <lb/>merkwürdiges Gewebe, deſſen hohle Gänge ganz eigentümlich <lb/>gebaut ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s1333" xml:space="preserve">Man-wird ſich am leichteſten hiervon eine Vor-<lb/>ſtellung verſchaffen, wenn man ſich Folgendes denkt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1334" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1335" xml:space="preserve">Geſetzt, wir haben eine Lunge vor uns, ſo können wir <lb/>uns denken, daß jemand geſchmolzenes Wachs hineingießen <lb/>kann, ſo daß dies allenthalben hinfließt, wo die Luft in natür-<lb/>lichem Zuſtand eindringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1336" xml:space="preserve">Stellen wir uns vor, daß man eine <lb/>ſolche ausgefüllte Lunge erkalten und dann durch irgend <lb/>ein künſtliches Mittel das ganze Lungengewebe ſchnell ab-<lb/>faulen läßt, ſo würde man eine erſtarrte Wachsmaſſe zurück-<lb/>behalten, die genau die Form der Luftwege der Lunge an-<lb/>genommen hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s1337" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1338" xml:space="preserve">— Wie würde dieſe Wachsmaſſe ausſehen?</s>
  <s xml:id="echoid-s1339" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1340" xml:space="preserve">Ganz ſo wie ein Baum, auf welchem ſtatt der Blätter <lb/>ſehr kleine Biruen mit höckriger Oberfläche wachſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1341" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1342" xml:space="preserve">Das Wachs aus der Luftröhre würde den Stamm des <lb/>Baumes vorſtellen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1343" xml:space="preserve">dort, wo die Luftröhre in die rechte und <lb/>linke Lunge ſich teilend übergeht, würde der Wachsbaum zwei <lb/>Hauptäſte zeigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1344" xml:space="preserve">Von jedem Aſt gingen dann kleinere Äſte, <lb/>von jedem kleineren Aſte liefen Zweige aus, von jedem Zweige <lb/>Stengel, und jeder Stengel würde in einer kleinen Birne enden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1345" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1346" xml:space="preserve">— Wie groß würde dieſer Wachsbaum ſein?</s>
  <s xml:id="echoid-s1347" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1348" xml:space="preserve">Ganz ſo groß wie die Lunge, wenn ſie mit Luft gefüllt <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1349" xml:space="preserve">— Die Luftwege der Lunge bilden wirklich einen hohlen <lb/>Baum; </s>
  <s xml:id="echoid-s1350" xml:space="preserve">aber ſo fein gezweigt und vollgepfropft mit hohlen <lb/>Früchten, daß ſie durch und durch dicht gedrängt aneinander <lb/>ſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1351" xml:space="preserve">Die Feinheit des Gezweiges iſt ſo außerordentlich, <lb/>daß, wenn man wirklich imſtande wäre, ſolch’ einen Wachsbaum <lb/>zu machen, man genötigt wäre, die allerſchärfften Vergrößerungs-<lb/>gläſer anzuwenden, um das Gezweige zu erkennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1352" xml:space="preserve">Wir würden <lb/>an ſolchem Kunſtwerk nur die größern Stämme und Äſte als <lb/>ſolche anſehen, während das überüppige, reiche, feine Gezweige
<pb o="96" file="0104" n="104"/>
ſamt den Stengelchen und Früchten uns nur wie eine unent-<lb/>wirrbare Filzmaſſe erſcheinen würde.</s>
  <s xml:id="echoid-s1353" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1354" xml:space="preserve">Das hohle Gezweige der Lunge iſt ſo außerordentlich <lb/>reich, daß man berechnet hat, es würde die Lunge, wenn ſie <lb/>ein Sack mit einigermaßen dicken Wänden wäre, nicht viel <lb/>mehr Luft aufnehmen können, als es jetzt der Fall iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1355" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1356" xml:space="preserve">Beim Einatmen füllt ſich nun dieſer hohle Baum mit <lb/>Luft; </s>
  <s xml:id="echoid-s1357" xml:space="preserve">wir haben alſo in einer Minute an die zwanzig Mal, <lb/>welche wir in dieſer Zeit einatmen, einen wirklichen Luftbaum <lb/>in der Bruſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1358" xml:space="preserve">Wenn wir ausatmen, quetſchen wir den Baum <lb/>zuſammen, und die Luft tritt aus demſelben aus.</s>
  <s xml:id="echoid-s1359" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1360" xml:space="preserve">Dieſer hohle Baum, oder richtiger, die baumartigen Luft-<lb/>wege ſind jedoch mit einem äußerſt feinen Häutchen aus-<lb/>tapeziert, ſo daß die Luft nicht weiter vordringen kann, als <lb/>dieſe Tapete es erlaubt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1361" xml:space="preserve">Ferner haben wir es uns noch zu <lb/>merken, daß die Luftwege auch in der Beziehung einem Baume <lb/>ähnlich ſind, daß die Äſte, Zweige, Stengel, Früchte nur von <lb/>der Stammſeite mit einander verwachſen ſind, während die <lb/>andern Enden frei und unverwachſen mit einander bleiben. </s>
  <s xml:id="echoid-s1362" xml:space="preserve">— <lb/>Hieraus folgt, daß die Luft in der Lunge nicht zirkuliert, nicht <lb/>einen Kreislauf macht, ſondern auf demſelben Wege zurück <lb/>muß, wo ſie hineingedrungen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1363" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1364" xml:space="preserve">— Wozu aber dient dieſe merkwürdige Einrichtung?</s>
  <s xml:id="echoid-s1365" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1366" xml:space="preserve">Nun das werden wir gleich ſehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1367" xml:space="preserve">wir müſſen nur vorher <lb/>noch zeigen, daß außer dieſem hohlen Baum noch ganz etwas <lb/>anderes in der Lunge vorhanden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1368" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1369" xml:space="preserve">In dem Bruſtkaſten haben wir auch das Herz, und vom <lb/>Herzen aus geht eine dicke Ader gleichfalls in die Lunge <lb/>hinein. </s>
  <s xml:id="echoid-s1370" xml:space="preserve">Hier in der Lunge teilt und verzweigt ſich dieſe Ader <lb/>in immer feinere und feinere Äderchen, bis ſie ſo fein werden, <lb/>daß ſie ebenfalls nur mit den ſchärſſten Vergrößerungsgläſern <lb/>geſehen werden können. </s>
  <s xml:id="echoid-s1371" xml:space="preserve">Dieſe Äderchen, die man ihrer Fein-<lb/>heit halber Haargefäße nennt, laufen nun kreuz und quer um
<pb o="97" file="0105" n="105"/>
das Gezweige des Luftbaumes, ſie ſchlängeln ſich allenthalben <lb/>durch und ringeln ſich ſchlangenartig um die kleinen Birnen, <lb/>die erwähnten Früchte des Luftbaumes, ſo daß der Luftbaum <lb/>wirklich von den feinen Gefäßen innig umwickelt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1372" xml:space="preserve">Man könnte <lb/>demnach dieſes Ader-Syſtem mit einer millionenfach verzweigten <lb/>Schlingpflanze vergleichen, welche ſich um den Baum windet. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1373" xml:space="preserve">Aber es iſt dies darum nicht einer Pflanze gleich, weil die <lb/>Äderchen nicht hier enden; </s>
  <s xml:id="echoid-s1374" xml:space="preserve">ſie zweigen ſich vielmehr, nachdem ſie <lb/>den Baum in allen Teilen umſchlungen haben, wieder zu-<lb/>ſammen zu größerem Geäder, bilden ſodann größere Ader-<lb/>ſtämme und laufen endlich in vier Abteilungen wieder ins Herz.</s>
  <s xml:id="echoid-s1375" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1376" xml:space="preserve">Die Adern, von denen eine vom Herzen kommt und in <lb/>die Lunge hineingeht, und vier aus der Lunge kommen und <lb/>zum Herzen zurückführen, bilden ein einziges, völlig geſchloſſenes <lb/>Kanal-Syſtem, das zwar bis aufs allerfeinſte verzweigt iſt, <lb/>aber nicht eine Öffnung hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s1377" xml:space="preserve">Es umwindet die Luftwege <lb/>außerordentlich innig; </s>
  <s xml:id="echoid-s1378" xml:space="preserve">aber es durchbricht ſie nicht, durchdringt <lb/>nicht die Haut, welche die Luftwege inwendig austapeziert. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1379" xml:space="preserve">Die Luftwege wiederum liegen enge mitten in den feinſten <lb/>Schlingen des Aderſyſtems; </s>
  <s xml:id="echoid-s1380" xml:space="preserve">aber nirgend wird eine Wand <lb/>dieſes Aderſyſtems von den Luftwegen durchbrochen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1381" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1382" xml:space="preserve">Das Herz — deſſen Thätigkeit wir noch näher kennen lernen <lb/>werden — preßt nun mit einem Druck ſpritzenartig Blut in die <lb/>Ader. </s>
  <s xml:id="echoid-s1383" xml:space="preserve">Das Blut ſtürzt von immer neuen Blutwellen, die aus <lb/>dem Herzen getrieben werden, durch die Äſte der Adern, durch <lb/>die feineren Zweige und die feinſten Röhrchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1384" xml:space="preserve">So fließt <lb/>denn das Blut in feinen Äderchen, die ſich um die Luftwege <lb/>ſchlängeln, immer weiter, bis es wieder den Rückweg nimmt <lb/>durch die zulaufenden Kanäle, und zuſammenſtrömt in die Adern, <lb/>die zum Herzen zurückführen, um dort weiter expediert zu werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1385" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1386" xml:space="preserve">— Wozu nützt dieſes Kanal-Syſtem?</s>
  <s xml:id="echoid-s1387" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1388" xml:space="preserve">Nun das werden wir ſogleich näher zeigen!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1389" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s1390" xml:space="preserve">Volksbücher XII.</s>
  <s xml:id="echoid-s1391" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="98" file="0106" n="106"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div35" type="section" level="1" n="34">
<head xml:id="echoid-head38" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXIX. Art und Zweck der Lungenthätigkeit.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1392" xml:space="preserve">Wir haben es bereits ausgeſprochen, daß man nicht um-<lb/>ſonſt “Leben” und “Atmen” für gleichbedeutend anſieht; </s>
  <s xml:id="echoid-s1393" xml:space="preserve">denn <lb/>durch das Atmen wird zunächſt jene fortdauernde Thätigkeit <lb/>des Leibes unterhalten und möglich gemacht, welche man Leben <lb/>nennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1394" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1395" xml:space="preserve">Nachdem wir die Einrichtung der Lunge etwas näher <lb/>kennen gelernt haben, wird uns das, was in ihr und durch ſie <lb/>vermittelt im ganzen Körper vorgeht, leichter begreiflich werden, <lb/>und wir werden auch einſehen tönnen, wie gerade ſolch’ eine <lb/>Einrichtung, wie ſie die Lunge beſitzt, die vorzüglichſte iſt, <lb/>um ihren Zweck zu erreichen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1396" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1397" xml:space="preserve">Während des Einatmens füllen ſich die Luftwege der <lb/>Lunge mit Luft. </s>
  <s xml:id="echoid-s1398" xml:space="preserve">Dieſe Luft, in welcher wir leben, iſt ein <lb/>Gemiſch von zwei Luftarten, von Stickſtoff und Sauerſtoff, und <lb/>zwar iſt dieſes Gemiſch ſo gleichmäßig allenthalben verteilt, <lb/>daß ſtets auf vier Maß Stickſtoff ein Maß Sauerſtoff kommt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1399" xml:space="preserve">Da man nun in einer Minute ungefähr zwanzig Mal atmet <lb/>und mit jedem Atemzug in gewöhnlichem Zuſtande circa ein <lb/>halbes Liter Luft in die Lunge aufnimmt, ſo hat man in <lb/>einer Minute an zehn Liter eingeatmet, worin zwei Liter <lb/>Sauerſtoff enthalten ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s1400" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1401" xml:space="preserve">Freilich hat man in derſelben Zeit auch faſt zehn Liter <lb/>Luft ausgeatmet; </s>
  <s xml:id="echoid-s1402" xml:space="preserve">aber die Beſchaffenheit der ausgeatmeten Luft <lb/>iſt anders als die eingeatmete. </s>
  <s xml:id="echoid-s1403" xml:space="preserve">In der ausgeatmeten Luft <lb/>ſind acht Liter Stickſtoff, ein und ein halbes Liter Sauerſtoff <lb/>und etwas weniger als ein halbes Liter Kohlenſäure; </s>
  <s xml:id="echoid-s1404" xml:space="preserve">dies iſt <lb/>eine Luftart, welche entſteht, ſobald ſich Sauerſtoff mit Kohle <lb/>verbindet.</s>
  <s xml:id="echoid-s1405" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1406" xml:space="preserve">Da nun der Stickſtoff, der eingeatmet wird, keine weſent-<lb/>liche Rolle im Körper zu ſpielen ſcheint, ſo können wir dieſen <lb/>für unſern Zweck ganz außer acht laſſen und nur ſagen, daß beim
<pb o="99" file="0107" n="107"/>
Atmen etwas vorgeht, wodurch ſich die in einer Minute ein-<lb/>genommenen zwei Liter Sauerſtoff zum Teil in Kohlenſäure um-<lb/>wandeln.</s>
  <s xml:id="echoid-s1407" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1408" xml:space="preserve">Wie und zu welchem Zweck geſchieht dies?</s>
  <s xml:id="echoid-s1409" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1410" xml:space="preserve">Hierüber hat die Wiſſenſchaft dieſes Jahrhunderts hin-<lb/>reichende Aufſchlüſſe gegeben, obwohl man ſagen muß, daß <lb/>Einzelheiten noch ziemlich dunkel und der fortſchreitenden <lb/>Wiſſenſchaft als Gegenſtände der Erforſchung verbleiben.</s>
  <s xml:id="echoid-s1411" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1412" xml:space="preserve">Was man ſicher weiß, iſt Folgendes.</s>
  <s xml:id="echoid-s1413" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1414" xml:space="preserve">Wir haben geſehen, daß die Lunge außer jenen baum-<lb/>artig gebauten Luftwegen noch ein außerordentlich feines <lb/>Kanalſyſtem in ſich hat, durch welches das Blut vom Herzen <lb/>aus und wieder zu dieſem zurückſtrömt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1415" xml:space="preserve">Das Kanalſyſtem <lb/>liegt in unendlich feinen Verzweigungen verteilt, welche die <lb/>feinen Luftwege umſchlingen und umwinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s1416" xml:space="preserve">— Nun aber hat <lb/>man das Blut unterſucht, welches vom Herzen zur Lunge <lb/>ſtrömt, und gefunden, daß dies Kohlenſäure in ſich beigemiſcht <lb/>hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s1417" xml:space="preserve">ferner hat die Unterſuchung des Blutes, das aus der <lb/>Lunge zum Herzen zurückſtrömt, ergeben, daß weniger Kohlen-<lb/>ſäure darin iſt, und daß es dafür mehr Sauerſtoff enthält, <lb/>und iſt zu dem Schluß gekommen, daß der Sauerſtoff, den man <lb/>eingeatmet hat, ins Blut übergegangen, während die Kohlen-<lb/>ſäure, die ausgeatmet worden, dem Blute entnommen worden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1418" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1419" xml:space="preserve">Wir haben als mittleren Wert der Atmung unter gewöhn-<lb/>lichen Umſtänden angenommen, daß man in einer Minute zehn <lb/>Liter, mithin zwei Liter Sauerſtoff einatmet. </s>
  <s xml:id="echoid-s1420" xml:space="preserve">Da das Herz <lb/>ungefähr in einer Minute ſiebzigmal Blut in die Lunge ein-<lb/>ſt@ömen läßt, und jedesmal etwa zehn Lot dieſen Weg durch-<lb/>lauſen, ſo iſt in einer Minute beinahe das ganze Blut des <lb/>Körpers durch die Lungen gegangen, um mit Sauerſtoff ver-<lb/>ſorgt zu werden, während es zu gleicher Zeit einen Teil der <lb/>abgeſtorbenen Maſſe, die Kohlenſäure, abgegeben und in die <lb/>Welt hinaus befördert hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s1421" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="100" file="0108" n="108"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1422" xml:space="preserve">Das iſt die Art, wie man durch die Lunge Sauerſtoff ein-<lb/>atmet und Kohlenſäure ausatmet, wie man durch die Atmung <lb/>das Blut lebensfähig macht und von abgeſtorbenen Teilen <lb/>wieder befreit, wie man ſo zu ſagen Leben einſaugt und Tod <lb/>aushaucht.</s>
  <s xml:id="echoid-s1423" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1424" xml:space="preserve">Wird hiernach der wichtige Zweck der Atmung jedem klar, <lb/>ſo wollen wir nun zeigen, wie die Einrichtung ſo vorzüglich <lb/>iſt, daß ſie an Zweckmäßigkeit jede Art von künſtlicher Ma-<lb/>ſchine weit übertrifft.</s>
  <s xml:id="echoid-s1425" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div36" type="section" level="1" n="35">
<head xml:id="echoid-head39" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXX. Die ſinnreiche Einrichtung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1426" xml:space="preserve">Wenn man den Zweck der Lunge und ihrer Thätigkeit <lb/>darin findet, daß in ihr dem Blut Sauerſtoff zugeführt und <lb/>Kohlenſäure dem Blut entzogen werde, ſo fragt es ſich, ob die <lb/>Einrichtung dieſes Werkzeuges unſeres Leibes ſo iſt, daß es <lb/>ſeinem Zweck gut entſpricht, oder ob man möglicherweiſe eine <lb/>Maſchine erſinnen könnte, die dieſes Kunſtſtück beſſer verſteht?</s>
  <s xml:id="echoid-s1427" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1428" xml:space="preserve">Leider muß jeder Unparteiiſche zur Beſchämung der menſch-<lb/>lichen Erfindungsgabe ſagen, daß die Lunge eine vollendetere <lb/>Maſchinerie iſt, als man jemals zu erſinnen vermocht hätte.</s>
  <s xml:id="echoid-s1429" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1430" xml:space="preserve">Faſſen wir einmal die Aufgabe der Lunge im ganzen auf, <lb/>ſo mußte ſie ſo eingerichtet werden, daß durch ſie in jeder <lb/>Minute einige zwanzig Pfund Blut, die der erwachſene Menſch <lb/>beſitzt, mit Sauerſtoff getränkt und von Kohlenſäure gereinigt <lb/>werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s1431" xml:space="preserve">— Nun iſt das Tränken des Blutes mit Sauerſtoff <lb/>eigentlich ſehr leicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1432" xml:space="preserve">Das Blut hat nämlich eine große Nei-<lb/>gung Sauerſtoff aufzunehmen und nimmt dieſen auch aus der <lb/>Luft auf, ſobald es mit derſelben in Berührung kommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1433" xml:space="preserve">Öffnet <lb/>man eine Ader, die kohlenſäurehaltiges Blut führt, und läßt <lb/>davon etwas in einen Teller fließen, ſo bemerkt man ſehr bald,
<pb o="101" file="0109" n="109"/>
daß das bläuliche Blut ſich an der Luft rötet, und dies ge-<lb/>ſchieht eben dadurch, daß der Sauerſtoff der Luft ſich mit dem <lb/>Blute verbindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s1434" xml:space="preserve">— Im Prinzip alſo iſt die Tränkung des <lb/>Blutes mit Sauerſtoff gar nicht ſo ſchwierig; </s>
  <s xml:id="echoid-s1435" xml:space="preserve">aber es praktiſch <lb/>möglich zu machen, daß in jeder Minute die zwanzig Pfund <lb/>Blut ſo getränkt werden, das iſt eine ungeheuere Schwierigkeit.</s>
  <s xml:id="echoid-s1436" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1437" xml:space="preserve">Bei der Berührung von Luft und Blut iſt es nur die oberſte <lb/>feinſte Schicht, welche Sauerſtoff aufnimmt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1438" xml:space="preserve">das Blut unter <lb/>dieſer oberſten Schicht kommt nicht mit der Luft in Berührung <lb/>und kann nur den Sauerſtoff aus derſelben aufnehmen, wenn <lb/>die oberſte Schicht bereits in Zerſetzung übergeht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1439" xml:space="preserve">Das Blut <lb/>in einem Teller kann daher nur äußerſt langſam mit Sauer-<lb/>ſtoff verſorgt werden, da die Fläche, in welcher Luft und Blut <lb/>ſich berühren, nur ſehr gering iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1440" xml:space="preserve">Will man nun dennoch eine <lb/>große Maſſe Blut recht ſchnell mit Sauerſtoff verſorgen, ſo <lb/>muß man die Fläche, in welcher es mit der Luft in Berüh-<lb/>rüng treten kann, außerordentlich groß machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1441" xml:space="preserve">Und dieſes <lb/>Kunſtſtück iſt in der Lunge ausgeführt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1442" xml:space="preserve">die Fläche, in welcher <lb/>ſich Blut und Luft in der Lunge nahe kommen, iſt ungeheuer <lb/>groß, trotzdem die Lunge ſelber nur ſehr klein iſt!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1443" xml:space="preserve">— Wie iſt dies möglich?</s>
  <s xml:id="echoid-s1444" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1445" xml:space="preserve">Es iſt eben dadurch möglich, daß die Luftwege ſo außer-<lb/>ordentlich baumartig verzweigt ſind und die Blutwege ſich ſo <lb/>merkwürdig um die Luftwege herumwinden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1446" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1447" xml:space="preserve">Um ſich das recht deutlich zu machen, bitten wir, daß der <lb/>Leſer ſich erinnere an den erwähnten Wachsbaum, der entſtehen <lb/>würde, wenn man die Luftwege der Lunge mit einer Wachs-<lb/>maſſe ausfüllen wollte. </s>
  <s xml:id="echoid-s1448" xml:space="preserve">Stellen wir uns ſolchen Wachsbaum <lb/>vor, der etwa ein halbes Pfund wiegen würde, und ver-<lb/>gleichen wir einmal, wie viel Oberfläche dieſer Wachsbaum <lb/>und wie wenig Oberfläche ein halbes Pfund Wachs hat, dem <lb/>man eine Kngelform giebt! Der Wachsbaum iſt in millionen-<lb/>fache Zweige geteilt, jeder dieſer Zweige hat eine beſondere
<pb o="102" file="0110" n="110"/>
Oberfläche, je feiner die Zweige ſich ſpalten, deſto mehr Ober-<lb/>fläche erhält der Baum, während die Wachskugel nur eine, <lb/>und zwar die möglichſt kleine Oberfläche hat, die ihr gegeben <lb/>werden kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s1449" xml:space="preserve">Denken wir uns, man tauche dieſen Wachsbaum <lb/>unter Waſſer, ſo wird es jeder einſehen, daß eine Unmaſſe von <lb/>Waſſer mit dem Wachs in Berührung kommt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1450" xml:space="preserve">taucht man da-<lb/>gegen die Wachskugel ins Waſſer, ſo benetzt ſich nur die Ober-<lb/>fläche, während die innern Schichten ganz unberührt bleiben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1451" xml:space="preserve">Setzen wird den Wachsbaum dem Winde aus, ſo ſtreicht die <lb/>Luft durch ein millionenfaches Gezweige, und auf jedem Zweig-<lb/>chen berühren ſich Luft und Wachs; </s>
  <s xml:id="echoid-s1452" xml:space="preserve">ſetzt man dagegen die <lb/>Wachskugel dem Winde aus, ſo ſtreicht die Luft nur über die <lb/>oberſte Fläche hin. </s>
  <s xml:id="echoid-s1453" xml:space="preserve">— Es wird aus dieſem Beiſpiel wohl leicht <lb/>einzuſehen ſein, wie die feine Zerteilung einer Maſſe ihre Ober-<lb/>fläche ungeheuer vergrößert; </s>
  <s xml:id="echoid-s1454" xml:space="preserve">um dies aber durch ein einfacheres <lb/>Beiſpiel noch deutlicher zu machen, wollen wir uns Folgendes <lb/>vorſtellen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1455" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1456" xml:space="preserve">Geſetzt wir hätten einen Apfel, der ſo beſchaffen iſt, daß <lb/>er nur genießbar wird, wenn er durch und durch von Luft <lb/>durchdrungen wird, ſo würden wir unſern Zweck ſchlecht <lb/>erreichen, wenn wir ihn, wie er iſt, an die Luft legen wollten, <lb/>da er ſo nur an der Oberfläche genießbar würde. </s>
  <s xml:id="echoid-s1457" xml:space="preserve">Richtiger <lb/>würden wir ſchon handeln, wenn wir den Apfel durchſchnitten <lb/>und in zwei Hälften der Luft ausſetzten. </s>
  <s xml:id="echoid-s1458" xml:space="preserve">Die Luft würde <lb/>freilich auch jetzt nur die Oberfläche genießbar machen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1459" xml:space="preserve">aber <lb/>durch den Schnitt hätten wir eben die Oberfläche vergrößert, <lb/>und zwar um die beiden Schnittflächen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1460" xml:space="preserve">Thun wir nun mit <lb/>jedem Teil dasſelbe, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s1461" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s1462" xml:space="preserve">durchſchneiden wir dieſen noch ein-<lb/>mal, ſo haben wir wieder mit jedem Schnitt zwei nene Flächen <lb/>der Luft zugänglich gemacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1463" xml:space="preserve">Der Apfel wurde zerkleinert; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1464" xml:space="preserve">aber die Oberfläche, die Berührungsfläche mit der Luft wurde <lb/>vergrößert. </s>
  <s xml:id="echoid-s1465" xml:space="preserve">Was folgt aber daraus? </s>
  <s xml:id="echoid-s1466" xml:space="preserve">Nichts anderes als die <lb/>Thatſache: </s>
  <s xml:id="echoid-s1467" xml:space="preserve">je mehr man den Apfel zerteilt, deſto größer
<pb o="103" file="0111" n="111"/>
macht man deſſen Oberfläche, man kann alſo ſeine Oberfläche <lb/>ins Unendliche vergrößern, wenn man ſeine Teilchen unendlich <lb/>verkleinert.</s>
  <s xml:id="echoid-s1468" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1469" xml:space="preserve">Ganz ſo iſt es mit dem Gewebe der Lunge.</s>
  <s xml:id="echoid-s1470" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1471" xml:space="preserve">Wäre die Lunge wie ein Schlauch oder eine Flaſche ge-<lb/>baut, worin ein halb Liter Luft und eine entſprechende Maſſe <lb/>Blut hineingeht, ſo würde es rein unmöglich ſein, in einer <lb/>Minute einige zwanzig Pfund Blut mit Luft in Berührung <lb/>zu bringen, um das Blut mit Sauerſtoff zu verſorgen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1472" xml:space="preserve">Nun <lb/>aber, wo die Höhlung der Lunge in ein äußerſt feines, baum-<lb/>artiges Gezweige geteilt iſt, das Millionen und Millionen <lb/>Zweigchen beſitzt und wiederum das Blut durch ein Kanal-<lb/>ſyſtem läuft, das in die allerfeinſten Röhrchen übergeht, da-<lb/>durch eben ſind ſowohl der Luftweg der Lunge, wie deren Blut-<lb/>wege ſo außerordentlich groß an Oberfläche, daß eine ſo kleine <lb/>Maſchine, wie dieſe Lunge, ein ſo erſtaunliches Reſultat in <lb/>ihrer Wirkung haben kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s1473" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1474" xml:space="preserve">Wäre man imſtande, die Luftwege der Lunge genau zu <lb/>ſpalten, die Haut, die ſie umkleidet, herauszunehmen und auf <lb/>einer Fläche auszubreiten, ſo würde man nach ungefährer <lb/>Schätzung mit der Haut einer einzigen Menſchenlunge den <lb/>Fußboden eines großen Zimmers belegen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s1475" xml:space="preserve">Würde man <lb/>es mit dem Kanalſyſtem der Lunge, das Blut in ſich führt, <lb/>ebenſo machen, ſo würde man eine Tapete für eine Wand be-<lb/>ſitzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1476" xml:space="preserve">So ungeheuer groß ſind die Flächen, die in einer ſo <lb/>kleinen Maſchine wie die Lunge ſtecken, und unleugbar deshalb <lb/>ſtecken, damit die Lunge fähig werde, ihren Dienſt zu verrichten.</s>
  <s xml:id="echoid-s1477" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1478" xml:space="preserve">Und dieſen Dienſt müſſen wir doch noch näher kennen <lb/>lernen, denn es ſteckt noch ſo manches dahinter, was Menſchen-<lb/>erfindungen ihr noch lange nicht wett machen werden!</s>
</p>
<pb o="104" file="0112" n="112"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div37" type="section" level="1" n="36">
<head xml:id="echoid-head40" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXI. Die regulierte Thätigkeit und die</emph> <lb/><emph style="bf">Nebengeſchäfte der Lunge.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1479" xml:space="preserve">Der Bau der Lunge iſt nicht nur ſo unglaublich zweck-<lb/>mäßig eingerichtet, daß in ſolch’ kleinem Raum ſo ungeheuere <lb/>Wirkungen erzielt werden können, ſondern ihre Thätigkeit iſt <lb/>ſo reguliert und mit Nebenwirkungen verſorgt, daß man ihre <lb/>Vorzüglichkeit faſt eine unüberſehbare nennen muß.</s>
  <s xml:id="echoid-s1480" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1481" xml:space="preserve">Die zwanzig Pfund Blut des ausgewachſenen menſchlichen <lb/>Körpers müſſen vom Herzen durch einige ſiebzig Zuſammen-<lb/>preſſungen in Zeit von einer Minute durch das Kanalſyſtem <lb/>der Lunge gejagt werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s1482" xml:space="preserve">Nennen wir dieſe Preſſungen den <lb/>Pulsſchlag in der Lunge, ſo bringt mindeſtens in jeder Sekunde <lb/>ein Pulsſchlag mehr als 100 Gramm Blut in die Lunge, die <lb/>jedoch dort nicht ſtillſtehen, ſondern in ſtetem Durchfließen in <lb/>äußerſt kurzer Zeit ihren Sauerſtoff erhalten müſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1483" xml:space="preserve">Da aber <lb/>der Sauerſtoff nur durch das Einatmen in die Lunge gelangt, <lb/>und man nach dem Einatmen auch ausatmen muß, ſo würde <lb/>das Blut, welches während des Ausatmens durch die Lunge <lb/>läuft, keinen Sauerſtoff erhalten und ſomit lebensunfähig <lb/>werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s1484" xml:space="preserve">— Dieſem Übelſtand iſt durch die Einrichtung ab-<lb/>geholfen, die wir bereits erwähnt haben, und zwar iſt die Ein-<lb/>richtung folgende:</s>
  <s xml:id="echoid-s1485" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1486" xml:space="preserve">Die Lunge giebt beim Ausatmen nicht alle Luft von ſich, <lb/>ſondern hält einen bedeutenden Teil ſtets zurück, und zwar in <lb/>den feinen Bläschen, welche wir die Birnen an dem Luftbaum <lb/>der Lunge genannt haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s1487" xml:space="preserve">Da dieſe Bläschen das Ende der <lb/>Luftwege ſind, und dieſe eigentlich nie leer werden, ſo kann <lb/>man ſagen, man füllt beim Atmen nur die Stämme, Äſte und <lb/>Zweige der Luftwege, alſo nur die nächſten Teile mit friſcher <lb/>Luft aus; </s>
  <s xml:id="echoid-s1488" xml:space="preserve">dieſe friſche Luft trifft in der Lunge einen alten <lb/>Reſt von Luft an, welcher ſeinen Sauerſtoff faſt ganz fort-
<pb o="105" file="0113" n="113"/>
gegeben und dafür Kohlenſäure aufgenommen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1489" xml:space="preserve">nun aber <lb/>geſchieht in der Lunge ein weiterer Austauſch oder richtiger <lb/>eine Miſchung von friſcher und alter Luft, und wenn man <lb/>wieder ausatmet, ſo bleibt ein Reſt von reinerer Miſchung <lb/>zurück, als der war, welchen man kurz vor dem Einatmen <lb/>beſaß.</s>
  <s xml:id="echoid-s1490" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1491" xml:space="preserve">Wie wichtig aber dieſer Reſt von Luft iſt, der ſelbſt beim <lb/>Ausatmen zurückbleibt, um inzwiſchen das Blut mit Sauerſtoff <lb/>zu verſorgen, wird man leicht einſehen, wenn man bedenkt, <lb/>daß bei langſamem, tiefen Atem, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s1492" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s1493" xml:space="preserve">während des <lb/>Schlafes, oft ſieben bis acht Pulsſchläge zwiſchen einer Ein-<lb/>atmung und der andern vergehen, und immerhin jeder Puls-<lb/>ſchlag neues Blut durch die Lunge treibt, das ſeine Portion <lb/>Sauerſtoff ſofort erhalten muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s1494" xml:space="preserve">— Aber auch den Wachenden, <lb/>die ſchneller atmen, iſt dieſer Umſtand von größter Wichtigkeit. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1495" xml:space="preserve">Unſere Parlamentsmitglieder würden nicht ſo langatmige Reden <lb/>halten können, wenn ihr Blut, das meiſtens ſchnell umläuft, <lb/>nicht einen Reſt von Luft in den Lungen vorfände, das es <lb/>lebensfähig macht; </s>
  <s xml:id="echoid-s1496" xml:space="preserve">unſere Sängerinnen würden auch aus <lb/>gleichem Grunde nicht imſtande ſein, ſo langatmige Töne von <lb/>ſich zu geben, wie ſie thun müſſen, um die Hörer zu entzücken; </s>
  <s xml:id="echoid-s1497" xml:space="preserve"><lb/>ja, was noch ſchlimmer wäre, wir würden nicht imſtande ſein, <lb/>unſeren Hunger und Durſt in langen Biſſen und Zügen zu <lb/>ſtillen, wobei die Atmung ganz unterbrochen wird, und was <lb/>gewiß das allerſchlimmſte wäre, wir würden in ſchädlicher und <lb/>verpeſteter Luft keinen Augenblick auszuhalten vermögen, wenn <lb/>wir genötigt wären, für jeden neuen Blutſtrom nach der Lunge <lb/>einen friſchen Atemzug zu thun.</s>
  <s xml:id="echoid-s1498" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1499" xml:space="preserve">Iſt nun dieſe Regulierung der Lungenthätigkeit ſchon <lb/>äußerſt merkwürdig, ſo ſind die Nebenwirkungen der Lungen-<lb/>thätigkeit nicht minder bewundernswert, denn ſie verrichten <lb/>Dinge, die zu den allerwichtigſten Lebensprozeſſen gehören.</s>
  <s xml:id="echoid-s1500" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1501" xml:space="preserve">Daß die Luft, die man ausatmet, feucht iſt, wird jeder-
<pb o="106" file="0114" n="114"/>
mann bemerkt haben, der einmal eine Fenſterſcheibe anhauchte, <lb/>oder dem im Winter der Schnurrbart zu einem Eiszapfen <lb/>friert; </s>
  <s xml:id="echoid-s1502" xml:space="preserve">daß dieſe Feuchtigkeit aus der Lunge kommt, und zwar <lb/>direkt aus dem Blute, das iſt auch erſt durch die Wiſſenſchaft <lb/>dieſes Jahrhunderts feſtgeſtellt worden; </s>
  <s xml:id="echoid-s1503" xml:space="preserve">daß aber neben dieſer <lb/>Bildung von Waſſer in der Lunge auch hier noch der Herd <lb/>iſt, worin das Feuer des Lebens angebrannt wird, das iſt <lb/>eine Wahrheit, welche erſt die Naturforſchung der neueren Zeit <lb/>aufgedeckt hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s1504" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1505" xml:space="preserve">Bei der Ausſcheidung des Waſſers aus dem Blute ſpielt <lb/>die Lunge eigentlich nur die Rolle eines Filtrums. </s>
  <s xml:id="echoid-s1506" xml:space="preserve">Das <lb/>Waſſer iſt urſprünglich im Blute ſelbſt enthalten und tritt <lb/>durch die Häute der Blutwege und der Luftwege der Lunge <lb/>in Art einer Ausſchwitzung hindurch, wobei die auszuatmende <lb/>Luft ſich mit Feuchtigkeit ſättigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1507" xml:space="preserve">Ein erwachſener Menſch <lb/>verliert in gewöhnlichem Wetter ungefähr ein Pfund Waſſer <lb/>täglich durch das Ausatmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1508" xml:space="preserve">Dieſe Ausſcheidung des Waſſers <lb/>durch die Lunge iſt zwar ſehr verſchieden je nach der Trocken-<lb/>heit oder Feuchtigkeit der Luft, die man eingeatmet; </s>
  <s xml:id="echoid-s1509" xml:space="preserve">iſt die <lb/>eingeatmete Luft trocken, wie im heißen Sommer oder in <lb/>Zimmern, die ſtark durch eiſerne Öfen geheizt werden, ſo nimmt <lb/>man beim Ausatmen mehr Waſſer aus dem Blute auf, weshalb <lb/>man auch unter ſolchen Umſtänden ſtärkeren Durſt verſpürt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1510" xml:space="preserve">iſt <lb/>dagegen die eingeatmete Luft feucht, wie in regneriſchen Sommer-<lb/>und Wintertagen, ſo tritt weniger Waſſer aus dem Blut in <lb/>die Lunge. </s>
  <s xml:id="echoid-s1511" xml:space="preserve">Allein es müſſen hierbei Umſtände mitſpielen, die <lb/>man noch nicht erforſcht hat und welche die Ausatmung von <lb/>Waſſer hervorbringen, ſelbſt wenn die eingeatmete Luft ſchon <lb/>vollſtändig von Waſſer geſättigt iſt, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s1512" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s1513" xml:space="preserve">in unſeren <lb/>Waſchhäuſern, wo trotz der überreichen Waſſermenge in der <lb/>Luft dennoch täglich 18 bis 24 Lot Waſſer ausgeatmet werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1514" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1515" xml:space="preserve">Da jedoch bei dieſer Waſſerbildung die Lunge wahr-<lb/>ſcheinlich keine thätige Rolle ſpielt, ſo wollen wir in dieſer
<pb o="107" file="0115" n="115"/>
Beziehung nur ihre Wichtigkeit als Filtrum hervorheben und <lb/>uns zur Bildung der Wärme in den Lungen wenden, die von <lb/>entſchiedenſtem und bedeutendſtem Einfluß auf das Leben iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1516" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div38" type="section" level="1" n="37">
<head xml:id="echoid-head41" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXII. Die Lunge als Heizapparat.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1517" xml:space="preserve">Noch zu Anfang unſeres Jahrhunderts gehörte es zu den <lb/>gangbarſten Vorſtellungen, die tieriſche Wärme auf Rechnung <lb/>einer unbekannten Kraft zu ſetzen, welche man “Lebenskraft” <lb/>nannte, und der man alles zuſchrieb, was man von den Er-<lb/>ſcheinungen des Lebens nicht erklären konnte.</s>
  <s xml:id="echoid-s1518" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1519" xml:space="preserve">Wunderbar genug iſt in der That die gleichmäßige Blut-<lb/>wärme, welche man am Menſchen beobachtet. </s>
  <s xml:id="echoid-s1520" xml:space="preserve">Das Blut und <lb/>alle inneren Teile des menſchlichen Leibes ſind zu allen Zeiten <lb/>des Jahres, in allen Gegenden der Welt, unter allen Ver-<lb/>hältniſſen und in jedem Alter des Lebens ſtets circa 37 Grad <lb/>warm; </s>
  <s xml:id="echoid-s1521" xml:space="preserve">der geringſte Verluſt von Wärme, die mindeſte <lb/>Steigerung derſelben bringt krankhafte Erſcheinungen und <lb/>ſelbſt den Tod hervor, und doch konnte man ſich’s nicht <lb/>erklären, woher dieſe Wärme in Ländern ſtammt, wo außer-<lb/>ordentlicher Froſt herrſcht und der Menſch nicht nur durch die <lb/>ganze Haut, ſondern auch durch den Atem in jedem Moment <lb/>einen Teil der Wärme verliert, indem er ſtets kalte Luft ein-<lb/>atmet und warme aushaucht.</s>
  <s xml:id="echoid-s1522" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1523" xml:space="preserve">Auch hier war es der Wiſſenſchaft der neueren Zeit vor-<lb/>behalten, die naturgemäße Erklärung aufzufinden und jene <lb/>alte Erklärungsweiſe zu verdrängen, die ein Rätſel ſtets mit <lb/>Annahme eines noch größeren Rätſels, “der Lebenskraft” zu <lb/>löſen trachtete. </s>
  <s xml:id="echoid-s1524" xml:space="preserve">Die Naturwiſſenſchaft wies nach, daß das <lb/>Atmen gerade die Quelle der tieriſchen Wärme iſt, und daß in <lb/>der Lunge und durch ihre Vermittelung im ganzen Körper
<pb o="108" file="0116" n="116"/>
dasſelbe vorgeht, was in einem Ofen geſchieht, durch welchen <lb/>man ein Zimmer in ſtets gleicher Wärme erhalten kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s1525" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1526" xml:space="preserve">Von der Ähulichkeit, welche die Lunge mit einem Ofen <lb/>hat, haben wir bereits geſprochen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1527" xml:space="preserve">ſie beſteht darin, daß auch <lb/>ein Ofen nur dann den Brennſtoff verzehrt und in Hitze ver-<lb/>ſetzt wird, wenn er einerſeits Sauerſtoff aus der Luft ent-<lb/>nehmen und andererſeits die Kohlenſäure, dieſe Verbindung <lb/>des Sauerſtoffs mit der Kohle, von ſich geben kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s1528" xml:space="preserve">Will <lb/>man einen Ofen in hellem Brand erhalten, ſo muß man vorn <lb/>an der Ofenthür eine kleine Klappe öffnen, durch welche die <lb/>Luft zum Feuer ſtrömt, und zu gleicher Zeit muß man die <lb/>Klappe zum Schornſtein offen laſſen, damit die Kohlenſäure, <lb/>die ſich im Ofen bildet, hinausziehen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s1529" xml:space="preserve">Durch die Thür-<lb/>klappe atmet demnach der Ofen ein, und durch die Schornſtein-<lb/>klappe atmet er aus, und zwar iſt das, was er einatmet und <lb/>ausatmet, dem ganz gleich, was auch unſere Lunge aufnimmt <lb/>und von ſich entfernt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1530" xml:space="preserve">Aber die größere Ähnlichkeit liegt noch <lb/>darin, daß ebenſo wie die Verbindung der Kohle mit Sauer-<lb/>ſtoff im Ofen es iſt, welche die Wärme erzeugt, ebenſo es in <lb/>der Lunge der Fall iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1531" xml:space="preserve">Sie iſt in der That der unmittelbare <lb/>und mittelbare Ofen des Leibes.</s>
  <s xml:id="echoid-s1532" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1533" xml:space="preserve">Es iſt nämlich durch die Chemie ganz unumſtößlich <lb/>bewieſen, daß allenthalben, wo ſich Kohle mit Sauerſtoff ver-<lb/>bindet und Kohlenſäure bildet, auch ſtets eine Erwärmung <lb/>erfolgt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1534" xml:space="preserve">Die Wärme unſeres Feuers iſt nur eine Folge der <lb/>chemiſchen Verwandlung, welche brennend vor ſich geht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1535" xml:space="preserve">Iſt <lb/>dieſe Verwandlung ſehr ſchnell, ſo entwickelt ſich ein ſehr hoher <lb/>Grad von Wärme und zwar unter Lichterſcheinungen und <lb/>Flammen, wie dies im Ofen der Fall iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1536" xml:space="preserve">Geht die chemiſche <lb/>Verwandlung weniger heftig vor ſich, ſo entwickelt ſich Wärme <lb/>ohne Licht und Flammen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1537" xml:space="preserve">— Die Beweiſe für dieſe Lehre hat <lb/>die Chemie unumſtößlich gegeben und durch tauſendfache Beiſpiele <lb/>und Berechnungen jeden Zweifel an dieſer Wahrheit beſeitigt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1538" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="109" file="0117" n="117"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1539" xml:space="preserve">Da nun aber in der Lunge wirklich dieſelbe chemiſche <lb/>Verwandlung eingeleitet wird wie im Ofen, da ſie die Ein-<lb/>richtung hat, ebenſo Sauerſtoff aufzunehmen, wie Kohlenſäure <lb/>zu entfernen, da in ihr ferner ſchon ein Teil des chemiſchen <lb/>Vorganges ſtattfindet und die Kohle des Blutes, welches zur <lb/>Lunge ſtrömt, ſich in dieſer mit dem Sauerſtoff verbindet, ſo <lb/>iſt unumſtößlich, daß in der Lunge ſchon Wärme entſtehen muß.</s>
  <s xml:id="echoid-s1540" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1541" xml:space="preserve">In dieſem Sinne kann man in Wahrheit die Lunge auch <lb/>als Heizapparat des Leibes betrachten: </s>
  <s xml:id="echoid-s1542" xml:space="preserve">nur darf man ſich <lb/>nicht vorſtellen, daß in der Lunge allein jene chemiſche Ver-<lb/>bindung von Sauerſtoff und Kohle vor ſich geht, welche Wärme <lb/>erzeugt, ſondern muß bedenken, daß die Blutflüſſigkeit, welche <lb/>in der Lunge Sauerſtoff aufgenommen hat, durch das Herz <lb/>und deſſen Stoßkraft nach allen Teilen des Körpers getrieben <lb/>wird, daß es auf dieſem Wege immer noch Sauerſtoff übrig <lb/>hat, um allenthalben Kohlenſäure zu bilden und ſomit ver-<lb/>brauchte Stoffe des Leibes wieder im Blutſtrom zum Herzen <lb/>zu führen, damit ſie von dort nach der Lunge geſchickt werden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1543" xml:space="preserve">Indem nun ſo die Bildung der Kohlenſäure zugleich im ganzen <lb/>Körper geſchieht, findet allenthalben, wo nur ſtrömendes Blut <lb/>vorhanden iſt, auch Entwickelung von Wärme ſtatt, und die <lb/>Lunge iſt nur eine Art von Hauptofen, in welchem die Ver-<lb/>brennung des Kohlenſtoffes beginnt und ſich dann allenthalben <lb/>fortſetzt, wo das feine Geäder das ſauerſtoffhaltige Blut in <lb/>innige Berührung bringt mit der abſterbenden Kohle des <lb/>Leibes.</s>
  <s xml:id="echoid-s1544" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1545" xml:space="preserve">Woher aber mag es wohl kommen, daß die Lunge, dieſer <lb/>Ofen des Leibes, im Sommer und im Wintec in ganz gleicher <lb/>Weiſe die Heizkraft reguliert und die Wärme des Blutes auf <lb/>gleichem Grad der Hitze erhält?</s>
  <s xml:id="echoid-s1546" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1547" xml:space="preserve">Über dieſe Frage hat <emph style="sp">Juſtus von Liebig</emph> vortreffliche <lb/>Aufſchlüſſe gegeben, aus denen ſich erweiſt, wie die Lunge <lb/>auch als Ofen ein wahres Meiſterſtück iſt, und andere Natur-
<pb o="110" file="0118" n="118"/>
forſcher, die Liebigs Entdeckungen weiter verfolgten, haben <lb/>außerdem noch den Beweis geführt, daß die Lunge auch als <lb/>Sparofen ein wahres Muſter nützlicher Erfindung iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1548" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1549" xml:space="preserve">Dieſe wiſſenſchaftlichen Aufſchlüſſe ſind ſo bedeutend, daß <lb/>wir ſie ein wenig näher kennen lernen müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1550" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div39" type="section" level="1" n="38">
<head xml:id="echoid-head42" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXIII. Die Regulierung der Leibeswärme.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1551" xml:space="preserve">Die Aufklärung, welche Liebig über das Atmen gegeben <lb/>hat, iſt deshalb beſonders ſo intereſſant, weil ſie durch allbe-<lb/>kannte Beiſpiele aus dem gewöhnlichen Leben das Atmen er-<lb/>klärt und zugleich den innigen Zuſammenhang desſelben mit <lb/>dem Lebensvorgang recht überſichtlich macht.</s>
  <s xml:id="echoid-s1552" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1553" xml:space="preserve">Wenn es ausgemacht iſt, daß das Feuer im Ofen nicht <lb/>brennt, ſobald kein Sauerſtoff zu demſelben zutreten kann, ſo <lb/>iſt es noch allgemeiner bekannt, daß der Sauerſtoff das Feuer <lb/>nicht unterhalten kann, ſobald man nicht Brennmaterial in den <lb/>Ofen einlegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1554" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1555" xml:space="preserve">Gleicht nun die Lunge in der Beziehung einem Ofen, daß <lb/>durch ſie der Sauerſtoff einſtrömt, der ſich mit der Kohle des <lb/>Blutes verbindet, ſo gleicht ſie auch inſofern einem ſolchen, daß <lb/>ſie die Stätte iſt, wo alles Blut, das ſeine Rundreiſe im ganzen <lb/>Körper gemacht hat, hinſtrömt, um dort die gebildete Kohlen-<lb/>ſäure, wie ein Ofen durch ſeinen Schornſtein, auszuſcheiden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1556" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1557" xml:space="preserve">Nun iſt es aber leicht einzuſehen, daß, wenn die Wärme <lb/>des Leibes wirklich von der Atmung, von der Bildung der <lb/>Kohlenſäure herrührt, hierbei ganz wie im Ofen nicht bloß der <lb/>Sauerſtoff ſeine Rolle ſpielt, ſondern das Brennmaterial das <lb/>Hauptſächlichſte iſt, was die Wärme reguliert. </s>
  <s xml:id="echoid-s1558" xml:space="preserve">— Was aber iſt <lb/>dieſes Brennmaterial im Körper?</s>
  <s xml:id="echoid-s1559" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1560" xml:space="preserve">Liebig weiſt nach, daß das Brennmaterial des Körpers
<pb o="111" file="0119" n="119"/>
eben diejenigen Speiſen ſind, welche das Blut mit Kohlenſtoff <lb/>und den Beſtandteilen des Waſſers verſorgen, alſo mit den-<lb/>jenigen Dingen, welche man beim Ausatmen aus dem Körper <lb/>ausſcheidet.</s>
  <s xml:id="echoid-s1561" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1562" xml:space="preserve">Liebig lehrte die Speiſen, die wir genießen, in zwei ver-<lb/>ſchiedene Gattungen teilen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1563" xml:space="preserve">Die eine Art Speiſe, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s1564" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s1565" xml:space="preserve">Fleiſch, <lb/>Käſe, Eier, Brod, Erbſen, u. </s>
  <s xml:id="echoid-s1566" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s1567" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s1568" xml:space="preserve">iſt hauptſächlich zuſammen-<lb/>geſetzt aus vier Stoffen, aus Sauerſtoff, Waſſerſtoff, Kohlen-<lb/>ſtoff und Stickſtoff. </s>
  <s xml:id="echoid-s1569" xml:space="preserve">Dieſe Speiſe verwandelt ſich im Körper in <lb/>Blut, und das Blut bildet daraus unſere Muskeln, Nerven <lb/>und die ſonſtigen Teile des Körpers. </s>
  <s xml:id="echoid-s1570" xml:space="preserve">— Die zweite Art Speiſe <lb/>iſt nur aus <emph style="sp">drei</emph> Stoffen zuſammengeſetzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1571" xml:space="preserve">Sie enthalten <lb/>Kohlenſtoff, Sauerſtoff und Waſſerſtoff, während ihnen Stickſtoff <lb/>fehlt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1572" xml:space="preserve">Dieſe Gattung Speiſe ſind alle Gemüſearten, Kartoffeln, <lb/>Mohrrüben, Zucker, wie auch alle Getränke, wie Bier, Brannt-<lb/>wein, Wein u. </s>
  <s xml:id="echoid-s1573" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s1574" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s1575" xml:space="preserve">Auch dieſe Speiſen werden im Körper <lb/>zu Blut; </s>
  <s xml:id="echoid-s1576" xml:space="preserve">aber dieſer Teil des Blutes iſt nicht im ſtande, Fleiſch <lb/>zu bilden, weil ihm der Stickſtoff hierzu fehlt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1577" xml:space="preserve">ſeine Beſtim-<lb/>mung iſt vielmehr, wieder als Kohlenſäure und Waſſer aus-<lb/>geatmet zu werden und zwar, nachdem er die Rolle des Brenn-<lb/>materials im Körper geſpielt und die Leibeswärme hervorge-<lb/>bracht hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s1578" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1579" xml:space="preserve">Es dient demnach die Speiſe, die wir eſſen, einerſeits zur <lb/>wirklichen Bildung des Leibes und andererſeits zur Erwärmung <lb/>desſelben.</s>
  <s xml:id="echoid-s1580" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1581" xml:space="preserve">Nach dieſer Lehre von den Speiſen, die wir freilich hier <lb/>nicht weiter erörtern können, ſind alle Nahrungsmittel, welchen <lb/>Stickſtoff fehlt, und die deshalb die ſtickſtoffloſen Speiſen ge-<lb/>nannt werden, beſtimmt, den Körper zu erwärmen, oder rich-<lb/>tiger, ſie dienen vornehmlich dazu, den Kohlenſtoff herzugeben, <lb/>der beim Atmen aus dem Körper geht, den Kohlenſtoff, der <lb/>im Körper jene chemiſche Verbindung mit dem Sauerſtoff ein-<lb/>geht, bei welcher ſtets <emph style="sp">Wärme</emph> entſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s1582" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="112" file="0120" n="120"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1583" xml:space="preserve">Hiernach läßt es ſich leicht einſehen, daß die Wärme des <lb/>Körpers nicht bloß vom Atmen herrührt, ſondern hauptſächlich <lb/>von dem Kohlenſtoff, den wir in unſeren Speiſen verzehren. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1584" xml:space="preserve">Iſt dieſer Kohlenſtoff das wirkliche Brennmaterial des Leibes, <lb/>ſo iſt es klar, daß man, wenn es kalt iſt, viel Brennmaterial <lb/>braucht, während man, wenn es warm iſt, mit wenig vorlieb <lb/>nimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1585" xml:space="preserve">Und dies eben erklärt es ausreichend, woher die gleich-<lb/>mäßige Erwärmung des menſchlichen Blutes ſtattfindet, gleich-<lb/>viel ob ein Menſch in heißen oder in kalten Ländern lebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1586" xml:space="preserve">Die <lb/>gleichmäßige Erwärmung rührt bei verſchiedenem Klima von <lb/>den verſchiedenen Speiſen her, oder richtiger von den ver-<lb/>ſchiedenen Portionen Kohlenſtoff, die man in den Speiſen <lb/>verzehrt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1587" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1588" xml:space="preserve">Im Winter ißt man mehr als im Sommer und nament-<lb/>lich mehr kohlenſtoffhaltige Speiſen als im Sommer. </s>
  <s xml:id="echoid-s1589" xml:space="preserve">In heißen <lb/>Ländern genießt man mehr Früchte; </s>
  <s xml:id="echoid-s1590" xml:space="preserve">in kalten verzehrt man <lb/>Speck und Thran mit großem Appetit. </s>
  <s xml:id="echoid-s1591" xml:space="preserve">In hundert Gramm <lb/>Früchten ſind aber kaum zwölf Gramm Kohlenſtoff, während in <lb/>hundert Gramm Speck gegen achtzig Gramm davon enthalten ſind. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1592" xml:space="preserve">Da nun der Kohlenſtoff das Brennmaterial des Leibes iſt, ſo iſt <lb/>es erklärlich, daß der Nordländer, der ſeine Portion Speck <lb/>verzehrt, ſeinen Leib an ſechsmal ſtärker eingeheizt hat als <lb/>der Südländer, der ſich an einer Frucht labt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1593" xml:space="preserve">und wenn die <lb/>Blutwärme des einen eben gleich iſt der des andern, ſo darf <lb/>dies nicht befremden, da es ja jedermann aus eigener Erfah-<lb/>rung weiß, wie ſein Stubenofen ſelbſt bei der ſtrengſten Kälte <lb/>die nötige Wärme erhalten kann, wenn er nur gehörig mit <lb/>Brennmaterial verſorgt wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s1594" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1595" xml:space="preserve">Obwohl aus Liebig’s lichtvollen Lehren über Atmung und <lb/>Speiſe hervorgeht, daß die Wärme des Leibes zugleich von <lb/>der Speiſe reguliert wird, die wir eſſen, ſo berührt doch <lb/>dieſes Thema ſehr innig die Thätigkeit der Lunge und deren <lb/>Einrichtung, da es leicht erſichtlich iſt, wie die Lunge danach
<pb o="113" file="0121" n="121"/>
gebaut ſein muß, daß ſie bald für viel, bald für wenig Brenn-<lb/>material Sauerſtoff herbeiſchafft, daß ſie bald viel, bald wenig <lb/>Kohlenſäure aus dem Körper entfernt, bald voll, bald weniger <lb/>voll atmet, bald ſchneller, bald langſamer ihr Werk verrichtet.</s>
  <s xml:id="echoid-s1596" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1597" xml:space="preserve">Betrachtet man daher die Lunge als Hauptteil eines Heiz-<lb/>apparates im Körper, ſo muß man ihre Einrichtung, die eine <lb/>merkwürdige Regulierung bei dieſem Geſchäft möglich macht, <lb/>ganz beſonders hervorheben, und wenn wir bedenken, wie viel <lb/>ſcharfſinnige Köpfe ſich ſchon über die Aufgabe zerſonnen <lb/>haben, einen Heizapparat zu erfinden, der ſtets eine gleich-<lb/>mäßige Wärme erzeugt, wenn auch das Wetter ſich ändert, ſo <lb/>müſſen wir geſtehen, daß ein Menſch am meiſten auf ſeine <lb/>Lunge ſtolz zu ſein Urſache hätte, wenn ſie — nota bene — <lb/>ſeine Erfindung wäre.</s>
  <s xml:id="echoid-s1598" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div40" type="section" level="1" n="39">
<head xml:id="echoid-head43" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXIV. Wie ſparſam die Natur iſt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1599" xml:space="preserve">Nicht nur die Vorzüglichkeit der Einrichtung, ſondern <lb/>auch die Sparſamkeit, mit welcher die Lunge und der ganze <lb/>Wärme-Apparat des menſchlichen Körpers angelegt, iſt ein <lb/>Gegenſtand der Bewunderung für jeden, der nähere Einſicht <lb/>hierin gewinnt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1600" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1601" xml:space="preserve">Wenn man bedenkt, daß die Wärme des menſchlichen <lb/>Körpers herrührt von der Verbindung des Kohlenſtoffs im <lb/>Blute mit dem eingeatmeten Sauerſtoff, oder, was dasſelbe iſt, <lb/>von der Verbrennung des Kohlenſtoffs, den wir in den Speiſen <lb/>genießen, ſo läßt ſich leicht die Rechnung aufſtellen, inwieweit <lb/>dieſe Heizung vergleichsweiſe mit ſonſtigen Heiz-Apparaten <lb/>ſparſam iſt oder nicht.</s>
  <s xml:id="echoid-s1602" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1603" xml:space="preserve">Die Naturforſcher haben dieſe Rechnung ſorgfältig aus-<lb/>geführt und folgendes Reſultat gefunden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1604" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1605" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s1606" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s1607" xml:space="preserve">Volſsbücher XII.</s>
  <s xml:id="echoid-s1608" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="114" file="0122" n="122"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1609" xml:space="preserve">Ein erwachſener Menſch atmet täglich etwa zwei Pfund <lb/>Kohlenſäure aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s1610" xml:space="preserve">Hierzu, um dieſe zwei Pfund Kohlenſäure <lb/>im Körper zu bilden, muß ſich ungefähr ein halbes Pfund <lb/>Kohlenſtoff mit Sauerſtoff verbinden; </s>
  <s xml:id="echoid-s1611" xml:space="preserve">und die hierbei ent-<lb/>ſtehende Wärme wird dem Körper zu gute kommen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1612" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1613" xml:space="preserve">Fragt man nun, wie viel Wärme kann überhaupt ein <lb/>halb Pfund Kohlenſtoff oder reine Kohle bilden, ſo ergiebt ſich <lb/>aus anderweitigen Verſuchen, daß jedes Gramm Kohle beim Ver-<lb/>brennen ungefähr 200 Gramm eiskaltes Waſſer bis zu 30 Grad <lb/>erwärmen kann, vorausgeſetzt, daß die Vorrichtung ſo vortreff-<lb/>lich iſt, daß auch nicht ein bißchen Wärme anderweitig verloren <lb/>geht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1614" xml:space="preserve">Hiernach müßte beſtenfalls ein halb Pfund Kohlenſtoff <lb/>50000 Gramm oder 100 Pfund eiskaltes Waſſer bis zu 30 Grad <lb/>erwärmen können und vorausgeſetzt, daß die Erkaltung äußerſt <lb/>gering iſt, würde ein ſehr geringer Zuſchuß von Kohle hin-<lb/>reichen, das Waſſer ſtets in dieſer Wärme zu erhalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s1615" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1616" xml:space="preserve">Bedenkt man nun, daß das Gewicht des ausgewachſenen <lb/>Menſchen mehr als 100 Pfund beträgt, daß der Menſch durch <lb/>die Ausatmung eine große Maſſe Luft, die er kalt eingeatmet, <lb/>warm von ſich giebt, daß er kalte Speiſen und Getränke ge-<lb/>nießt, die gleichfalls im Körper bis zur Blutwärme erhoben <lb/>werden müſſen, ſo muß man geſtehen, daß das eine halbe <lb/>Pfund Kohle, welches er täglich in ſeinen Speiſen einnimmt, <lb/>ein außerordentlich geringer Verbrauch von Brennmaterial iſt, <lb/>ein ſo geringer Verbrauch, daß nur die Vorzüglichkeit des <lb/>Heiz-Apparates und der ſonſtigen Einrichtungen, die die Ab-<lb/>kühlung verhindern, dieſe Erwärmung möglich macht.</s>
  <s xml:id="echoid-s1617" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1618" xml:space="preserve">Wir dürfen jedoch unſerm Thema zu Liebe nicht That-<lb/>ſachen verſchweigen, die auf eine zweite Quelle der Wärme im <lb/>menſchlichen Körper hindeuten. </s>
  <s xml:id="echoid-s1619" xml:space="preserve">Es iſt nämlich ſehr wahrſchein-<lb/>lich, daß nicht alles Waſſer, das wir aus dem Körper aus-<lb/>ſcheiden und vornehmlich in Schweiß und Atem von uns geben, <lb/>unmittelbar dasſelbe iſt, welches wir in den Speiſen und Ge-
<pb o="115" file="0123" n="123"/>
tränken aufnehmen, ſondern daß ſich im Körper wirklich Waſſer <lb/>bilde, und zwar durch Verbindung von Waſſerſtoff mit einem <lb/>Teil des eingeatmeten Sauerſtoffs. </s>
  <s xml:id="echoid-s1620" xml:space="preserve">Nun aber iſt es ausgemacht, <lb/>daß bei der Bildung von Waſſer ebenfalls Wärme entſteht <lb/>und hiernach muß man freilich dieſen Teil der Wärme abziehen, <lb/>wenn man die aus dem Kohlenſtoff entſtehende Wärme in ihrer <lb/>Wirkung auf den Körper betrachtet. </s>
  <s xml:id="echoid-s1621" xml:space="preserve">— Indeſſen kennt man die <lb/>Wärme, welche durch Waſſerbildung im Körper entſteht, nur <lb/>ſchätzungsweiſe und darf nicht unbeachtet laſſen, daß das als <lb/>Schweiß austretende Waſſer eine Abkühlung des Körpers an <lb/>der Haut bewirkt, und demnach ein Teil der Wärme, welche <lb/>das Waſſer bei ſeiner Bildung im Körper entſtehen läßt, wieder <lb/>verloren geht bei dem Austreten aus dem Körper. </s>
  <s xml:id="echoid-s1622" xml:space="preserve">— Somit <lb/>verbleibt die eigentliche Quelle der Erwärmung hauptſächlich <lb/>der Verbrennung des Kohlenſtoffs, deſſen Sparſamkeit wir alſo <lb/>zu bewundern volle Urſache haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s1623" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1624" xml:space="preserve">Die Naturforſcher haben noch eine andere Rechnung an-<lb/>geſtellt, die nicht minder intereſſant iſt, und die wir, obgleich <lb/>ſie nicht direkt hieher gehört, beiläufig unſern Leſern vorführen <lb/>wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1625" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1626" xml:space="preserve">Es wird wohl jeder, der darüber nachdenkt, wie unſere <lb/>Speiſe nicht nur zur Bildung unſeres Leibes, ſondern auch zu-<lb/>gleich zur Erwärmung dient, auf den Gedanken kommen, ob <lb/>nicht auch die Kraft, die wir im Körper beſitzen, mit der Wärme <lb/>in Zuſammenhang ſteht, und unſere Speiſe, dieſes Brenn-<lb/>material des Leibes, nicht auch verglichen werden muß mit <lb/>dem Brennmaterial einer Dampfmaſchine, welche die Kraft <lb/>einer Dampfmaſchine erzeugt?</s>
  <s xml:id="echoid-s1627" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1628" xml:space="preserve">Dieſer Gedanke iſt nur zum Teil richtig. </s>
  <s xml:id="echoid-s1629" xml:space="preserve">Die Wärme iſt <lb/>zwar eine notwendige Bedingung zur Kraft unſerer Muskeln; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1630" xml:space="preserve">aber ſie wirkt nicht als Kraft wie in der Dampfmaſchine. </s>
  <s xml:id="echoid-s1631" xml:space="preserve"><lb/>Was unſern Muskeln Kraft verleiht, iſt — wie wir unſern <lb/>Leſern einmal gezeigt haben — etwas, das mit Elektrizität die
<pb o="116" file="0124" n="124"/>
größte Ähnlichkeit hat, ja es iſt höchſt wahrſcheinlich Elektrizität <lb/>ſelber. </s>
  <s xml:id="echoid-s1632" xml:space="preserve">— Gleichwohl haben Naturforſcher einmal die Rech-<lb/>nung angeſtellt, welche Kraft man wohl imſtande wäre, durch <lb/>Maſchinen zu erzielen mit demſelben Kohlenſtoff, den ein Menſch <lb/>zu ſeiner Leibeswärme bedarf, oder um es deutlicher auszu-<lb/>drücken: </s>
  <s xml:id="echoid-s1633" xml:space="preserve">die Naturforſcher haben ſich gefragt: </s>
  <s xml:id="echoid-s1634" xml:space="preserve">wenn wir das, <lb/>was ein Menſch an Kraft beſitzt, erſetzen wollen durch eine <lb/>Maſchine, wird dieſe mehr oder weniger Heizmaterial, das heißt <lb/>Speiſe an Kohle gebrauchen?</s>
  <s xml:id="echoid-s1635" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1636" xml:space="preserve">Die Antwort auf dieſe Frage iſt folgende.</s>
  <s xml:id="echoid-s1637" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1638" xml:space="preserve">Eine Menſchenkraft iſt ungefähr eine ſechſtel Pferdekraft; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1639" xml:space="preserve">nun iſt es eine bekannte Erfahrung, daß, je größer eine Ma-<lb/>ſchine iſt, ſie deſto weniger Brennmaterial verbraucht pro <lb/>Pferdekraft. </s>
  <s xml:id="echoid-s1640" xml:space="preserve">Der Unterſchied iſt ſo groß, daß eine Maſchine <lb/>von einer Pferdekraft zwanzig Pfund Kohlen ſtündlich ver-<lb/>braucht, während eine Maſchine von hundert Pferdekräften für <lb/>jede Pferdekraft nur fünf Pfund, alſo im ganzen nur fünf-<lb/>hundert Pfund ſtündlich verzehrt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1641" xml:space="preserve">Hieraus geht hervor, daß, <lb/>je kleiner die Maſchine iſt, deſto teurer ſie im Heizmaterial <lb/>wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s1642" xml:space="preserve">Eine Maſchine von einem ſechſtel Pferdekraft, alſo gleich <lb/>einer Menſchenkraft würde bei der kunſtvollſten Einrichtung <lb/>immer noch über vier Pfund Kohlen ſtündlich brauchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1643" xml:space="preserve">Da <lb/>nun aber ein Menſch mit einem halben Pfund Kohlenſtoff hin-<lb/>reichend auf vierundzwanzig Stunden verſorgt iſt, ſo findet es <lb/>ſich, daß die menſchliche Maſchine in ihrem Brennmaterial an <lb/>zweihundertmal ſparſamer iſt als jede andere durch Wärme ge-<lb/>triebene künſtliche Maſchine.</s>
  <s xml:id="echoid-s1644" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div41" type="section" level="1" n="40">
<head xml:id="echoid-head44" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXV. Ein Baum, eine Tonne und eine Lunge.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1645" xml:space="preserve">Bevor wir unſere Betrachtung über die Lunge beſchließen <lb/>und zu andern Organen des Leibes übergehen, wollen wir uns
<pb o="117" file="0125" n="125"/>
noch in der Welt umſehen, und nachſuchen, ob ſich wohl in der <lb/>Natur etwas findet, das im Bau ſo vorteilhaft eingerichtet iſt <lb/>wie die Lunge, und ob Menſchenkunſt irgend etwas hervorge-<lb/>bracht, das wenigſtens dem Prinzip nach einige Ähnlichkeit mit <lb/>derſelben hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s1646" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1647" xml:space="preserve">Was wir auf dieſe ſelbſtgeſtellte Aufgabe zur Antwort <lb/>geben, wird einem ſehr großen Teil unſerer Leſer im erſten <lb/>Augenblick äußerſt ſonderbar vorkommen, und doch iſt dieſe <lb/>Antwort ſachgemäß und richtig, wie eine kleine Betrachtung <lb/>zeigen wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s1648" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1649" xml:space="preserve">Die Antwort lautet:</s>
  <s xml:id="echoid-s1650" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1651" xml:space="preserve">Das natürliche Ebenbild einer Lunge und zugleich ihr <lb/>Gegenſtück iſt ein Baum. </s>
  <s xml:id="echoid-s1652" xml:space="preserve">— Das künſtliche, von Menſchen <lb/>hervorgebrachte, auf gleichem Prinzip gebaute Seitenſtück einer <lb/>Lunge iſt das Faß eiuer Schnell-Eſſig-Fabrik!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1653" xml:space="preserve">Daß die Luftwege einer Lunge baumartig gebaut ſind, <lb/>das haben wir bereits näher dargethan; </s>
  <s xml:id="echoid-s1654" xml:space="preserve">bei jedem Atemzuge, <lb/>mit welchem wir die Lunge füllen, verteilt ſich die Luft baum-<lb/>artig in den Lungengängen, und es entſteht in uns ein wirk-<lb/>licher Baum aus Luft. </s>
  <s xml:id="echoid-s1655" xml:space="preserve">Vergleicht man die Geſtalt dieſes Luft-<lb/>baumes mit einem wirklichen Baum, ſo findet man in ihnen <lb/>die allergrößte Ähnlichkeit, ja faſt eine Gleichheit. </s>
  <s xml:id="echoid-s1656" xml:space="preserve">Geht man <lb/>aber auf den Grund dieſes übereinſtimmenden Baues und dieſer <lb/>Gleichheit der Geſtalt ein, ſo findet man, daß gerade in dieſer <lb/>Gleichheit auch das entſchiedene Gegenteil der Beſtimmung aus-<lb/>geprägt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1657" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1658" xml:space="preserve">Zu welchem Zweck iſt wohl ein Baum ſo ſonderbar ge-<lb/>ſchaffen, daß er, der als Stamm aus der Erde emporragt, ſich <lb/>oben teilt in Stämme, Äſte. </s>
  <s xml:id="echoid-s1659" xml:space="preserve">Zweige, Sproſſen, Stengel und <lb/>Blätter? </s>
  <s xml:id="echoid-s1660" xml:space="preserve">— Die Naturwiſſenſchaft der neuern Zeit giebt hier-<lb/>auf die richtige Antwort, daß dieſe Veräſtelung und außer-<lb/>ordentliche Teilung deshalb notwendig iſt, damit der Baum <lb/>durch eine ungeheuere Oberfläche mit der Luft in Berührung
<pb o="118" file="0126" n="126"/>
komme. </s>
  <s xml:id="echoid-s1661" xml:space="preserve">Denn der Baum kann ohne Licht nicht leben. </s>
  <s xml:id="echoid-s1662" xml:space="preserve">Ein <lb/>Baum muß atmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1663" xml:space="preserve">Er nimmt Kohlenſäure aus der Luft auf, <lb/>und haucht dafür Sauerſtoff aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s1664" xml:space="preserve">Dies aber kann er nicht, <lb/>wenn er nicht in jedem Augenblick mit außerordentlich viel <lb/>Luft in Berührung ſteht, wenn er ſich nicht in eine ungeheure <lb/>Oberſläche teilt, und deshalb ſtirbt auch ein Baum ab, wenn <lb/>man ihn der Blätter in der Zeit des Sommers beraubt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1665" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1666" xml:space="preserve">Was aber macht der Baum mit dem, was er einatmet? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1667" xml:space="preserve">Dieſe Luftart, die Kohlenſäure, geht in die Säfte über, welche <lb/>ſich in den Zellen des Baumes befinden; </s>
  <s xml:id="echoid-s1668" xml:space="preserve">dieſe Luftart iſt ein <lb/>Teil ſeiner Nahrung; </s>
  <s xml:id="echoid-s1669" xml:space="preserve">den Kohlenſtoff behält der Baum zurück <lb/>und bildet dadurch die kohlenreiche Holzzelle, die uns ſo treff-<lb/>liche Dienſte leiſtet, während er den Sauerſtoff zurückgiebt und <lb/>wieder aushaucht.</s>
  <s xml:id="echoid-s1670" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1671" xml:space="preserve">Der Bau und das Atmen eines Baumes hat alſo offen-<lb/>bar große Ähnlichkeit mit dem Bau und dem Atmen einer <lb/>Lunge. </s>
  <s xml:id="echoid-s1672" xml:space="preserve">Aber es iſt dies eine Ähnlichkeit zweier Dinge, die auf <lb/>ihr Gegenteil in Einrichtung und Ziel hinausläuft.</s>
  <s xml:id="echoid-s1673" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1674" xml:space="preserve">Ein Baum iſt eine ungeheuere Verteilung einer einſtäm-<lb/>migen Maſſe; </s>
  <s xml:id="echoid-s1675" xml:space="preserve">in der Lunge findet ſich die ungeheure Ver-<lb/>teilung und Verzweigung eines leeren Raumes. </s>
  <s xml:id="echoid-s1676" xml:space="preserve">Ein Baum <lb/>ſtreckt ſeine ſaftreichen, blutreichen Äſte in die Luft hinein, <lb/>die ihn umgiebt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1677" xml:space="preserve">in der Lunge iſt das Gegenteil der Fall: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1678" xml:space="preserve">es erſtrecken ſich luftige Äſte hinein in eine blutreiche Umge-<lb/>bung. </s>
  <s xml:id="echoid-s1679" xml:space="preserve">Der Baum iſt ein Gebilde, wo die Luft von außen und <lb/>der Lebensſaft innen iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1680" xml:space="preserve">in dem Luftbaum der Lunge iſt die <lb/>Luft innerhalb des Baumgezweiges, und der Lebensſaft, das <lb/>Blut, befindet ſich außerhalb in der Umgebung desſelben. </s>
  <s xml:id="echoid-s1681" xml:space="preserve">Und <lb/>wie ſich ſchon hierin bei aller Gleichheit des Baues ein Gegen-<lb/>teil der Einrichtung zeigt, ſo iſt dies auch in dem Stoff der <lb/>Fall, der in beiden Fällen ein- und ausgeatmet wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s1682" xml:space="preserve">— Die <lb/>Lunge atmet Sauerſtoff ein; </s>
  <s xml:id="echoid-s1683" xml:space="preserve">der Baum atmet Sauerſtoff aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s1684" xml:space="preserve"><lb/>Die Lunge atmet Kohlenſäure aus; </s>
  <s xml:id="echoid-s1685" xml:space="preserve">der Baum atmet Kohlen-
<pb o="119" file="0127" n="127"/>
ſäure ein! — Die Lunge fabriziert Kohlenſäure und bildet die <lb/>Bluterwärmung: </s>
  <s xml:id="echoid-s1686" xml:space="preserve">der Baum zerlegt Kohlenſäure und verſetzt <lb/>dadurch ſeine Säfte in jene Kühlung, welche Blätter und <lb/>Früchte ſtets kälter macht als die heiße, ſie umgebende Som-<lb/>merluft.</s>
  <s xml:id="echoid-s1687" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1688" xml:space="preserve">Die innige Beziehung, die hierin zwiſchen Tierreich und <lb/>Pflanzenreich liegt, iſt jetzt allgemein anerkannt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1689" xml:space="preserve">für unſer <lb/>Thema indeſſen mag es genug ſein, wenn wir unſern Leſern <lb/>den Gedanken nahe gebracht haben, daß der Baum ein Eben-<lb/>bild und zugleich ein Gegenſtück der Lunge und als ein Gebilde <lb/>daſteht, das mit dem Weſen der Lunge ſehr nahe verwandt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1690" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1691" xml:space="preserve">Welche Ähnlichkeit aber hat das Faß einer Schnell-Eſſig-<lb/>Fabrik mit einer Lunge?</s>
  <s xml:id="echoid-s1692" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1693" xml:space="preserve">Die Ähnlichkeit iſt nicht größer als die eines Schiffes mit <lb/>einem Fiſche, als die eines Luftballons mit einem Adler, als <lb/>die einer Lokomotive mit einem Pferde oder überhaupt die <lb/>eines Naturweſens mit einem Gebilde der Menſchenhand. </s>
  <s xml:id="echoid-s1694" xml:space="preserve">Wir <lb/>haben auch nicht die Ähnlichkeit, ſondern nur die Gleichheit im <lb/>Prinzip behauptet, und dies beruht auf folgendem.</s>
  <s xml:id="echoid-s1695" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1696" xml:space="preserve">Aus ſehr verdünntem Branntwein macht man jetzt außer-<lb/>ordentlich leicht und ſchnell Eſſig. </s>
  <s xml:id="echoid-s1697" xml:space="preserve">— Zu dieſem Zweck füllt <lb/>man ein großes Faß mit Hobelſpänen, die man in Eſſig hat <lb/>feucht werden laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1698" xml:space="preserve">Sodann trifft man die Einrichtung, daß <lb/>ein Gemiſch von Waſſer und Branntwein langſam oben in die <lb/>Tonne einſließt, und ſich auf die Hobelſpäne verteilt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1699" xml:space="preserve">Das <lb/>fließt nun langſam von Spahn zu Spahn, und wenn es unten <lb/>am Boden der Tonne ankommt, iſt es Eſſig geworden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1700" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1701" xml:space="preserve">Woher kommt dieſe Verwandlung?</s>
  <s xml:id="echoid-s1702" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1703" xml:space="preserve">Mit kurzen Worten daher, daß die Tonne noch beſondere <lb/>Löcher oben und unten hat, durch welche die Luft hindurch-<lb/>ſtreicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1704" xml:space="preserve">Die Luft, und in ihr der Sauerſtoff, geht alſo an <lb/>der fein verteilten, ungeheuer großen Oberfläche der Hobelſpähne <lb/>vorüber und bewirkt in derſelben Weiſe ein Sauerwerden des
<pb o="120" file="0128" n="128"/>
in ſeiner Schicht verteilten Branntweins, wie Bier und Wein <lb/>ſauer werden, wenn ſie der Luft ausgeſetzt ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s1705" xml:space="preserve">Daß dies <lb/>ein chemiſcher Vorgang iſt, das iſt bekannt, und die Chemie <lb/>erklärt dies auch vollſtändig. </s>
  <s xml:id="echoid-s1706" xml:space="preserve">Dabei entſteht auch zugleich in <lb/>der Tonne ein hoher Grad von Wärme, der den Luftzug be-<lb/>fördert, und gegenwärtig iſt die ganze Einrichtung ſchon ſo <lb/>gut getroffen, daß es ein wahres Vergnügen iſt, mit anzuſehen, <lb/>wie ſo eine Tonne unten Luft einatmet, und inzwiſchen eine <lb/>chemiſche Veränderung einer Flüſſigkeit vor ſich geht, die ſich <lb/>mit Sauerſtoff verbindet, und zugleich eine Wärme erzeugt, die <lb/>der Wärme des Blutes ſehr nahe kommt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1707" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1708" xml:space="preserve">Die Ähnlichkeit einer ſolchen Tonne mit unſerer Lunge be-<lb/>ſteht nun darin, daß es ausgemacht iſt: </s>
  <s xml:id="echoid-s1709" xml:space="preserve">wenn unſer Herz ſtatt <lb/>des Blutes verdünnten Branntwein in die eine Seite der Lunge <lb/>einpumpte, ſo würde auf der andern Seite der allerſchönſte <lb/>Eſſig ins Herz fließen, und es iſt nicht übertrieben, wenn wir <lb/>ſagen: </s>
  <s xml:id="echoid-s1710" xml:space="preserve">die Fabrikation der kleinen Lunge würde ſo ſtark ſein, <lb/>wie die einer Tonne, in welche ſechs Mann hineinkriechen <lb/>können.</s>
  <s xml:id="echoid-s1711" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1712" xml:space="preserve">Genug für jetzt! — Wir haben viel Reſpekt vor Menſchen-<lb/>Erfindung; </s>
  <s xml:id="echoid-s1713" xml:space="preserve">aber vor der Erfindung einer Lunge, da ſtockt einem <lb/>der Atem. </s>
  <s xml:id="echoid-s1714" xml:space="preserve">Und dieſe Erfindung iſt alt, alt, ſo ſehr alt!</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div42" type="section" level="1" n="41">
<head xml:id="echoid-head45" xml:space="preserve">Druck von G. Beruſtein in Berlin.</head>
<pb file="0129" n="129"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div43" type="section" level="1" n="42">
<head xml:id="echoid-head46" xml:space="preserve"><emph style="bf">Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher</emph> <lb/>von <lb/><emph style="bf">A. Bernſtein.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head47" xml:space="preserve"><emph style="bf">Jünfte, reich illuſtrierte Aufſage.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head48" xml:space="preserve">Durchgeſehen und verbeſſert <lb/>von <lb/><emph style="bf">H. Dotonié</emph> und <emph style="bf">R. Hennig.</emph> <lb/>Dreizehnter Teil.</head>
  <figure>
    <image file="0129-01" xlink:href="http://echo.mpiwg-berlin.mpg.de/zogilib?fn=/permanent/library/xxxxxxxx/figures/0129-01"/>
  </figure>
</div>
<div xml:id="echoid-div44" type="section" level="1" n="43">
<head xml:id="echoid-head49" xml:space="preserve"><emph style="bf">Berlin.</emph> <lb/>Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.</head>
<pb file="0130" n="130"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1715" xml:space="preserve">Das Recht der Überſetzung in ſremde Sprachen iſt vorbehalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s1716" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb file="0131" n="131"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div45" type="section" level="1" n="44">
<head xml:id="echoid-head50" xml:space="preserve"><emph style="bf">Inhaltsverzeichnis.</emph></head>
<note position="right" xml:space="preserve"> <lb/># # Seite <lb/>## <emph style="bf">Vom Leben der Pflanzen, der Tiere und der Menſchen. IV.</emph> <lb/>I. # Ein menſchliches Herz vor einem Menſchenherzen . . . # 1 <lb/>II. # Der kleine und der große Kreislauf des Blutes . . . # 5 <lb/>III. # Der große Kreislauf . . . . . . . . . . . . # 9 <lb/>IV. # Einige Haupt- und Nebenumſtände bei der Arbeit des <lb/># Herzens # . . . . . . . . . . . . . . . # 12 <lb/>V. # Eine Waſſerleitung und die Blutleitung im Körper . . # 16 <lb/>VI. # Weitere Vergleichung der Waſſer- mit der Blut-Leitung . # 19 <lb/>VII. # Verſchiedenheit der Adern und ihrer Lagen . . . . . # 23 <lb/>VIII. # Die Klappen oder Ventile . . . . . . . . . . # 27 <lb/>IX. # Wie ſtark das Herz iſt . . . . . . . . . . . # 30 <lb/>X. # Die ſogenannten mechaniſchen Fehler des Herzens . . # 34 <lb/>XI. # Das Auge und die Kamera-Obſcura . . . . . . . # 37 <lb/>XII. # Die Kamera-Obſcura . . . . . . . . . . . . # 41 <lb/>XIII. # Die Mängel der Kamera-Obſcura . . . . . . . . # 46 <lb/>XIV. # Die Kamera-Obſcura der Photographen . . . . . . # 50 <lb/>XV. # Wir beſehen uns den Bau eines Auges . . . . . . # 54 <lb/>XVI. # Die Durchſichtigkeit des Innern unſeres Auges . . . # 58 <lb/>XVII. # Wir gehen ins Auge hinein . . . . . . . . . . # 61 <lb/>XVIII. # Der ſogenannte Glaskörper im Auge . . . . . . . . # 65 <lb/>XIX. # Die Vorzüge des Auges . . . . . . . . . . . # 68 <lb/>XX. # Die Lichtblende . . . . . . . . . . . . . . # 71 <lb/>XXI. # Die Augenlider . . . . . . . . . . . . . . # 74 <lb/>XXII. # Die Beweglichkeit des Auges . . . . . . . . . # 78 <lb/>XXIII. # Die Lenkung und Richtung der Augen . . . . . . # 82 <lb/>XXIV. # Die Stellung der Augen . . . . . . . . . . . # 85 <lb/>XXV. # Die Nerventapete . . . . . . . . . . . . . # 88
<pb o="IV" file="0132" n="132"/>
# # Seite <lb/>XXVI. # Die Feinheit der Nerventapete . . . . . . . . # 91 <lb/>XXVII. # Die Beſchaffenheit der Rerventapete . . . . . . . # 95 <lb/>XXVIII. # Einige Verſuche . . . . . . . . . . . . . # 97 <lb/>XXIX. # Weshalb wir nicht verkehrt ſehen . . . . . . . . # 101 <lb/>XXX. # Zwei Augen und ein Bild . . . . . . . . . . # 104 <lb/>XXXI. # Der Menſch wie er iſt — und was er erfindet . . . # 109 <lb/>XXXII. # Schlußbetrachung . . . . . . . . . . . . . # 112 <lb/>## <emph style="bf">Kleine Kräfte und große Wirkungen</emph> . . . . . . . . . # 115 <lb/></note>
<pb o="1" file="0133" n="133"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div46" type="section" level="1" n="45">
<head xml:id="echoid-head51" xml:space="preserve"><emph style="bf">Dom Leben der Pflanzen, der Tiere und</emph> <lb/><emph style="bf">der Menſchen. IV.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head52" xml:space="preserve"><emph style="bf">I. Ein menſchliches Herz vor einem</emph> <lb/><emph style="bf">Menſchenherzen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1717" xml:space="preserve">Schon im gewöhnlichen Leben ſpricht man vom Herzen <lb/>weit mehr als von der Lunge, und mißt ihm eine tiefere Be-<lb/>ziehung zum Geſamtleben bei als ſonſt irgend einem Organ <lb/>des Leibes.</s>
  <s xml:id="echoid-s1718" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1719" xml:space="preserve">Wer, der gelebt und geliebt hat, wüßte nicht, daß das <lb/>“Herz voll Sehnſucht iſt”, daß es “in Traurigkeit verſinken” <lb/>kann, daß es in “Schwermut untergeht”, daß es “von Ge-<lb/>danken gepreßt wird”, daß “ein Gefühl es niederdrückt”, daß <lb/>ein “Schmerz es zerreißt”, daß “ein Weh es vernichtet”, daß <lb/>“eine Hoffnung es aufrichtet”, daß “eine Erwartung es er-<lb/>füllt”, daß “eine Freude es durchſchauert”, eine “Wonne es <lb/>durchbebt”, daß eine “Glückſeligkeit es taumelnd macht”, daß <lb/>eine “Gewährung es aufjauchzen” läßt? </s>
  <s xml:id="echoid-s1720" xml:space="preserve">— Wer ſpricht nicht <lb/>von einem guten, einem weichen, einem ſchlechten, einem harten, <lb/>einem warmen, einem kalten, einem treuen, einem treuloſen, <lb/>einem erbarmungsreichen, einem ſtrengen, einem ſchwarzen, <lb/>einem lautern, einem trüben, einem reinen, einem mutigen, <lb/>einem feigen, einem edlen, einem elenden, einem frommen, <lb/>einem ſündigen Herzen? </s>
  <s xml:id="echoid-s1721" xml:space="preserve">Wer weiß es nicht, wie man Alles,
<pb o="2" file="0134" n="134"/>
was der Menſch iſt und was der Menſch vermag, Alles, was <lb/>er begehrt, und Alles, was er zerſtört, ſeinem Herzen und nur <lb/>ſeinem Herzen zuſchreibt?</s>
  <s xml:id="echoid-s1722" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1723" xml:space="preserve">Lohnt es ſich hiernach nicht der Frage: </s>
  <s xml:id="echoid-s1724" xml:space="preserve">welche Geſtalt <lb/>würden wohl die Menſchen einem Menſchenherzen andichten, <lb/>wenn ſie nicht aus Erfahrung und vom Hörenſagen wüßten, <lb/>wie ein Herz ausſieht?</s>
  <s xml:id="echoid-s1725" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1726" xml:space="preserve">Wahrlich, wer im Leben je ein Herz vermißt, ein Herz <lb/>geſucht, ein Herz gefunden, ein Herz verloren hat, er erſchrickt <lb/>und tritt entſetzt zurück, wenn er ein Herz, ein Menſchenherz <lb/>zumal, in Wirklichkeit vor ſich ſieht.</s>
  <s xml:id="echoid-s1727" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1728" xml:space="preserve">Ähnlich mag es einem Sohn der Wildnis ergehen, der <lb/>fern aller Kunſt und Kultur, von dem Leben und Streben ge-<lb/>bildeter Nationen Kenntnis erhält und voll ſchwärmeriſcher <lb/>Sehnſucht den Wunſch ausſpricht, mit einem Sprung mitten <lb/>in das innerſte Getriebe unſerer fortgeſchrittenen Zeit verſetzt <lb/>zu werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s1729" xml:space="preserve">ähnlich mag es einem ſolchen ergehen, wenn er <lb/>plötzlich in eine thätige Maſchinenbau-Anſtalt verſetzt wird, wo <lb/>Räder verwirrend übereinander laufen, Kohlenſtaub und Dampf <lb/>und Ölgeruch die Luft ſchwängern, Hämmer erdröhnen, Stanzen <lb/>den Boden erzittern laſſen, Eiſenmaſſen unter Hobelbänken <lb/>ſchrillen, Luftgebläſe ſtöhnen, Dampfpfeifen das Ohr zerreißen <lb/>und Kolben wie in hartherziger Wut in Cylindern herum-<lb/>ſtampfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1730" xml:space="preserve">Wer wird es dieſem verdenken, wenn er in Un-<lb/>kenntnis des innern Zuſammenhanges irre wird an Kunſt <lb/>und Kultur und ſchaudernd ſich zurückwünſcht in die Wildnis, <lb/>in welcher er ein Geiſtesleben ſich gar anders erträumt hat!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1731" xml:space="preserve">Erſchrickt ein ſinnendes Menſchenherz vor dem Anblick <lb/>eines menſchlichen Herzens, ſo iſt es in gleichem Irrtum be-<lb/>fangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1732" xml:space="preserve">Wie der Sohn der Wildnis vor all’ dem Mechanismus <lb/>die Kulturfäden nicht ſieht, die die geiſtigen und moraliſchen <lb/>Mächte dieſes Treibens ſind, ſo ſehen auch wir bis jetzt nicht <lb/>die zarten Fäden, welche ein Menſchenherz von den geiſtigen
<pb o="3" file="0135" n="135"/>
und moraliſchen Sphären her in Bewegung ſetzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1733" xml:space="preserve">Auch die <lb/>Naturwiſſenſchaft ſteht vor dem, was man Gefühle und Empfin-<lb/>dungen des Herzens nennt, wie ein Sohn der Wildnis; </s>
  <s xml:id="echoid-s1734" xml:space="preserve">ſie iſt <lb/>nur erſt inſoweit vorgeſchritten, daß ſie ſicher weiß, wie Alles, <lb/>was man bisher dem Herzen als ſolchem zuſchrieb, eigentlich <lb/>ſeine Stätte in dem weit rätſelhafteren Gehirn des Menſchen <lb/>hat, und daß dieſes Gehirn in einer ſcheinbar unerſchütterlichen <lb/>Unbeweglichkeit und Ruhe dem nie ruhenden, durch das ganze <lb/>Leben hindurch zuckenden und arbeitenden Herzen noch ein <lb/>Nebengeſchäft aufbürdet, in welchem es der Verkünder deſſen <lb/>ſein muß, was unverkennbar im Gehirne wirkt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1735" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1736" xml:space="preserve">Wenn jener Sohn der Wildnis, von irren Schrecken er-<lb/>faßt, dennoch den Mut hat, nach dem Urheber all’ des wilden <lb/>Hämmerns, Dröhnens, Pfeifens, Schrillens, Stampfens und <lb/>Toſens zu fragen, ſo führt ihn vielleicht ein Wohlunterrichteter <lb/>voll Teilnahme in einen fernen, entlegenen, ſtillen Winkel des <lb/>Fabrik-Lokals und zeigt ihm, wie dort am Fenſter des laut-<lb/>loſeſten Gemaches gar einſam und zurückgezogen der ſinnende <lb/>Meiſter ſitzt, rechnend und ſchaffend, entwerfend und geſtaltend, <lb/>und vertraut ihm, wie der es ſei, der ſtille Mann, der all’ <lb/>das Toben verurſacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1737" xml:space="preserve">— Vermag aber irgend jemand dem <lb/>Staunenden, der die inneren Beziehungen nicht kennt, den Zu-<lb/>ſammenhang, wie er iſt, zu erklären? </s>
  <s xml:id="echoid-s1738" xml:space="preserve">Oder will es jemand <lb/>dem Erſchreckten verdenken, wenn er mit noch tieferem Ent-<lb/>ſetzen vor dem ſtumm arbeitenden Meiſter ſteht als vor dem <lb/>dröhnenden und toſenden Maſchinenwerk?</s>
  <s xml:id="echoid-s1739" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1740" xml:space="preserve">Wahrlich, das einzige, was man dem Kultur-Durſtigen <lb/>ſagen kann, iſt: </s>
  <s xml:id="echoid-s1741" xml:space="preserve">Harre aus, bis Deine Einſicht ſich erweitert, <lb/>bis Du die Einzelteile der Maſchinerie erkennſt, bis Du deren <lb/>Wirkung erforſcht, deren Kräfte probiert, deren Einzelzwecke <lb/>ſtudiert, deren Erzeugniſſe unterſucht, deren Bedürfniſſe über-<lb/>ſchaut haſt, und Du wirſt dann beginnen, den Plan zu be-<lb/>greifen, den Zuſammenhang zu erfaſſen, der zwiſchen dem
<pb o="4" file="0136" n="136"/>
ſtillen Manne und dem toſenden Werke herrſcht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1742" xml:space="preserve">Willſt Du <lb/>aber dahin gelangen, ſo lerne ohne Erſchrecken den Hammer <lb/>kennen, ohne Entſetzen den Eiſenhobel, ohne Schaudern die <lb/>Dampfkraft, ohne Haarſträuben das Kolben-Stampfen und ſei <lb/>überzeugt, daß Du die Kulturfäden dann erſt wirſt erfaſſen können!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1743" xml:space="preserve">Gar erfreulich wäre es, wenn wir ſagen könnten, daß die <lb/>Naturwiſſenſchaft, die vor einem lauten Herzen und einem <lb/>ſtillen Gehirn ſinnend ſteht, ſo ſchnell zu ihrem Ziele kommen <lb/>kann, wie ein fähiger Sohn der Wildnis zu dem ſeinigen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1744" xml:space="preserve">Aber das dürfen wir ſagen: </s>
  <s xml:id="echoid-s1745" xml:space="preserve">der Rat gilt auch für die Natur-<lb/>forſchung, und der Weg, der jenem gezeigt, iſt auch für ſie der <lb/>rechte; </s>
  <s xml:id="echoid-s1746" xml:space="preserve">und wohl uns, daß die Wiſſenſchaft auf dieſem Wege iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1747" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1748" xml:space="preserve">Das Entſetzen vor dem vielbewegten Herzen führt ebenſo-<lb/>wenig zum Ziele, wie das Staunen oder Grauen vor dem <lb/>unbeweglichen Gehirn. </s>
  <s xml:id="echoid-s1749" xml:space="preserve">Auch das Leugnen der moraliſchen <lb/>und geiſtigen Regungen, die im Herzen ihren Widerhall <lb/>finden, führt zur Abirrung von der Wahrheit. </s>
  <s xml:id="echoid-s1750" xml:space="preserve">Richtiger iſt <lb/>es, wenn wir geſtehen, daß wir den inneren Zuſammenhang <lb/>nicht kennen, der all das beſeligende oder niederdrückende <lb/>Fühlen und Wollen, Empfinden und Denken des Gehirns im <lb/>Herzen mitpulſen läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1751" xml:space="preserve">Aber ein richtiger Schritt zur Er-<lb/>kenntnis iſt es, daß wir ohne Erſchrecken zuerſt die Maſchine <lb/>des Herzens ſelber betrachten und zu dem, was ſie meiſtert, <lb/>erſt dann uns wenden, wenn wir ihre mechaniſche und phyſiſche <lb/>Meiſterhaftigkeit kennen gelernt haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s1752" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1753" xml:space="preserve">Darum faß Dir ein Herz, freundlicher Leſer, und wähne <lb/>nicht, daß wir herzlos der geiſtigen Beziehungen uns ent-<lb/>ſchlagen, wenn unſer Thema uns dahin führt, das Herz als <lb/>Pumpwerk zu betrachten. </s>
  <s xml:id="echoid-s1754" xml:space="preserve">— Für jetzt muß es uns genügen, <lb/>es zu wiſſen, daß das Herz ein Meiſterſtück von einer Pumpe <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1755" xml:space="preserve">Es iſt eine doppelwirkende Druck-Pumpe, von einer <lb/>Meiſterhaftigkeit, die aller Menſchenerfindung ſpottet.</s>
  <s xml:id="echoid-s1756" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1757" xml:space="preserve">Und nun: </s>
  <s xml:id="echoid-s1758" xml:space="preserve">Kurzweg zur Sache.</s>
  <s xml:id="echoid-s1759" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="5" file="0137" n="137"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div47" type="section" level="1" n="46">
<head xml:id="echoid-head53" xml:space="preserve"><emph style="bf">II. Der kleine und der große Kreislauf des Blutes.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1760" xml:space="preserve">In demſelben Bruſtkaſten, woſelbſt die Lungen liegen, liegt <lb/>auch das Herz; </s>
  <s xml:id="echoid-s1761" xml:space="preserve">oder richtiger: </s>
  <s xml:id="echoid-s1762" xml:space="preserve">hängt auch das Herz, denn es <lb/>iſt das Herz wirklich an den Blut- und Schlag-Adern auf-<lb/>gehängt, welche von ihm ausgehen, ſo daß es eigentlich ein <lb/>wenig herumſchlenkern, ſich drehen, nach der einen oder anderen <lb/>Seite wenden kann — und dies thut es auch, und zwar ſehr <lb/>regelmäßig, wie wir gelegentlich noch ſehen werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1763" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1764" xml:space="preserve">Da wir bereits wiſſen, wie die Lungen mit einer aparten <lb/>Haut umkleidet ſind, welche zugleich den ganzen Bruſtkaſten <lb/>austapeziert, ſo brauchen wir hier nur hinzuzufügen, daß das <lb/>Herz in eben ſolchen Umſchlag eingehüllt iſt, den man den <lb/>Herzbeutel nennt, und der das Gute hat, daß er das ſehr <lb/>empfindliche Herz äußerſt ſanft und zart umſchließt und durch <lb/>ſeine Feuchtigkeit dieſem alle Bewegungen ungehindert geſtattet, <lb/>außerdem aber auch noch eine gute Decke iſt für den Fall, daß <lb/>die linke Bruſtwand verwundet wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s1765" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1766" xml:space="preserve">Daß das Herz ſehr viel zu thun hat, das wiſſen wir Alle. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1767" xml:space="preserve">Es ruht nicht von der erſten Stunde ſeiner Bildung im Mutter-<lb/>leibe bis zum letzten Schlage, der den Leib eingehen heißt in <lb/>den Mutterſchoß der Erde. </s>
  <s xml:id="echoid-s1768" xml:space="preserve">Ja, ſelbſt nach dem Tode kann <lb/>es leicht zu zuckenden Bewegungen gereizt werden, und nament-<lb/>lich behält das Herz getöteter, kaltblütiger Tiere oft Stunden, <lb/>ja ausgeſchnittene Froſchherzen ſogar Tage nach dem Tode <lb/>noch die Kraft der Zuſammenziehung. </s>
  <s xml:id="echoid-s1769" xml:space="preserve">— Betrachtet man das <lb/>Herz als Maſchine, ſo muß man alſo ſagen, es iſt eine Ma-<lb/>ſchine, die bei manchen Menſchen achtzig, ja hundert Jahre <lb/>und drüber noch immerfort arbeitet; </s>
  <s xml:id="echoid-s1770" xml:space="preserve">und das iſt keine Kleinig-<lb/>keit. </s>
  <s xml:id="echoid-s1771" xml:space="preserve">— Wäre man imſtande, das Herz durch ein künſtliches <lb/>Pumpwerk zu erſetzen, ſo müßte man ſchon mindeſtens zwei <lb/>Maſchinen herſtellen, um ſtatt eines Herzens zu dienen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1772" xml:space="preserve">denn
<pb o="6" file="0138" n="138"/>
ſelbſt wenn ſie vom feinſten und allerhärteſten Stahl gearbeitet <lb/>wäre, ſo würde doch alle fünf Jahre eine Reparatur nötig <lb/>ſein, und die Reſerve-Pumpe müßte für dieſe Zwiſchenzeit die <lb/>Arbeit übernehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1773" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1774" xml:space="preserve">Was für Arbeit das Herz verrichtet, das haben wir be-<lb/>reits zum Teil erwähnt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1775" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1776" xml:space="preserve">Wir haben geſehen, wie das Herz bei jedem Pulsſchlag <lb/>das Blut, das aus dem Körper nach dem Herzen gekommen <lb/>iſt, nunmehr nach den Lungen ſendet. </s>
  <s xml:id="echoid-s1777" xml:space="preserve">Nachdem nun das <lb/>Blut in den Lungen Kohlenſäure abgegeben und Sauerſtoff <lb/>aufgenommen hat, ſtrömt es in vier Äſten wiederum zum <lb/>Herzen zurück.</s>
  <s xml:id="echoid-s1778" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1779" xml:space="preserve">Aber — das müſſen wir uns merken — das rückkehrende <lb/>Blut geht nicht in dieſelbe Abteilung des Herzens, wo es <lb/>herkam, ſondern in eine andere. </s>
  <s xml:id="echoid-s1780" xml:space="preserve">Da das Blut jedoch vom <lb/>Herzen ausging und von den Lungen wieder zum Herzen <lb/>zurückkehrt, ſo nennt man dieſen Weg einen Kreislauf, obgleich <lb/>es eigentlich kein Kreislauf iſt, da der Ausgangspunkt ein <lb/>anderer iſt als der Heimkehrpunkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1781" xml:space="preserve">Man nennt es aber einmal <lb/>ſo, und ſo mag es denn ſein; </s>
  <s xml:id="echoid-s1782" xml:space="preserve">wir wollen uns nur hierbei <lb/>merken, daß es noch einen andern Kreislauf für das Blut <lb/>giebt, nämlich den Lauf des Blutes durch den ganzen Körper, <lb/>und weil dieſer Weg weit größer iſt als der durch die Lungen, <lb/>ſo nennt man den Lauf durch die Lungen den kleinen Kreislauf.</s>
  <s xml:id="echoid-s1783" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1784" xml:space="preserve">Das iſt aber, wie geſagt, nur ein Teil der Thätigkeit des <lb/>Herzens, und zwar der leichtere Teil. </s>
  <s xml:id="echoid-s1785" xml:space="preserve">Die Hauptarbeit beſteht <lb/>darin, daß das Herz auch das Blut durch den ganzen Körper <lb/>treiben muß, und da auch das der Fall iſt, ſo nennt man <lb/>dieſen Lauf den großen Kreislauf.</s>
  <s xml:id="echoid-s1786" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1787" xml:space="preserve">Wenn wir nun bedenken, daß dieſe zwei Arbeiten vom <lb/>Herzen vollführt werden müſſen, und daß es zu jedem Kreis-<lb/>lauf einen Raum haben muß, wo es das Blut aufnimmt und <lb/>einen anderen, von wo es das Blut weiter expediert, ſo läßt
<pb o="7" file="0139" n="139"/>
ſich’s leicht einſehen, daß im Herzen vier Abteilungen ſein <lb/>müſſen: </s>
  <s xml:id="echoid-s1788" xml:space="preserve">eine Abfahrt- und eine Ankunft-Station für den <lb/>Lungen-, den kleinen Kreislauf und eine Abfahrt- und eine <lb/>Ankunft-Station für den Körper-, den großen Kreislauf.</s>
  <s xml:id="echoid-s1789" xml:space="preserve"><anchor type="note" xlink:href="" symbol="*)"/> Und
ſo iſt es auch der Fall, wenigſtens beim Menſchen, den Säuge-<lb/>tieren und den Vögeln, die alle durch Lungen atmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1790" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1791" xml:space="preserve">Da dieſe zwei Kreisläufe und die hierzu dienenden vier <lb/>Abteilungen des Herzens nicht wenig Verwirrung im Kopfe <lb/>derer hervorrufen, die nicht Gelegenheit gehabt haben, ſich das <lb/>Ding ſelber anzuſehen, ſo wollen wir, um recht deutlich zu <lb/>ſein, unſeren Leſern ein paar Worte noch voranſchicken, bevor <lb/>wir zur näheren Darlegung der Arbeit des Herzens kommen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1792" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1793" xml:space="preserve">Ein Herz ſieht — wie jedermann ſchon weiß — ungefähr <lb/>wie eine Birne aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s1794" xml:space="preserve">Denken wir uns ſolch ein Herz mit der <lb/>Spitze unten und der breiten Seite oben, ſo können wir uns <lb/>vorſtellen, daß es im ganzen hohl, aber durch Wände inwendig <lb/>abgeteilt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1795" xml:space="preserve">Eine Wand, die Hauptwand, geht von oben nach <lb/>unten und teilt das Herz in eine rechte und eine linke Hälfte. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1796" xml:space="preserve">Dieſe Wand hat gar keine Thür, ſo daß das Blut niemals <lb/>direkt aus der einen Hälfte des Herzens zur andern kommen <lb/>kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s1797" xml:space="preserve">Dann aber iſt noch eine zweite Wand, die die breite <lb/>Seite des Herzens von der untern ſpitzen abteilt, ſo daß vier <lb/>Zimmer entſtehen, rechts zwei und links zwei, und zwar auf <lb/>jeder Seite eins oben und eins unten. </s>
  <s xml:id="echoid-s1798" xml:space="preserve">Nun aber iſt es mit <lb/>den Wänden, die die oberen Zimmer von den unteren trennen, <lb/>anders als mit der Wand, die das Herz nach rechts und links <lb/>teilt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1799" xml:space="preserve">Von jedem oberen Zimmer führt eine Thür nach dem <lb/>unteren. </s>
  <s xml:id="echoid-s1800" xml:space="preserve">Dieſe Thüren ſind eigentlich Klappen oder Fall-<lb/>
<anchor type="note" xlink:label="note-0139-01a" xlink:href="note-0139-01"/>
<pb o="8" file="0140" n="140"/>
thüren, denn ſie laſſen nur von oben nach unten den Eingang <lb/>offen, verſchließen ſich aber ſofort, wenn etwas von unten nach <lb/>oben zurück will. </s>
  <s xml:id="echoid-s1801" xml:space="preserve">Das Herz iſt nun ſehr vornehm; </s>
  <s xml:id="echoid-s1802" xml:space="preserve">will <lb/>nämlich Blut nach den unteren Zimmern, ſo muß es zuvor in <lb/>die oberen, in ein Vorzimmer kommen, und kann dann erſt in <lb/>die untere Abteilung gelangen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1803" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div47" type="float" level="2" n="1">
<note symbol="*)" position="foot" xlink:label="note-0139-01" xlink:href="note-0139-01a" xml:space="preserve"> Wir ſchlagen dem freundlichen Leſer vor, ſich während des Leſens <lb/>ein Schema des Herzens mit ſeinen Kammern ſowie des großen und <lb/>kleinen Kreislaufes anzufertigen, ſonſt iſt ein Verſtändnis der keineswegs <lb/>ſchwierigen Verhältniſſe erſchwert. Nimm alſo, bitte, Bleiſtift und Papier <lb/>zur Hand!</note>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1804" xml:space="preserve">Die unteren Abteilungen aber ſind die eigentlichen Druck-<lb/>oder Spritzwerke. </s>
  <s xml:id="echoid-s1805" xml:space="preserve">Die linke Seite ſpritzt das Blut durch die <lb/>Schlagadern, durch den ganzen Körper; </s>
  <s xml:id="echoid-s1806" xml:space="preserve">die rechte Seite ſpritzt <lb/>das Blut in die Lunge. </s>
  <s xml:id="echoid-s1807" xml:space="preserve">Das Blut, das im Körper mit <lb/>Kohlenſäure geſchwängert wird, muß nun, wenn es heimkehrt, <lb/>nach der rechten Herzhälfte und nimmt den Weg dahin durch <lb/>das rechte Vorzimmer. </s>
  <s xml:id="echoid-s1808" xml:space="preserve">Das Blut, das die Lunge paſſiert, <lb/>hat Sauerſtoff aufgenommen und ſoll in den Körper, wohin <lb/>es von der linken Seite des Herzens ſpediert wird; </s>
  <s xml:id="echoid-s1809" xml:space="preserve">es muß <lb/>alſo in das linke Vorzimmer. </s>
  <s xml:id="echoid-s1810" xml:space="preserve">— Hiernach wird ſich jeder <lb/>mit wenig Anſtrengung die zwei Kreisläufe deutlich vorſtellen <lb/>können. </s>
  <s xml:id="echoid-s1811" xml:space="preserve">Das Blut paſſiert von der Lunge nach dem linken <lb/>Vorzimmer, von dieſem nach unten ins linke Zimmer; </s>
  <s xml:id="echoid-s1812" xml:space="preserve">hier <lb/>wird es ausgetrieben in den Körper; </s>
  <s xml:id="echoid-s1813" xml:space="preserve">vom Körper ſtrömt es <lb/>zuſammen nach dem rechten Vorzimmer, von dieſem zum <lb/>rechten Zimmer, um von hier wieder in die Lunge geſpritzt zu <lb/>werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1814" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1815" xml:space="preserve">Was wir Zimmer genannt haben, nennt man gewöhnlich <lb/>Kammern, und da wir uns dieſes Namens auch bedienen <lb/>wollen, ſo wollen wir uns vorerſt folgendes als Merkzeichen <lb/>machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1816" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1817" xml:space="preserve">In der rechten Kammer fließt nur das verdorbene Blut <lb/>zuſammen, das durch friſche Luft gereinigt werden muß; </s>
  <s xml:id="echoid-s1818" xml:space="preserve">die <lb/>linke Kammer hat das gereinigte Blut, das den Körper lebens-<lb/>fähig macht.</s>
  <s xml:id="echoid-s1819" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="9" file="0141" n="141"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div49" type="section" level="1" n="47">
<head xml:id="echoid-head54" xml:space="preserve"><emph style="bf">III. Der große Kreislauf.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1820" xml:space="preserve">Nachdem wir den Weg des Blutes durch die Lunge ſchon <lb/>etwas näher kennen gelernt haben, müſſen wir dem Lauf des <lb/>Blutes durch den Körper eine größere Aufmerkſamkeit ſchenken, <lb/>um dadurch zu einer richtigen Vorſtellung von der Thätigkeit <lb/>und Wichtigkeit des Herzens zu gelangen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1821" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1822" xml:space="preserve">Jeder Teil des Leibes bedarf des Blutes und zwar des <lb/>mit Sauerſtoff getränkten Blutes, um zu leben. </s>
  <s xml:id="echoid-s1823" xml:space="preserve">Verhindern <lb/>wir das Blut zu irgend einem Teile, zu irgend einem Gliede, <lb/>zu irgend einem Punkte unſeres Leibes hinzugelangen, ſo <lb/>erfolgt der Tod dieſes Teiles, dieſes Gliedes oder Punktes. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1824" xml:space="preserve">Umſchnürt man einen Finger mit einem feſtſitzenden Bindfaden, <lb/>der den Blutzuſtrom hemmt, ſo erfolgt das Abſterben des <lb/>Fingers, er wird brandig und muß abgeſchnitten werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s1825" xml:space="preserve">denn <lb/>ſoll ein Finger ein lebendiges Glied des Körpers bleiben, ſo <lb/>muß ihm unausgeſetzt friſches Blut vom Herzen zuſtrömen, <lb/>und nach Benutzung desſelben muß das Blut wiederum zum <lb/>Herzen zurückfließen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s1826" xml:space="preserve">Hierbei verwandelt ſich ſowohl <lb/>der Finger wie das Blut. </s>
  <s xml:id="echoid-s1827" xml:space="preserve">Das Blut giebt dem Finger friſche <lb/>lebensfähige Teile ab, und nimmt abgeſtorbene Teile wieder <lb/>davon; </s>
  <s xml:id="echoid-s1828" xml:space="preserve">dadurch entſteht im Finger ein Umtauſch des Stoffes, <lb/>oder ein Stoffwechſel, der in Wahrheit der eigentliche Vorgang <lb/>des Lebens iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1829" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1830" xml:space="preserve">Was wir hier vom Finger ſagen, das gilt vom ganzen <lb/>Leibe in allen ſeinen Teilen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1831" xml:space="preserve">der Leib lebt nur, ſolange er <lb/>den Stoff wechſeln, das Tauſchgeſchäft mit dem Blut machen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s1832" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1833" xml:space="preserve">Nun aber hat es ſicherlich jedermann ſchon beobachtet, daß der <lb/>kleinſte Nadelſtich hinreicht, um aus dem Finger ein Tröpfchen <lb/>Blut herausſtrömen zu laſſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1834" xml:space="preserve">man mag hinſtechen, wo man <lb/>will, allenthalben fließt etwas Blut aus; </s>
  <s xml:id="echoid-s1835" xml:space="preserve">— es befindet ſich <lb/>alſo in allen Teilen des Fingers ſtets etwas Blut. </s>
  <s xml:id="echoid-s1836" xml:space="preserve">Es fragt
<pb o="10" file="0142" n="142"/>
ſich demnach, wo kommt dieſes Blut her? </s>
  <s xml:id="echoid-s1837" xml:space="preserve">welchen Weg nimmt <lb/>es vom Herzen bis zu dieſer Stelle, und wie gelangt es wieder <lb/>von dieſer Stelle zum Herzen zurück?</s>
  <s xml:id="echoid-s1838" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1839" xml:space="preserve">Die Antwort hierauf hat erſt die Wiſſenſchaft der neueren <lb/>Zeit zu geben vermocht, die mit Hilfe der Mikroſkope den <lb/>Bau des Körpers genau ſtudiert und namentlich dies Studium <lb/>auch auf die Körper der Tierwelt ausgedehnt hat, welche in <lb/>vieler Beziehung beſſere Gelegenheit bietet, um an ihr wiſſen-<lb/>ſchaftliche Unterſuchungen zu führen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1840" xml:space="preserve">Die Antwort hierauf iſt <lb/>folgende.</s>
  <s xml:id="echoid-s1841" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1842" xml:space="preserve">Von der linken Kammer des Herzens geht eine große <lb/>Schlagader aus, welche ſich jedesmal, wenn das Herz ſich zu-<lb/>ſammenzieht, mit Blut anfüllt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1843" xml:space="preserve">Dieſe Schlagader teilt ſich <lb/>dann in zwei Teile, von welchen die eine nach oben, die andere <lb/>nach unten in den Körper führt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1844" xml:space="preserve">Jede dieſer abgezweigten <lb/>Schlagadern teilt ſich nun wiederum in Zweige, und von <lb/>jedem Zweig gehen wiederum dünnere Zweige ab. </s>
  <s xml:id="echoid-s1845" xml:space="preserve">Das alles <lb/>ſind nun geſchloſſene Kanäle, welche Blut führen und mit <lb/>jedem Zuſammenziehen der linken Herzkammer ſtets eine neue <lb/>Welle Blut erhalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s1846" xml:space="preserve">Nun aber laufen all die immer feiner <lb/>und feiner werdenden Kanäle in alle Teile und Glieder des <lb/>Körpers hinein und verbreiten ſich hier in immer feineren <lb/>Röhrchen, die ſtets dünner und dünner, aber auch in gleichem <lb/>Maße zahlreicher und verzweigter werden, ſo daß man endlich <lb/>mit bloßem Auge weder mehr die einzelnen Äderchen noch das <lb/>Gewebe desſelben ſehen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s1847" xml:space="preserve">Die Verzweigung von Äderchen <lb/>iſt ſo dicht und gedrängt, daß man in jedem Punkt, den man <lb/>mit einer Nadelſpitze berührt, auf kleine Äderchen trifft: </s>
  <s xml:id="echoid-s1848" xml:space="preserve">ſticht <lb/>man demnach mit der Nadel in den Finger, ſo blutet nicht <lb/>etwa der Finger als ſolcher, ſondern man hat durch den Stich, <lb/>durch die Verletzung ein kleines Äderchen zerriſſen, worin das <lb/>Blut, welches vom Herzen herſtrömt, ſeinen Lauf hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s1849" xml:space="preserve">In <lb/>den unverletzten Äderchen war das Blut in den feinen Kanälchen
<pb o="11" file="0143" n="143"/>
eingeſchloſſen und konnte nicht aus denſelben hervortreten; </s>
  <s xml:id="echoid-s1850" xml:space="preserve">jetzt <lb/>wo ein Röhrchen durch die feine Nadelſpitze zerriſſen worden, <lb/>kann das anſtrömende Blut nicht weiter in dem Äderchen, <lb/>ſondern tritt heraus auf die Haut, und wir ſagen: </s>
  <s xml:id="echoid-s1851" xml:space="preserve">der Finger <lb/>blutet.</s>
  <s xml:id="echoid-s1852" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1853" xml:space="preserve">Eigentlich müßte aus ſolchem zerriſſenen Äderchen fort-<lb/>während Blut ſtrömen, ſolange noch welches im Herzen vor-<lb/>handen iſt, und ſomit müßte jeder Nadelſtich ausreichen, einen <lb/>Menſchen verbluten zu laſſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1854" xml:space="preserve">allein zwei Umſtände ſind es <lb/>hauptſächlich, welche dies verhindern. </s>
  <s xml:id="echoid-s1855" xml:space="preserve">Erſtens gerinnt das <lb/>Blut, wenn es an die Luft tritt, und legt ſich wie ein Pfropfen <lb/>vor die Wunde; </s>
  <s xml:id="echoid-s1856" xml:space="preserve">das Blut, das nun in dem Äderchen her-<lb/>geſtrömt kommt, wird aufgehalten und ſtockt hier, wodurch der <lb/>Riß vorläufig verſtopft wird, bis die weitere Heilung eintritt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1857" xml:space="preserve">Zweitens ſind die feinen Kanäle mit einander ſo verwebt und <lb/>laufen derart einer in den andern über, daß das Blut, welches <lb/>durch das jetzt zerriſſene Äderchen laufen würde, leicht einen <lb/>andern Weg nimmt, ſobald man durch einen Druck die Äderchen <lb/>zuſammenpreßt und gar kein Blut durch dieſen Weg durchläßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1858" xml:space="preserve"><lb/>Es iſt wohl jedem bekannt, wie man leichte Blutungen dadurch <lb/>ſtillt, daß man die Wunde ein wenig drückt, ja ſogar noch <lb/>bedeutendere Blutungen werden durch Preſſung und Ver-<lb/>ſchließung in leichter Weiſe gehemmt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1859" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1860" xml:space="preserve">Man hat ſich demnach das Aderſyſtem im Menſchen ſo <lb/>vorzuſtellen, daß es aus einer großen Schlagader des Herzens <lb/>hervorgeht und ſich dann ſo außerordentlich fein verteilt und <lb/>verzweigt, daß der Menſch allenthalben, wo er nur eine Nadel-<lb/>ſpitze hinſetzen kann, auf Äderchen trifft.</s>
  <s xml:id="echoid-s1861" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1862" xml:space="preserve">Was aber wird aus den feinen Äderchen, die das Blut <lb/>vom Herzen nach allen Teilen des Leibes führen?</s>
  <s xml:id="echoid-s1863" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1864" xml:space="preserve">Die Äderchen vereinigen ſich wieder und bilden dickere <lb/>Röhrchen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1865" xml:space="preserve">ſodann laufen viele Röhrchen zuſammen und bilden <lb/>vollſtändigere Adern. </s>
  <s xml:id="echoid-s1866" xml:space="preserve">Dieſe Adern, die man Blutadern nennt,
<pb o="12" file="0144" n="144"/>
vereinigen ſich dann und bilden Stämme, bis endlich zwei <lb/>Hauptſtämme, in welche all die Adern münden, wieder in die <lb/>rechte Herzkammer und zwar durch das Vorzimmer, oder die <lb/>Vorkammer, eintreten, um das vom Körper herkommende Blut <lb/>hier zu ergießen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1867" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1868" xml:space="preserve">Der Zweck dieſes höchſt merkwürdigen, geſchloſſenen Kanal-<lb/>Syſtems, in welchem ſich das Blut vom Herzen zu allen <lb/>Teilen des Körpers hinbewegt und von dieſen Teilen wieder <lb/>zum Herzen zurückſtrömt, iſt der, daß dasjenige Blut, welches <lb/>durch die Atmung lebensfähig geworden iſt, zum Körper ge-<lb/>führt werde, um deſſen Stoffwechſel möglich zu machen und <lb/>alles, was im Körper lebensunfähig geworden iſt, wieder <lb/>zurückgeführt werde, um durch Ausſcheidung und Reinigung <lb/>wieder Lebensfähigkeit zu erhalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s1869" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div50" type="section" level="1" n="48">
<head xml:id="echoid-head55" xml:space="preserve"><emph style="bf">IV. Einige Haupt- und Nebenumſtände bei der</emph> <lb/><emph style="bf">Arbeit des Herzens.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1870" xml:space="preserve">Da das Blut, wie wir geſehen haben, in einem voll-<lb/>kommen geſchloſſenen Kanal-Syſtem von Adern, die vom Herzen <lb/>auslaufen und zum Herzen wieder zurückführen, ſeinen Lauf <lb/>nehmen muß, ſo wird ſich leicht die Thätigkeit des Herzens <lb/>überblicken laſſen, wenn wir ſagen, daß dieſer Lauf nur durch <lb/>die Kraft des Herzens getrieben wird und nicht etwa, wie <lb/>man früher meinte, von einer Lebenskraft oder einer Selbſt-<lb/>bewegung des Blutes herrührt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1871" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1872" xml:space="preserve">Ganz in derſelben Weiſe wie die rechte Herzkammer mit <lb/>jedem Pulsſchlag eine Portion Blut in die Lunge ſtößt und <lb/>die linke Vorkammer dies wieder aus der Lunge aufnimmt, <lb/>ganz ſo treibt die linke Herzkammer mit einem mächtigen Druck-
<pb o="13" file="0145" n="145"/>
und Pulsſchlag eine Portion Blut in die Schlagadern, die <lb/>durch den ganzen Körper gehen und ſich in demſelben in die <lb/>feinſten Gezweige verlaufen, und ganz ſo nimmt die rechte <lb/>Vorkammer wiederum das aus dem Körper hervorkommende, <lb/>in den Blutadern zum Herzen ſtrömende Blut in ſich auf.</s>
  <s xml:id="echoid-s1873" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1874" xml:space="preserve">Das Herz iſt demnach in Wirklichkeit ein fortwährend <lb/>thätiges Pumpwerk. </s>
  <s xml:id="echoid-s1875" xml:space="preserve">Die beiden Kammern des Herzens ſpritzen <lb/>das Blut durch die zwei Röhrenſyſteme, die durch Lunge und <lb/>Körper führen, von ſich aus; </s>
  <s xml:id="echoid-s1876" xml:space="preserve">die beiden Vorkammern fangen <lb/>das Blut durch Blutadern aus Körper und Lunge wieder in <lb/>ſich ein. </s>
  <s xml:id="echoid-s1877" xml:space="preserve">Das Ausſpritzen geſchieht von beiden Kammern immer <lb/>gleichzeitig; </s>
  <s xml:id="echoid-s1878" xml:space="preserve">in demſelben Moment, wo ein Strom Blut zum <lb/>Körper fließt, geht auch ein Strom Blut zur Lunge; </s>
  <s xml:id="echoid-s1879" xml:space="preserve">in ganz <lb/>eben und demſelben Moment aber haben ſich die beiden Vor-<lb/>kammern ausgedehnt und nehmen ſo aus Lunge und Körper <lb/>eine Portion Blut in ſich auf.</s>
  <s xml:id="echoid-s1880" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1881" xml:space="preserve">Iſt das geſchehen, und denken wir uns einmal, daß das <lb/>Herz in dieſem Moment ein wenig anhält, um ſeinen Zuſtand <lb/>beſehen zu laſſen, ſo würde man finden, daß die untere Spitze <lb/>des Herzens, woſelbſt die beiden Kammern ſind, zuſammen-<lb/>gepreßt und alſo verkleinert, wogegen die obere, die breite <lb/>Seite des Herzens, woſelbſt die Vorkammern ſich befinden, voll <lb/>und prall iſt, denn die Vorkammern ſind voll des eingefloſſenen <lb/>Blutes.</s>
  <s xml:id="echoid-s1882" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1883" xml:space="preserve">Sobald nun dieſer Moment vorüber iſt, preſſen ſich die <lb/>beiden Vorkammern gleichzeitig zuſammen, und die unter ihnen <lb/>liegenden Kammern erweitern ſich gleichzeitig; </s>
  <s xml:id="echoid-s1884" xml:space="preserve">hierbei tritt <lb/>das Blut aus beiden Vorkammern in die beiden Kammern <lb/>hinein, und zwar durch die Fallthüren oder Klappen, die wir <lb/>bereits erwähnt haben, und welche ſich in den Wänden befinden, <lb/>die Vorkammern und Kammern von einander trennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1885" xml:space="preserve">— <lb/>Stellen wir uns vor, daß das Herz wieder jetzt ein wenig <lb/>inne hält, um uns ſeinen Zuſtand ſehen zu laſſen, ſo würden
<pb o="14" file="0146" n="146"/>
wir es an ſeiner oberen, breiten Spitze zuſammengepreßt er-<lb/>blicken; </s>
  <s xml:id="echoid-s1886" xml:space="preserve">wogegen ſich die untere, die ſpitze Hälfte, woſelbſt die <lb/>Kammern ſind, ausgedehnt und ſtrotzend von Blut zeigen <lb/>würden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1887" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1888" xml:space="preserve">Laſſen wir nun das Herz weiter ſein Geſchäft betreiben, <lb/>ſo wiederholt es das Schauſpiel, das wir vorher geſehen <lb/>haben: </s>
  <s xml:id="echoid-s1889" xml:space="preserve">die Kammern ziehen ſich zuſammen, und die Vor-<lb/>kammern erweitern ſich gleichzeitig, um ſodann das Gegenſpiel <lb/>aufzuführen, in welchem ſich die Vorkammern zuſammenziehen <lb/>und die Kammern ſich erweitern, und in dieſer Abwechslung, <lb/>die ſtets Moment auf Moment folgt, beruht das große Tik-<lb/>Tak des Lebens, das wir am Herzſchlag an uns fühlen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1890" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1891" xml:space="preserve">Was nun hauptſächlich unſer Thema näher berührt, das <lb/>iſt die eigentliche mechaniſche Einrichtung dieſes Pumpwerks, <lb/>die wir für unſeren Zweck mit der Einrichtung unſerer von <lb/>Menſchenhänden gemachten Maſchinen vergleichen wollen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1892" xml:space="preserve">und <lb/>indem wir hierzu zu ſchreiten beabſichtigen, müſſen wir noch <lb/>einige wichtige Nebendinge beſonders ins Auge faſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1893" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1894" xml:space="preserve">Wir haben es bereits erwähnt, daß ein erwachſener Menſch <lb/>ungefähr fünfundzwanzig Pfund Blut im Körper hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s1895" xml:space="preserve">Dieſe <lb/>Maſſe Blut geht ungefähr in Zeit von einer bis höchſtens <lb/>zwei Minuten — je nachdem der Blutumlauf heftiger oder <lb/>langſamer iſt — zweimal durchs Herz; </s>
  <s xml:id="echoid-s1896" xml:space="preserve">und zwar von der <lb/>rechten Seite des Herzens zur Lunge, von der Lunge zur <lb/>linken Seite des Herzens, von der linken Seite des Herzens <lb/>zum ganzen Körper, und von dieſem wieder zur rechten Seite <lb/>des Herzens zurück. </s>
  <s xml:id="echoid-s1897" xml:space="preserve">In dieſer Zeit ſind ungefähr achtzig Zu-<lb/>ſammenziehungen und Erweiterungen erfolgt, wo bei jeder Zu-<lb/>ſammenziehung ungefähr zehn Lot Blut ſowohl ins Herz als <lb/>in die Lunge eingeſpritzt worden ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s1898" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1899" xml:space="preserve">Iſt dies aber der Fall, ſo folgt daraus, daß die Lungen <lb/>immer von ſo viel Blut durchſtrömt werden als der ganze <lb/>Körper; </s>
  <s xml:id="echoid-s1900" xml:space="preserve">denn der Zu- und Abfluß in den Lungen geſchieht
<pb o="15" file="0147" n="147"/>
ja durch das ganze Leben gleichzeitig mit dem Zu- und <lb/>Abfluß des Blutes im Körper. </s>
  <s xml:id="echoid-s1901" xml:space="preserve">— Gleichwohl iſt die Lunge <lb/>an fünfzehnmal kleiner als der ganze Körper, alſo der Weg, <lb/>den das Blut zu durchlaufen hat, beträchtlich kürzer.</s>
  <s xml:id="echoid-s1902" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1903" xml:space="preserve">Soll nun die Maſchine des Herzens wirklich einige Voll-<lb/>endung beſitzen und ohne Kraftverſchwendung eingerichtet ſein, <lb/>ſo muß ſie ohne Zweifel die Einrichtung danach haben, daß <lb/>das Pumpwerk für die kleine Lunge nicht zu ſtark und für <lb/>den großen Körper nicht zu ſchwach wirke. </s>
  <s xml:id="echoid-s1904" xml:space="preserve">Das iſt auch in <lb/>der That der Fall, und man kann an einem ausgeſchnittenen <lb/>Herzen deutlich ſehen, wie die linke Herzkammer, welche dem <lb/>ganzen Körper das Blut liefert, außerordentlich dicke und ſtarke <lb/>Muskelwände beſitzt, während die rechte Herzkammer mit viel <lb/>dünneren und ſchlafferen Wänden ausgeſtattet iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1905" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1906" xml:space="preserve">Der zweite Umſtand, auf den wir unſer Augenmerk richten <lb/>wollen, iſt folgender.</s>
  <s xml:id="echoid-s1907" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1908" xml:space="preserve">Vom rechten Herzen führt nur eine große Schlagader in <lb/>die Lunge, dagegen führen vier getrennte Blutadern von der <lb/>Lunge zum Herzen, und zwar zum linken Vorhof zurück. </s>
  <s xml:id="echoid-s1909" xml:space="preserve">— <lb/>Vom linken Herzen geht wiederum nur eine große Schlagader <lb/>zum Körper; </s>
  <s xml:id="echoid-s1910" xml:space="preserve">während zwei Blutadern das Blut vom Körper <lb/>wieder zum Herzen zurückführen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1911" xml:space="preserve">— Auch das kann nicht ohne <lb/>beſonderen Zweck ſo eingerichtet ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s1912" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1913" xml:space="preserve">Endlich nimmt man noch einen dritten Umſtand wahr, <lb/>der unſere Aufmerkſamkeit verdient. </s>
  <s xml:id="echoid-s1914" xml:space="preserve">Die Adern, die das Blut <lb/>vom Herzen fortführen, heben und ſenken und dehnen ſich unter <lb/>jedem Herzſtoß und jeder Blutwelle und bilden das, was <lb/>man den Puls nennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1915" xml:space="preserve">Es heißen dieſe Adern auch deshalb <lb/>Schlagadern, und man kann an ihnen die Schläge des Herzens <lb/>zählen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1916" xml:space="preserve">Die Adern dagegen, welche das Blut zum Herzen <lb/>zurückführen, haben keinen Puls, und das Blut fließt nicht <lb/>ſtoßweiſe in ihnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1917" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1918" xml:space="preserve">Auch dies muß von Bedeutung ſein, und mit zur Ein-
<pb o="16" file="0148" n="148"/>
richtung der Maſchine gehören, die wir an ihrem Wirken zu <lb/>betrachten haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s1919" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div51" type="section" level="1" n="49">
<head xml:id="echoid-head56" xml:space="preserve"><emph style="bf">V. Eine Waſſerleitung und die Blutleitung</emph> <lb/><emph style="bf">im Körper.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1920" xml:space="preserve">Die mechaniſche Einrichtung des Herzens nebſt dem ganzen <lb/>Blutgetriebe wird unſeren Leſern leichter erſichtlich werden, <lb/>wenn wir dies einmal wieder mit einer Erfindung und Ein-<lb/>richtung vergleichen, und zwar mit einer Waſſerleitung, durch <lb/>welche eine ganze Stadt durch unterirdiſche Röhren von einem <lb/>Punkte aus mit fließendem Waſſer verſorgt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s1921" xml:space="preserve">Der Ver-<lb/>gleich wird uns manche weitläufige Erklärung erſparen, ob-<lb/>gleich wir ſofort ſehen werden, daß in den weſentlichſten <lb/>Punkten große Unterſchiede hier ſtattfinden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1922" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1923" xml:space="preserve">Den Haupt-Waſſer-Vehälter wollen wir uns als das Herz <lb/>der Waſſerleitung vorſtellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1924" xml:space="preserve">Die großen, dicken Röhren, die <lb/>von dorther in langen Strecken nach der Stadt und ihren <lb/>Hauptteilen laufen, mögen wir uns als die großen Schlag-<lb/>adern denken. </s>
  <s xml:id="echoid-s1925" xml:space="preserve">Minder große Röhren gehen von den Haupt-<lb/>röhren nach allen Seiten ab; </s>
  <s xml:id="echoid-s1926" xml:space="preserve">dieſe ſollen die Schlagadern der <lb/>einzelnen Glieder vorſtellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1927" xml:space="preserve">Kleinere Röhren zweigen ſich nach <lb/>den beſonderen Straßen ab; </s>
  <s xml:id="echoid-s1928" xml:space="preserve">dieſe ſollen die Pulsadern ſein, <lb/>die das Waſſer nach allen Orten hinführen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1929" xml:space="preserve">Allein von alledem <lb/>hätte man noch keinen Nntzen, wenn nicht noch feinere Röhren <lb/>angebracht würden, welche das Waſſer bis in die Häuſer und <lb/>bis in jedes beliebige Stockwerk führen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1930" xml:space="preserve">— Dies iſt nun mit <lb/>dem Blute ebenſo der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s1931" xml:space="preserve">Im Herzen, in der großen Schlag-<lb/>ader, in deren Zweigen, Stämmen und Pulſen leiſtet es dem <lb/>Körper keine Dienſte; </s>
  <s xml:id="echoid-s1932" xml:space="preserve">erſt wenn es in die feinſten Röhrchen <lb/>kommt, die ganz und gar den Körper durchweben; </s>
  <s xml:id="echoid-s1933" xml:space="preserve">erſt hier <lb/>giebt es ſeine belebende Kraft dem Leibe ab.</s>
  <s xml:id="echoid-s1934" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="17" file="0149" n="149"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1935" xml:space="preserve">Auch in anderer Beziehung hat das Röhrenſyſtem der <lb/>Waſſerleitung eine Ähnlichkeit mit dem Syſtem der Schlag-<lb/>adern. </s>
  <s xml:id="echoid-s1936" xml:space="preserve">Das Röhrenſyſtem der Waſſerleitung iſt ſo eingerichtet, <lb/>daß eine jede Straße nicht bloß von einem Punkte, ſondern <lb/>von verſchiedenen Punkten aus das Waſſer beziehen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s1937" xml:space="preserve">Und <lb/>dies hat auch ſein Gutes; </s>
  <s xml:id="echoid-s1938" xml:space="preserve">denn wäre es nicht ſo, ſo würde, <lb/>wenn eine ſchadhafte Röhre in irgend einer Hauptſtraße eine <lb/>Reparatur und alſo eine Abſperrung des Waſſers nötig machte, <lb/>in einem ganzen Stadtteil der Waſſerzufluß aufhören. </s>
  <s xml:id="echoid-s1939" xml:space="preserve">Sobald <lb/>jedoch von verſchiedenen Seiten die Röhren in Verbindung <lb/>treten, kann die Abſperrung eines beſtimmten Rohrſtückes <lb/>höchſtens in der nächſten Umgebung empfunden werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s1940" xml:space="preserve">Das-<lb/>ſelbe findet auch im Körper ſtatt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1941" xml:space="preserve">Das Röhrenſyſtem iſt nicht <lb/>nur von dem Stamme aus in Verbindung, ſondern läuft auch <lb/>in ſehr vielen Punkten zuſammen, und die Folge hiervon iſt, <lb/>daß die Verletzung einer Schlagader zwar den Blutlauf ändert <lb/>und zu Nebenwegen zwingt, aber keineswegs ganz unterbricht <lb/>und das Glied abſterben läßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s1942" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1943" xml:space="preserve">Nun aber müſſen wir auch die Unterſchiede zwiſchen der <lb/>Waſſerleitung und der Blutleitung deutlich machen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1944" xml:space="preserve">und dieſe <lb/>ſind ſehr bedeutend.</s>
  <s xml:id="echoid-s1945" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1946" xml:space="preserve">Bei der Waſſerleitung iſt ein Hauptwaſſer-Behälter vor-<lb/>handen, wo das Waſſer durch Maſchinen hinaufgepumpt wird, <lb/>damit es dort in einem großen Raum ſtets in einer beſtimmten <lb/>Höhe erhalten wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s1947" xml:space="preserve">Dieſe Höhe iſt ſo groß, daß ſie jedes <lb/>Stockwerk in der Stadt überragt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1948" xml:space="preserve">ſteht nun eine Röhre in der <lb/>Stadt mit dieſer Waſſerſäule in Verbindung, ſo kann aus der-<lb/>ſelben ein kleines Rohr in den dritten und vierten Stock eines <lb/>Hauſes hinaufgeführt werden, und es wird daſelbſt das Waſſer <lb/>mit hinaufſtrömen und ausfließen, ſobald der hierzu eingerichtete <lb/>Hahn geöffnet wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s1949" xml:space="preserve">Denn in jeder Röhre der Stadt wird das <lb/>Waſſer, wo ihm freier Lauf gelaſſen wird, ſo hoch zu ſteigen <lb/>beſtrebt ſein, wie es draußen im großen Waſſerbehälter <lb/>
<pb o="18" file="0150" n="150"/>
ſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s1950" xml:space="preserve">Das iſt ein Naturgeſetz, gegründet auf den Druck,
welchen das in einer Säule ſtehende Waſſer auf alle Röhren,
die mit der Säule verbunden ſind, ausübt (“Geſetz der kom-
municierenden Röhren”). </s>
  <s xml:id="echoid-s1951" xml:space="preserve">— Bei der Waſſerleitung iſt alſo
wohl ein Pumpwerk vorhanden, und ſogar mehr als eines;</s>
  <s xml:id="echoid-s1952" xml:space="preserve">
aber es dient nur, das Waſſer in den Behälter hinaufzutreiben
und den Stand des Waſſers dort immer in gleichem Maße zu
erhalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s1953" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1954" xml:space="preserve">Beim Blut iſt es nicht ſo, und kann auch ſo nicht ein-<lb/>gerichtet ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s1955" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1956" xml:space="preserve">Das Blut wird von dem Pumpwerk des Herzens nicht <lb/>in die Höhe getrieben, ſondern das Pumpwerk wirkt unmittel-<lb/>bar auf das Röhrenſyſtem ſelber; </s>
  <s xml:id="echoid-s1957" xml:space="preserve">denn das Blut ſoll nicht <lb/>bloß in die Höhe getrieben werden, wie das Waſſer in den <lb/>Häuſern, ſondern muß ſtreckenweiſe abwärts fließen, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s1958" xml:space="preserve">B. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1959" xml:space="preserve">vom Herzen hinunter nach dem Leibe und den Beinen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1960" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1961" xml:space="preserve">Ein weiterer Unterſchied liegt darin, daß die Waſſerleitung <lb/>zwar reines Waſſer in alle Teile der Stadt führt und das <lb/>dort verunreinigte Waſſer durch Kanäle abfließen läßt; </s>
  <s xml:id="echoid-s1962" xml:space="preserve">aber <lb/>das Waſſer kehrt nicht zur Waſſerleitung zurück, um gereinigt <lb/>zu werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s1963" xml:space="preserve">Beim Blut iſt dies aber der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s1964" xml:space="preserve">Es fließt <lb/>wieder zum Herzen zurück und wird zur Reinigung nach den <lb/>Lungen geſchickt, um ſofort wieder benutzt zu werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s1965" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1966" xml:space="preserve">Stellen wir uns einmal vor, daß Waſſer eine ſolche Ra-<lb/>rität wäre wie im Menſchenkörper das Blut, und denken wir <lb/>uns hierzu die Möglichkeit, daß man das verunreinigte Waſſer <lb/>mit großer Leichtigkeit zu reinigen imſtande wäre, ſo würde <lb/>unzweifelhaft die Waſſerleitung eine Einrichtung erhalten, die <lb/>der Blutleitung im Körper ähnlicher wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s1967" xml:space="preserve">— In dieſem Falle <lb/>würde das in den Häuſern unbrauchbar gewordene Waſſer <lb/>durch ein zweites Röhrenſyſtem wieder zurückgeleitet werden <lb/>bis in die Nähe des großen Waſſerbehälters. </s>
  <s xml:id="echoid-s1968" xml:space="preserve">Hier würde es <lb/>wiederum angeſammelt, und durch ein Druckpumpwerk nach
<pb o="19" file="0151" n="151"/>
der Reinigungsanſtalt getrieben werden müſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1969" xml:space="preserve">Man würde <lb/>alſo in ſolchem Falle aßer dem jetzt ſchon eingerichteten Druck-<lb/>werk noch ein zweites brauchen, und dem entſprechend müßten <lb/>vier Räume angelegt werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s1970" xml:space="preserve">einer, wo ein Druckwerk das <lb/>Waſſer zur Stadt befördert, ein zweiter, wo es durch ein <lb/>Pumpwerk aus der Stadt wieder zurückgebracht wird; </s>
  <s xml:id="echoid-s1971" xml:space="preserve">ein <lb/>dritter, wo es wieder durch ein Druckwerk in die Reinigungs-<lb/>anſtalt getrieben, und ein vierter, wo es wieder aus der Rei-<lb/>nigungsanſtalt gepumpt wird, um durch das Druckwerk in die <lb/>Stadt getrieben zu werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s1972" xml:space="preserve">Und dieſe vier Räume würden <lb/>den vier Räumen im Herzen recht ähnlich ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s1973" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1974" xml:space="preserve">Wir ſehen alſo, daß nur der Überfluß an Waſſer die <lb/>Urſache iſt, daß man ſich bei der Waſſerleitung nicht auf eine <lb/>Reinigung desſelben nach dem Gebrauch einläßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s1975" xml:space="preserve">Man braucht <lb/>alſo bei der Waſſerleitung nicht das bedeutende Röhrenſyſtem, <lb/>das von der Stadt wieder zurückführt, und das Waſſer macht <lb/>deshalb auch keinen Kreislauf. </s>
  <s xml:id="echoid-s1976" xml:space="preserve">Wäre man genötigt, mit Waſſer <lb/>ſo ſparſam umzugehen, wie mit Blut, ſo würde ſich ohne <lb/>Zweifel die Weisheit der Meſchen die Einrichtung des Blut-<lb/>laufs zum Muſter nehmen können und hätte Urſache, ſtolz <lb/>darauf zu ſein, wenn ſie nach vielen Tauſenden von Jahren <lb/>etwas erfunden hätte, was der erſte Menſch ſchon in großer <lb/>Vollendung mit zur Welt gebracht hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s1977" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div52" type="section" level="1" n="50">
<head xml:id="echoid-head57" xml:space="preserve"><emph style="bf">VI. Weitere Vergleichung der Waſſer- mit der</emph> <lb/><emph style="bf">Blut-Leitung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1978" xml:space="preserve">Nachdem wir einmal den Vergleich des Blutumlaufs mit <lb/>der Waſſerleitung gemacht haben, wollen wir, zur Triebkraft <lb/>ſelber übergehend, den Vergleich fortſetzen, weil wir durch den-
<pb o="20" file="0152" n="152"/>
ſelben imſtande ſein werden, ſo Manches deutlicher zu machen, <lb/>und dem Verſtändnis unſerer Leſer näher zu bringen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1979" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1980" xml:space="preserve">Jedermann wird ſchon bemerkt haben, mit welcher Leich-<lb/>tigkeit ein Kind imſtande iſt, eine Pumpe zu bewegen und <lb/>einen Eimer mit Waſſer zu füllen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1981" xml:space="preserve">mit welcher Anſtrengung <lb/>aber ſelbſt ein Erwachſener arbeiten muß, um den Eimer <lb/>Waſſer durch eine Druckpumpe zu entleeren, und zwar hierbei <lb/>das Waſſer in einem ebenſo dicken Strahl ebenſo hoch zu <lb/>ſpritzen, wie das Kind durch die Pumpe das Waſſer gehoben <lb/>hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s1982" xml:space="preserve">Dies ergiebt ſchon für den Augenſchein, daß ein Pump-<lb/>werk weit leichter zu handhaben iſt, als ein Druck- oder <lb/>Spritzwerk.</s>
  <s xml:id="echoid-s1983" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1984" xml:space="preserve">In der That hat das ſeine Richtigkeit und ſeine natür-<lb/>lichen Urſachen. </s>
  <s xml:id="echoid-s1985" xml:space="preserve">Bei einem Pumpwerk iſt weiter nichts nötig, <lb/>als daß man einen Raum, der mit dem Waſſer in Verbindung <lb/>ſteht, luftleer macht; </s>
  <s xml:id="echoid-s1986" xml:space="preserve">und thut man dies, ſo ſtrömt das Waſſer <lb/>von ſelbſt in den Raum hinein. </s>
  <s xml:id="echoid-s1987" xml:space="preserve">Wenn man ein hohles Rohr <lb/>mit einem Ende ins Waſſer taucht und am anderen Ende mit <lb/>dem Munde ſaugt, ſo ſtrömt das Waſſer nach dem Munde. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s1988" xml:space="preserve">Nicht etwa deshalb, weil man das Waſſer direkt anſaugt, <lb/>ſondern darum, weil man beim Saugen das Rohr luftleer <lb/>macht und das Waſſer durch eine ganz andere Kraft, durch <lb/>den Luftdruck, hinaufgetrieben wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s1989" xml:space="preserve">Die Saugpumpe hat alſo <lb/>eine ſehr leichte Arbeit.</s>
  <s xml:id="echoid-s1990" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1991" xml:space="preserve">Ganz anders iſt es bei der Druckpumpe. </s>
  <s xml:id="echoid-s1992" xml:space="preserve">Während bei <lb/>der Saugpumpe der Luftdruck das Steigen des Waſſers be-<lb/>fördert, thut er bei der Druckpumpe das Gegenteil; </s>
  <s xml:id="echoid-s1993" xml:space="preserve">der Luſt-<lb/>druck hindert das Ausſtrömen, und dieſes Hindernis iſt ſchon <lb/>ſehr bedeutend, es beträgt bei einem Spritzenrohr von einem <lb/>Zoll Dicke ſchon an fünfzehn Pfund. </s>
  <s xml:id="echoid-s1994" xml:space="preserve">Soll aber gar der Waſſer-<lb/>ſtrahl eine bedeutende Höhe erreichen, ſo wirkt dem das Ge-<lb/>wicht des Waſſers entgegen, und das Spritzen wird dadurch <lb/>ganz außerordentlich erſchwert. </s>
  <s xml:id="echoid-s1995" xml:space="preserve">Wer es weiß, wie ſchwer zehn
<pb o="21" file="0153" n="153"/>
bis zwanzig Mann an vorzüglichen Feuerſpritzen zu arbeiten <lb/>haben, wenn ſie das Waſſer auch nur in den erſten Stock <lb/>des brennenden Hauſes ſpritzen wollen, der wird die <lb/>Schwierigkeit des Druckwerks oder Spritzenwerks nicht in Ab-<lb/>rede ſtellen.</s>
  <s xml:id="echoid-s1996" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s1997" xml:space="preserve">Denken wir uns nun, daß die Waſſerleitung einer Stadt <lb/>wirklich ſo eingerichtet werden ſollte, daß das gebrauchte Waſſer <lb/>aus der Stadt wieder hinaus müßte, um dort gereinigt zu <lb/>werden, ſo würde eine Druckpumpe nötig ſein, um das Waſſer <lb/>zur Stadt zu preſſen, und eine Saugpumpe, um es wieder <lb/>zurück zu holen; </s>
  <s xml:id="echoid-s1998" xml:space="preserve">aber die Saugpumpe würde beim Zurückholen <lb/>ſehr wenig Arbeit haben, während die Druckpumpe eine un-<lb/>geheure Arbeit zu leiſten hätte. </s>
  <s xml:id="echoid-s1999" xml:space="preserve">Es iſt alſo klar, daß die <lb/>Techniker, welche dieſe Waſſerbauten zu leiten haben, zwar <lb/>eine Saugpumpe auſſtellen müßten, die in jeder Minute ſo <lb/>viel Waſſer herſaugt, wie die Druckpumpe ſortpreßt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2000" xml:space="preserve">allein die <lb/>Saugpumpe braucht nur ein ſchwaches Werk zu ſein, während <lb/>die Druck- oder Preßpumpe ein gewaltiges ſtarkes Werk von <lb/>bedeutender Kraft ſein muß.</s>
  <s xml:id="echoid-s2001" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2002" xml:space="preserve">Blicken wir nun auf das Herz, dieſe Blutverſorgungs-<lb/>auſtalt von ſehr, ſehr alter Erfindung, ſo finden wir, daß es <lb/>wirklich ſchon ſo weiſe eingerichtet iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2003" xml:space="preserve">Die Vorkammern in <lb/>dem oberen breiten Teil des Herzens brauchen ſich nur zu er-<lb/>weitern, um das Blut aufzunehmen, ſie haben ſehr leichte <lb/>Arbeit und ſind auch nicht für ſchwere Arbeit eingerichtet. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2004" xml:space="preserve">Das Muskelgefüge iſt hier im Vergleich mit dem untern, dem <lb/>ſpitzen Teil des Herzens, ſchwach gebaut. </s>
  <s xml:id="echoid-s2005" xml:space="preserve">Dahingegen ſind <lb/>die Muskeln dieſes unteren Teiles, dieſes Druckwerks, ſo merk-<lb/>würdig kräftig, ſo kreuzundquer und zwiſchendurch geſaſert und <lb/>gebündelt, daß man ſchon ſieht, dieſer Teil muß etwas leiſten <lb/>können; </s>
  <s xml:id="echoid-s2006" xml:space="preserve">und das iſt auch der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s2007" xml:space="preserve">Solch’ ein Spritzwerk, <lb/>das man nicht zur Reparatur ſchicken kann, und das doch ſein <lb/>Menſchenalter hindurch und Tag und Nacht ohne Pauſe ar-
<pb o="22" file="0154" n="154"/>
beiten muß, das verdient ſo feſt geſchnürt und gebündelt zu <lb/>ſein, wie es die Kammern des Herzens ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s2008" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2009" xml:space="preserve">Blicken wir wiederum auf die Waſſerleitung, wie ſie ſein <lb/>würde, wenn das gebrauchte Waſſer aus der Stadt wieder <lb/>zurück müßte zur Anſtalt, um dort gereinigt zu werden, ſo iſt <lb/>es klar, daß eine zweite Druckpumpe vorhanden ſein müßte, <lb/>welche das unreine Waſſer in die Reinigungsanſtalt preßte; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2010" xml:space="preserve">allein es verſteht ſich von ſelbſt, daß man dieſe Anſtalt nicht <lb/>ſo weitläuſig wie die ganze Stadt, ſondern möglichſt klein <lb/>bauen wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s2011" xml:space="preserve">— Und das iſt im Körper auch der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s2012" xml:space="preserve"><lb/>Die Blutreinigungsanſtalt, die Lunge, iſt möglichſt klein <lb/>gebaut, und nur grade ſo groß eingerichtet, um in jeder Minute <lb/>ſo viel Blut reinigen zu können, wie der Körper in gleicher <lb/>Zeit verunreinigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2013" xml:space="preserve">— Die Folge dieſes Zuſtandes aber wird <lb/>bei der Waſſerleitung die ſein, daß das Druckwerk, welches <lb/>das Waſſer nach der kleinen Reinigungsanſtalt zu preſſen <lb/>hat, nicht ſo ſchwere Arbeit wird verrichten müſſen, wie <lb/>das Druckwerk, welches die weitläufige Stadt mit Waſſer <lb/>verſorgen muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s2014" xml:space="preserve">Die Druckpumpe der Reinigungsanſtalt <lb/>wird alſo ſchwächer ſein dürfen, als die für die Stadt-<lb/>röhren. </s>
  <s xml:id="echoid-s2015" xml:space="preserve">Und auch dieſe Sparſamkeit ſehen wir im Körper <lb/>angewendet.</s>
  <s xml:id="echoid-s2016" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2017" xml:space="preserve">Die rechte untere Hälfte des Herzens, wo die Kammer iſt, <lb/>welche das Blut nach der Lunge preßt, iſt nur etwa halb ſo <lb/>ſchwer an Gewicht, wie die linke untere Hälfte. </s>
  <s xml:id="echoid-s2018" xml:space="preserve">— Die <lb/>Höhlen, die ſie bilden, ſind gleich groß; </s>
  <s xml:id="echoid-s2019" xml:space="preserve">denn beide müſſen <lb/>ſtets gleich viel Blut aufnehmen und durch Zuſammenziehung <lb/>fortpreſſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2020" xml:space="preserve">aber die Wände, welche die Höhlen umſchließen, <lb/>und deren Zuſammenziehung eben die Preſſung des Blutes <lb/>und deſſen Rundlauf verurſacht, ſind auffallend verſchieden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2021" xml:space="preserve">Die Muskelpartie der rechten Hälfte iſt bei weitem ſchwächer <lb/>als die der linken, ſowohl an Gewicht wie an Dicke.</s>
  <s xml:id="echoid-s2022" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2023" xml:space="preserve">Aber auch auf die Legung der Röhren müſſen wir einen
<pb o="23" file="0155" n="155"/>
Blick werſen, um die Lage der andern, dieſer Blutröhren, <lb/>etwas verſtändlicher zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2024" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2025" xml:space="preserve">Nehmen wir den Fall an, daß die Waſſerleitung ſo ein-<lb/>gerichtet wäre, daß das gebrauchte Waſſer wieder zurück müßte <lb/>zur Hauptanſtalt, um dort gereinigt zu werden, ſo wäre <lb/>außer den Röhren, die jetzt durch die Stadt gelegt ſind, noch <lb/>ein zweites Röhrenſyſtem nötig, wo das gebrauchte Waſſer <lb/>hinausfließt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2026" xml:space="preserve">allein dieſe zweite Gattung Röhren würde erſtens <lb/>ganz anders gelegt werden als die erſte; </s>
  <s xml:id="echoid-s2027" xml:space="preserve">ſie würden zweitens <lb/>auch ganz anders gebaut ſein können, als die erſtere Gattung; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2028" xml:space="preserve">ſie würden drittens andere Verbindungen miteinander haben und <lb/>würden endlich viertens auch anders in die Saugpumpe münden, <lb/>wie die Druckröhren von der Druckpumpe auslaufen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2029" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2030" xml:space="preserve">Wir wollen zeigen, wie dies alles beſchaſſen ſein müßte, <lb/>wenn es auf Vollendung Anſpruch machen, das heißt möglichſt <lb/>vorteilhaft, möglichſt ſicher und möglichſt ſparſam ſein ſoll, <lb/>und dann einmal ſehen, ob unſere Blutleitung im Körper auch <lb/>ſo ſchön ausgeſonnen iſt, wie wir die Waſſerleitung ausſinnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2031" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div53" type="section" level="1" n="51">
<head xml:id="echoid-head58" xml:space="preserve"><emph style="bf">VII. Verſchiedenheit der Adern und ihrer Lagen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2032" xml:space="preserve">Es läßt ſich leicht einſehen, daß man die Röhren einer <lb/>Waſſerleitung, welche das Waſſer nach der Stadt führen, nicht <lb/>immer geradeaus und in gleicher Weiſe legen kann, ſondern <lb/>ſtets die Stadtgegend im Auge haben muß, welche mit Waſſer <lb/>zu verſorgen iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2033" xml:space="preserve">zugleich aber hat man noch eine andere <lb/>Rückſicht zu beobachten, die darin beſteht, daß das Waſſer in <lb/>jedem Hauſe der Stadt einen gewiſſen gleichmäßigen Fluß habe, <lb/>damit nicht ein Haus in der Nähe der Waſſerleitung über-<lb/>mäßig reich, ein entferntes dagegen zu ſparſam mit Waſſer <lb/>verſorgt werde.</s>
  <s xml:id="echoid-s2034" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="24" file="0156" n="156"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2035" xml:space="preserve">Zu dieſem Ziele wird man nur dadurch gelangen, daß <lb/>man die Abzweigung der Röhren nicht allzufrüh vornimmt; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2036" xml:space="preserve">denn je früher die Röhren ſich verzweigen, deſto ſchwächer <lb/>wird der Strom; </s>
  <s xml:id="echoid-s2037" xml:space="preserve">in einer geteilten Röhre iſt auch der Strom, <lb/>alſo der Waſſerzufluß geteilt, und ſoll das Waſſer in rechtem <lb/>Maße nach Bedürfnis zuſließen, ſo iſt es gut, daß es möglichſt <lb/>lange in einem Rohr zuſammen bleibt bis kurz vor der Stelle, <lb/>wo die Teilung notwendig iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2038" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2039" xml:space="preserve">Anders dagegen verhält es ſich mit dem rückſließenden <lb/>Waſſer. </s>
  <s xml:id="echoid-s2040" xml:space="preserve">Dies, das nur von einem leichtarbeitenden Werk <lb/>heimgepumpt werden ſoll, wird leichter ſließen, wenn es in <lb/>geteilten Röhren ſeinen Weg nehmen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s2041" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2042" xml:space="preserve">Mit andern Worten: </s>
  <s xml:id="echoid-s2043" xml:space="preserve">Wenn eine Druckpumpe ein fernes <lb/>Röhrenſyſtem mit Waſſer verſorgen ſoll, ſo wird es gut ſein, <lb/>die Teilung des Hauptrohres erſt äußerſt ſpät eintreten zu laſſen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2044" xml:space="preserve">wenn dagegen das Waſſer zur Pumpe zurückſtrömen ſoll, ſo <lb/>iſt es vorteilhafter, wenn es ihr durch recht viele Röhren <lb/>zuſtrömt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2045" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2046" xml:space="preserve">Und auch dieſes Prinzip iſt in der Blutleitung des Körpers <lb/>gewiſſenhaſt beobachtet. </s>
  <s xml:id="echoid-s2047" xml:space="preserve">Die Schlagadern, die Blut zu den <lb/>Körperteilen führen, ſind ſparſam in der Verzweigung; </s>
  <s xml:id="echoid-s2048" xml:space="preserve">die <lb/>Verzweigung fängt erſt dort an, wo die Verſorgung des Blutes <lb/>nach allen Teilen unumgänglich nötig iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2049" xml:space="preserve">dadurch wird dem <lb/>Druckwerk des Herzens die Arbeit erleichtert. </s>
  <s xml:id="echoid-s2050" xml:space="preserve">Dahingegen ſind <lb/>die Blutadern, die das abgenutzte Blut zurückführen, geteilter, ihre <lb/>Zahl iſt größer, wodurch dem Blut der Heimweg erleichtert wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s2051" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2052" xml:space="preserve">Aus gleichem Grunde ſehen wir die Schlagadern aus der <lb/>rechten wie aus der linken Kammer des Herzens nur ein-<lb/>ſtämmig auslaufen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2053" xml:space="preserve">Die linke Kammer ſendet nur einen Stamm <lb/>aus, der ſich dann erſt in eine Ader teilt, die nach dem unteren, <lb/>und eine, die nach dem oberen Teil des Körpers geht; </s>
  <s xml:id="echoid-s2054" xml:space="preserve">ebenſo <lb/>drückt die rechte Kammer des Herzens das Blut nur in einer <lb/>ungeteilten Ader in die Lunge; </s>
  <s xml:id="echoid-s2055" xml:space="preserve">wohingegen die Vorkammern,
<pb o="25" file="0157" n="157"/>
ſowohl aus dem Körper, wie aus jeder Lunge durch zwei <lb/>Röhren das Blut wieder aufnehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2056" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2057" xml:space="preserve">Bei dieſer Gelegenheit müſſen wir einer Vorrichtung er-<lb/>wähnen, die im Herzen ſelber angebracht iſt, und die darthut, wie <lb/>ſorgfältig und vorſichtig dieſer Bau angelegt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2058" xml:space="preserve">Es läßt ſich <lb/>leicht einſehen, daß zwei Röhren, welche in einen Raum Flüſſig-<lb/>keiten zuführen, nicht ſo geſtellt ſein dürſen, daß die Ströme <lb/>gegeneinander gerichtet ſind, weil dann leicht der ſtärkere Zu-<lb/>ſtrom der einen Seite den ſchwächeren der anderen Seite <lb/>hemmen könnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s2059" xml:space="preserve">— Beim Herzen finden wir dieſe Vorſicht <lb/>ebenſalls beobachtet. </s>
  <s xml:id="echoid-s2060" xml:space="preserve">Die Hauptblutader, welche vom unteren <lb/>Teil des Körpers kommt, ſteht der zweiten, welche das Blut <lb/>der oberen Körperteile zum Herzen führt, nicht gerade gegen-<lb/>über, damit der eine Blutzuſtrom nicht den andern ſtöre. </s>
  <s xml:id="echoid-s2061" xml:space="preserve">Es <lb/>ſind aber noch außerdem Wülſte oder eine Art Dämme <lb/>angebracht, an welche jeder Blutſtrom anprallt, ſo daß die <lb/>beiderſeitigen Strömungen ſich gewiſſermaßen im erſten Anſchuß <lb/>aus dem Wege gehen, um ſich dann ſofort deſto inniger zu <lb/>miſchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2062" xml:space="preserve">— Daß aber dieſe Miſchung des Blutes auch ſehr <lb/>notwendig iſt, läßt ſich leicht einſehen, wenn man erwägt, daß <lb/>die Blutader, die aus dem oberen Teil des Körpers in das <lb/>Herz geht, nicht bloß abgenutztes Blut, wie die untere Blut-<lb/>ader mit ſich führt, ſondern auf ihrem Wege auch noch den <lb/>Vorrat von Material zu friſchem Blute auſnimmt, welcher <lb/>aus den Speiſen entſtanden iſt, aus denen das Blut ſich bildet. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2063" xml:space="preserve">Dieſer Vorrat an friſchem Blutſaft muß ins Herz, um mit <lb/>dem alten Blut gemiſcht zu werden, und aller Wahrſcheinlichkeit <lb/>nach iſt hierzu jene gründliche Miſchung mit dem alten Blut-<lb/>vorrat notwendig, welche durch den Wirbel der Blutſtrömungen <lb/>im Herzen entſteht, und gerade durch die erwähnten Wülſte <lb/>oder Dämme, an welche die Blutſtröme anprallen, befördert <lb/>wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s2064" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2065" xml:space="preserve">Noch auf einen Umſtand haben wir aufmerkſam zu machen,
<pb o="26" file="0158" n="158"/>
der weſentlich die Thätigkeit einer Druckpumpe kennzeichnet, <lb/>welche beim Herzen und der Blutleitung nicht fehlen darf.</s>
  <s xml:id="echoid-s2066" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2067" xml:space="preserve">Es iſt bekannt, daß jedes Spritzwerk einen Wind- oder <lb/>Luſtkeſſel haben muß, wenn es ordentlich wirken ſoll. </s>
  <s xml:id="echoid-s2068" xml:space="preserve">Der <lb/>Grund hiervon liegt in der Thatſache, daß Flüſſigkeiten ſich <lb/>nicht zuſammenpreſſen laſſen, alſo auch nicht jene Spring- und <lb/>Dehnkraſt haben, welche einer Spritze nötig iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2069" xml:space="preserve">Flüſſigkeiten <lb/>ſind nicht elaſtiſch und können nur dann in regelmäßigem Strahl <lb/>fortgeſpritzt werden, wenn man Windkeſſel auf ſie wirken läßt, wo <lb/>die ſehr elaſtiſche, gepreßte Luſt das Springen des Strahls ver-<lb/>anlaßt, ſelbſt in den Pauſen, wo der Druck der Maſchine aufhört.</s>
  <s xml:id="echoid-s2070" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2071" xml:space="preserve">Beim Herzen iſt nun freilich nicht ein Wind- oder Luft-<lb/>keſſel angebracht, ja der Eintritt von Luſt ins Herz iſt ſo <lb/>außerordentlich ſchnell tötend, daß ganz gefahrloſe Durch-<lb/>ſchneidungen von Blutadern den ſofortigen Tod durch Luft-<lb/>eintritt herbeiführen können, wenn der Operateur nicht die <lb/>Ader unterbindet und ſo den Weg zum Herzen ſperrt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2072" xml:space="preserve">Der <lb/>Druckpumpe des Herzens fehlt alſo ein elaſtiſches Mittel, um <lb/>das Blut in dauerndem Fluß zu erhalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s2073" xml:space="preserve">Dieſem Mangel <lb/>iſt jedoch durch den Umſtand abgeholfen, daß alle Schlagadern <lb/>ſelber elaſtiſch ſind, um ſich ſowohl der Länge wie der Dicke <lb/>nach mit jeder Blutwelle zu dehnen und zuſammenzuziehen, und <lb/>das bewirkt ein Fortſchießen des Strahls, ſelbſt im Moment, <lb/>wo die Kammer des Herzens ſich erweitert; </s>
  <s xml:id="echoid-s2074" xml:space="preserve">denn die hinter <lb/>der Blutwelle ſich verengende Schlagader drängt eben durch <lb/>ihre Verengung das Blut vorwärts. </s>
  <s xml:id="echoid-s2075" xml:space="preserve">Da dies nur bei den <lb/>Schlagadern der Fall iſt, die an dem Spritz- und Druckwerke <lb/>des Herzens angebracht ſind, und bei den Blutadern nicht <lb/>ſtattfindet, ſo iſt es klar, daß unſere Einrichtungen, in welchen <lb/>wir Spritz- und Druckwerke mit elaſtiſchen Hilfsmitteln, mit <lb/>Wind- oder Luftkeſſel verſehen, auch im Prinzip ſchon etwas <lb/>ſehr Altes ſind — älter, als das erfindungsſtolze Menſchen-<lb/>herz es je geahnt hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s2076" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="27" file="0159" n="159"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div54" type="section" level="1" n="52">
<head xml:id="echoid-head59" xml:space="preserve"><emph style="bf">VIII. Die Klappen oder Ventile.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2077" xml:space="preserve">Der intereſſanteſte Teil der großen Blutleitung des Körpers <lb/>iſt das Herz ſelber, und an dieſem iſt die Einrichtung der <lb/>Klappen oder Ventile am bewunderungswürdigſten.</s>
  <s xml:id="echoid-s2078" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2079" xml:space="preserve">Jeder, der einmal die Einrichtung einer Druckpumpe ge-<lb/>ſehen hat, wird wiſſen, daß außer dem Kolbenſtoß das leichte <lb/>Spiel der Ventile die Hauptſache an einer guten Pumpe iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2080" xml:space="preserve">Die Reparaturen, welche oft genug an Pumpen und Feuer-<lb/>ſpritzen nötig werden, gelten meiſt den Ventilen, die ſich bald <lb/>zu ſchwer öffnen, bald zu undicht ſchließen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2081" xml:space="preserve">deshalb gehören <lb/>auch gute Ventile zu den am meiſten geſuchten Erfindungen, <lb/>und trotzdem wir jetzt ſehr verſchiedenartige beſitzen, und je <lb/>nach dem Werk bald Klappen-, bald Kugel-, bald Schiebe-<lb/>Ventile angewendet ſehen, würde doch eine Erfindung leicht <lb/>arbeitender, ſicherer, dichter, und doch der Reparaturen wenig <lb/>bedürfender Ventile noch immer ſehr willkommen ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s2082" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2083" xml:space="preserve">Das Intereſſantere in der Vorrichtung des Herzens liegt <lb/>aber auch noch darin, daß die Ventile bei den verſchiedenen <lb/>Öffnungen, durch welche das Blut ſtrömt, nicht gleich gebaut, <lb/>ſondern gerade ſo eingerichtet ſind, daß ſie zu der Kraft paſſen, <lb/>welche ihnen jedesmal erforderlich iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2084" xml:space="preserve">— Wirſt man den Blick <lb/>auf dieſe Ventileinrichtungen, ſo findet man, daß ſie an gewiſſen <lb/>Stellen ſehr einfach, an andern ſchon feſter und wieder an <lb/>andern außerordentlich feſt angelegt ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s2085" xml:space="preserve">man kann demnach <lb/>ſagen, daß man drei Gattungen, und zwar: </s>
  <s xml:id="echoid-s2086" xml:space="preserve">mittelmäßige, gute <lb/>und vorzügliche Ventile am Herzen findet, was am ſchlagendſten <lb/>darthut, daß am Bau des Herzens eine wunderbare Spar-<lb/>ſamkeit herrſcht, denn wo ein mittelmäßiges Ventil ausreicht, <lb/>findet man kein gutes, und allenthalben, wo dieſes ſeine Dienſte <lb/>genügend leiſten kann, ſieht man kein vorzügliches angebracht.</s>
  <s xml:id="echoid-s2087" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2088" xml:space="preserve">Um die Ventile näher kennen zu lernen, wollen wir eine
<pb o="28" file="0160" n="160"/>
Portion Blut auf einer Rundreiſe im Körper begleiten, und <lb/>zwar wollen wir von dort anfangen, wo es aus dem Körper <lb/>zum Herzen ſtrömt, um von dieſem zur Lunge geſchickt, von <lb/>hier zurück zum Herzen ſpediert und durch dieſes wieder zum <lb/>Körper getrieben zu werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s2089" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2090" xml:space="preserve">Nehmen wir an, daß von irgend einem Körperteil aus, <lb/>z. </s>
  <s xml:id="echoid-s2091" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s2092" xml:space="preserve">dem Fuß, das Blut auf der Rückreiſe begriffen iſt, ſo iſt <lb/>es klar, daß es hier beim Aufwärtsſteigen der Schwere ent-<lb/>gegenwirkt, und das Blut eigentlich ohne die fortſchiebende <lb/>Stoßkraft des Herzens gar nicht in die Höhe ſteigen könnte. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2093" xml:space="preserve">Nun aber geſchieht es zuweilen, daß wirklich das Herz auf <lb/>einen Moment gelähmt iſt, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s2094" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s2095" xml:space="preserve">bei plötzlichem Schreck <lb/>und Entſetzen, gleichwohl jedoch ſtrömt das Blut nicht zurück, <lb/>und zwar deshalb nicht, weil die Blutadern, und namentlich <lb/>die vom unteren Teil des Körpers zum Herzen laufenden in-<lb/>wendig in den Wänden Taſchen-Ventile haben, das heißt, <lb/>Häutchen, welche ganz ſo geformt ſind, wie die Seitentaſchen <lb/>an unſern Droſchken; </s>
  <s xml:id="echoid-s2096" xml:space="preserve">dieſe Taſchen oder Taſchen-Ventile be-<lb/>wirken, daß alles Blut, welches aufwärts ſteigt, ungehindert <lb/>an ihnen vorüber fließt, während alles, was zurückfließen <lb/>möchte, die Taſche füllt und ſtrotzend macht, ſo daß ſie den Weg <lb/>abwärts verſperrt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2097" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2098" xml:space="preserve">Bedenkt man, daß das Blut, welches zum Herzen zurück-<lb/>fließt, nicht mehr lebensfähig iſt, ja, daß es ſchädlich wirken <lb/>würde, wenn es zurück in die feinen Äderchen ſließen könnte, <lb/>aus denen die Teile des Leibes ihre Nahrung nehmen, ſo iſt <lb/>der Zweck der Taſchen- Ventile vollkommen erklärt, und ihre <lb/>Wichtigkeit einleuchtend.</s>
  <s xml:id="echoid-s2099" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2100" xml:space="preserve">Indem wir dieſe Ventile als die einfachſten bezeichnen, <lb/>wollen wir nur noch erwähnen, daß auch abwärts laufende <lb/>Blutadern mit ſolchen verſorgt ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s2101" xml:space="preserve">Sie thun auch hier <lb/>wichtige Dienſte, weil ohne ſie das unbrauchbar gewordene <lb/>Blut rückwärts fließen würde, ſobald z. </s>
  <s xml:id="echoid-s2102" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s2103" xml:space="preserve">eine Ader irgend-
<pb o="29" file="0161" n="161"/>
wie gedrückt wird, was ſehr oft geſchieht, da die Blutadern an <lb/>vielen Stellen ſehr oberflächlich liegen, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s2104" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s2105" xml:space="preserve">auf der <lb/>Außenſeite der Hand, und auf der Stirn, wo ſie bei älteren <lb/>Leuten und bei ſehr zarthäutigen Perſonen als dicke oder feine <lb/>blaue Kanäle ſichtbar ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s2106" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2107" xml:space="preserve">Dieſe einfachen Ventile reichen nun für ihren Zweck voll-<lb/>kommen aus, denn ſie laſſen das Blut nur zum Herzen zurück-<lb/>fließen, wohin es ſoll. </s>
  <s xml:id="echoid-s2108" xml:space="preserve">Denken wir uns demnach, daß eine <lb/>Portion ins Herz, und zwar in den Vorhof eingeſtrömt iſt, ſo <lb/>iſt es einmal ſo eingerichtet, daß der Vorhof, ſobald er gefüllt <lb/>iſt, ſich zuſammenzieht, denn er muß ſeine Portion Blut jetzt <lb/>nach der Herzkammer treiben, die ſich zu dieſem Zweck er-<lb/>weitert. </s>
  <s xml:id="echoid-s2109" xml:space="preserve">Bei dieſer Gelegenheit tritt freilich, wie neuere Be-<lb/>obachtungen gezeigt haben, ein wenig Blut zurück in die großen <lb/>Blutadern; </s>
  <s xml:id="echoid-s2110" xml:space="preserve">allein dies geſchieht ohne Gefahr, da von hier aus <lb/>das unbrauchbare Blut nicht bis zu den Leibesteilen zurück-<lb/>gelangen kann, und deshalb iſt auch keine beſondere Vorrichtung <lb/>dagegen angebracht. </s>
  <s xml:id="echoid-s2111" xml:space="preserve">Allein zwiſchen Vorhof und Kammer iſt <lb/>Vorſicht nötig, und die Einrichtung der dieſe Öffnungen <lb/>ſchließenden Ventile iſt vorzüglich.</s>
  <s xml:id="echoid-s2112" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2113" xml:space="preserve">Die Öffnungen, welche vom Vorhof zur Kammer führen, <lb/>ſind mit feſten Häuten verſehen, welche ſich wie Segel auf-<lb/>ſpannen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s2114" xml:space="preserve">Die rechte Seite des Herzens hat drei ſolcher <lb/>Segelklappen, die linke zwei. </s>
  <s xml:id="echoid-s2115" xml:space="preserve">Will nun das Blut vom Vorhof <lb/>in die Kammer, ſo ſtellen ſich die Segelklappen ſo, daß ſie den <lb/>Blutſtrahl zwiſchen ſich hindurchgleiten laſſen, und zwar leiten <lb/>ſie ihn zugleich ein wenig ab, damit der Strahl nicht auf die <lb/>zweite Öffnung anpralle, die zu der Schlagader führt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2116" xml:space="preserve">Hat <lb/>ſich nun die Kammer gefüllt und iſt im Begriff ſich zu-<lb/>ſammenzupreſſen, ſo entrollen ſich die Segelklappen vollſtändig <lb/>und bauchen ſich unter dem Druck des Blutes auf, wie ein <lb/>Segel im Winde; </s>
  <s xml:id="echoid-s2117" xml:space="preserve">hierbei preſſen ſie ſich feſt aneinander und <lb/>verſchließen die Öffnung zum Vorhof derart, daß auch nicht
<pb o="30" file="0162" n="162"/>
ein Tröpfchen Blut zurück kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s2118" xml:space="preserve">Das Aufrollen, Zuſammen-<lb/>klappen, Anpreſſen und Verſchließen iſt ein äußerſt feiner <lb/>Mechanismus, der durch viele wohl berechnete Umſtände <lb/>bewerkſtelligt iſt, wobei hauptſächlich ſleiſchige Bündel mit-<lb/>wirken, welche an ſehnigen Schnüren die Segel im rechten <lb/>Moment feſtziehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2119" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2120" xml:space="preserve">Eine dritte Art Ventil iſt an der Öffnung angebracht, wo <lb/>die Schlagadern münden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2121" xml:space="preserve">Dieſes Ventil iſt nicht ſo fein aus-<lb/>geſponnen, wie das zwiſchen Vorhof und Kammer; </s>
  <s xml:id="echoid-s2122" xml:space="preserve">aber es iſt <lb/>vortrefflich gearbeitet. </s>
  <s xml:id="echoid-s2123" xml:space="preserve">Es beſteht nämlich aus drei im Rohr <lb/>der Schlagadern liegenden Wagentaſchen, die beim Lauſe des <lb/>Blutes nach der Schlagader an die Wände gepreßt werden <lb/>und dem Blute nicht das mindeſte Hindernis bereiten, die ſich <lb/>aber ſofort füllen, aufbauchen und aneinander preſſen, wenn <lb/>das Blut bei der Ausdehnung der Herzkammer nach dieſer <lb/>zurück will. </s>
  <s xml:id="echoid-s2124" xml:space="preserve">Hierbei prallen die drei Taſchen-Ventile ſo genan <lb/>mit den Rändern aneinander, daß ſie einen ausgezeichneten <lb/>Verſchluß bilden, und kein Tröpfchen den falſchen Weg zurück-<lb/>machen laſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2125" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div55" type="section" level="1" n="53">
<head xml:id="echoid-head60" xml:space="preserve"><emph style="bf">IX. Wie ſtark das Herz iſt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2126" xml:space="preserve">Seitdem es wiſſenſchaſtlich feſtgeſtellt iſt, daß das Herz <lb/>ein äußerſt merkwürdiges, mechaniſches Kunſtwerk, welches an <lb/>Vorzüglichkeit der Einrichtung alle künſtlichen Druckwerke über-<lb/>trifft, haben die Naturforſcher ſich bemüht, die Kraft genau zu <lb/>meſſen, mit welcher das Herz ſeinen Druck auf das Blut aus-<lb/>übt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2127" xml:space="preserve">— Hierbei hat ſich nun eine überraſchende Erſcheinung <lb/>gezeigt, die wir nicht unerwähnt laſſen dürfen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2128" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2129" xml:space="preserve">Um eine genaue Meſſung vornehmen zu können, bedient <lb/>man ſich eines Inſtruments, das auch in mediziniſcher Be-
<pb o="31" file="0163" n="163"/>
ziehung wichtig geworden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2130" xml:space="preserve">Zu dieſem Zweck öffnet man <lb/>einem Tier eine Schlagader und bringt die Öffnung mit einem <lb/>Gummiſchlauch in Verbindung, der in ein Glasrohr führt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2131" xml:space="preserve">Dieſes Glasrohr iſt wie ein lateiniſches U gebogen, das heißt, <lb/>es beſteht aus zwei aufrecht ſtehenden Säulen, die unten mit <lb/>einander in Verbindung ſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2132" xml:space="preserve">In das Rohr wird Queck-<lb/>ſilber hineingegoſſen, das vor dem Verſuch in beiden Säulen <lb/>gleich hoch ſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s2133" xml:space="preserve">Bei dem Verſuch wird der Gummiſchlauch, <lb/>der an einem Ende mit der Ader in Verbindung ſteht, mit dem <lb/>andern Ende auf die eine Öffnung des Glasrohrs gebracht. </s>
  <s xml:id="echoid-s2134" xml:space="preserve"><lb/>Das Blut ſtürzt aus der geöffneten Ader durch den Gummi-<lb/>ſchlauch in das Glasrohr und drückt auf das Queckſilber, ſo <lb/>daß es in der andern Säule in die Höhe ſteigt, und je nach <lb/>der Höhe, die es erreicht, die Kraft des Blutdrucks angiebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2135" xml:space="preserve"><lb/>Dies Inſtrument nennt man den Blut-Kraft-Meſſer, und es <lb/>wird gegenwärtig ſowohl für Unterſuchungen der angegebenen <lb/>Art, wie beſonders bei Verſuchen über die Wirkung gewiſſer <lb/>Medikamente benutzt, deren Einfluß auf die Kraſt des Herzens <lb/>man prüfen will. </s>
  <s xml:id="echoid-s2136" xml:space="preserve">Es verſteht ſich von ſelbſt, daß man bei <lb/>Verſuchen dieſer Art zu Tieren ſeine Zuflucht nimmt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2137" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2138" xml:space="preserve">Die überraſchende Erſcheinung, die ſich hierbei heraus-<lb/>ſtellte, iſt die, daß die Druckkraft des Blutes gar nicht von der <lb/>Größe des Tieres abhängt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2139" xml:space="preserve">Das Blut von Pferden, Ochſen, <lb/>Kälbern, Hunden, Katzen und Kaninchen zeigt eine ganz gleiche <lb/>Druckkraft. </s>
  <s xml:id="echoid-s2140" xml:space="preserve">Das heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s2141" xml:space="preserve">das kleine Herz eines Kaninchens <lb/>treibt das wenige Blut im Körper dieſes Tieres mit eben <lb/>ſolcher Kraft herum, wie das große Herz eines Pferdes die <lb/>Maſſe des Pferdeblutes herumtreibt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2142" xml:space="preserve">Man muß ſich hierbei <lb/>nicht vorſtellen, daß ein Kaninchenherz ſo ſtark iſt wie ein <lb/>Pferdeherz; </s>
  <s xml:id="echoid-s2143" xml:space="preserve">denn das iſt keineswegs der Fall, und kann auch <lb/>nicht der Fall ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s2144" xml:space="preserve">Ein Kaninchenherz iſt eine kleine Pumpe <lb/>für eine kleine Blutleitung; </s>
  <s xml:id="echoid-s2145" xml:space="preserve">ein Pferdeherz iſt eine große <lb/>Pumpe für eine große Blutleitung. </s>
  <s xml:id="echoid-s2146" xml:space="preserve">Die große Pumpe mag
<pb o="32" file="0164" n="164"/>
dreißigmal ſo ſtark ſein wie die kleine; </s>
  <s xml:id="echoid-s2147" xml:space="preserve">aber ſobald ſie <lb/>dreißigmal ſo viel Blut in Umſchwung zu ſetzen hat, wird ſie <lb/>in jedem einzelnen Punkte nicht mehr als die kleine leiſten.</s>
  <s xml:id="echoid-s2148" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2149" xml:space="preserve">Hieraus aber muß man den Schluß ziehen, daß es ganz <lb/>was Eignes iſt mit dieſem merkwürdigen Mechanismus des <lb/>Herzens. </s>
  <s xml:id="echoid-s2150" xml:space="preserve">Wenn die an eigner Kraft ſehr verſchiedenen Herzen <lb/>der kleinen und großen Säugetiere alle ſo eingerichtet ſind, daß <lb/>ſie für jedes der Tiere immer einen und denſelben Blutdruck <lb/>erzeugen, ſo können wir uns dies menſchlicherweiſe gar nicht <lb/>anders vorſtellen, als daß die genaueſte Berechnung bei Bildung <lb/>des Herzens obwaltet, damit es ja nur zu dem Körper ſtimme, <lb/>in welchem es thätig ſein muß und weder zu ſtark noch zu <lb/>ſchwach ſei für die Arbeit, die es in jedem Tiere zu vollbringen <lb/>hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s2151" xml:space="preserve">— Und da kein Grund vorhanden iſt anzunehmen, daß <lb/>der Menſch hiervon eine Ausnahme mache, ja, es vielmehr <lb/>eine Schwäche wäre, zu glauben, daß die Berechnung bei einem <lb/>Menſchenherzen weniger richtig ſein ſollte als bei dem Büffel <lb/>oder dem Meerſchweinchen, ſo können wir wohl ſagen: </s>
  <s xml:id="echoid-s2152" xml:space="preserve">wir <lb/>Menſchen bringen ein Herz, eine Maſchine mit zur Welt, die <lb/>ſo genau an Kraſt abgeſtimmt iſt für ihre zu leiſtende Arbeit, <lb/>daß ſie auch in dieſer Beziehung all’ unſerer künſtlichen Ma-<lb/>ſchinen ſpottet, welche bekanntlich um ein halbmal ſtärker gebaut <lb/>werden, als ſie benutzt werden dürfen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2153" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2154" xml:space="preserve">Auf dieſem Prinzip fußend, haben die Naturforſcher auch <lb/>auf die eigentliche Kraft des Herzens Schlüſſe gezogen, und <lb/>ſind hierbei auf ſehr intereſſante Reſultate gekommen, die frei-<lb/>lich noch nicht ſo feſt ſtehen, wie es zu wünſchen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2155" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2156" xml:space="preserve">Was wir ſoeben von der bei allen Säugetieren gleichen <lb/>Blutkraft geſagt haben, betrifft nämlich nicht die eigentliche <lb/>Kraft — oder wie man ſich wiſſenſchaftlich ausdrückt, die ab-<lb/>ſolute Kraft — des Herzens, ſondern nur die Wirkung der <lb/>Herzkraft auf das Blut — oder wiſſenſchaftlich: </s>
  <s xml:id="echoid-s2157" xml:space="preserve">deren relative <lb/>Kraft. </s>
  <s xml:id="echoid-s2158" xml:space="preserve">Der Blutdruckmeſſer zeigt ein Steigen der Queckſilber-
<pb o="33" file="0165" n="165"/>
ſäule von etwa einem halben Fuß, ganz gleichviel, ob man das <lb/>Blut eines Kaninchens oder das eines Ochſen unterſucht; </s>
  <s xml:id="echoid-s2159" xml:space="preserve">es <lb/>iſt hiernach klar, daß man durch dieſes Inſtrument zwar die <lb/>Wirkung, aber nicht die eigentliche Kraft des Herzens erſieht, <lb/>und es noch weiterer Unterſuchungen und Berechnungen be-<lb/>durſte, um auch hinter dieſe zu kommen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2160" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2161" xml:space="preserve">Den Weg dieſer intereſſanten Unterſuchung auch nur an-<lb/>zudeuten, iſt äußerſt ſchwierig, da es ſich hierbei um mathe-<lb/>matiſche Berechnungen des Umfanges der Haupt-Schlagader <lb/>und deren Verhältnis zu den Verzweigungen derſelben handelt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2162" xml:space="preserve">Wir können demnach nur als Reſultat angeben, daß man <lb/>wiederum gefunden hat, es ſei bei jedem Säugetier die rechte <lb/>Hälfte des Herzens ſo ſtark, daß ſie bei ihrer jedesmaligen <lb/>Zuſammenziehung eine Kraft äußert, die gleich iſt einem Drei-<lb/>hundertteil des Gewichtes des ganzen Tieres. </s>
  <s xml:id="echoid-s2163" xml:space="preserve">Die linke <lb/>Hälfte des Herzens iſt dreimal ſo ſtark, beträgt alſo an Kraft <lb/>ein Hundertteil des Gewichtes des Tieres. </s>
  <s xml:id="echoid-s2164" xml:space="preserve">Das ganze Herz <lb/>iſt demnach an Kraft gleich einem Fünfundſiebzigteil des Ge-<lb/>wichtes des Tieres.</s>
  <s xml:id="echoid-s2165" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2166" xml:space="preserve">Deutlicher ausgedrückt heißt dies ſo viel: </s>
  <s xml:id="echoid-s2167" xml:space="preserve">Ein Tier, das <lb/>100 Pfund wiegt, beſitzt ein Herz, welches ſo ſtark in ſeiner <lb/>Druckkraft iſt, wie ein Gewichtſtück von 1 {1/3} Pfund. </s>
  <s xml:id="echoid-s2168" xml:space="preserve">Da nun <lb/>ein Menſch im ausgewachſenen Zuſtande an 140 Pfund wiegt, <lb/>ſo iſt die Druckkraft ſeines Herzens etwa gleich 2 Pfund. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2169" xml:space="preserve">Dieſe Kraft äußern wir in jedem Pulsſchlag, das heißt in der <lb/>Minute an 70 Mal, was ſo viel ſagen will, wie eine Kraſt <lb/>von 140 Pfund in der Minute oder 84 Zentner in der Stunde.</s>
  <s xml:id="echoid-s2170" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2171" xml:space="preserve">Nun aber iſt das Herz, das mit jedem Pulsſchlag eine <lb/>Kraft von 2 Pfund äußert, nur im ganzen etwa fünfzehn <lb/>Lot ſchwer; </s>
  <s xml:id="echoid-s2172" xml:space="preserve">wir haben alſo fünfzehn Lot lebendige Maſchine <lb/>im Leibe, die nicht nur ein Meiſterwerk von Druck-Pumpe iſt, <lb/>ſondern auch ſo viel Kraft beſitzt, daß ſie in einer Stunde eine <lb/>Druckkraft ausübt von 84 Zentner.</s>
  <s xml:id="echoid-s2173" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2174" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s2175" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s2176" xml:space="preserve">Volksbücher XIII.</s>
  <s xml:id="echoid-s2177" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="34" file="0166" n="166"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2178" xml:space="preserve">Das ſoll nun ein Menſch einmal nacherfinden!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2179" xml:space="preserve">Gewiß, es bleibt dabei: </s>
  <s xml:id="echoid-s2180" xml:space="preserve">was der Menſch erfindet, ſteht <lb/>weit, weit zurück gegen das, was er mit zur Welt bringt!</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div56" type="section" level="1" n="54">
<head xml:id="echoid-head61" xml:space="preserve"><emph style="bf">X. Die ſogenannten mechaniſchen Fehler des Herzens.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2181" xml:space="preserve">Nachdem wir das kleine Meiſterſtück, das Herz, ſo weit <lb/>betrachtet haben, daß wir die Unerreichbarkeit ſeines Mechanis-<lb/>mus als feſtgeſtellt anſehen dürfen, wollen wir nur noch zwei <lb/>Eigentümlichkeiten kennen lernen, die eigentlich noch unerklärt <lb/>ſind, und die inſoweit für uns Intereſſe haben, als ſie ſonſt <lb/>bei künſtlichen Maſchinen Zeichen der Stümperhaftigkeit ihrer <lb/>Einrichtung ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s2182" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2183" xml:space="preserve">Eine künſtliche Maſchine wird als ſchlecht betrachtet, ſobald <lb/>ſie während der Arbeit ruckt oder ſtößt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2184" xml:space="preserve">ja man wendet ſogar <lb/>alles an, damit ſie möglichſt keinen Ton von ſich gebe, denn <lb/>ein Ton entſteht immer nur infolge eines Stoßes oder einer <lb/>Erſchütterung, die Schwingungen verurſacht, und dergleichen iſt <lb/>der Haltbarkeit der Maſchine höchſt nachteilig.</s>
  <s xml:id="echoid-s2185" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2186" xml:space="preserve">Zwar wird der Vorzug des gleichmäßigen Ganges der <lb/>Maſchine, der jeden Ruck oder Stoß oder Ton meidet, äußerſt <lb/>ſelten erreicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s2187" xml:space="preserve">Das Dröhnen, Pfeifen, Klappern, Schrillen, <lb/>Sauſen der Maſchinen läßt ſich ſelten oder gar nicht beſeitigen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2188" xml:space="preserve">aber es wird dies doch ſtets als Fehler betrachtet, und man <lb/>ſucht dem immer, ſo weit es geht, abzuhelfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2189" xml:space="preserve">Es iſt ein aus-<lb/>gemachter Satz in der Maſchinenlehre, daß jeder Stoß die <lb/>Kraft der Maſchine hemmt und außerdem noch ihre Zerbrech-<lb/>lichkeit befördert. </s>
  <s xml:id="echoid-s2190" xml:space="preserve">Die Schädlichkeit jedes Stoßes geht ſo weit, <lb/>daß man an unſern Eiſenbahnen Ausgaben von mehreren <lb/>Millionen gemacht hat, um neu erfundene, beſſere Schienen-<lb/>ſtühle herzuſtellen, die weniger als die bisherigen das Stoßen
<pb o="35" file="0167" n="167"/>
der Lokomotive veranlaſſen, wenn ſie von einer Schiene auf die <lb/>andere kommt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2191" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2192" xml:space="preserve">Iſt dem aber ſo, dann wird man auf den Gedanken ge-<lb/>führt, daß das Herz am Ende doch kein gar zu erhabenes <lb/>Kunſtwerk ſein könne, denn es hat die Eigentümlichkeit, daß es <lb/>regelmäßig an die Bruſtwand anſtößt, und außer dieſem Stoß, <lb/>der gefühlt werden kann, hört man, wenn man das Ohr an <lb/>die Bruſtwand legt, oder ſich hierzu eines Hörrohrs bedient, <lb/>zwei Töne während jedes Herzſchlages, ſo daß das Herz einen <lb/>zwiefachen mechaniſchen Fehler zu beſitzen ſcheint, es ſtößt und <lb/>tönt, ohne daß man den Zweck des Stoßes und des Tönens <lb/>anzugeben vermag.</s>
  <s xml:id="echoid-s2193" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2194" xml:space="preserve">Erwägt man die Sache indeſſen näher, ſo wird man auf <lb/>den Gedanken geführt, daß es doch nicht ſo ſchlimm mit den <lb/>Fehlern des Herzens ſtehen könne.</s>
  <s xml:id="echoid-s2195" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2196" xml:space="preserve">Das Stoßen und Tönen einer Maſchine iſt deshalb ein <lb/>mechaniſcher Fehler, weil beim Stoß erſtens ein Teil der Kraft <lb/>verloren geht, und weil dieſe verlorene Kraft noch zweitens zur <lb/>Zertrümmerung des ſtoßenden oder geſtoßenen Teiles führt; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2197" xml:space="preserve">das Tönen wird bei Maſchinen aus gleichem Grunde möglichſt <lb/>gemieden, denn jeder Ton entſteht immer nur infolge einer <lb/>Erſchütterung, die Schwingungen verurſacht, und dieſe kommt <lb/>in ihrer Wirkung einer großen Reihe wiederholter kleiner Stöße <lb/>vollkommen gleich. </s>
  <s xml:id="echoid-s2198" xml:space="preserve">Wollte man alſo den mechaniſchen Wert <lb/>des Herzens nach gewöhnlichem Maßſtabe beurteilen, ſo müßte <lb/>man nicht ſowohl dem Stoß oder dem Ton, ſondern der <lb/>Haltbarkeit Fehler nachweiſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2199" xml:space="preserve">nun aber lehrt die Erfahrung <lb/>gerade hierin, daß unſer feſtſtehendes mechaniſches Urteil durch-<lb/>aus nicht zutrifft, denn kein Organ des Leibes iſt ſo aus-<lb/>dauernd haltbar als gerade das Herz, trotz ſeines Stoßens <lb/>und Tönens.</s>
  <s xml:id="echoid-s2200" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2201" xml:space="preserve">In den höchſten Lebensaltern wird Auge und Ohr ſtumpf, <lb/>verliert ſich Geruch, Geſchmack und Gefühl in auffallendem
<pb o="36" file="0168" n="168"/>
Grade, verſagen die Füße den Dienſt, ſchwanken die Hände, <lb/>will der Magen ſein Werk nicht mehr verrichten und verfällt <lb/>ſelbſt der Geiſt in eine Abweſenheit, die wie ein Vorbote ſich <lb/>einſtellt, um die große Abweſenheit anzukündigen, die bald <lb/>eintreten muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s2202" xml:space="preserve">Alles alſo nimmt ab in ſeiner Wirkſamkeit; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2203" xml:space="preserve">nur das Herz hält aus, ja die Zahl ſeiner Schläge vermehrt <lb/>ſich ſogar zuweilen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2204" xml:space="preserve">und wenn es am Ablauf der letzten Stunde <lb/>für immer ſtill ſteht, iſt es nicht der Fall, weil es ihm mecha-<lb/>niſch an Kraft gebricht, weil es durch ſein Stoßen und Tönen <lb/>an Dauerhaftigkeit verloren, ſondern weil jene Triebkraft auf-<lb/>gehört hat, welche durch das lange Leben hindurch das Herz <lb/>dirigiert hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s2205" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2206" xml:space="preserve">Die Erfahrung lehrt alſo, daß es falſch iſt, an das Herz <lb/>den Maßſtab der Mechanik anzulegen und demſelben das <lb/>Stoßen und Tönen deshalb als Fehler anzurechnen, weil dies <lb/>an Maſchinen menſchlicher Erfindung verderblich auf die Halt-<lb/>barkeit der Maſchine einwirkt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2207" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2208" xml:space="preserve">Der Fehler liegt nicht am Herzen, ſondern an unſerm <lb/>Verſtande, oder richtiger an dem jetzigen Stand der Natur-<lb/>wiſſenſchaft, die den Zweck des Herzſtoßes und Tönens nicht <lb/>kennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2209" xml:space="preserve">Bei einem Meiſterwerk dieſer Art, wo ſich alles, was <lb/>man bisher erforſchen konnte, unvergleichlich zweckentſprechend <lb/>gezeigt hat, darf man gar nicht zweifeln, daß auch das Stoßen <lb/>an die Bruſtwand und das Tönen des Herzens mit zum Zweck <lb/>ſeiner Thätigkeit gehört, und muß des Fortſchritts der <lb/>Wiſſenſchaft harren, die ſicherlich einmal hinter dieſe Dinge <lb/>kommen wird, zur Beſchämung all’ derer, die — flüchtig genug <lb/>— im Bau des Menſchen Fehler nachweiſen wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2210" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2211" xml:space="preserve">Vorläufig muß es uns genügen, daß die Wiſſenſchaft voll-<lb/>kommen klar darüber iſt, woher der Herzſtoß rührt, und wenig-<lb/>ſtens mit großer Wahrſcheinlichkeit den Grund der Herztöne an-<lb/>geben kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s2212" xml:space="preserve">Der Stoß rührt daher, daß das Herz, welches an <lb/>den von ihm auslaufenden Adern frei hängt, bei der jedesmaligen
<pb o="37" file="0169" n="169"/>
Zuſammenzichung eine Schwenkung macht, die zugleich in einer <lb/>Wendung, Drehung und Hebung beſteht, wobei die Spitze des <lb/>linken Herzteils an die Bruſtwand fährt und ſo den fühlbaren <lb/>Stoß veranlaßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2213" xml:space="preserve">Die Urſache der Herztöne iſt weniger ſicher <lb/>ermittelt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2214" xml:space="preserve">jedoch nimmt man jetzt allgemein an, daß ſie von <lb/>dem Schluß der Ventile herrühren, die beim Rückprall des <lb/>Blutes jenen feſten Verſchluß bilden, der dem Blut den Rück-<lb/>tritt ins Herz verſperrt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2215" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2216" xml:space="preserve">Freilich darf man den Grund dieſer Erſcheinungen nicht <lb/>mit dem Zweck derſelben verwechſeln; </s>
  <s xml:id="echoid-s2217" xml:space="preserve">vielleicht lehrt die fort-<lb/>ſchreitende Wiſſenſchaft einmal, daß gerade dieſes Stoßen und <lb/>Tönen den Zweck habe, als Anregung und Reiz auf die Herz-<lb/>thätigkeit zu wirken; </s>
  <s xml:id="echoid-s2218" xml:space="preserve">wie dem aber auch ſei, ſo müſſen wir be-<lb/>kennen, daß uns gerade dieſe ſogenannten mechaniſchen Fehler <lb/>am Herzban noch mehr Reſpekt vor dieſem Bau ſehr alter <lb/>Erfindung einflößen und ihn hoch über jene Menſchenerfin-<lb/>dungen ſtellen, bei denen man weiß, wie Klappen und Tönen <lb/>vernichtend wirken, und wo man doch nicht imſtande iſt, dies <lb/>zu beſeitigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2219" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div57" type="section" level="1" n="55">
<head xml:id="echoid-head62" xml:space="preserve"><emph style="bf">XI. Das Auge und die Kamera-Obſcura.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2220" xml:space="preserve">Wir wollen nunmehr zur Betrachtung eines andern kleinen <lb/>Meiſterwerks übergehen, das der Menſch mit zur Welt bringt, <lb/>und das inſofern in unſer Thema fällt, als es dem Menſchen <lb/>gelungen iſt, ein Kunſtwerk herzuſtellen, welches dem angebornen <lb/>Meiſterwerk höchſt merkwürdig ähnlich iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2221" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2222" xml:space="preserve">Das Meiſterwerk, das der Menſch mit zur Welt bringt, <lb/>iſt das <emph style="sp">Auge</emph>; </s>
  <s xml:id="echoid-s2223" xml:space="preserve">das Kunſtwerk, das er dem Auge ähnlich her-<lb/>vorbringt, iſt die <emph style="sp">Kamera-Obſcura</emph>. </s>
  <s xml:id="echoid-s2224" xml:space="preserve">Wir wollen ſie nun <lb/>beide näher kennen lernen, um ſie vergleichend neben einander <lb/>ſtellen zu können.</s>
  <s xml:id="echoid-s2225" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="38" file="0170" n="170"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2226" xml:space="preserve">So eigentlich ſollten wir mit dem Bau des Auges be-<lb/>ginnen und dann den Bau der Kamera-Obſcura betrachten; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2227" xml:space="preserve">allein es iſt einmal im Leben ſo, daß die Menſchen weit eher <lb/>Beſcheid wiſſen in dem, was ſie ſchaffen, als in dem, was ſie <lb/>ſind, daß ſie weit leichter das kennen lernen, was ſie machen, <lb/>als das, was aus ihnen gemacht wird, daß ſie in Büchern ſich <lb/>ſchneller zurecht finden als im Leben, auf Landkarten leichter <lb/>Beſcheid wiſſen als auf Reiſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2228" xml:space="preserve">deshalb glauben wir, daß auch <lb/>unſere Leſer weit leichter den Bau der Kamera-Obſcura ver-<lb/>ſtehen werden, als den des Auges, und darum wollen wir mit <lb/>dieſem Bau anfangen, um ſpäter zum Auge zu kommen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2229" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2230" xml:space="preserve">Wer ein Stündchen Zeit nicht ſcheut und für ſich oder <lb/>ſeine Kinder eine angenehme und belehrende Spielerei, die <lb/>gar wenig koſtet, machen will, der baue ſich eine Kamera-<lb/>Obſcura.</s>
  <s xml:id="echoid-s2231" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2232" xml:space="preserve">Es gehört dazu ſehr wenig. </s>
  <s xml:id="echoid-s2233" xml:space="preserve">Ein Brillenglas, eine alte <lb/>Cigarrenkiſte und ein Blatt Papier ſind zur Not ausreichend <lb/>für das ganze Kunſtſtück.</s>
  <s xml:id="echoid-s2234" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2235" xml:space="preserve">Das Brillenglas muß ſo ſein, wie es die alten Leute ge-<lb/>brauchen, das heißt, es muß an den Rändern dünner ſein als <lb/>in der Mitte; </s>
  <s xml:id="echoid-s2236" xml:space="preserve">es muß die Linſenform haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s2237" xml:space="preserve">Ein Brennglas, <lb/>wie man es auf dem Markt für einen Groſchen kauft, iſt voll-<lb/>kommen ausreichend.</s>
  <s xml:id="echoid-s2238" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2239" xml:space="preserve">Die Cigarrenkiſte darf nicht ſlach, ſondern muß hoch ſein. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2240" xml:space="preserve">Die hohen Kiſtchen, worin man gewöhnlich ein viertel Tauſend <lb/>Cigarren verpackt, werden ſich ganz vortrefflich zu unſerm Ver-<lb/>ſuch eignen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2241" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2242" xml:space="preserve">Das weiße Blatt Papier muß ein wenig mit Öl ein-<lb/>gerieben ſein, damit es glasartig durchſcheinend wird, und ſich <lb/>wie eine halb durchſichtige Glasſcheibe ausnimmt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2243" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2244" xml:space="preserve">Nunmehr wollen wir zum Bau ſchreiten, aber zuvor noch <lb/>einen Verſuch machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2245" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2246" xml:space="preserve">Man trete an die Wand, die dem Fenſter gegenüberliegt,
<pb o="39" file="0171" n="171"/>
und halte das Brillen- oder Brennglas in einiger Entfernung <lb/>von derſelben. </s>
  <s xml:id="echoid-s2247" xml:space="preserve">Man wird bald bemerken, daß anſtatt des <lb/>Schattens vom Glaſe, der eigentlich auf die Wand fallen ſollte, <lb/>ein eigentümliches Licht ſich auf derſelben zeigt, und zwar an <lb/>der Stelle, wo das Licht vom Fenſter her durch das Glas auf <lb/>die Wand fällt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2248" xml:space="preserve">— Nun verſuche man es mit Entfernen und <lb/>Nähern des Glaſes an die Wand, und man wird bald wahr-<lb/>nehmen, daß in einer gewiſſen Entfernung des Glaſes von der <lb/>Wand, — die bei gewöhnlichen Gläſern etwa fünf bis zehn <lb/>Zoll zu betragen pflegt — ein allerliebſtes, kleines Bildchen auf <lb/>der Wand ſichtbar wird, und zwar wird man darin das Fenſter, <lb/>nebſt Fenſterkreuz am deutlichſten erkennen, aber auch den <lb/>Himmel draußen, die Wolken oder die gegenüberliegenden <lb/>Häuſer. </s>
  <s xml:id="echoid-s2249" xml:space="preserve">Mit einem Worte: </s>
  <s xml:id="echoid-s2250" xml:space="preserve">man wird an der Wand ein <lb/>Bildchen von all’ dem ſehen, was man mit dem Auge von <lb/>dieſer Stelle aus am Fenſter und draußen erblicken kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s2251" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2252" xml:space="preserve">Wenn man die richtige Entfernung getroffen hat, was nach <lb/>einiger Übung ſehr leicht geſchieht, und wenn die Wand weiß <lb/>angeſtrichen iſt, oder wenn man ein Blatt Schreibpapier ſtatt <lb/>der Wand benutzt, ſo iſt das Bildchen hell, hübſch, zierlich und <lb/>für denjenigen, der dieſen Verſuch noch nicht kennt, ſehr über-<lb/>raſchend. </s>
  <s xml:id="echoid-s2253" xml:space="preserve">— Aber das Überraſchendſte dabei bleibt immer, daß <lb/>das Bildchen umgekehrt iſt, das heißt, das alles auf dem Kopf <lb/>ſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s2254" xml:space="preserve">Wenn das Fenſterkreuz oben im Fenſter iſt, iſt es auf <lb/>dem Bildchen unten; </s>
  <s xml:id="echoid-s2255" xml:space="preserve">der Himmel draußen, die Dächer der <lb/>Häuſer, die Häuſer ſelbſt, mit einem Worte, das ganze Bildchen <lb/>ſieht wie in der umgekehrten Welt aus; </s>
  <s xml:id="echoid-s2256" xml:space="preserve">ja, wenn ſich eine <lb/>Perſon ans Fenſter ſtellt, iſt auch dieſe zu ſehen und recht <lb/>deutlich zu erkennen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2257" xml:space="preserve">aber auch dieſe Perſon ſteht mit den <lb/>Beinen nach oben und dem Kopf nach unten; </s>
  <s xml:id="echoid-s2258" xml:space="preserve">kurz, das Bild-<lb/>chen iſt ſo, daß, wenn man es abmalen könnte, wie es iſt, man <lb/>es umdrehen müßte, um alles ganz richtig zu ſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2259" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2260" xml:space="preserve">Wir können nicht ernſtlich genug jeden unſerer Leſer, der
<pb o="40" file="0172" n="172"/>
dieſen Verſuch noch nicht kennt, dazu mahnen, ihn doch ja an-<lb/>zuſtellen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2261" xml:space="preserve">denn wenn wir auch augenblicklich nicht eine be-<lb/>lehrende Erklärung daran knüpfen können, ſo wird die ſehr <lb/>billige Spielerei ſchon anregend, unterhaltend und in der Folge <lb/>noch belehrend genug werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s2262" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2263" xml:space="preserve">Nun aber müſſen wir uns merken, in welcher Entfernung des <lb/>Glaſes von der Wand das Bildchen am ſchärfſten und klarſten <lb/>iſt, und dieſe Entfernung wollen wir die <emph style="sp">Brennweite</emph> nennen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2264" xml:space="preserve">— Hat man dieſe, ſo kann man ſich die Kamera-Obſcura ſehr <lb/>leicht machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2265" xml:space="preserve"/>
</p>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption2" xml:space="preserve">Fig. 1. <lb/>Schema für die Umkehrung des Bildes.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables2" xml:space="preserve">A B</variables>
</figure>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2266" xml:space="preserve">Wir nehmen die Cigarrenkiſte und ſtellen ſie ſo nieder, <lb/>daß die eine ſchmale Wand zum Fenſter gerichtet, die andere ihm <lb/>abgewandt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2267" xml:space="preserve">Die Wand zum Fenſter hin nennen wir die <lb/>Vorderwand, die gegenüberſtehende die Hinterwand. </s>
  <s xml:id="echoid-s2268" xml:space="preserve">In die <lb/>Vorderwand ſchneiden wir ein rundes Loch, gerade ſo groß, <lb/>daß wir das Brennglas hineinſetzen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s2269" xml:space="preserve">Mit ein wenig <lb/>geleimtem Papier kann man ſich das hübſch feſtkleben. </s>
  <s xml:id="echoid-s2270" xml:space="preserve">Nun <lb/>brechen wir die hintere Wand ganz ab und nageln den Deckel <lb/>der Kiſte zu. </s>
  <s xml:id="echoid-s2271" xml:space="preserve">Wir haben demnach ein Kämmerchen, in welchem <lb/>das Brennglas als Fenſter dient, und durch deſſen Hinterwand <lb/>wir hineinblicken. </s>
  <s xml:id="echoid-s2272" xml:space="preserve">— Nun nehmen wir unſer Blatt geöltes
<pb o="41" file="0173" n="173"/>
Papier, und ſuchen es ſo in unſer Kämmerchen hineinzuſchieben, <lb/>daß es die Stelle der eingeriſſenen Wand vertritt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2273" xml:space="preserve">Macht man <lb/>dieſe Papierwand ſo, daß man ſie beliebig in dem Kämmerchen <lb/>vor- und zurückſchieben kann, ſo wird man beim Verſuch ſehr <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0173-01a" xlink:href="fig-0173-01"/>
ſchnell die Pa-<lb/>pierwand dahin <lb/>bringen, daß ſie <lb/>gerade in der <lb/>Brennweite des <lb/>vorderen Glaſes <lb/>ſteht, und iſt das <lb/>der Fall, ſo wird <lb/>man ein über-<lb/>raſchend hübſches <lb/>Bildchen auf dem <lb/>Papier erblicken, <lb/>ein Bildchen von <lb/>der ganzen Welt, <lb/>die vor dem Käm-<lb/>merchen exiſtiert; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2274" xml:space="preserve">und — das iſt <lb/>eine Kamera-Ob-<lb/>ſcura.</s>
  <s xml:id="echoid-s2275" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div57" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0173-01" xlink:href="fig-0173-01a">
<caption xml:id="echoid-caption3" xml:space="preserve">Fig. 2. <lb/>Kamera-Obſcura.</caption>
</figure>
</div>
</div>
<div xml:id="echoid-div59" type="section" level="1" n="56">
<head xml:id="echoid-head63" xml:space="preserve"><emph style="bf">XII. Die Kamera-Obſcura.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2276" xml:space="preserve">Wer unſerem Rate gefolgt und ſich ſolch’ eine wohlfeile <lb/>Kamera-Obſbura gebaut hat, der wird ſchon von ſelber auf die <lb/>kleinen Handgriffe kommen, durch welche man mit wenig Auf-<lb/>wand ſich einen beſſern und feſtern Bau eines ſolchen In-<lb/>ſtrumentes herſtellen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s2277" xml:space="preserve">Wir wollen für denjenigen, der <lb/>hierzu Luſt bezeugt, nur anführen, daß man gut thut, wenn
<pb o="42" file="0174" n="174"/>
man das Brennglas, oder die “Linſe”, wie man ſolch’ ein in <lb/>der Mitte dickes und am Rande dünnes Brillenglas nennt, <lb/>nicht unmittelbar an das ausgeſchnittene Loch der Vorderwand <lb/>anbringt, ſondern es in einem kurzen, paſſenden Cylinder aus <lb/>Pappe befeſtigt, den man im ausgeſchnittenen Loch gut ein-<lb/>und ausſchieben kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s2278" xml:space="preserve">Ferner hat es ſeinen Vorteil, wenn <lb/>man die Kammer inwendig ſchwarz anſtreicht oder mit ſchwarzem, <lb/>nicht glänzenden Papier beklebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2279" xml:space="preserve">Endlich thut man gut, ſtatt <lb/>der unhaltbaren Papierwand eine Wand aus mattgeſchliffenem <lb/>Glaſe oder aus Milchglas zu nehmen, das man in jeder Glas-<lb/>handlung für ein paar Groſchen kaufen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s2280" xml:space="preserve">— Man nennt <lb/>deshalb dieſe Hinterwand die “matte Scheibe”, und wir wollen <lb/>ſie fortan ebenſo bezeichnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2281" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2282" xml:space="preserve">Der Verſuch wird ſchon jedem von ſelbſt lehren, daß das <lb/>Bildchen auf der matten Scheibe nur dann gut ſichtbar iſt, <lb/>wenn außer dem Licht, welches durch die Linſe hineinſcheint, <lb/>kein anderes durch irgend welche Öffnung eindringt, und daß <lb/>das Schwärzen der Kammer der Sichtbarkeit des Bildchens <lb/>vorteilhaft iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2283" xml:space="preserve">Deshalb nennt man ſolche Vorrichtung eine <lb/>“Kamera-Obſcura”, das heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s2284" xml:space="preserve">“finſtere Kammer” oder “dunkle <lb/>Kammer”; </s>
  <s xml:id="echoid-s2285" xml:space="preserve">in neuerer Zeit gebraucht man faſt ausſchließlich <lb/>den guten und durchaus unzweideutigen Ausdruck “Dunkel-<lb/>kammer”.</s>
  <s xml:id="echoid-s2286" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2287" xml:space="preserve">Wir wollen nunmehr die Eigenſchaften unſerer Dunkel-<lb/>kammer näher kennen lernen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2288" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2289" xml:space="preserve">Vor Allem wollen wir ſie ans offene Fenſter ſtellen, und <lb/>zwar ſo, daß ſie mit der Linſe zur Straße hinaus, mit der <lb/>Scheibe zur Stube gekehrt iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2290" xml:space="preserve">nehmen wir nun ein Tuch über <lb/>den Kopf und hüllen mit demſelben zugleich die matte Scheibe <lb/>ein, damit ſie nicht von außen her zu ſtark beleuchtet erſcheint, <lb/>ſo erblicken wir auf derſelben die ganze Straße in den ſchönſten <lb/>Farben, den Himmel, die Häuſer, die Menſchen in Bewegung, <lb/>die Wagen, die vorüberfahren; </s>
  <s xml:id="echoid-s2291" xml:space="preserve">ja, wenn man nur die Linſe
<pb o="43" file="0175" n="175"/>
recht genau ein- und ausſchiebt, ſo daß man von ihr bis zur <lb/>matten Scheibe die richtige Brennweite getroffen hat, ſo iſt <lb/>man imſtande, im Bildchen alle Bekannte auf der Straße zu <lb/>erkennen, und genießt dabei das Vergnügen, ſie auf dem Kopf <lb/>wandeln zu ſehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2292" xml:space="preserve">denn das Bildchen iſt die verkehrte Welt, <lb/>zeigt den Himmel unten, die Erde oben, die Köpfe abwärts, <lb/>die Beine aufwärts.</s>
  <s xml:id="echoid-s2293" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2294" xml:space="preserve">Will man wenigſtens einigermaßen dieſe gemalte Welt <lb/>wieder in Ordnung rücken, ſo muß man ſich eines Spiegels <lb/>bedienen, den man vor die matte Scheibe hinlegt, und das <lb/>Bild im Spiegel betrachten. </s>
  <s xml:id="echoid-s2295" xml:space="preserve">Einige Verſuche damit werden jeden <lb/>von ſelber auf die richtigſte und vorteilhafteſte und intereſſanteſte <lb/>Art der Aufſtellung des Spiegels führen (vgl. </s>
  <s xml:id="echoid-s2296" xml:space="preserve">Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s2297" xml:space="preserve">2); </s>
  <s xml:id="echoid-s2298" xml:space="preserve">jeden-<lb/>falls aber wird immer noch der Unterſchied zwiſchen der Wirk-<lb/>lichkeit und dem Bildchen obwalten, daß alle Menſchen, die <lb/>auf der Straße von rechts nach links gehen, ſich auf dem <lb/>Bildchen von links nach rechts bewegen, wie überhaupt der <lb/>ganze Anblick ſo ſein wird, wie ihn jeder Spiegel zeigt, wo, <lb/>wenn wir die Rechte ausſtrecken, das Spiegelbild uns die Linke <lb/>entgegenſtreckt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2299" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2300" xml:space="preserve">Wer bisher unſerer Anweiſung nachgekommen und ſich <lb/>ſolch’ eine Kamera-Obſcura angefertigt hat, der wird wohl <lb/>gern auch einige belehrende Worte über dieſelbe vernehmen, <lb/>und dieſe wollen wir hiermit ſo kurz wie möglich geben.</s>
  <s xml:id="echoid-s2301" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2302" xml:space="preserve">Offenbar hat die Kammer ſelber gar nichts mit der Ent-<lb/>ſtehung des Bildchens zu thun; </s>
  <s xml:id="echoid-s2303" xml:space="preserve">ebenſowenig ſpielt die matte <lb/>Scheibe hierbei eine Rolle. </s>
  <s xml:id="echoid-s2304" xml:space="preserve">Die Kammer ſchließt nur das <lb/>Tageslicht ab, und die matte Scheibe fängt nur das Bildchen <lb/>auf und läßt es durchſcheinen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2305" xml:space="preserve">Die eigentliche Urſache der <lb/>Entſtehung des Bildes iſt das Brennglas vorn, oder wie wir <lb/>es jetzt immer nennen wollen: </s>
  <s xml:id="echoid-s2306" xml:space="preserve">die Linſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s2307" xml:space="preserve">Wir haben ja gleich <lb/>anfangs geſehen, daß die Linſe allein ein ähnliches Bildchen <lb/>an der Wand entſtehen ließ.</s>
  <s xml:id="echoid-s2308" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="44" file="0176" n="176"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2309" xml:space="preserve">Woher aber kommt das?</s>
  <s xml:id="echoid-s2310" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2311" xml:space="preserve">Die Antwort hierauf vermag die Naturwiſſenſchaft außer-<lb/>ordentlich genau zu geben, ſie iſt begründet auf die bereits <lb/>vorzüglich klare und vollkommen durchgearbeitete “Lehre vom <lb/>Licht” und von der “Brechung der Lichtſtrahlen”; </s>
  <s xml:id="echoid-s2312" xml:space="preserve">denn dieſer <lb/>Teil der Naturwiſſenſchaft gehört zu den am beſten und vor-<lb/>züglichſten durchſtudierten, und zwar deshalb, weil die ganze <lb/>Lehre auf mathematiſchem Wege verfolgt und bewieſen werden <lb/>konnte, und es einmal Thatſache iſt, daß jede Wiſſenſchaft, <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0176-01a" xlink:href="fig-0176-01"/>
die ſich auf Mathe-<lb/>matik begründet, die <lb/>zuverläſſigſten Re-<lb/>ſultate liefert.</s>
  <s xml:id="echoid-s2313" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div59" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0176-01" xlink:href="fig-0176-01a">
<caption xml:id="echoid-caption4" xml:space="preserve">Fig. 3.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables3" xml:space="preserve">A P B P′ r C D F r′ E</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2314" xml:space="preserve">Wir hoffen, ein-<lb/>mal ſpäter in einer <lb/>beſonderen Reihe <lb/>von Artikeln dieſe <lb/>Lehren vom Licht <lb/>unſeren Leſern vor-<lb/>zuführen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2315" xml:space="preserve">für jetzt <lb/>müſſen wir uns <lb/>mit Aufführung der <lb/>Reſultate begnügen, <lb/>von welchen unſere Leſer überzeugt ſein mögen, daß ſie wiſſen-<lb/>ſchaftlich unumſtößlich feſtgeſtellt und bewieſen werden können.</s>
  <s xml:id="echoid-s2316" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2317" xml:space="preserve">Die Lehre vom Licht lautet wie folgt: </s>
  <s xml:id="echoid-s2318" xml:space="preserve">Von jedem leuch-<lb/>tenden oder beleuchteten Punkte eines Gegenſtandes gehen <lb/>Lichtſtrahlen in gerader Linie nach allen Richtungen aus. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2319" xml:space="preserve">Der Lichtſtrahl geht alſo immer genau den geraden Weg; </s>
  <s xml:id="echoid-s2320" xml:space="preserve"><lb/>ſobald jedoch ein Lichtſtrahl auf ſeinem Wege einen durch-<lb/>ſichtigen Gegenſtand, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s2321" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s2322" xml:space="preserve">Glas, Luft, Waſſer trifft, durch <lb/>welchen der Strahl hindurchgeht, erleidet der Strahl bei ſeinem <lb/>Durchgang unter gewiſſen Umſtänden eine Ablenkung von der
<pb o="45" file="0177" n="177"/>
geraden Linie. </s>
  <s xml:id="echoid-s2323" xml:space="preserve">Man nennt dieſe Ablenkung die “Brechung des <lb/>Lichtſtrahls”, denn wenn man ſich den Weg zeichnet, den ein <lb/>Lichtſtrahl unter ſolchen Umſtänden nimmt, ſo erhält man eine <lb/>gebrochene Linie. </s>
  <s xml:id="echoid-s2324" xml:space="preserve">Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s2325" xml:space="preserve">3 zeigt uns, wie der Lichtſtrahl A B <lb/>durch ein regelmäßig geſchliffenes Glasſtück von ſeinem Wege <lb/>abgelenkt wird, ſodaß er nicht nach F gelangt, wie es geſchehen <lb/>würde, wenn das Glasprisma nicht im Wege ſtände; </s>
  <s xml:id="echoid-s2326" xml:space="preserve">vielmehr <lb/>ſchlägt er nun die Bahn B D ein, um dann, nachdem der <lb/>Glaskörper durcheilt iſt, parallel zu ſeiner urſprünglichen Rich-<lb/>tung den Weg D E einzuſchlagen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2327" xml:space="preserve">Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s2328" xml:space="preserve">4 veranſchaulicht da-<lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0177-01a" xlink:href="fig-0177-01"/>
gegen die Brechung verſchiedener, von den Punkten A, B, C, D, E <lb/>ausgehender paralleler Strahlen an einer gekrümmten Glas-<lb/>fläche in den Punkten g, h, i, k, l.</s>
  <s xml:id="echoid-s2329" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div60" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-0177-01" xlink:href="fig-0177-01a">
<caption xml:id="echoid-caption5" xml:space="preserve">Fig. 4.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables4" xml:space="preserve">A g B h F C i D k E l</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2330" xml:space="preserve">Eine weitere Lehre von der Brechung des Lichtes thut <lb/>dar, daß jeder Lichtſtrahl, der auf eine Glaslinſe trifft, ſo ge-<lb/>brochen wird, daß ſich beim Durchgang alle Lichtſtrahlen in <lb/>Einem Punkte jenſeits der Linſe vereinigen und anſammeln <lb/>(Punkt F in Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s2331" xml:space="preserve">4). </s>
  <s xml:id="echoid-s2332" xml:space="preserve">Dieſer Punkt wird der Brennpunkt ge-<lb/>nannt, weil man durch die Vereinigung ſämtlicher Sonnenſtrahlen, <lb/>die durch ſolche Glaslinſe gehen, imſtande iſt, Wärme zu erzeugen, <lb/>wie das bekanntlich bei Brenngläſern der Fall iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2333" xml:space="preserve">Es ergiebt <lb/>ſich ferner aus weiteren Geſetzen der Brechung des Lichtſtrahls
<pb o="46" file="0178" n="178"/>
durch eine Linſe, daß, je ſchräger die Strahlen auf die Linſe <lb/>auffallen, ſie deſto mehr beim Durchgang durch dieſelbe ge-<lb/>brochen werden, und daraus folgt, daß alle Lichtſtrahlen, die <lb/>von rechts ſchräg auf die Linie fallen, ſich auf der linken Seite <lb/>hinter der Linſe vereinigen, während alle Lichtſtrahlen, die <lb/>von links kommen, ihren Sammelpunkt rechts hinter der Linſe <lb/>haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s2334" xml:space="preserve">In gleicher Weiſe treffen die Lichtſtrahlen, die von <lb/>oben kommen, nach unten, die von unten nach oben zuſammen, <lb/>und dadurch entſteht aus den geſammelten Strahlen ein ge-<lb/>ordnetes Bild, das eine umgekehrte Lage hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s2335" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2336" xml:space="preserve">All’ das gehört zu den am ſtrengſten bewieſenen That-<lb/>ſachen, und auf dieſen Grundlagen beruht auch die Erklärung <lb/>der Kamera-Obſcura, auf welche wir in einzelnen Punkten noch <lb/>zurückkommen werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s2337" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div62" type="section" level="1" n="57">
<head xml:id="echoid-head64" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIII. Die Mäugel der Kamera-Obſcura.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2338" xml:space="preserve">Wir müſſen noch einige weſentliche Eigenſchaften unſerer <lb/>Kamera-Obſcura kennen lernen, und zu dieſem Zwecke wollen <lb/>wir einige Verſuche anſtellen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2339" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2340" xml:space="preserve">Wenn man die Kamera ſo vors Fenſter ſtellt, daß man <lb/>auf der matten Scheibe einen großen Teil der Straße oder des <lb/>Hofes überſehen kann, ſo wird man bemerken, daß nicht Alles <lb/>von dem, was ſich im Bildchen zeigt, gleich ſcharf und deut-<lb/>lich iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2341" xml:space="preserve">Geſetzt, man hat einen nahen und einen entfernten <lb/>Gegenſtand im Bildchen, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s2342" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s2343" xml:space="preserve">einen Baum und ein weit da-<lb/>hinter ſtehendes Haus, ſo wird, wenn der Baum, alſo der <lb/>nahe Gegenſtand, recht deutlich zu ſehen iſt, das Haus, die <lb/>entferntere Gegend, undeutlich erſcheinen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2344" xml:space="preserve">wird das entferntere <lb/>Haus deutlich zu ſehen ſein, ſo wird der nähere Baum nicht <lb/>recht deutlich ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s2345" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="47" file="0179" n="179"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2346" xml:space="preserve">Von dieſer Erſcheinung wird man ſich noch klarer über-<lb/>zeugen können, wenn man die Kamera ſo aufſtellt, daß man <lb/>eine lange Strecke einer Straße, oder eines Hofes oder Gartens <lb/>überſehen kann und nun einen Menſchen dieſe Strecke entlang <lb/>gehen läßt und ſein Bildchen auf der matten Scheibe be-<lb/>obachtet. </s>
  <s xml:id="echoid-s2347" xml:space="preserve">Es wird ſich zeigen, daß, wenn der Menſch auf der <lb/>matten Scheibe recht deutlich zu erkennen iſt, während er in <lb/>weiter Entfernung ſteht, er immer undeutlicher und undeut-<lb/>licher zu ſehen iſt, je mehr er ſich nähert, bezw. </s>
  <s xml:id="echoid-s2348" xml:space="preserve">wenn er in der <lb/>Nähe gut zu ſehen, er immer undeutlicher wird, ſobald er ſich <lb/>entfernt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2349" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2350" xml:space="preserve">Daß dies ein bedauerlicher Fehler an einer Kamera iſt, <lb/>das iſt leicht einzuſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2351" xml:space="preserve">Man kann indeſſen wenigſtens teil-<lb/>weiſe dem Übel abhelfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2352" xml:space="preserve">Wenn nämlich die Linſe nicht un-<lb/>mittelbar an die Vorderwand befeſtigt, ſondern daſelbſt in <lb/>einem verſchiebbaren Cylinder angebracht iſt, durch welchen <lb/>man die Linſe beliebig mehr oder weniger heraus- oder hinein-<lb/>ſchieben kann in das Loch der Vorderwand, ſo kann ein jeder <lb/>nach einigem Probieren die Linſe ſo ſtellen, daß er jeden be-<lb/>liebigen Gegenſtand ſcharf und deutlich auf der matten Scheibe <lb/>erhält. </s>
  <s xml:id="echoid-s2353" xml:space="preserve">Freilich bleibt das Bild des Gegenſtandes nur dann <lb/>ſcharf und deutlich auf der matten Scheibe, wenn derſelbe in <lb/>der einmal angenommenen Entfernung verharrt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2354" xml:space="preserve">nähert er <lb/>ſich oder entfernt er ſich von der angenommenen Stelle, wo <lb/>er deutlich zu ſehen war, ſo wird wieder das Bildchen un-<lb/>deutlich, und die Linſe muß wieder für jeden neuen Stand-<lb/>punkt entweder etwas heraus- oder hineingeſchoben werden in <lb/>die Kamera.</s>
  <s xml:id="echoid-s2355" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2356" xml:space="preserve">Der Grund dieſer Erſcheinung iſt in der Lehre von der <lb/>Brechung des Lichtes vollkommen genau gegeben, und in dieſer <lb/>Lehre ſind auch die genauen Geſetze enthalten, nach welchen die <lb/>Deutlichkeit und Undeutlichkeit des Bildchens entſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s2357" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2358" xml:space="preserve">Wir können hierüber in aller Kürze nur Folgendes ſagen:</s>
  <s xml:id="echoid-s2359" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="48" file="0180" n="180"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2360" xml:space="preserve">Für ferne Gegenſtände muß man die Linſe in die Kamera <lb/>hineinſchieben; </s>
  <s xml:id="echoid-s2361" xml:space="preserve">für nahe Gegenſtände muß man ſie herausziehen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2362" xml:space="preserve">das heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s2363" xml:space="preserve">wenn man die Linſe durch Probieren ſo geſtellt hat, <lb/>daß ein Menſch, der etwa in der Mitte des Hofes ſteht, recht deut-<lb/>lich im Bildchen auf der matten Scheibe erſcheint, ſo muß <lb/>man, wenn ſich der Menſch nach dem Ende des Hofes begiebt, <lb/>ſich alſo entfernt, die Linſe mehr in die Kamera einſchieben; </s>
  <s xml:id="echoid-s2364" xml:space="preserve"><lb/>nähert ſich aber der Menſch der Kamera, ſo muß man die <lb/>Linſe noch weiter aus der Kamera herausziehen, wenn <lb/>man das Bildchen auf der matten Scheibe deutlich haben will.</s>
  <s xml:id="echoid-s2365" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2366" xml:space="preserve">Dieſer Umſtand, daß man nämlich die Linſe bald vor-, <lb/>bald zurückſchieben muß, wenn man deutliche Bilder haben <lb/>will, iſt ein ſchwerer Mangel unſerer künſtlichen Kamera-Ob-<lb/>ſcura; </s>
  <s xml:id="echoid-s2367" xml:space="preserve">denn er macht es rein unmöglich, daß man mit einem-<lb/>male einen nahen und fernen Gegenſtand gleich ſcharf und <lb/>deutlich auf der matten Scheibe erblicken kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s2368" xml:space="preserve">Dieſen Fehler <lb/>müſſen wir uns merken, denn wir werden ſehen, wie das Auge, <lb/>das auch nur eine Kamera-Obſcura iſt, von dieſem Fehler in <lb/>ganz merkwürdiger Weiſe frei iſt, und wie in dieſer Beziehung <lb/>dieſes Inſtrument ſehr alter Erfindung, das wir aus dem <lb/>Mutterleibe mit zur Welt bringen, alle feinen Erfindungen <lb/>beſchämt, die man jetzt ſchon mit der Kamera-Obſcura ausge-<lb/>geklügelt hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s2369" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2370" xml:space="preserve">Wir müſſen aber außer dieſer noch zwei Unvollkommen-<lb/>heiten unſerer Kamera-Obſcura kennen lernen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2371" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2372" xml:space="preserve">Vor allem wird man bemerken, daß das Geſichtsfeld der <lb/>Kamera eigentlich doch recht klein iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2373" xml:space="preserve">Man kann zwar recht <lb/>viel auf dem Bildchen ſehen von dem, was vor der Linſe iſt; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2374" xml:space="preserve">aber das, was ſich in der Nähe nur ein wenig rechts oder <lb/>links, oben oder unten befindet, das zeigt ſich ſchon nicht auf <lb/>der matten Scheibe. </s>
  <s xml:id="echoid-s2375" xml:space="preserve">Man muß vielmehr die Kamera nach der <lb/>einen oder anderen Seite, nach oben oder nach unten richten, <lb/>wenn man etwas ſehen will, das nach dieſer Richtung hin ſich
<pb o="49" file="0181" n="181"/>
befindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s2376" xml:space="preserve">Mit anderen Worten: </s>
  <s xml:id="echoid-s2377" xml:space="preserve">auf der matten Scheibe einer <lb/>Kamera-Obſcura überblickt man lange nicht ſo viel nach allen <lb/>Seiten, wie man mit dem Auge überblickt, ſelbſt wenn man es <lb/>nicht dreht. </s>
  <s xml:id="echoid-s2378" xml:space="preserve">— Wir werden alſo auch hierin ſehen, wie die <lb/>Kamera-Obſcura, die wir zur Welt mitbringen, vorteilhafter <lb/>gebaut iſt, als unſer ſchwaches Kunſtwerk.</s>
  <s xml:id="echoid-s2379" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2380" xml:space="preserve">Endlich müſſen wir noch einen Mangel kennen lernen!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2381" xml:space="preserve">Bei wiederholten Verſuchen mit der von uns fabrizierten <lb/>Kamera wird man finden, daß, ſelbſt wenn man hierzu eine <lb/>ſehr akkurat geſchliffene, feine Linſe genommen hat, ſelbſt wenn <lb/>man den Rand der Linſe, der ſtörende Lichtſtrahlen durchläßt, <lb/>belegt hat, ſelbſt wenn man ſich all’ der Vorteile bedient, die <lb/>ſeither erfunden worden ſind, doch noch ein Übel nicht gehoben <lb/>iſt, und das iſt die Farbenbrechung. </s>
  <s xml:id="echoid-s2382" xml:space="preserve">Um dieſen Fehler genau <lb/>zu erkennen, dazu gehört ſchon eine gewiſſe Übung; </s>
  <s xml:id="echoid-s2383" xml:space="preserve">hat man <lb/>aber dieſe erworben, ſo nimmt man wahr, daß eine einfache <lb/>Linſe Alles, was ſie zeigt, mit feinen Rändern von Regen-<lb/>bogenfarben zeigt, die zwar als Spielerei gar nicht unange-<lb/>nehm ſind, aber der Deutlichkeit der Bilder außerordentlich <lb/>ſchaden.</s>
  <s xml:id="echoid-s2384" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2385" xml:space="preserve">Der Grund dieſer Erſcheinung iſt ebenfalls in der Lehre <lb/>vom Licht, und zwar in der Lehre von den Farben des Lichtes, <lb/>ſehr genau und ſcharf angegeben, und deshalb hat man auch <lb/>nach vielem Sinnen und Trachten und nach einer ſehr glück-<lb/>lichen Entdeckung dieſen Fehler dadurch vermeiden gelernt, daß <lb/>man in einer ordentlichen Kamera-Obſcura ſtatt einer Linſe <lb/>zwei Linſen von verſchiedenen Glasſorten anbringt, wodurch die <lb/>farbigen Ränder der Bilder vermieden werden können. </s>
  <s xml:id="echoid-s2386" xml:space="preserve">Aus <lb/>gleichem Grunde verſieht man jetzt alle Fernröhre und gute <lb/>Mikroſkope mit ſolchen Doppellinſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2387" xml:space="preserve">— Für unſer Thema <lb/>wollen wir uns dies nur inſofern merken, als wir recht bald bei <lb/>der Kamera-Obſcura, die wir zur Welt mitbringen, ſehen <lb/>werden, wie der Fehler der Farbenränder auch am Auge ge-
<pb o="50" file="0182" n="182"/>
mieden iſt, und zwar ebenfalls durch das Prinzip der Doppel-<lb/>Linſen, das ſich alſo gleichfalls als ein Prinzip ſehr, ſehr alter <lb/>Erfindung erweiſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2388" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div63" type="section" level="1" n="58">
<head xml:id="echoid-head65" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIV. Die Kamera-Obſcura der Photographen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2389" xml:space="preserve">Die Kamera-Obſcura iſt vor dreihundert Jahren von einem <lb/>Italiener, Namens <emph style="sp">Porta</emph> (1538—1615), erfunden worden, <lb/>darauf hat es circa ein halbes Jahrhundert gedauert, ehe man <lb/>hinter die Geſetze kam, welche bei dieſem intereſſanten Mecha-<lb/>nismus obwalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s2390" xml:space="preserve">Sodann verging faſt wieder ein halbes <lb/>Jahrhundert, ehe man merkte, daß auch das Auge eine Kamera-<lb/>Obſcura iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2391" xml:space="preserve">bis endlich vor ſechszig Jahren eine Erfindung <lb/>gemacht wurde, die der längſt bekannten Kamera-Obſcura eine <lb/>außerordentliche Bedeutung gab, und aus ihr, welche bis dahin <lb/>nur ein Gegenſtand wiſſenſchaftlicher Beſchäftigung und unter-<lb/>haltender Spielerei geweſen war, ein nützliches, außerordentlich <lb/>brauchbares Inſtrument machte.</s>
  <s xml:id="echoid-s2392" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2393" xml:space="preserve">Man hat jetzt Gelegenheit, bei jedem praktiſchen Photo-<lb/>graphen eine Kamera-Obſcura von ganz vorzüglicher Ein-<lb/>richtung in Augenſchein zu nehmen und ihre an das Wunder-<lb/>bare grenzende Leiſtung genauer kennen zu lernen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2394" xml:space="preserve">wir hoffen, <lb/>daß niemand, der hierin belehrt zu ſein wünſcht, es verab-<lb/>ſäumen wird, dieſe Gelegenheit zu benutzen, und ſo weit es <lb/>geht, ſein Zimmer mit einem Lichtbild und ſeinen Geiſt <lb/>mit einiger Kenntnis der herrlichen Erfindung <emph style="sp">Daguerres</emph> <lb/>(1789—1851) zu bereichern.</s>
  <s xml:id="echoid-s2395" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2396" xml:space="preserve">Da wir im nächſten Abſchnitt das Auge, die vortrefflichſte <lb/>Kamera-Obſcura, kennen lernen wollen, ſo wird es gut ſein, <lb/>wenn wir uns nicht mit der von uns ſelbſt gebauten be-<lb/>gnügen, ſondern uns eine viel vollkommenere Kamera beſehen,
<pb o="51" file="0183" n="183"/>
wie ſie gegenwärtig zur Verfertigung der Lichtbilder gebraucht <lb/>wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s2397" xml:space="preserve">Können wir beiläufig unſeren Leſern einen flüchtigen <lb/>Begriff von der Photographie beibringen, ſo ſoll es uns <lb/>doppelt angenehm ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s2398" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2399" xml:space="preserve">Die Kamera-Obſcura des Photographen iſt im Prinzip <lb/>ganz ſo gebaut, wie die, welche wir uns leichthin angefertigt <lb/>haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s2400" xml:space="preserve">ſie beſitzt nur noch die nötigen Vorzüge, durch welche <lb/>erſt weſentliche Mängel unſerer Kamera gemieden ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s2401" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2402" xml:space="preserve">Vor allem erſetzt ein feſter Holzkaſten die Stelle unſerer <lb/>Cigarrenkiſte, Hinten iſt eine gut geſchliffene, matte Glas-<lb/>ſcheibe angebracht, welche ein möglichſt feines Bildchen ſehen <lb/>läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2403" xml:space="preserve">Dieſe ſitzt aber in einem zweiten Kaſten, der ſich in den <lb/>erſten ein- und ausſchieben läßt, wodurch der Photograph im-<lb/>ſtande iſt, ſein Inſtrument beliebig nahe oder fern von der <lb/>Perſon, die er abnehmen ſoll, aufzuſtellen, um nach Wunſch <lb/>bald ein größeres, bald ein kleineres Bildchen anzufertigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2404" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2405" xml:space="preserve">Die Hauptſache bleibt aber immer die Linſe, oder richtiger <lb/>das Syſtem von Glaslinſen, welche vorn an dem Kaſten in <lb/>einer Meſſinghülſe angebracht ſind, und an welchen eine <lb/>Schraube die Möglichkeit gewährt, mit großer Genauigkeit die <lb/>Linſen etwas vor- und zurückzuſchieben.</s>
  <s xml:id="echoid-s2406" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2407" xml:space="preserve">Es weiß es wohl jeder, daß, wenn die Sitzung beginnen <lb/>ſoll, man ſich erſt vorher feſt auf einen Stuhl niederlaſſen <lb/>muß, vor welchem die Kamera aufgeſtellt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2408" xml:space="preserve">Der Photograph <lb/>muß die Perſon erſt einſtellen, das heißt, er muß zuerſt mit <lb/>der Kamera ſo weit vorwärts oder rückwärts gehen, bis ein <lb/>Bild von der gewünſchten Größe auf der matten Scheibe <lb/>ſichtbar iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2409" xml:space="preserve">Nunmehr ſchiebt er die matte Scheibe noch ein <lb/>wenig vor oder zurück, um zu probieren, ob er das Bildchen <lb/>noch ſchärfer und klarer bekommen kann; </s>
  <s xml:id="echoid-s2410" xml:space="preserve">endlich nimmt er <lb/>vorn zur Schraube feine Zuflucht und macht noch einmal die <lb/>Probe, ob er durch ein wenig Schieben der Linſen dem <lb/>Bildchen auf der matten Scheibe die größtmögliche Schärfe
<pb o="52" file="0184" n="184"/>
und Klarheit zu geben vermag. </s>
  <s xml:id="echoid-s2411" xml:space="preserve">Nehmen wir z. </s>
  <s xml:id="echoid-s2412" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s2413" xml:space="preserve">an, in <lb/>dem Schema, das uns Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s2414" xml:space="preserve">5 zeigt, hätte die matte Scheibe <lb/>erſt an der durch die geſtrichelte Linie B′ bezeichneten Stelle <lb/>geſtanden: </s>
  <s xml:id="echoid-s2415" xml:space="preserve">wir ſehen alsdann, daß an dieſer Stelle die von <lb/>irgend einem Punkt der Flamme ausgehenden Strahlen nach <lb/>ihrem Durchgang durch die Linſe C D noch nicht vereinigt <lb/>werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s2416" xml:space="preserve">vielmehr müſſen wir die matte Scheibe erſt in die <lb/>Stellung B bringen, um eine Vereinigung der zuſammen-<lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0184-01a" xlink:href="fig-0184-01"/>
gehörigen Strahlen im Brennpunkt und ſomit ein deutliches <lb/>Bild zu erzielen (die von der Spitze der Flamme ausgehenden <lb/>Strahlen treffen ſich in I, die vom Fußpunkt kommenden in <lb/>k u. </s>
  <s xml:id="echoid-s2417" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s2418" xml:space="preserve">w.)</s>
  <s xml:id="echoid-s2419" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s2420" xml:space="preserve">Dasſelbe würde natürlich erzielt, wenn wir die <lb/>Linſe in A verſchieben und die matte Scheibe ſtehen laſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2421" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div63" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0184-01" xlink:href="fig-0184-01a">
<caption xml:id="echoid-caption6" xml:space="preserve">Fig. 5.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables5" xml:space="preserve">A B’ B k C D T</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2422" xml:space="preserve">Es iſt bemerkenswert, daß der geübteſte Photograph nicht <lb/>imſtande iſt, ohne dieſes Probieren mit Sicherheit zu ſagen, <lb/>ob ein eingeſtelltes Bildchen die richtige Schärfe hat, ſelbſt <lb/>diejenigen, die ihr Inſtrument jahrelang gebrauchen, täuſchen
<pb o="53" file="0185" n="185"/>
ſich oft, wenn ſie nicht bei jedem Bilde durch Hin- und Rück-<lb/>ſchrauben die Probe anſtellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2423" xml:space="preserve">Ungeübte haben wochenlang zu <lb/>thun, um die richtige Schärfe herauszufinden und durch Pro-<lb/>bieren ihr Urteil feſtzuſtellen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2424" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2425" xml:space="preserve">Es iſt dies für unſeren Zweck bemerkenswert, weil wir <lb/>ſehen werden, wie auch das Auge, dieſe mitgeborene Kamera-<lb/>Obſcura, bei jedem Gegenſtand, den man ſehen will, im wahren <lb/>Sinne des Wortes richtig geſtellt werden muß; </s>
  <s xml:id="echoid-s2426" xml:space="preserve">wie auch im <lb/>Auge Vorrichtungen ſind, um für ferne und für nahe Gegen-<lb/>ſtände eine Deutlichkeit und Schärfe zu erzielen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2427" xml:space="preserve">wie aber der <lb/>Menſch ohne ſchiebbaren Kaſten und ohne Schraube am Auge <lb/>und ohne vieles Probieren die Einſtellung ſehr richtig trifft, <lb/>und eine Arbeit, zu welcher ein geübter Photograph mindeſtens <lb/>20 Sekunden braucht, ſo ſchnell vollführt, daß er mit einem <lb/>Blick von einem nahen auf einen fernen, von dieſem wieder <lb/>auf einen nahen Gegenſtand ſehen kann, ohne von der jedesmal <lb/>nötig gewordenen paſſenden Einſtellung etwas zu merken.</s>
  <s xml:id="echoid-s2428" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2429" xml:space="preserve">Beiläufig wollen wir nur noch ſagen, daß der Photograph <lb/>nunmehr die matte Scheibe fortnimmt und genau an dieſelbe <lb/>Stelle, wo dieſe geſtanden hat, eine chemiſch zubereitete Platte <lb/>hinſtellt, welche vom Licht verändert wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s2430" xml:space="preserve">Das Bildchen, <lb/>das früher auf die matte Scheibe fiel, fällt nun auf die <lb/>chemiſch zubereitete Platte und bringt dort eine Veränderung <lb/>auf der Platte hervor, welche das Bildchen verewigt, das <lb/>ſonſt von der matten Scheibe ſchwindet, ſo wie die Perſon ſich <lb/>entfernt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2431" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2432" xml:space="preserve">Da dieſer, der chemiſche Teil der Photographie, nicht in <lb/>unſer Thema gehört, ſo wollen wir uns nicht weiter dabei auf-<lb/>halten und ſchließlich nur noch eins merken, das uns näher angeht.</s>
  <s xml:id="echoid-s2433" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2434" xml:space="preserve">Wenn der Photograph ſeine Aufnahme an der Kamera <lb/>vollendet hat, ſetzt er auf die Linſen vorn eine Kapſel auf, <lb/>damit kein Licht mehr auf die Platte fallen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s2435" xml:space="preserve">Daß auch <lb/>wir eine Kapſel haben, weiß jeder; </s>
  <s xml:id="echoid-s2436" xml:space="preserve">wir ſchließen die Augen-
<pb o="54" file="0186" n="186"/>
lider, wenn wir das Auge ruhen laſſen wollen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2437" xml:space="preserve">Wie intereſſant <lb/>aber ſelbſt dieſe Kapſel iſt, und welche Dienſte ſie der mitge-<lb/>brachten Kamera-Obſcura leiſtet, das wollen wir noch in der <lb/>Folge ſehen, um ſelbſt in dieſen Nebendingen Reſpekt vor der <lb/>ſchönen Erfindung zu lernen, die wir ohne alle Weisheit mit <lb/>zur Welt bringen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2438" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div65" type="section" level="1" n="59">
<head xml:id="echoid-head66" xml:space="preserve"><emph style="bf">XV. Wir beſehen uns den Bau eines Auges.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2439" xml:space="preserve">Wir haben es bereits erwähnt, daß auch das Auge eine <lb/>Kamera-Obſcura iſt, daß das erſte menſchliche Weſen, das einſt <lb/>zur Welt kam, ſchon Veranlaſſung gehabt hätte, über dieſe <lb/>ſchöne, mitgebrachte, mechaniſche Erfindung nachzudenken, daß <lb/>aber Jahrtauſende und Jahrtauſende vergingen, ehe ein <lb/>Menſch hiervon eine Ahnung hatte, und erſt als der Italiener <lb/><emph style="sp">Porta</emph> vor dreihundert Jahren eine Kamera-Obſcura her-<lb/>ſtellte, kam man nach langen Forſchungen dahinter, wie man <lb/>ſo gar lange Zeit mit ſehenden Augen blind geweſen iſt!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2440" xml:space="preserve">Wir haben das Recht, uns zu freuen, daß wir in einer <lb/>Zeit leben, wo das Licht der Naturwiſſenſchaft wenigſtens be-<lb/>gonnen hat, dan Geiſt der Menſchheit zu erleuchten, darum <lb/>aber dürfen wir es auch nicht verabſäumen, uns ſo viel als <lb/>möglich von dieſer Wiſſenſchaft anzueignen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2441" xml:space="preserve">Vorerſt wollen <lb/>wir uns den Bau des Auges klar machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2442" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2443" xml:space="preserve">Was ein jeder beim Anblick eines menſchlichen Auges oft <lb/>genug wahrnimmt, iſt, daß das Auge von zwei Lidern, von <lb/>zwei Hautfalten, bedeckt werden kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s2444" xml:space="preserve">Das untere Augenlid, <lb/>eine Hautfalte von der Backe, kann ein wenig nach oben ge-<lb/>hoben werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s2445" xml:space="preserve">das obere Augenlid, eine Falte der Stirnhaut, <lb/>kann tief herabgeſenkt werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s2446" xml:space="preserve">und geſchieht dies, ſo ver-<lb/>ſchließen die Lider das Auge, ſo daß man nicht ſehen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s2447" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="55" file="0187" n="187"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2448" xml:space="preserve">Man darf ſich hierbei nicht denken, daß dadurch etwas am <lb/>Auge ſelber geändert worden iſt, denn dies iſt nach wie vor <lb/>für Licht empfänglich. </s>
  <s xml:id="echoid-s2449" xml:space="preserve">Man kann ſich hiervon am beſten <lb/>überzeugen, wenn man vom Zimmer aus das Geſicht mit ge-<lb/>ſchloſſenen Augen einer von der Sonne hell beſchienenen, weißen <lb/>Mauer zuwendet, und die Hand mit geſpreizten Fingern vor <lb/>dem geſchloſſenen Auge vorüber führt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2450" xml:space="preserve">Man merkt in ſolchem <lb/>Falle nicht nur ſehr gut den Unterſchied, ob ſich ein Finger <lb/>vor dem Auge befindet oder nicht, ſondern iſt ſogar bei einiger <lb/>Übung imſtande, die Zahl der Finger anzugeben, die am <lb/>Auge vorübergeführt werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2451" xml:space="preserve">— Die Augenlider ſind nur die <lb/>Kapſel des Auges, die Gardinen, welche ihm das Licht zum <lb/>Teil entziehen, die aber doch nicht ſo dick ſind, daß gar kein <lb/>Schimmer hindurch dringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2452" xml:space="preserve">Das Auge iſt unter dem ge-<lb/>ſchloſſenen Lid ſo licht-empfindlich, daß viele Menſchen des <lb/>Nachts erwachen, wenn man ein Licht in dem Zimmer an-<lb/>zündet, andere wieder, die bei der Nachtlampe ſchlafen, wachen <lb/>auf, wenn ſie erliſcht.</s>
  <s xml:id="echoid-s2453" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2454" xml:space="preserve">Die Augenlider gehören alſo nicht direkt zum Auge; </s>
  <s xml:id="echoid-s2455" xml:space="preserve">ſie <lb/>verſchließen nur die Höhle, in welcher das Auge liegt, und <lb/>welche man die Augenhöhle nennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2456" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2457" xml:space="preserve">Am Totenkopf wird wohl jeder die außerordentliche <lb/>Größe dieſer Augenhöhlen ſchon oft mit Staunen geſehen <lb/>haben, Sie ſind indeſſen beim lebenden Menſchen kleiner, weil <lb/>dieſe von Knochenrändern gebildeten Höhlen inwendig noch <lb/>mit Muskeln und Fettlagern ausgepolſtert ſind, ſo daß nur <lb/>ein kugelrunder Raum bleibt, den das Auge ausfüllt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2458" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2459" xml:space="preserve">Das menſchliche Auge nämlich, welches von den Augen-<lb/>lidern umſchloſſen, länglich eiförmig erſcheint, iſt in der That <lb/>eine faſt vollkommene Kugel und wird deshalb auch Augapfel <lb/>genannt, worunter man nicht etwa einen Teil des ſichtbaren <lb/>Auges, ſondern die ganze Kugel verſteht, von der man nur <lb/>einen länglichen Teil ſieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s2460" xml:space="preserve">Das Auge, wie es wirklich in der
<pb o="56" file="0188" n="188"/>
Augenhöhle liegt, hat auch inſofern Ähnlichkeit mit einem <lb/>Apfel, als es hinten an einem ziemlich dicken Nervenfaden an-<lb/>gewachſen iſt, wie ein Apfel an einem Stiel, während es in <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0188-01a" xlink:href="fig-0188-01"/>
<pb o="57" file="0189" n="189"/>
ſeiner gepolſterten Höhle ſonſt ſo frei liegt, daß es nach allen <lb/>Richtungen hin, nach rechts, nach links, nach oben und nach <lb/>unten, und auch etwas nach vorn und nach hinten vermittelſt <lb/>eines vorzüglichen Muskelapparates bewegt werden kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s2461" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div65" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0188-01" xlink:href="fig-0188-01a">
<caption xml:id="echoid-caption7" xml:space="preserve">Fig. 6. <lb/>Vergrößerter Schnitt durch das menſchliche Auge. <lb/>PC = hintere Augenkammer, AC = vordere Augenkammer, VH = Glaskörper. <lb/>S = Lederhaut (Sclerotica), C = Hornhaut (Cornea), Ch = Aderhaut (Chorioidea), <lb/>Pc = “Ciliarfortſäße” der Chorioidea, R = Neßhaut (Retina), Os = Rand der <lb/>Retiua, L = Kryftallinſe, Ca = Bindehaut (Conjunctiva), I = Regenbogenhaut <lb/>(Iris), ON = Sehuerd, ys = gelber Fleck.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables6" xml:space="preserve">I C Ca AC PC L Pc Os VH R ys Ch S ON</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2462" xml:space="preserve">Da es uns darauf zunächſt ankommt, daß wir in unſerer <lb/>Bezeichnung der Teile des Auges kein Mißverſtändnis bei <lb/>unſern Leſern veranlaſſen, ſo wollen wir uns vorerſt dieſen <lb/>Augapfel ganz aus der Höhle genommen denken (vgl. </s>
  <s xml:id="echoid-s2463" xml:space="preserve">Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s2464" xml:space="preserve">6). <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2465" xml:space="preserve">Wir wollen ihn von den Muskeln, die zu ſeiner Bewegung <lb/>dienen, befreien, und uns die bloße Kugel vorſtellen, an welcher <lb/>wir nur den Stiel, den Nervenfaden (ON), laſſen wollen, der <lb/>ſo ziemlich am hinterſten Teile der Kugel ſitzt, wenn wir den <lb/>ſichtbaren Teil des Auges den vorderen nennen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2466" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2467" xml:space="preserve">Legen wir dieſe Kugel ſo vor uns auf einen Tiſch nieder, <lb/>daß der Stiel auf der Tiſchplatte ruht, ſo haben wir das <lb/>Auge mit dem vorderen Teil obenauf vor uns liegend. </s>
  <s xml:id="echoid-s2468" xml:space="preserve">In <lb/>dieſer Stellung ſehen wir, wie die Augenlider einſt von unten <lb/>und oben einen Teil der Kugel verdeckt hatten, ſo daß es ei-<lb/>förmig erſchien. </s>
  <s xml:id="echoid-s2469" xml:space="preserve">Die Kugel, die vor uns liegt, iſt im ganzen <lb/>weiß und undurchſichtig; </s>
  <s xml:id="echoid-s2470" xml:space="preserve">nur vorn, und in der jetzigen Lage <lb/>oben, erhebt ſich eine durchſichtige Wölbung unter einer feinen, <lb/>glashellen Haut; </s>
  <s xml:id="echoid-s2471" xml:space="preserve">fühlt man dieſe Wölbung leiſe an, ſo merkt <lb/>man beim Druck, daß unter der feinen Glashaut (C) eine <lb/>wäſſerige Flüſſigkeit enthalten iſt, und blickt man von allen <lb/>Seiten durch dieſe Glashaut, wie durch ein Fenſter, hinein ins <lb/>Auge, ſo merkt man ſchon, daß man bis in eine gewiſſe Tiefe <lb/>hineinblicken kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s2472" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2473" xml:space="preserve">Das erſte, was wir nun in Augenſchein nehmen, iſt das, <lb/>was wir den farbigen Ring (I) des Auges nennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2474" xml:space="preserve">Wir meinen <lb/>jenen Ring, der bei manchen Perſonen blau, bei manchen <lb/>grau, bei manchen braun, bei manchen gemiſcht ausſieht, immer <lb/>aber einen tief ſchwarzen Flecken in der Mitte hat: </s>
  <s xml:id="echoid-s2475" xml:space="preserve">die Pupille. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2476" xml:space="preserve">Dieſer farbige Ring, das merkt man recht deutlich beim ge-
<pb o="58" file="0190" n="190"/>
nauen Beſehen von allen Seiten, iſt nichts anderes als eine <lb/>flache, runde Scheibe, welche tief unter der gewölbten, wäſſerigen <lb/>Flüſſigkeit liegt, und der tief ſchwarze Fleck in der Mitte iſt <lb/>nichts anderes als ein Loch in dieſer Scheibe, durch welches <lb/>man hindurch ſehen kann bis in die Tiefe des Auges.</s>
  <s xml:id="echoid-s2477" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2478" xml:space="preserve">Schon dieſer bloße Anblick lehrt, daß Lichtſtrahlen, welche <lb/>aufs Auge fallen, durch die weiße Haut der ganzen Kugel <lb/>nicht hindurchdringen, dagegen durch die glashelle, gewölbte <lb/>Haut und die darunter befindliche Flüſſigkeit hindurchgehen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2479" xml:space="preserve">Hier treffen ſie auf den wie eine Wand ausgeſpannten farbigen <lb/>Ring, der wiederum die Strahlen nicht weiter läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2480" xml:space="preserve">Da aber <lb/>in der Mitte dieſes Ringes ein Loch iſt, ſo dringen die <lb/>Strahlen, die auf dieſe Öffnung treffen, ins Innere des Auges <lb/>und veranlaſſen dort das, was man die Wahrnehmung der <lb/>Lichtſtrahlen oder das Sehen nennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2481" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2482" xml:space="preserve">Wir müſſen demnach jetzt das Innere des Auges näher <lb/>kennen lernen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2483" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div67" type="section" level="1" n="60">
<head xml:id="echoid-head67" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVI. Die Durchſichtigkeit des Innern unſeres</emph> <lb/><emph style="bf">Auges.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2484" xml:space="preserve">Durch das Sehloch, des ſchwarzen Kreis in der Mitte des <lb/>farbigen Ringes, der “Iris”, dringt das Licht ins Auge; </s>
  <s xml:id="echoid-s2485" xml:space="preserve">man <lb/>kann aber auch deshalb ins Sehloch hineinſehen, und unſer <lb/>großer <emph style="sp">Helmholtz</emph> hat ein kleines Inſtrument erfunden, durch <lb/>welches man imſtande iſt, tief ins Innere des Auges hinein-<lb/>zublicken und die vielfachen Urſachen teilweiſer oder gänzlicher <lb/>Erblindung zum Heil vieler Leidenden vollkommen deutlich zu <lb/>ſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2486" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2487" xml:space="preserve">Obwohl die Mitteilung über dieſes Inſtrument, das man <lb/>den Augenſpiegel nennt, nicht direkt zu unſerem Thema gehört,
<pb o="59" file="0191" n="191"/>
halten wir es doch für unſere Pflicht, dieſelbe unſeren Leſern <lb/>hier vorzuführen, weil gerade bei Augenkrankheiten die thörichten <lb/>Wunderkuren mit Augenwaſſern und Augenſalben außerordentlich <lb/>häufig vom Volk in Anſpruch genommen werden, und weil wir <lb/>hoffen, daß eine Beſchreibung des von jedem gebildeten Arzt jetzt <lb/>gebrauchten Augenſpiegels hinreichen wird, jedermann zu über-<lb/>zeugen, welch’ wichtiges Mittel ſich in der Hand des denkenden <lb/>Arztes befindet, um die Urſache vieler Augenübel mit Sicherheit <lb/>und Leichtigkeit zu entdecken. </s>
  <s xml:id="echoid-s2488" xml:space="preserve">Daß dies ein unendlich großer <lb/>Vorteil für die Heilung iſt, braucht nicht erſt hervorgehoben <lb/>zu werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s2489" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2490" xml:space="preserve">Die Einrichtung des Augenſpiegels iſt eigentlich ſehr <lb/>einfach, und man wird deſſen Dienſt ſehr leicht begreifen, <lb/>ſobald man ſich nur klar macht, weshalb es ohne Augenſpiegel <lb/>ſo ſchwierig iſt, durch das offene Sehloch hinein ins Innere <lb/>des Auges zu blicken, um deſſen Zuſtand zu unterſuchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2491" xml:space="preserve">— <lb/>Eine bekannte Erfahrung lehrt, daß man vom dunkeln Raum <lb/>ganz vortrefflich in den hellen Raum hineinſehen kann, daß <lb/>man jedoch vom hellen Raum aus nicht ſehen kann, was ſich <lb/>im dunkeln Raum befindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s2492" xml:space="preserve">Von der dunkeln Stube aus ſieht <lb/>man am Tage vortrefflich durch die Fenſterſcheiben auf die <lb/>hellere Straße; </s>
  <s xml:id="echoid-s2493" xml:space="preserve">von der helleren Straße aus jedoch ſieht man <lb/>ſehr ſchlecht durchs Fenſter in die dunklere Stube. </s>
  <s xml:id="echoid-s2494" xml:space="preserve">Bei Nacht <lb/>dagegen, wenn die Stube beſſer erleuchtet iſt als die Straße, <lb/>kann man durch das Fenſter vortrefflich von der Straße in die <lb/>Zimmer, dagegen ſehr ſchlecht vom hellen Zimmer auf die <lb/>dunklere Straße ſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2495" xml:space="preserve">Wer wenig geſehen werden und viel <lb/>ſehen will, der ſtellt ſich im Geſellſchaftszimmer in eine dunkle <lb/>Ecke; </s>
  <s xml:id="echoid-s2496" xml:space="preserve">wer den hellſten Raum aufſucht, wird leicht geſehen <lb/>werden, aber ſelbſt wenig ſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2497" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2498" xml:space="preserve">Stellen wir uns nun den Arzt und ihm gegenüber den <lb/>Augenkranken vor, ſo ſoll das Auge des Arztes ins Auge des <lb/>Patienten hineinblicken. </s>
  <s xml:id="echoid-s2499" xml:space="preserve">Stellen ſich beide ins Helle, ſo wird
<pb o="60" file="0192" n="192"/>
zwar das Auge des Patienten inwendig gut beleuchtet; </s>
  <s xml:id="echoid-s2500" xml:space="preserve">allein <lb/>auch das Auge des Arztes iſt in gleichem Maße heller be-<lb/>leuchtet, wodurch er ſchlechter ſieht; </s>
  <s xml:id="echoid-s2501" xml:space="preserve">ſtellen ſie ſich ins Dunkle, <lb/>ſo kann zwar das Auge des Arztes gut ſehen, allein in das <lb/>Auge des Patienten dringt zu wenig Licht, um den Raum <lb/>hinreichend zu beleuchten.</s>
  <s xml:id="echoid-s2502" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2503" xml:space="preserve">Der Augenſpiegel iſt nun ein Inſtrument, daß dieſem <lb/>Übel in ſehr einfacher Weiſe abhilft. </s>
  <s xml:id="echoid-s2504" xml:space="preserve">Der Arzt führt den <lb/>Patienten in ein dunkeles Zimmer, worin nur eine Lampe <lb/>brennt, und ſtellt den Patienten ſo hin, daß nur ſein halbes <lb/>Geſicht vom Lampenlicht beleuchtet wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s2505" xml:space="preserve">Nun hält der Arzt <lb/>ein Spiegelchen von der Größe eines Thalers ſchräg zwiſchen <lb/>Auge und Naſe des Patienten, und zwar ſo, daß der Licht-<lb/>ſtrahl von der Lampe auf den Spiegel und vom Spiegel ins <lb/>Auge des Patienten hineinfällt, wodurch das Auge des Patienten <lb/>im Innern hell erleuchtet wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s2506" xml:space="preserve">Nun aber iſt im Spiegel ein <lb/>kleines Loch angebracht, an welches der Arzt ſein unbeleuchtetes <lb/>Auge bringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2507" xml:space="preserve">Das Auge des Arztes iſt alſo dunkel, das Auge <lb/>des Patienten inwendig beleuchtet, und hierdurch vermag der <lb/>Arzt tief ins Auge hineinzuſehen, es gelingt ihm, durch Übung <lb/>nicht nur die Urſache der Augenkrankheit ausfindig zu machen, <lb/>ſondern auch manche andere verſteckte Krankheit in den Er-<lb/>ſcheinungen im Innern des Auges zu entdecken. </s>
  <s xml:id="echoid-s2508" xml:space="preserve">So entdeckte <lb/>der berühmte Augenarzt <emph style="sp">Gräfe</emph> (1828—1870) im Auge eines <lb/>Patienten, der über nichts als über geſchwächte Sehkraft zu <lb/>klagen wußte, vermittelſt des Spiegels Ablagerungen, woraus <lb/>er ſchloß, daß der Patient an einer gefährlichen Nierenkrankheit <lb/>leide, wovon der Patient keine Ahnung hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s2509" xml:space="preserve">Die Unterſuchung <lb/>und Behandlung des Patienten ergab die Richtigkeit deſſen, <lb/>was Gräfe im Innern des Auges geſehen hatte.</s>
  <s xml:id="echoid-s2510" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2511" xml:space="preserve">Das intereſſante Inſtrument, der Augenſpiegel, gehört <lb/>nun, wie geſagt, nicht direkt in unſer Thema; </s>
  <s xml:id="echoid-s2512" xml:space="preserve">für uns iſt er <lb/>nur in ſo weit wichtig, als wir verſichern dürfen, daß man
<pb o="61" file="0193" n="193"/>
durch denſelben imſtande iſt, das Innere des lebendigen Auges <lb/>zu durchſpähen und ſich zu überzeugen, daß namentlich beim <lb/>lebendigen Auge dasjenige, was den Augapfel im ganzen aus-<lb/>füllt, klar und durchſichtig iſt, als ob das reinſte Kryſtallglas <lb/>die undurchſichtige Kugelſchale erfüllte. </s>
  <s xml:id="echoid-s2513" xml:space="preserve">— Am toten Auge <lb/>trüben ſich die Flüſſigkeiten zu ſchnell und gewähren in dieſer <lb/>Beziehung keinen ſolch augenſcheinlichen Beweis von der vor-<lb/>trefflichen Durchſichtigkeit des Inhalts der Augenkugel.</s>
  <s xml:id="echoid-s2514" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2515" xml:space="preserve">Was aber iſt nun im Innern des Auges?</s>
  <s xml:id="echoid-s2516" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2517" xml:space="preserve">Dieſe Frage wollen wir im nächſten Abſchnitt beantworten <lb/>und nur hier noch die Bemerkung anſchließen, daß die ſchwarze <lb/>Farbe des Sehloches nur von dem Schimmer einer ſammet-<lb/>ſchwarzen, aderreichen Haut herrührt, welche die innere, hohle <lb/>Kugelfläche des Auges austapeziert, ganz ſo, wie wir die <lb/>innere Fläche der Kamera-Obſcura ſchwarz angeſtrichen haben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2518" xml:space="preserve">Bei manchen Menſchen fehlt dieſe eigentümliche, ſchwarze Farbe <lb/>der inwendigen Aderhaut-Tapete, und deshalb ſchimmert durch <lb/>das Sehloch die Röte der Aderhaut hervor. </s>
  <s xml:id="echoid-s2519" xml:space="preserve">Die Augen ſolcher <lb/>Menſchen, die man Albinos, oder in der Volksſprache “Kakerlaken” <lb/>nennt, ſollen nicht ſchwächer an Sehkraft ſein als andere, ſondern <lb/>nur nicht ſo ausdauernd den Lichteindruck vertragen können, <lb/>was ihren Blick etwas ſchneller und deshalb auch eigentümlich <lb/>unruhig macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s2520" xml:space="preserve">— Daß man hierin keinen Grund zu Vor-<lb/>urteilen gegen ſolche Menſchen hat, das brauchen wir hoffentlich <lb/>nicht unſern Leſern einzuſchärfen, da der Wert des Menſchen <lb/>in ſeinem ſittlich freien Willen und nicht im Farbenſpiel der <lb/>Haare, der Haut und der Augen liegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2521" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div68" type="section" level="1" n="61">
<head xml:id="echoid-head68" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVII. Wir gehen ins Auge hinein.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2522" xml:space="preserve">Wenn man das Innere des Auges kennen lernen will, ſo <lb/>thut man am beſten, wenn man das Auge eines friſch ge-
<pb o="62" file="0194" n="194"/>
ſchlachteten Kalbes oder Ochſen von allen ihm anliegenden <lb/>Muskeln und Nerven befreit, und die bloße Augenkugel ſo vor <lb/>ſich hinlegt, daß man in das Sehloch von oben hineinſehen <lb/>kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s2523" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2524" xml:space="preserve">Man wird zunächſt die glashelle Haut vor ſich haben, die <lb/>ſich wie ein Uhrglas mitten auf der weißen Haut der Augen-<lb/>kugel erhebt, und unter welcher ſich die glashelle Flüſſigkeit <lb/>befindet, durch welche der Farbenring ſamt ſeinem Sehloch <lb/>hervorſchimmert.</s>
  <s xml:id="echoid-s2525" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2526" xml:space="preserve">Mit einer feinen Schere kann man dieſe Glashaut durch-<lb/>ſtechen und einen Schnitt hinein machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2527" xml:space="preserve">Es wird ſofort die <lb/>wäſſerige Flüſſigkeit ausfließen, aber man wird ſogleich ſehen, <lb/>daß dieſe Flüſſigkeit nur einen ſehr kleinen Teil vom Inhalt <lb/>des Auges ausgemacht, und daß man mit dem Einſchnitt nur <lb/>eine Vorkammer des Auges geöffnet hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s2528" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2529" xml:space="preserve">In der That iſt dies der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s2530" xml:space="preserve">Dieſe Vorkammer hat <lb/>an ſich nicht ſonderliche Bedeutung: </s>
  <s xml:id="echoid-s2531" xml:space="preserve">es hat nichts Gefährliches <lb/>auf ſich, wenn man bei einer Operation dieſe Glashaut öffnet, <lb/>das Waſſer der Vorkammer abfließen läßt, denn die Glashaut <lb/>wächſt ſehr leicht wieder zu, und die wäſſerige Flüſſigkeit erſetzt <lb/>ſich ſehr ſchnell.</s>
  <s xml:id="echoid-s2532" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2533" xml:space="preserve">Schneidet man mit der Schere die Glashaut ringsum <lb/>aus, ſo wird man bemerken, daß dieſes wie das feinſte Uhr-<lb/>glas aufgelegte Häutchen zwar ſehr klar und durchſichtig, aber <lb/>doch recht feſt und derbe iſt und ſchon manchen Stoß vertragen <lb/>kann, ohne beſchädigt zu werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s2534" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2535" xml:space="preserve">Wir haben jetzt die ganze abgedeckte Vorkammer vor uns <lb/>und können mit einer Nadel den Farbenring ein wenig heben <lb/>und ſenken, um denſelben näher zu beſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2536" xml:space="preserve">Man nennt <lb/>dieſen Ring die Iris, oder deutſch: </s>
  <s xml:id="echoid-s2537" xml:space="preserve">die Regenbogenhaut, während <lb/>man das Sehloch mit dem Namen Pupille bezeichnet. </s>
  <s xml:id="echoid-s2538" xml:space="preserve">— Mit <lb/>bloßem Auge giebt es am farbigen Ring gerade nicht viel <lb/>Wunderbares zu ſehen, und daß man in einem Loche ſelbſt mit
<pb o="63" file="0195" n="195"/>
dem beſten Mikroſkop von der Welt nichts ſehen kann, wird <lb/>uns jeder glauben; </s>
  <s xml:id="echoid-s2539" xml:space="preserve">gleichwohl iſt dieſer Ring, oder dieſe Haut <lb/>mit ſeiner runden Öffnung in der Mitte ein äußerſt merk-<lb/>würdiges und wundervolles Ding, von deſſen Aufgabe, Be-<lb/>ſchaffenheit und intereſſanten Kunſtſtücken wir noch weiterhin <lb/>werden zu ſprechen haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s2540" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2541" xml:space="preserve">Für jetzt wollen wir nur einmal ſehen, wie weit das Gebiet <lb/>der Vorkammer ſich erſtreckt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2542" xml:space="preserve">Die eine Glaswand der Vor-<lb/>kammer haben wir weggeſchnitten; </s>
  <s xml:id="echoid-s2543" xml:space="preserve">der farbige Ring liegt jetzt <lb/>vor uns, als eine Haut, die wie eine zweite Mittelwand in <lb/>der Vorkammer ausgeſpannt iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2544" xml:space="preserve">das offene Loch führt in den <lb/>hinteren Raum der Vorkammer, und wir können uns durch <lb/>eine Stricknadel, mit der wir in dieſen Raum eindringen, <lb/>überzeugen, daß wir bald auf eine dahinterliegende Wand <lb/>ſtoßen, die das Ende der Vorkammer bildet.</s>
  <s xml:id="echoid-s2545" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2546" xml:space="preserve">Sehen wir zu, was an dieſer Hinterwand iſt, und was <lb/>in dem Raum ſteckt, den der undurchſichtige, farbige Ring <lb/>verdeckt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2547" xml:space="preserve">Wir machen nun mit der Schere auch in den Ring <lb/>einen Einſchnitt und verſuchen, ihn ebenfalls rund auszuſchneiden, <lb/>ſo daß wir die Mittelwand der Vorkammer auch abgelöſt und <lb/>nur die Hinterwand und was drum und dran iſt, beſehen können.</s>
  <s xml:id="echoid-s2548" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2549" xml:space="preserve">In dieſer Hinterwand iſt eben das weſentliche Inſtrument <lb/>des Auges, denn wir ſehen nunmehr, daß vor uns und zwar <lb/>genau unter der Stelle hinter dem Sehloch, eine Kryſtallinſe <lb/>liegt, die bedeutend größer iſt als das Sehloch, und deren <lb/>Rand eben von dem farbigen Ring verdeckt war (L in Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s2550" xml:space="preserve">6). <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2551" xml:space="preserve">Wir ſehen von der Linſe freilich vorerſt nur die obere Fläche, die <lb/>wiederum wie ein Uhrglas gewölbt vor uns liegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2552" xml:space="preserve">Der Rand <lb/>der Linſe, die ganz wie ein dickes Brennglas ausſieht, iſt rings <lb/>eingefaßt in einem nerven- und aderreichen Kranz, der Strahlen-<lb/>körper genannt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s2553" xml:space="preserve">Die hintere Fläche der Linſe liegt ein-<lb/>gebettet in einer Maſſe, die äußerſt klar und durchſichtig iſt, <lb/>und zu welcher wir ſogleich kommen werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s2554" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="64" file="0196" n="196"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2555" xml:space="preserve">Die Kryſtalllinſe hat zu viel Ähnlichkeit mit einem ge-<lb/>wöhnlichen Brennglas, als daß man irgendwie zweifeln könnte, <lb/>daß ſie nur die Stelle derſelben, oder richtiger die Stelle einer <lb/>Glaslinſe an optiſchen Inſtrumenten erſetzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2556" xml:space="preserve">Die Linſe des <lb/>Auges iſt aber nicht aus Glas und nicht aus Kryſtall, ſondern, <lb/>wie neuere Unterſuchungen ergeben haben, aus Faſern gearbeitet, <lb/>die äußerſt durchſichtig ſind und verhältnismäßig ſehr wenig <lb/>Flüſſigkeit enthalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s2557" xml:space="preserve">Außerdem iſt ſie mit einem äußerſt <lb/>klaren, durchſichtigen Häutchen umgeben, das man die Kapſel <lb/>der Linſe nennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2558" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2559" xml:space="preserve">Man ſollte es kaum glauben, daß es ſchon zu den gar <lb/>nicht ſeltenen Operationen gehört, daß der geſchickte Augenarzt <lb/>mit einem Inſtrument ins lebendige Auge hineinſticht, die <lb/>vordere Glashaut durchſticht, das Waſſer abfließen läßt, ins <lb/>Sehloch hineingeht, um die Kryſtalllinſe, wenn ſie durch irgend <lb/>welche Umſtände ihre Durchſichtigkeit verloren hat, ganz und <lb/>gar aus dem Wege zu räumen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2560" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2561" xml:space="preserve">Nach alter Methode ſchiebt man die Linſe tief nach <lb/>unten ins Auge, wo ſie ſich dann von ſelber ganz auflöſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2562" xml:space="preserve">nach <lb/>neueren glücklichen Operationen holt man ſie heraus. </s>
  <s xml:id="echoid-s2563" xml:space="preserve">In <lb/>beiden Fällen erſetzt man die Linſe, die früher im Auge war, <lb/>durch eine Glaslinſe, die man dem Operierten vors Auge <lb/>giebt, das heißt durch eine Brille, an der das Glas für das <lb/>operierte Auge in der Mitte ſehr dick iſt, je nach dem Erſatz, <lb/>den man dem Auge für die ihm entriſſene Kryſtalllinſe geben muß.</s>
  <s xml:id="echoid-s2564" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2565" xml:space="preserve">Da man dies ſchon an lebenden Augen macht, ſo wollen <lb/>wir’s mindeſtens am toten Auge verſuchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2566" xml:space="preserve">Wir machen dem-<lb/>nach einen kleinen Schnitt in die Linſenkapſel, und auf leiſen, <lb/>ſicheren Druck ſpringt die Linſe von ſelber heraus.</s>
  <s xml:id="echoid-s2567" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2568" xml:space="preserve">Was wir nun vor uns haben, das wollen wir im nächſten <lb/>Abſchnitt beſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2569" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="65" file="0197" n="197"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div69" type="section" level="1" n="62">
<head xml:id="echoid-head69" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVIII. Der ſogenannte Glaskörper im Auge.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2570" xml:space="preserve">Wenn man die Kryſtalllinſe herausgeholt hat, ſo ſieht man <lb/>die Grube, in welcher ſie gelegen hat, und zwar ringsum mit <lb/>dem Rand in der ſtrahligen, krauſenartigen Maſſe, die wir <lb/>bereits bemerkt haben, mit der unten ſtark gekrümmten Fläche, <lb/>jedoch auf einer äußerſt hellen, glasartigen, aus feuchten Häuten <lb/>beſtehenden Maſſe, welche den ganzen übrigen Raum der <lb/>Augenkugel ausfüllt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2571" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2572" xml:space="preserve">Man nennt dieſe Maſſe den Glaskörper, und wird ſich <lb/>eine richtige Vorſtellung von ſeiner Geſtalt machen, wenn man <lb/>ſich ihn als eine halbe Kugel denkt, die auf der oberen Fläche <lb/>eine Grube hat, worin die Krümmung der Kryſtalllinſe hin-<lb/>einpaßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2573" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2574" xml:space="preserve">Dies, was wir hier vorgeführt haben, iſt der ganze <lb/>Inhalt der Augenkugel, ſoweit es ſich nämlich um die Höhlung <lb/>handelt, in welche das Licht hineindringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2575" xml:space="preserve">Nimmt man all <lb/>dies, ſo weit es geht, heraus, ſo hat man nur eine hohle Kugel <lb/>vor ſich, gebildet aus dicken Häuten, die wir noch kennen <lb/>lernen werden, die wir aber für den Augenblick noch außer <lb/>Betracht laſſen wollen, um nur noch einmal den Weg zu be-<lb/>zeichnen, welchen das Licht, von draußen eindringend, ins <lb/>Auge hineinnimmt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2576" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2577" xml:space="preserve">Die Lichtſtrahlen treffen demnach zuerſt auf die glashelle <lb/>Haut, die ſich wie ein Uhrglas über dem Farbenring des <lb/>Auges wölbt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2578" xml:space="preserve">Sodann gehen die Strahlen durch eine kleine <lb/>Schicht Waſſer, welche unter dieſer Haut ſich befindet, und <lb/>treffen auf den ausgeſpannten Ring, der undurchſichtig iſt, alſo <lb/>die Strahlen nicht durchläßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2579" xml:space="preserve">Aber diejenigen Strahlen, welche <lb/>auf das Loch in der Mitte des Ringes treffen, gehen weiter <lb/>ihren Weg ins Innere des Auges und treffen dort auf die <lb/>Linſe, durch welche ſie, ganz wie durch ein Brennglas, eine <lb/>
<pb o="66" file="0198" n="198"/>
Glaslinſe, während des Durchganges eine Brechung erleiden;</s>
  <s xml:id="echoid-s2580" xml:space="preserve">
nun treten ſie in den halbkugelförmigen Raum des Glaskörpers
ein, der den hinteren Raum der Kugel ausmacht, und mit
ſeiner Kugelfläche genau anliegt an die hinterſte, becherförmige
Wand des Auges.</s>
  <s xml:id="echoid-s2581" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2582" xml:space="preserve">Und hier drinnen, auf dieſer becherförmigen Wand des <lb/>Auges, entſteht dadurch ganz eben ſolch’ ein Bildchen von der <lb/>Welt draußen, die von allen Punkten her Lichtſtrahlen aus-<lb/>ſendet, ganz wie es in der Hinterwand der Kamera-Obſcura <lb/>entſteht, und zwar genau nach den Geſetzen, welche die Lehre <lb/>vom Licht und deſſen Brechung durch durchſichtige Linſen <lb/>ergiebt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2583" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2584" xml:space="preserve">Iſt dies wirklich ſo? </s>
  <s xml:id="echoid-s2585" xml:space="preserve">hat ſchon jemand dies Bildchen ge-<lb/>ſehen?</s>
  <s xml:id="echoid-s2586" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2587" xml:space="preserve">Es hat es nicht nur jemand geſehen, ſondern es ſieht es <lb/>jeder, der überhaupt Augen hat um zu ſehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2588" xml:space="preserve">denn in Wahr-<lb/>heit ſehen wir die Welt draußen außer unſerm Auge nur, weil <lb/>wir ein Biidchen von dieſer Welt im Innern des Auges <lb/>haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s2589" xml:space="preserve">Aber man kann das Bildchen jedem Ungläubigen oder <lb/>Abergläubigen zeigen, der aus Unglauben an die Wiſſenſchaft <lb/>oder aus Aberglauben und Wunderſucht an ihrer Behauptung <lb/>zweifelt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2590" xml:space="preserve">man kann das Bildchen in jedem Auge eines friſch-<lb/>getöteten Tieres zeigen, das in geeigneter Weiſe hierzu ein-<lb/>gerichtet wird, oder bereits im natürlichen Zuſtande die nötige <lb/>Einrichtung hat, wie es z. </s>
  <s xml:id="echoid-s2591" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s2592" xml:space="preserve">bei dem weißen Kaninchen der <lb/>Fall iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2593" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2594" xml:space="preserve">Nimmt man das Auge eines ſolchen Kaninchens un-<lb/>mittelbar nach dem Tode heraus, reinigt die Augenkugel und <lb/>legt ſie ſo in eine paſſende Papierrolle, daß das Sehloch nach <lb/>der einen Seite der offenen Rolle gerichtet iſt, ſo braucht man <lb/>es nur mit dieſer Seite nach dem Fenſter zu kehren, um an <lb/>der äußeren Hinterwand des Auges das Bild des Fenſters <lb/>und aller Gegenſtände auf der Straße verkleinert und verkehrt
<pb o="67" file="0199" n="199"/>
zu erblicken. </s>
  <s xml:id="echoid-s2595" xml:space="preserve">— Wenn ein gleiches beim Menſchenauge oder <lb/>den Augen mehrerer Tiere nicht der Fall iſt, ſo rührt es nur <lb/>von der Undurchſichtigkeit eines ſchwarzen Farbeſtoffes in einer <lb/>der Umhüllungshäute her; </s>
  <s xml:id="echoid-s2596" xml:space="preserve">nimmt man dieſe in geeigneter <lb/>Weiſe an einer Stelle der Hinterwand ab, ſo kann man das <lb/>Bildchen auch in ſolchen Augen zeigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2597" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2598" xml:space="preserve">Daß das Auge eine Kamera-Obſcura, und zwar eine <lb/>ſolche nach denſelben Geſetzen der Optik, wie die künſtliche <lb/>Kamera iſt, welche wir verfertigt haben, ſteht außer allem <lb/>Zweifel. </s>
  <s xml:id="echoid-s2599" xml:space="preserve">Das Auge iſt nur unendlich beſſer, vorteilhafter, <lb/>geſetzmäßiger, dauerhafter, und mit merkwürdiger Vorſorge <lb/>verfertigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2600" xml:space="preserve">Es iſt nicht nur all das, was drum und dran iſt, <lb/>ſo weit wir es bis jetzt verſtehen, ſo angelegt, daß wir es <lb/>überaus geiſtreich und ſcharfſinnig nennen müſſen, ſondern es <lb/>giebt noch gar vieles im Auge, zu deſſen Weisheit wir uns <lb/>noch nicht erhoben haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s2601" xml:space="preserve">das heißt, wir klugen Menſchen <lb/>ſehen noch gar vieles nicht ein, was wir Geſcheidtes, ohne es <lb/>zu wiſſen, mit zur Welt bringen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2602" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2603" xml:space="preserve">Indem wir auf die erkannten und die noch unerklärten <lb/>Vorzüge des Auges recht bald unſere Aufmerkſamkeit richten <lb/>wollen, haben wir für jetzt nur noch über den nunmehr bereits <lb/>beſprochenen Hauptteil des Inhalts der Augenkugel, über den <lb/>die Hälfte des Kugelraumes ausfüllenden Glaskörper, einige <lb/>Bemerkungen zu machen, welche die gegenwärtig in Aufſchwung <lb/>begriffene Augenheilkunde betreffen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2604" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2605" xml:space="preserve">Es iſt leicht einzuſehen, daß Trübungen in dieſem Glas-<lb/>körper das Bildchen im Auge, und ſomit das Sehen desſelben <lb/>beeinträchtigen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2606" xml:space="preserve">nun iſt es mit dem Glaskörper nicht wie mit <lb/>der Linſe, welche man herausholen und durch ein danach ge-<lb/>ſchliffenes Brillenglas erſetzen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s2607" xml:space="preserve">Denn der Glaskörper iſt <lb/>unmittelbar mit einem Netz eines Nerven in Berührung, der <lb/>eigentlich das Sehen vermittelt, und der mit verletzt würde, <lb/>wenn man den Glaskörper etwa abnehmen und ihn durch
<pb o="68" file="0200" n="200"/>
paſſende Brillen erſetzen wollte. </s>
  <s xml:id="echoid-s2608" xml:space="preserve">Gleichwohl kommen Trübungen <lb/>im Glaskörper öfter dadurch vor, daß ſich ein wenig Blut von <lb/>der Aderhaut aus ins Auge ergießt, wodurch zeitweiſe Blind-<lb/>heit erfolgen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s2609" xml:space="preserve">Der Augenſpiegel, von dem wir bereits <lb/>geſprochen haben, hat auch hierin Vorzügliches geleiſtet; </s>
  <s xml:id="echoid-s2610" xml:space="preserve">wenn <lb/>es auch nur darin beſteht, daß man den Bluterguß beobachten, <lb/>durch anderweitige Mittel ſein Schwinden befördern und nach <lb/>öfteren Unterſuchungen und Vergleichungen mit ziemlicher <lb/>Sicherheit die Zeit angeben kann, wo das Übel geſchwunden <lb/>ſein wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s2611" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div70" type="section" level="1" n="63">
<head xml:id="echoid-head70" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIX. Die Vorzüge des Auges.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2612" xml:space="preserve">Die Vorzüglichkeit des Auges im Vergleich mit einer <lb/>künſtlichen Kamera-Obſcura läßt ſich erſt einſehen, wenn man <lb/>die einzelnen Teile des Auges in Betracht zieht.</s>
  <s xml:id="echoid-s2613" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2614" xml:space="preserve">Die äußere Form des Auges iſt von der Kamera ver-<lb/>ſchieden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2615" xml:space="preserve">Die Kamera hat meiſt die Form eines Kaſtens oder <lb/>eines Cylinders, während das Auge die Kugelform beſitzt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2616" xml:space="preserve">und <lb/>das iſt ſchon ein weſentlicher Vorteil auf ſeiten des Auges. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2617" xml:space="preserve">Es läßt ſich nämlich leicht nachweiſen, daß auf der glatten, <lb/>ebenen, matten Scheibe der Kamera immer nur ein einziger <lb/>Punkt die genaueſte, richtige Entfernung von der Linſe hat, <lb/>um ein ſcharfes Bild zu geben. </s>
  <s xml:id="echoid-s2618" xml:space="preserve">Man kann im vollſten Sinne <lb/>des Wortes ſagen, daß in jedem Bildchen der Kamera-Obſcura <lb/>nur ein einziger richtiger und ſcharf gezeichneter Punkt vor-<lb/>handen iſt, während alles übrige ſtets undentlicher wird, je <lb/>entfernter es von dieſem ſchärfſten Punkte liegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2619" xml:space="preserve">Der Grund <lb/>hiervon liegt darin, daß, wenn die matte Scheibe ſo genau <lb/>geſtellt wird, daß ſie mit ihrem Mittelpunkt in der richtigen <lb/>Entfernung von der Glaslinſe ſteht, jede neben dieſem Punkte <lb/>liegende Stelle der matten Scheibe ſchon zu weit von der
<pb o="69" file="0201" n="201"/>
richtigen Entfernung abſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s2620" xml:space="preserve">Nur wenn die matte Scheibe <lb/>eine kugelartige Form hat, iſt es möglich, daß ſchon ein ganzes <lb/>Stück derſelben in der richtigen Entfernung ſich befinde, und <lb/>demnach die richtige Schärfe nicht mehr auf einen einzigen <lb/>Punkt beſchränkt bleibe.</s>
  <s xml:id="echoid-s2621" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2622" xml:space="preserve">Im Auge erſetzt die becherförmige Hinterwand desſelben, <lb/>woran der Glaskörper anliegt, die Stelle der matten Scheibe. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2623" xml:space="preserve">Die Hinterwand hat alſo eine Art Kugelform, die zwar bei <lb/>verſchiedenen Tieren verſchieden iſt, je nach der Beſchaffenheit <lb/>der Linſe, die aber in allen Fällen das Gebiet der richtigen <lb/>Schärfe der Bilder vergrößert. </s>
  <s xml:id="echoid-s2624" xml:space="preserve">Höchſt merkwürdig iſt es, die <lb/>Verſchiedenheiten der Augen bei verſchiedenen Geſchöpfen, und <lb/>zwar die Verſchiedenheit der Linſe und die hierzu paſſende <lb/>Form der Hinterwand des Auges zu betrachten; </s>
  <s xml:id="echoid-s2625" xml:space="preserve">denn man <lb/>nimmt hierbei wahr, daß ſtets das Auge treffend ſo einge-<lb/>richtet iſt, daß es für das Bereich paſſe, in welchem das Tier <lb/>zu leben beſtimmt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2626" xml:space="preserve">Wer ſich einen Karpfenkopf gut <lb/>ſchmecken ließ, wird wohl ſchon bemerkt haben, daß im Auge <lb/>desſelben eine kleine, weiße Kugel liegt, etwa von der Größe <lb/>einer Erbſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s2627" xml:space="preserve">Dieſe Kugel iſt die Linſe des Auges beim Fiſch, <lb/>und man ſieht, wie hier die Linſe zur Erbſe wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s2628" xml:space="preserve">Der <lb/>Grund davon iſt, daß der Fiſch, der den Beruf hat, im Waſſer <lb/>zu leben und das Auge zu benutzen, auch eine ganz andere <lb/>Kamera braucht als ein in der Luft lebendes Weſen, denn im <lb/>Waſſer hat die Brechung der Lichtſtrahlen in ganz anderem <lb/>Maße und weit ſtärker ſtatt als in der Luft. </s>
  <s xml:id="echoid-s2629" xml:space="preserve">Auch Vögel, die <lb/>in der Luft leben, haben Linſen, die verſchieden ſind von denen <lb/>der Landtiere; </s>
  <s xml:id="echoid-s2630" xml:space="preserve">denn die Vögel, namentlich diejenigen, die ſich <lb/>zu außerordentlicher Höhe in der Luft erheben, haben ebenfalls <lb/>durch die Verdünnung der Luft in dieſen Höhen mit ganz <lb/>anderen Verhältniſſen der Lichtbrechung zu thun wie die Tiere, <lb/>welche ſich nicht über den Boden der Erde erheben können. </s>
  <s xml:id="echoid-s2631" xml:space="preserve">Es <lb/>liegt in dieſen Verſchiedenheiten der Formen des Auges noch viel
<pb o="70" file="0202" n="202"/>
Unerforſchtes für unſern Stand der Wiſſenſchaft; </s>
  <s xml:id="echoid-s2632" xml:space="preserve">nur ſoviel <lb/>ſteht feſt, daß eine Brille, welche den Dienſt einer Linſe bei <lb/>einem operierten Menſchen erſetzt, ihren Dienſt bei einem <lb/>operierten Hecht verſagen würde. </s>
  <s xml:id="echoid-s2633" xml:space="preserve">Die Geſchöpfe haben Augen, <lb/>die zwar alle nach optiſchen Geſetzen geſchaffen ſind, aber nach <lb/>einer Optik, die für jede Gattung, die in anderen Verhältniſſen <lb/>lebt, anders zu berechnen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2634" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2635" xml:space="preserve">Die Krümmungen in den optiſchen Werkzeugen im Auge <lb/>des Menſchen ſind noch beſonders dadurch merkwürdig, daß <lb/>die Vorderſeite der Linſe genau die Krümmung einer <emph style="sp">Ellipſe</emph>, <lb/>die Hinterſeite genau die Krümmung einer <emph style="sp">Parabel</emph>, während <lb/>die Hinterwand des Auges die Krümmung einer <emph style="sp">Kugel</emph> hat. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2636" xml:space="preserve">Wer aber in der Mathematik nicht ganz fremd iſt, der wird <lb/>zugeſtehen, daß dieſe eigentlichen Krümmungen in ihrem Zu-<lb/>ſammentreffen nicht zufällig ſein können, und wenn ſie in ein-<lb/>ander wirken, dies nur nach dem genaueſten, wohlberechnetſten <lb/>Plan geſchehen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s2637" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2638" xml:space="preserve">Sehen wir von dem Umſtande hier ab, der wegen ſeiner <lb/>ihm zu Grunde liegenden, ſtreng mathematiſchen Geſetze nicht <lb/>geeignet iſt zur kurzen, allgemein verſtändlichen Behandlung, <lb/>ſo haben wir noch auf eine ganze Reihe anderer Umſtände <lb/>aufmerkſam zu machen, durch welche das Auge zur wunder-<lb/>vollſten Kamera-Obſcura wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s2639" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2640" xml:space="preserve">Wir haben es bereits erwähnt, daß man gegenwärtig zu <lb/>einer guten Kamera-Obſcura, wie ſie die Photographen ge-<lb/>brauchen, zwei doppelte Linſenpaare nimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2641" xml:space="preserve">Der Grund <lb/>hiervon iſt, daß bei jeder einfachen Linſe die Gegenſtände <lb/>farbige Säume um ſich haben, welche das Bild ſehr unſcharf <lb/>machen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2642" xml:space="preserve">das Syſtem der Doppellinſen beruht darauf, daß man <lb/>die Lichtſtrahlen durch zwei Glasarten von verſchiedener <lb/>Dichtigkeit gehen läßt, welche deshalb eine verſchiedene Farben-<lb/>zerſtreuung haben, wobei man durch Rechnung und Verſuche <lb/>eine ſolche Zuſammenſtellung der zwei Linſen finden kann, daß
<pb o="71" file="0203" n="203"/>
die Farben der beiden ſich gegenſeitig aufheben. </s>
  <s xml:id="echoid-s2643" xml:space="preserve">Die Erfindung, <lb/>zwei verſchiedene Glasarten von verſchiedener Brechbarkeit des <lb/>Lichtes als Linſen zu benutzen, hat der große deutſche Mathe-<lb/>matiker und Naturforſcher <emph style="sp">Leonhard Euler</emph> (1707—1782) <lb/>vor mehr als hundert Jahren bereits gemacht; </s>
  <s xml:id="echoid-s2644" xml:space="preserve">aber er geſtand, <lb/>daß die Betrachtung des menſchlichen Auges ihn hierauf geführt, <lb/>und als ſpäter der engliſche Mechaniker <emph style="sp">Dollond</emph> (1706—1761) <lb/>die Idee Eulers verwirklichte, und es ſich praktiſch heraus-<lb/>ſtellte, daß man farbenfreie Linſenpaare machen kann, wurde <lb/>es allgemein anerkannt, daß dieſe Praxis ſchon ſo alt iſt, wie <lb/>das erſte Auge, welches das Licht der Welt erblickt hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s2645" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2646" xml:space="preserve">Die Kryſtalllinſe und der Glaskörper im Auge ſind zwei <lb/>durchſichtige Maſſen, welche die Lichtſtrahlen in verſchiedener <lb/>Weiſe brechen, und ſie ſind ſo aneinander gelegt und im Auge <lb/>geordnet, daß die Farbenränder ſich gegenſeitig aufheben.</s>
  <s xml:id="echoid-s2647" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2648" xml:space="preserve">Man ſchätzt gute Doppellinſen, die keine farbigen Bilder <lb/>ſehen laſſen, ſehr hoch, obgleich jetzt die Herſtellung derſelben <lb/>fabrikmäßig betrieben wird; </s>
  <s xml:id="echoid-s2649" xml:space="preserve">im Auge iſt dieſe Kunſt ſo vor-<lb/>trefflich erreicht, daß es Anſtrengung koſtet, in der deutlichen <lb/>Sehweite die farbigen Ränder willkürlich hervorzurufen, was <lb/>nur ſolchen Menſchen gelingt, die willkürlich das Schielen mit <lb/>den Augen verſtehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2650" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div71" type="section" level="1" n="64">
<head xml:id="echoid-head71" xml:space="preserve"><emph style="bf">XX. Die Lichtblende.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2651" xml:space="preserve">Im Auge befindet ſich noch eine Vorrichtung, die an der <lb/>Kamera-Obſcura gleichfalls angewendet wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s2652" xml:space="preserve">Dieſe Vor-<lb/>richtung beſteht darin, daß der farbige Ring des Auges, der <lb/>vor der Linſe liegt, erſtens dazu dient, das Licht vom Rande <lb/>der Linſe abzuhalten, und zweitens, daß der Ring ſich derart <lb/>ſowohl nach dem Rand, wie nach der Mitte hin zuſammen-
<pb o="72" file="0204" n="204"/>
ziehen kann, daß das Sehloch in der Mitte bald größer, bald <lb/>kleiner wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s2653" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2654" xml:space="preserve">Es iſt eine in der Lehre von der Brechung des Lichtes <lb/>anerkannte und erklärte Thatſache, daß die Lichtſtrahlen, welche <lb/>durch den Rand einer Glaslinſe gehen, einen anderen Ver-<lb/>einigungspunkt haben als die Lichtſtrahlen, welche durch den <lb/>mittleren Teil der Linſe gehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2655" xml:space="preserve">Es wird daher in jedem <lb/>Fernrohr wie in jeder Kamera-Obſcura ſtets eine <emph style="sp">Blende</emph> <lb/>angebracht, das heißt ein Ring, der die Randſtrahlen abhält, <lb/>und nur das Licht durch den mittleren Teil der Linſe wirken <lb/>läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2656" xml:space="preserve">— Es iſt nun leicht einzuſehen, daß, wenn die Blende <lb/>einen breiten Teil des Randes verdeckt, alſo nur durch ein <lb/>kleines Loch in der Mitte die Lichtſtrahlen durchläßt, die <lb/>Wirkung des Lichtes eine reinere und ſchärfere, aber auch <lb/>im ſelben Maße eine ſehr ſchwache ſein wird, da eben nur <lb/>wenig Lichtſtrahlen hier wirken können. </s>
  <s xml:id="echoid-s2657" xml:space="preserve">Verdeckt dagegen die <lb/>Blende nur einen ſchmalen Teil des Randes, ſo entſteht durch <lb/>das reichlich eindringende Licht zwar ein helleres, aber auch <lb/>zugleich weniger reines und ſcharfes Bildchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2658" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2659" xml:space="preserve">Die Photographen, die bei ſehr verſchiedenem Wetter die <lb/>Anfertigung von Bildern durch die Kamera-Obſcura vorzu-<lb/>nehmen haben, ſind deshalb zur Benutzung ſehr verſchiedener <lb/>Blenden genötigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2660" xml:space="preserve">Iſt das Wetter ſehr hell, wirkt alſo das <lb/>Licht ſtark ein, ſo ſetzen ſie vor der Linſe in allen Fällen, wo <lb/>es ihnen nicht um kurze Sitzungszeit, ſondern um ein ſcharfes, <lb/>feines Bild zu thun iſt, eine Blende ein, die nur ein kleineres <lb/>Loch in der Mitte hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s2661" xml:space="preserve">Bei dunklem Wetter müſſen ſie <lb/>möglichſt viel Licht in die Kamera dringen laſſen, und ſie ar-<lb/>beiten deshalb ohne eingeſetzte Blende, oder richtiger: </s>
  <s xml:id="echoid-s2662" xml:space="preserve">mit der <lb/>ſchmalen Blende, welche bereits im Inſtrument angebracht iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2663" xml:space="preserve">Hauptſächlich geübt auf die Benutzung verſchiedener Blenden <lb/>müſſen ſolche Photographen ſein, welche Lichtbilder von Land-<lb/>ſchaften oder Gemälden anfertigen, wo es nicht auf ſchnelle,
<pb o="73" file="0205" n="205"/>
ſondern auf feine, ſcharfe Wirkung ankommt, die ſtets deſto <lb/>günſtiger erreicht wird, je heller das Licht und je größer die <lb/>Blende iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2664" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2665" xml:space="preserve">Die Photographen benutzen deshalb verſchiedene Blenden, <lb/>die aus ſteifem, geſchwärzten Papier oder gewöhnlich aus <lb/>dünnen, geſchwärzten Metallringen beſtehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2666" xml:space="preserve">je nach Bedürf-<lb/>nis ſetzen ſie eine Blende mit einer größeren oder kleineren <lb/>Kreisöffnung ein, um mehr oder weniger Licht in die Kamera <lb/>eindringen zu laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2667" xml:space="preserve">Da wir nun im Auge eine Kamera-<lb/>Obſcura beſitzen, eine Kamera, die uns im hellſten Sonnen-<lb/>ſchein ebenſo ihre Dienſte leiſten ſoll, wie in dunkler Nacht, <lb/>wo nur der Schimmer des Sternenlichtes zu uns gelangt, <lb/>ſo iſt die Einrichtung des farbigen Ringes im Auge vor der <lb/>Glaslinſe, wie wir ſogleich ſehen werden, von unübertrefflichem <lb/>Werte.</s>
  <s xml:id="echoid-s2668" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2669" xml:space="preserve">Der farbige Ring des Auges iſt undurchſichtig, denn er <lb/>iſt von innen ſchwarz belegt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2670" xml:space="preserve">es dringen daher keine Strahlen <lb/>durch denſelben. </s>
  <s xml:id="echoid-s2671" xml:space="preserve">Der Ring liegt ſo, daß er vor allem die <lb/>Ränder der Linſe deckt und nur die Strahlen durch die Mitte <lb/>eindringen läßt, die durch das Sehloch gehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2672" xml:space="preserve">denn die Mitte <lb/>des Sehloches liegt ganz genau vor der Mitte der Linſe. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2673" xml:space="preserve">Außerdem aber beſitzt der farbige Ring ein ſo feines Gewebe <lb/>von Muskeln und Bewegungsnerven, daß er bei der leiſeſten <lb/>Veränderung des Lichtes das Sehloch bald erweitert, bald <lb/>verengt, je nachdem helles oder dunkles Licht ins Auge dringt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2674" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2675" xml:space="preserve">Die Art und Weiſe, wie das Sehloch ſich verengt und er-<lb/>weitert, je nachdem das Licht ſtark oder ſchwach iſt, kann man <lb/>am eigenen Auge ſehr gut beobachten. </s>
  <s xml:id="echoid-s2676" xml:space="preserve">Man ſtelle ſich mit <lb/>dem Geſicht ans Fenſter, ſo daß man vom hellen Licht der <lb/>Straße beſtrahlt wird, und halte ein Stückchen Spiegelglas, <lb/>etwa von der Größe eines Fünfmarkſtückes, vors Auge; </s>
  <s xml:id="echoid-s2677" xml:space="preserve">jedoch <lb/>ſo, daß das Auge nicht davon beſchattet wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s2678" xml:space="preserve">Nun richte man <lb/>ſeine Aufmerkſamkeit auf das Auge im Spiegel, deſſen Farben-
<pb o="74" file="0206" n="206"/>
ring und Sehloch, und drehe ſich dabei langſam um, ſo daß <lb/>man ſich vom Tageslicht abwendet, und dasſelbe nicht direkt <lb/>ins Auge gelangt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2679" xml:space="preserve">Man wird ſchon bei dem einmaligen Ver-<lb/>ſuch bemerken, wie das Sehloch ſich erweitert, je mehr man <lb/>ſich vom hellen Tageslicht abwendet, und wie es ſich ver-<lb/>engt, wenn man ſich vom dunklen Raum zum hellen umdreht.</s>
  <s xml:id="echoid-s2680" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2681" xml:space="preserve">Die Verengerung und Erweiterung des Sehloches geſchieht <lb/>unwillkürlich. </s>
  <s xml:id="echoid-s2682" xml:space="preserve">Der Farbenring zieht ſich, wenn ſtärkeres Licht <lb/>auf den Sehnerven einwirkt, ohne unſer Wiſſen und Willen <lb/>nach der Mitte hin zuſammen und macht das Loch, die <lb/>Pupille, enger; </s>
  <s xml:id="echoid-s2683" xml:space="preserve">bei ſchwächerem Lichte geſchieht die Zuſammen-<lb/>ziehung des Farbenringes nach dem Rande hin und erweitert <lb/>das Sehloch; </s>
  <s xml:id="echoid-s2684" xml:space="preserve">und dies geſchieht ſo gleichmäßig mit dem <lb/>Steigen und Sinken des Lichteindruckes, daß man ſagen kann, <lb/>es ſei im Auge der Lichteindruck bei Tageslicht ſo ziemlich ein <lb/>gleicher, denn die ſehr bedeutenden Veränderungen, welche das <lb/>Tageslicht durch die Witterung erleidet, werden durch den <lb/>Farbenring und ſeine Zuſammenziehungen in außerordentlichem <lb/>Maße ausgeglichen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2685" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2686" xml:space="preserve">So haben wir denn eine einzige Blende im Auge, die für <lb/>die verſchiedenſten Lichter paßt, eine Blende, die wir benutzen, <lb/>ohne es zu wollen, ja ohne es zu wiſſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2687" xml:space="preserve">eine Blende mit einer <lb/>Vorrichtung, die, wenn ſie ein Menſch erfunden hätte, ſeinem <lb/>Stolze ungeheuer zu ſchmeicheln imſtande wäre; </s>
  <s xml:id="echoid-s2688" xml:space="preserve">die aber, weil ſie <lb/>eine ſo alte Erfindung iſt, uns nur Beſcheidenheit lehren kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s2689" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div72" type="section" level="1" n="65">
<head xml:id="echoid-head72" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXI. Die Augenlider.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2690" xml:space="preserve">Das Auge, als bloße Kamera-Obſcura betrachtet, beſitzt <lb/>noch einen Vorzug, den man der künſtlichen Kamera nicht ver-
<pb o="75" file="0207" n="207"/>
leihen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s2691" xml:space="preserve">Daß die Augenlider die Deckel der Augen ſind, <lb/>weiß jedermann. </s>
  <s xml:id="echoid-s2692" xml:space="preserve">Die Vorteile eines ſolchen Deckels liegen auf <lb/>der Hand, und man bringt einen ſolchen an jeder Kamera-<lb/>Obſcura an, die man vor Staub und ſonſt nachteiligen Ein-<lb/>flüſſen bewahren will. </s>
  <s xml:id="echoid-s2693" xml:space="preserve">Man ſchiebt einen Deckel auf die Faſſung <lb/>der Glaslinſen, ſo oft man die Kamera nicht benutzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2694" xml:space="preserve">— Was <lb/>aber das Auge ganz beſonders bei dieſem Deckel auszeichnet, <lb/>iſt Folgendes.</s>
  <s xml:id="echoid-s2695" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2696" xml:space="preserve">Das Augenlid iſt nicht nur ein Deckel, den man will-<lb/>kürlich, ſo oft man das Auge nicht benutzen will, über das-<lb/>ſelbe legen kann, ſondern es iſt ein Deckel, der ſich ganz un-<lb/>willkürlich ſchließt, wenn es dem Auge not thut.</s>
  <s xml:id="echoid-s2697" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2698" xml:space="preserve">Man kann gewiſſermaßen ſagen, das Augenlid, dieſer <lb/>Vorhang, der das Auge verſchließt, gehört zum Teil uns an, <lb/>wir haben Macht über dasſelbe, wir können es mit unſerm <lb/>Willen und Wiſſen ſchließen und öffnen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2699" xml:space="preserve">es gehört aber zum <lb/>Teil dem Auge ſelber an, das über das Lid gebietet, ohne <lb/>nach unſerm Willen und Wiſſen zu fragen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2700" xml:space="preserve">Wir ſchließen und <lb/>öffnen wohl an tauſendmal in einem Tage das Augenlid, ohne <lb/>es zu wiſſen, und ſelbſt, wenn wir es nicht wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2701" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2702" xml:space="preserve">Die Kamera-Obſcura, mit der wir zur Welt kommen, hat <lb/>alſo einen Deckel, der ſich nach ihrem eigenen Bedürfnis auf-<lb/>und zumacht, ohne uns um Erlaubnis zu fragen, oder auf <lb/>unſern Befehl zu warten.</s>
  <s xml:id="echoid-s2703" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2704" xml:space="preserve">Und wie dies ſein Gutes hat, und wie dies dem Auge <lb/>ſelber dienlich iſt, darüber wollen wir nur ein paar Worte hier <lb/>herſetzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2705" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2706" xml:space="preserve">Ohne Zweifel würde nicht wenig Staub unſer Auge be-<lb/>decken, wenn wir es die Nacht nicht geſchloſſen hätten; </s>
  <s xml:id="echoid-s2707" xml:space="preserve">nun <lb/>wäre es in der That nicht zu viel, wenn dieſe leichte Arbeit, <lb/>das Auge zu ſchließen, nur unſerer Vorſicht überlaſſen worden <lb/>wäre; </s>
  <s xml:id="echoid-s2708" xml:space="preserve">allein da man gerade im Moment des Einſchlafens am <lb/>allerwenigſten etwas von Vorſicht beſitzt, ſo iſt Hundert gegen
<pb o="76" file="0208" n="208"/>
Eins zu wetten, daß wir in hundert Nächten es kaum einmal <lb/>wirklich in dieſem Moment ſchließen würden.</s>
  <s xml:id="echoid-s2709" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2710" xml:space="preserve">Aber auch in andern unendlich vielen Fällen iſt das un-<lb/>willkürliche Schließen des Auges ein für die Erhaltung dieſer <lb/>Kamera ſehr bedeutendes Ereignis. </s>
  <s xml:id="echoid-s2711" xml:space="preserve">Ein blendender Licht-<lb/>ſtrahl, ein Staubkörnchen, ein Schlag und all’ die über-<lb/>raſchenden, ſtörenden Eingriffe, die unſerm Auge drohen, <lb/>kommen uns viel zu ſpät zum Bewußtſein, als daß wir noch <lb/>Zeit gehabt hätten, unſern ſchützenden Deckel übers Auge zu <lb/>legen, wenn die Benutzung des Deckels uns allein überlaſſen <lb/>geblieben wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s2712" xml:space="preserve">Ja, wir würden nicht wenig bei den un-<lb/>zähligen Störungen, die das Auge treffen, in Anſpruch ge-<lb/>nommen ſein, wenn das Auge bloß der Vorſorge unſeres Be-<lb/>wußtſeins anheimgegeben wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s2713" xml:space="preserve">Jetzt, wo das Augenlid in <lb/>einer ganz eigentümlichen Weiſe unter dem direkten Gebot des <lb/>Auges ſelber, oder richtiger unter dem Befehl eines Reizes <lb/>durch die Augennerven auf das Gehirn und von dieſem auf <lb/>den Bewegungsnerv des Augenlides ſteht, ohne erſt unſer Be-<lb/>wußtſein und unſern Willen mit ins Spiel zu ziehen, iſt die <lb/>Sache weit einfacher und vorteilhafter eingerichtet.</s>
  <s xml:id="echoid-s2714" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2715" xml:space="preserve">Aber das Auge oder richtiger die Augenhöhle hat noch <lb/>ganz beſondere Vorrichtungen zu Gunſten der Kamera-Obſcura, <lb/>die wir mit zur Welt bringen, Vorrichtungen, bei denen das <lb/>Augenlid auch eine Hauptrolle ſpielt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2716" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2717" xml:space="preserve">Dicht an der Schläfe nämlich, in einer Vertiefung der <lb/>knöchernen Decke, ſeitwärts über dem Auge, ungefähr in der <lb/>Gegend, wo die Augenbrauen aufhören, da liegt die Thränen-<lb/>drüſe, ein eigentümliches Gebilde, das fortwährend ein ſalziges <lb/>Waſſer abſendet, das ſich unter dem oberen Augenlid an-<lb/>ſammelf. </s>
  <s xml:id="echoid-s2718" xml:space="preserve">Merkwürdigerweiſe iſt dieſe ſalzige Feuchtigkeit dem <lb/>Auge durchaus nicht ſchädlich oder empfindlich, während reines <lb/>Waſſer einen gewiſſen, unangenehmen Reiz auf dasſelbe aus-<lb/>übt, ſo daß es nur ſelten Menſchen giebt, die beim Tauchen
<pb o="77" file="0209" n="209"/>
unter Waſſer die Augen öffnen köunen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2719" xml:space="preserve">Während des Schlafes, <lb/>wo das obere Augenlid das Auge bedeckt, erhält die ſalzige <lb/>Flüſſigkeit das Auge feucht; </s>
  <s xml:id="echoid-s2720" xml:space="preserve">im Wachen aber, wo das Auge <lb/>offen ſteht, liegt der Rand des oberen Augenlides ſo feſt an <lb/>der Augenkugel, daß die Thränen nicht durchdringen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2721" xml:space="preserve">da aber <lb/>beim offnen Auge die äußere Augenhaut ihre Feuchtigkeit ver-<lb/>dampft und trocken wird, fällt, ſo oft dies der Fall iſt, ohne <lb/>daß wir es wiſſen und wollen, das Augenlid herab, ſchließt auf <lb/>einen äußerſt kurzen Moment das Auge und befeuchtet es ſo mit <lb/>friſchem Thränenwaſſer. </s>
  <s xml:id="echoid-s2722" xml:space="preserve">Mit dieſem Thränenwaſſer ſpült ſich <lb/>aber auch aller Staub vom Auge herunter, der ſich darauf ab-<lb/>gelagert; </s>
  <s xml:id="echoid-s2723" xml:space="preserve">wäre dies nicht der Fall, ſo würden wir genötigt <lb/>ſein, unſere Augenhaut eben ſo oft zu waſchen, wie unſere <lb/>Naſenhaut; </s>
  <s xml:id="echoid-s2724" xml:space="preserve">da aber das Auge ein wenig empfindlicher und im <lb/>Grunde genommen auch viel wertvoller iſt als unſere Naſe, da <lb/>Tauſend gegen Eins zu wetten iſt, daß wir die glashelle Haut <lb/>weit eher durch unſere Waſchungen blind als blank und rein <lb/>machen würden, ſo iſt es ſchon gut, daß auch in dieſer Be-<lb/>ziehung uns eine Sorge abgenommen worden iſt, und daß die <lb/>Kamera-Obſcura, die wir mit zur Welt bringen, ihre eigene <lb/>Waſch- und Bade-Anſtalt beſitzt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2725" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2726" xml:space="preserve">Wir waſchen und baden demnach unſere mitgebrachte <lb/>Kamera-Obſcura wohl tauſendmal täglich mit Thränenwaſſer. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2727" xml:space="preserve">Es iſt kaum glaublich, wie oft wir blitzſchnell mit den Augen <lb/>blinken; </s>
  <s xml:id="echoid-s2728" xml:space="preserve">es geſchieht dies jedesmal, um das Auge zu feuchten <lb/>oder um ein Stäubchen wegzuwaſchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2729" xml:space="preserve">Fällt gar ein beträcht-<lb/>liches Körnchen ins Auge, ſo kommt ein ganzer Thränenſtrom <lb/>heran, um es wegzuſpülen, und führt es, wenn wir das Auge <lb/>ſelber nur gewähren laſſen, auch richtig nach unten in den <lb/>inneren Augenwinkel, wo es mit einigem Schleim ſitzen bleibt, <lb/>und wo wir es ohne Schmerz entfernen können.</s>
  <s xml:id="echoid-s2730" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2731" xml:space="preserve">Gerade an dieſer Stelle aber ſind ein paar feine Löcher, <lb/>welche die überflüſſigen Thränen nach der Naſenhöhle führen,
<pb o="78" file="0210" n="210"/>
wohin wir ſie abfließen fühlen, wenn wir ſo zu ſagen das <lb/>Weinen verbeißen und die Thränen verſchlucken.</s>
  <s xml:id="echoid-s2732" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2733" xml:space="preserve">Was die Augenlider noch außerdem für Dienſte dem <lb/>Auge leiſten, iſt nicht minder weſentlich für die Schonung der-<lb/>ſelben. </s>
  <s xml:id="echoid-s2734" xml:space="preserve">Sie ſind offenbar nicht nur die Deckel, ſondern auch <lb/>die Jalouſieen des Auges. </s>
  <s xml:id="echoid-s2735" xml:space="preserve">Wenn die Sonne ſcheint, wenn der <lb/>Schnee blendet, laſſen wir ſie halb herab, damit wir nicht zu <lb/>viel Licht in die Vorderkammer des Auges bekommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2736" xml:space="preserve">Es <lb/>kommt oft vor, daß wir im Sonnenlicht ſtehen und in den <lb/>dunkeln Schatten blicken wollen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2737" xml:space="preserve">würden wir das Auge offen <lb/>halten, ſo würde ſich wegen des ſtarken Lichtes das Sehloch <lb/>ſehr verkleinern, und wir würden deshalb gar nichts von dem <lb/>ſehen, was im Dunkeln vorgeht. </s>
  <s xml:id="echoid-s2738" xml:space="preserve">Deshalb kneifen wir die <lb/>Augen recht gründlich zuſammen und machen uns gewiſſer-<lb/>maßen Schatten im Sonnenlicht; </s>
  <s xml:id="echoid-s2739" xml:space="preserve">ſofort erweitert ſich das Seh-<lb/>loch, und wir nehmen ſo viel von den Strahlen auf, die aus <lb/>der dunkeln Stelle herkommen, daß wir bei weitem beſſer ſehen <lb/>können.</s>
  <s xml:id="echoid-s2740" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2741" xml:space="preserve">Hierbei ſpielen ſowohl die Augenbrauen ſchattend eine <lb/>Rolle, welche ohnehin den Schweiß der Stirn nicht ins Auge <lb/>fließen laſſen, wie auch die Haare der Augenlider, welche ein <lb/>herrlicher Gitterzaun ſind, um bei Wind und Wetter die <lb/>mitgebrachte Kamera-Obſcura nicht ſchädlichen Einflüſſen aus-<lb/>zuſetzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2742" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2743" xml:space="preserve">In der That, dieſes Meiſterſtück iſt muſterhaft verſorgt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2744" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div73" type="section" level="1" n="66">
<head xml:id="echoid-head73" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXII. Die Beweglichkeit des Auges.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2745" xml:space="preserve">Es iſt höchſt intereſſant, wahrzunehmen, wie die Augen <lb/>mit beſonderen Bewegungswerkzeugen verſorgt ſind, obgleich <lb/>ſie im Kopfe ſitzen, der ohnehin alle möglichen Drehungen und
<pb o="79" file="0211" n="211"/>
Wendungen nach allen Seiten machen kann und alſo auch <lb/>durch feſtſitzende Augen allenthalben würde ſehen können, wohin <lb/>er ſich wendet.</s>
  <s xml:id="echoid-s2746" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2747" xml:space="preserve">Bei flüchtiger Betrachtung könnte es als Luxus erſcheinen, <lb/>daß man das Auge, ohne den Kopf zu bewegen, nach oben <lb/>und unten, nach rechts und links, wie nach allen quer liegenden <lb/>Richtungen drehen kann, da es doch ausreichend wäre, wenn <lb/>die Augen ebenſo feſt und unbeweglich im Kopfe ſtünden wie <lb/>unſere Naſe oder unſer Ohr, ſobald nur der Kopf ſelber ſich <lb/>dorthin drehen kann, wo er was zu ſehen wünſcht.</s>
  <s xml:id="echoid-s2748" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2749" xml:space="preserve">Allein bei näherer Betrachtung gewinnt man auch hier <lb/>die Überzeugung, daß die reiche Ausſtattung und beſondere Be-<lb/>günſtigung des Auges keineswegs eine Verſchwendung iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2750" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2751" xml:space="preserve">Es erginge uns in der That recht ſchlimm, wenn wir <lb/>ſtarre, unbewegliche Augen im Kopfe hätten; </s>
  <s xml:id="echoid-s2752" xml:space="preserve">wir würden nicht <lb/>nur genötigt ſein, uns fortwährend mit dem Kopfe nach allen <lb/>Richtungen hin zu bewegen, wenn wir verſchiedene Dinge, <lb/>z. </s>
  <s xml:id="echoid-s2753" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s2754" xml:space="preserve">eine Straße, eine Häuſerreihe mit allen Nebendingen be-<lb/>trachten wollten, ſondern wir würden unter einer großen Reihe <lb/>von Umſtänden ſo gut wie gar nichts ſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2755" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2756" xml:space="preserve">Läge das Auge ſtarr im Kopfe, ſo würden wir in allen <lb/>Fällen, wo wir den Kopf bewegen müſſen, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s2757" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s2758" xml:space="preserve">beim Gehen, <lb/>Fahren, Reiten, Arbeiten, Laufen, Klettern, niemals einen <lb/>Punkt im Auge zu behalten imſtande ſein; </s>
  <s xml:id="echoid-s2759" xml:space="preserve">in ſolchen Fällen <lb/>würden wir nur Miſchbilder im Auge haben, wie wir ſie jetzt <lb/>nur künſtlich erzeugen können, wenn wir willkürlich unſere <lb/>Augen wild herumrollen laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2760" xml:space="preserve">Dadurch aber, daß wir die <lb/>Augen beſonders bewegen können, ohne den Kopf zu geniren, <lb/>können wir auch Dinge im Auge behalten, wenn wir mit dem <lb/>Kopfe Bewegungen beliebiger Art ausführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2761" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2762" xml:space="preserve">Um von tauſend Beiſpielen nur eines anzuführen, wollen <lb/>wir unſere Leſer auf folgende uns nächſte Thatſachen aufmerk-<lb/>ſam machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2763" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="80" file="0212" n="212"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2764" xml:space="preserve">Während wir ſchreiben, ſehen wir auf die Federſpitze und <lb/>zugleich auf die eben geſchriebenen Buchſtaben. </s>
  <s xml:id="echoid-s2765" xml:space="preserve">Die Feder-<lb/>ſpitze iſt in fortwährender Bewegung, während der geſchriebene <lb/>Buchſtabe feſt auf dem Papier iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2766" xml:space="preserve">Wäre unſer Auge ſtarr im <lb/>Kopfe, ſo würden wir unausgeſetzt bei jedem Federſtrich den <lb/>Kopf ſchütteln müſſen, wenn wir die Federſpitze im Auge be-<lb/>halten wollten. </s>
  <s xml:id="echoid-s2767" xml:space="preserve">Das wäre aber noch nicht das Schlimmſte, <lb/>ſondern übler wäre noch, daß wir bei ſtarrem Auge und <lb/>ſchüttelndem Kopfe zwar die Feder ſehen könnten, wenn wir <lb/>den Kopf richtig danach bewegten; </s>
  <s xml:id="echoid-s2768" xml:space="preserve">aber wir würden dabei <lb/>keinen fertig geſchriebenen Buchſtaben ſehen können, wenn wir <lb/>nicht zwiſchen jeder Bewegung des Kopfes wieder innehalten <lb/>wollten, um die ſtehenden Zeichen anzuſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2769" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2770" xml:space="preserve">Jetzt iſt es anders. </s>
  <s xml:id="echoid-s2771" xml:space="preserve">Leute, die infolge von Krankheit fort-<lb/>während mit dem Kopfe zittern, können, wenn ihre Hand ſonſt <lb/>ſicher und ruhig iſt, nicht nur ſchreiben, ſondern auch feinere <lb/>Verrichtungen zu Wege bringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2772" xml:space="preserve">Die Bewegungen des Kopfes <lb/>haben nichts mit den Bewegungen des Auges zu thun; </s>
  <s xml:id="echoid-s2773" xml:space="preserve">wir <lb/>können den Kopf rechts und zu gleicher Zeit das Auge links <lb/>drehen, wir können es ruhen laſſen auf einem Punkte und zu <lb/>gleicher Zeit den Kopf nach Bedürfnis bewegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2774" xml:space="preserve">Das Auge <lb/>geniert den Kopf und der Kopf das Auge nicht, und daß dies <lb/>ein Vorzug, aber kein luxuriöſer iſt, läßt ſich leicht einſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2775" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2776" xml:space="preserve">Die Sache hat aber einen noch tiefer liegenden Grund, <lb/>weshalb die Bewegung des Auges nicht gut durch die Be-<lb/>wegung des Kopfes erſetzt werden kann, und das iſt folgender:</s>
  <s xml:id="echoid-s2777" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2778" xml:space="preserve">Der Drehpunkt des Kopfes liegt dem Drehpunkt des Auges <lb/>zu fern, als daß er dieſen erſetzen könnte.</s>
  <s xml:id="echoid-s2779" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2780" xml:space="preserve">Der Drehpunkt des Kopfes liegt zwiſchen Hals und Nacken <lb/>auf dem oberſten Halswirbel. </s>
  <s xml:id="echoid-s2781" xml:space="preserve">Dreht man den Kopf um dieſen <lb/>Punkt, ſo <emph style="sp">dreht</emph> man nicht das Auge mit ſondern <emph style="sp">bewegt</emph> <lb/>das Auge von einem Ort zum andern, und eben das iſt dem <lb/>richtigen Sehen hinderlich. </s>
  <s xml:id="echoid-s2782" xml:space="preserve">Damit das Auge nach allen Rich-
<pb o="81" file="0213" n="213"/>
tungen hin eine Reihe von Gegenſtänden genau ſehen kann, iſt <lb/>es nötig, daß ſich das Auge <emph style="sp">drehe</emph>, jedoch ohne ſich von ſeiner <lb/>Stelle zu bewegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2783" xml:space="preserve">Das Auge muß ſich hierbei um ſeinen <lb/>eigenen Mittelpunkt drehen, damit das Bildchen, das im Auge <lb/>von der Welt draußen entſteht, nicht verſchoben werde durch <lb/>die Bewegungen des Auges von Ort zu Ort, und darum muß <lb/>der Drehpunkt des Auges nicht anderswo, ſondern in dem <lb/>Mittelpunkte des Auges ſelber liegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2784" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2785" xml:space="preserve">Und das iſt eben der Fall.</s>
  <s xml:id="echoid-s2786" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2787" xml:space="preserve">Wenn wir das Auge von einer Seite zur andern oder <lb/>von oben nach unten bewegen, ſo bewegen wir die Augenkugel <lb/>nicht von der Stelle, ſondern drehen ſie nur um ihren Mittel-<lb/>punkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2788" xml:space="preserve">Die Augenkugel liegt nämlich in der Augenhöhle, die <lb/>mit Fett derart ausgepolſtert iſt, daß nur grade ein kugel-<lb/>runder Raum für die Augenkugel übrig bleibt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2789" xml:space="preserve">Die Augen-<lb/>kugel liegt demnach in einer aus Fett gebildeten Hohlkugel. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2790" xml:space="preserve">Das Auge kann deshalb nicht, wie man ſo ſagt, gehoben, ge-<lb/>ſenkt oder nach irgend einer Seite hin geſchoben werden, denn <lb/>die Hohlkugel läßt der Augenkugel keinen freien Spielraum zu <lb/>Bewegungen, ſondern umſchließt ſie dicht und enge. </s>
  <s xml:id="echoid-s2791" xml:space="preserve">Die <lb/>Augenkugel kann nur <emph style="sp">gedreht</emph> werden, ſo daß, wie man die <lb/>vordere Seite des Auges nach oben richtet, man die hintere <lb/>nach unten wendet; </s>
  <s xml:id="echoid-s2792" xml:space="preserve">jede Bewegung, die man am ſichtbaren <lb/>Teil des Auges nach irgend einer Seite vornimmt, geht am <lb/>entgegengeſetzten Punkte der Augenkugel in entgegengeſetzter <lb/>Richtung vor ſich; </s>
  <s xml:id="echoid-s2793" xml:space="preserve">und dieſe Drehung geſchieht eben um den <lb/>Mittelpunkt der Augenkugel, oder was eigentlich die Hauptſache <lb/>iſt, um den Punkt, in welchem ſich ſämtliche eindringende Licht-<lb/>ſtrahlen treffen, um von dort bis zur Hinterwand den Licht-<lb/>kegel zu bilden, durch welchen eben das umgekehrte Bildchen <lb/>an der Hinterwand entſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s2794" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2795" xml:space="preserve">Es iſt ſchwierig, ohne weitläufige Erörterungen die Wichtig-<lb/>teit dieſer Thatſache vollkommen klar zu machen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2796" xml:space="preserve">wir dürfen
<pb o="82" file="0214" n="214"/>
aber unſern Leſern die Verſicherung geben, daß es der Wiſſen-<lb/>ſchaft nicht an Beweiſen fehlt, welche darthun, daß auch die <lb/>Beweglichkeit des Auges auf merkwürdig genau befolgten Ge-<lb/>ſetzen der Optik beruht, welche die bevorzugteſten Menſchen-<lb/>kinder erſt nach Jahrtauſenden und Jahrtauſenden eingeſehen <lb/>haben, während die <emph style="sp">Anwendung</emph> dieſer Geſetze bereits der <lb/>erſte Menſch mit zur Welt gebracht hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s2797" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div74" type="section" level="1" n="67">
<head xml:id="echoid-head74" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXIII. Die Lenkung und Richtung der Augen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2798" xml:space="preserve">Die Drehung des Auges um ſeinen Mittelpunkt wird, wie <lb/>alle Bewegungen am menſchlichen Körper, durch Muskeln voll-<lb/>ſtreckt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2799" xml:space="preserve">Aber die Muskeln der Augenkugel ſind in ſo weſent-<lb/>licher Beziehung merkwürdig, daß wir nicht umhin können, <lb/>einiges hierüber unſern Leſern vorzuführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2800" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2801" xml:space="preserve">Bei Betrachtung eines Schädels wird wohl ſchon jeder-<lb/>mann bemerkt haben, wie die Augenhöhlen nicht nur weit und <lb/>groß, ſondern auch ſehr tief ſind, und wie im Hintergrund <lb/>derſelben ein offener Weg in das Gewölbe hineinführt, das <lb/>einſt vom Gehirn ausgefüllt wurde.</s>
  <s xml:id="echoid-s2802" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2803" xml:space="preserve">Indem wir von dieſer Öffnung zum Gehirn hin noch <lb/>ſprechen werden, wollen wir hier nur unſer Augenmerk auf den <lb/>Hintergrund der Höhle richten, denn hier liegen die Muskeln <lb/>zur Bewegung der Augenkugel am Knochen und ſtrecken ſich <lb/>wie Bänder nach vorn, wo ſie an der Augenkugel ange-<lb/>wachſen ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s2804" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2805" xml:space="preserve">Man kann ſich einen Begriff von der Lage und der Wir-<lb/>kung dieſer Muskeln machen, wenn man ſich denkt, daß hinten <lb/>in der Tiefe der Augenhöhle der Kutſcher ſitzt, der das Auge <lb/>mit dem Zaum lenkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2806" xml:space="preserve">Solch ein bandartiger Zaum geht von <lb/>hinten rechts und links nach dem Auge, wo die Enden an-
<pb o="83" file="0215" n="215"/>
gewachſen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s2807" xml:space="preserve">Zieht ſich das muskelartige Band rechts zu-<lb/>ſammen, ſo muß ſich natürlich die Augenkugel nach rechts <lb/>drehen, zieht ſich der linke Muskel zuſammen, ſo wendet ſich <lb/>das Auge links. </s>
  <s xml:id="echoid-s2808" xml:space="preserve">Außer dieſen zwei Muskeln gehen aber noch <lb/>zwei andere in gleicher Weiſe aus dem Hintergrund der <lb/>Knochenhöhle ab nach vorn, wo ſie oben und unten an der <lb/>Augenkugel angewachſen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s2809" xml:space="preserve">Zieht ſich der obere Muskel zu-<lb/>ſammen, ſo zieht er das Auge, und es muß ſich mit der <lb/>vorderen Fläche nach oben drehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2810" xml:space="preserve">verkürzt ſich der untere <lb/>Muskel, ſo muß ſich der Blick ſenken.</s>
  <s xml:id="echoid-s2811" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2812" xml:space="preserve">Dieſe vier Muskeln werden die geraden Augenmuskeln ge-<lb/>nannt, weil ſie die Bewegung des Blickes nach den geraden <lb/>Richtungen rechts, links, oben und unten hervorbringen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2813" xml:space="preserve">um <lb/>aber dem Auge auch jede beliebige ſchiefe Stellung zu geſtatten, <lb/>ſind noch zwei beſondere Muskeln vorhanden, die jedoch ein <lb/>wenig feiner und berechneter angelegt ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s2814" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2815" xml:space="preserve">Sie ſind ebenfalls im tiefſten Hintergrund der Augenhöhle <lb/>angewachſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2816" xml:space="preserve">ſie gehen aber nicht direkt nach dem Auge, ſondern <lb/>machen einen merkwürdigen Umweg. </s>
  <s xml:id="echoid-s2817" xml:space="preserve">Der eine geht am Auge <lb/>ſchief nach oben vorüber, als wollte er nach der Naſe laufen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2818" xml:space="preserve">hier iſt nun ein feſtliegender, knorpeliger Ring, durch welchen <lb/>der Muskel hindurchgeht, ſo daß er im Ring eingefädelt iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2819" xml:space="preserve"><lb/>wie eine Schnur durch eine Rolle. </s>
  <s xml:id="echoid-s2820" xml:space="preserve">Nun wendet er ſich zurück <lb/>zur Augenkugel, woſelbſt er angewachſen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2821" xml:space="preserve">Verkürzt ſich <lb/>dieſer Muskel, ſo zieht er nicht das Auge ſchief und nach <lb/>hinten, ſondern im Gegenteil, er zieht das Auge nach der <lb/>Richtung des knorpeligen Ringes, alſo in ſchiefe Stellung und <lb/>nach vorn. </s>
  <s xml:id="echoid-s2822" xml:space="preserve">Ihm gegenüber liegt nun der andere ſchief liegende <lb/>Muskel, der eine gleiche Wirkung nach der entgegengeſetzten <lb/>Seite ausübt, wodurch man imſtande iſt, die Augenkugel nach <lb/>jeder beliebigen geraden und ſchiefen Richtung zu wenden und <lb/>zu rollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2823" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2824" xml:space="preserve">Der Zweck der Vorrichtung aber, in welcher die ſchief-
<pb o="84" file="0216" n="216"/>
liegenden Muskeln nicht von hinten her direkt aufs Auge wirken, <lb/>ſondern erſt durch einen ſeitwärts und nach vorn liegenden <lb/>Ring hindurchlaufen, iſt der, daß die Augenkugel bei An-<lb/>ſpannung der geraden Muskeln nicht nach hinten rücke; </s>
  <s xml:id="echoid-s2825" xml:space="preserve">denn <lb/>die Höhle, worin ſie liegt, iſt nur von Fett ausgepolſtert, das <lb/>ein wenig nachgiebt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2826" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2827" xml:space="preserve">Mit ſolcher Umſicht iſt dieſe angeborene Kamera-Obſcura <lb/>ausgeſtattet worden, um nach allen möglichen Richtungen hin <lb/>gewendet werden zu können, ſelbſt wenn wir den Kopf ſteif <lb/>halten oder gar nach einer anderen Richtung hin gewendet <lb/>haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s2828" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2829" xml:space="preserve">Intereſſant iſt noch bei der Bewegung des Auges Fol-<lb/>gendes.</s>
  <s xml:id="echoid-s2830" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2831" xml:space="preserve">Die Muskeln der Augenkugel, die von den Gehirnnerven <lb/>aus dirigiert werden und ſo nach unſerem Willen ſich zuſammen-<lb/>ziehen, ſind an beiden Augen gleich; </s>
  <s xml:id="echoid-s2832" xml:space="preserve">aber ſie ſind in ihrer <lb/>Thätigkeit ſo abgeſtimmt, daß eine gewiſſe Kreuzung ſtattfindet, <lb/>wodurch beide Augen ſtets nach gleicher Richtung blicken. </s>
  <s xml:id="echoid-s2833" xml:space="preserve">Es <lb/>geht auch in dieſer Beziehung mit den beiden Augen ſo, wie <lb/>mit zwei Pferden, die der Kutſcher vom Bock aus mit zwei <lb/>Leinen in den Händen regiert. </s>
  <s xml:id="echoid-s2834" xml:space="preserve">Die Leine, die er in der <lb/>rechten Hand hat, geht direkt zum rechten Gebiß des rechten <lb/>Pferdes, aber es geht auch von ihr am Nacken dieſes Pferdes <lb/>eine kürzere Kreuzlinie ab zum rechten Gebiß des linken Pferdes; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2835" xml:space="preserve">die Leine, die der Kutſcher in der linken Hand hält, geht eben <lb/>ſo zum linken Gebiß des linken, wie kreuzend zum linken <lb/>Gebiß des rechten Pferdes hin, ſo daß er mit jeder Leine beide <lb/>Pferde nach einer und derſelben Richtung lenkt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2836" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2837" xml:space="preserve">Der Kutſcher für unſere zwei Augen iſt unſer Gehirn; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2838" xml:space="preserve">die Stränge, womit unſere Augen gelenkt werden, ſind, wie <lb/>geſagt, die Muskeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s2839" xml:space="preserve">Nun iſt es zwar richtig, daß die Mus-<lb/>keln nicht unmittelbar mit dem Gehirn in Berührung ſtehen, <lb/>wie die Leinen mit der Hand des Kutſchers; </s>
  <s xml:id="echoid-s2840" xml:space="preserve">aber die Direktion
<pb o="85" file="0217" n="217"/>
der Muskeln durch die Nervenfäden iſt für die Augen ähnlich <lb/>ſo abgeſtimmt, wie die Kreuzleine des Kutſchers, und die <lb/>Muskeln beider Augen werden in demſelben Sinne gleichſeitig <lb/>zu ihren Zuſammenziehungen dirigiert, wie die Kreuzlinie eines <lb/>Pferdegeſpannes.</s>
  <s xml:id="echoid-s2841" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2842" xml:space="preserve">Darum richten wir, wenn wir das eine Auge nach dem <lb/>Schläfenwinkel drehen, das andere nach dem Naſenwinkel, <lb/>darum machen wir die Bewegungen des Auges gleichzeitig und <lb/>in gleicher Richtung, wodurch wir angewieſen ſind, mit beiden <lb/>Augen ſtets nach einem Gegenſtand zu ſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2843" xml:space="preserve">Dies iſt ein <lb/>Umſtand, der es bewirkt, daß beide Augen ſich gegenſeitig beim <lb/>Sehen unterſtützen und nicht hindern, was der Fall wäre, <lb/>wenn wir mit jedem Auge etwas anderes ſehen würden, wie <lb/>die Vögel, welche die Augen auf beiden Seiten des Kopfes <lb/>haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s2844" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2845" xml:space="preserve">Entſprechender noch iſt dieſe Kreuzung in den Sehnerven <lb/>ſelber, die wir noch näher kennen lernen werden, und die es <lb/>bewirkt, daß das Sehen mit beiden Augen uns nicht verwirrt, <lb/>ſelbſt wenn wir den Blick auf einen und denſelben Gegenſtand <lb/>richten.</s>
  <s xml:id="echoid-s2846" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2847" xml:space="preserve">Wir ſehen demnach, daß die mitgebrachte Kamera-Obſcura <lb/>nicht nur gut mit Lenkſeilen verſorgt iſt, ſondern auch mit <lb/>einem guten Kutſcher, der ſich vortrefflich auf die Behandlung <lb/>der Kreuzleine verſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s2848" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div75" type="section" level="1" n="68">
<head xml:id="echoid-head75" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXIV. Die Stellung der Augen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2849" xml:space="preserve">Die Stellung des Auges im Kopfe iſt ebenſo merkwürdig, <lb/>wie jeder Teil der Einrichtung desſelben; </s>
  <s xml:id="echoid-s2850" xml:space="preserve">denn dieſe Stellung <lb/>hat den beſtimmten Zweck, das Sehen mit beiden Augen nach <lb/>einem Punkte möglich zu machen, uns zugleich aber auch die
<pb o="86" file="0218" n="218"/>
Fähigkeit zu gewähren, mit jedem einzelnen Auge ein be-<lb/>deutendes Stück hinter uns über die Schulter ſehen zu können, <lb/>ſelbſt wenn wir den Kopf nicht rückwärts drehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2851" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2852" xml:space="preserve">Darin, daß das Auge ringsum von einem guten, ſtarken <lb/>Wall von Knochen umgeben iſt, liegt ein trefflicher Schutz, um <lb/>es vor Beſchädigungen zu bewahren. </s>
  <s xml:id="echoid-s2853" xml:space="preserve">Von oben deckt es ein <lb/>ſtarker Rand des Stirnknochens; </s>
  <s xml:id="echoid-s2854" xml:space="preserve">von der Mitte her das Naſen-<lb/>bein und von der Seite die Hervorragung an der Schläfen-<lb/>kante und des Backenknochens. </s>
  <s xml:id="echoid-s2855" xml:space="preserve">Das Auge liegt tief genug <lb/>zwiſchen dieſen vorſtehenden Wällen und Dämmen, daß man <lb/>ſich beim Fallen, Stoßen und Anrennen an einen Baum eher <lb/>das halbe Geſicht zerſchlagen und ſchinden, als das Auge <lb/>verletzen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s2856" xml:space="preserve">Nur an einer Stelle iſt eine Lücke in dieſen <lb/>Schutzmauern und zwar hart am Augenwinkel an der Schläfe; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2857" xml:space="preserve">hier ragt das Auge vor, und zwar unverkennbar zu dem Zweck, <lb/>um mit dem ſeitwärts gewendeten Auge durch dieſe Lücke ein <lb/>tüchtiges Stück rückwärts über die Schulter ſehen zu können.</s>
  <s xml:id="echoid-s2858" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2859" xml:space="preserve">Der Bereich unſeres Blickes iſt dadurch außerordentlich <lb/>nach rechts und links erweitert, ohne von ſeinem Hauptzweck, <lb/>nach vorn gerichtet zu ſein, irgend etwas zu verlieren.</s>
  <s xml:id="echoid-s2860" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2861" xml:space="preserve">Mit ſteifgehaltenem Kopfe können wir unſer Auge nicht ſo <lb/>erheben, daß es hoch über uns nach dem Himmel blicke oder <lb/>unter uns den Fußboden ſehe, wo unſere Füße ſtehen, wohl <lb/>aber vermögen wir nach rechts und links mehr als die Hälfte <lb/>des Umkreiſes zu überblicken. </s>
  <s xml:id="echoid-s2862" xml:space="preserve">Richten wir den Kopf aufwärts, <lb/>ſo vermögen wir bei gerader Haltung des Rückens nicht weiter <lb/>zu ſehen, als bis nach dem Scheitelpunkt am Himmel, während <lb/>wir bei Wendung des Kopfes nach rechts und links über die <lb/>Schultern weg rings um den ganzen Erdkreis zu blicken imſtande <lb/>ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s2863" xml:space="preserve">Dies rührt daher, daß wir ſeitwärts an den Schläfen jenen <lb/>hindernden Knochendamm nicht haben, den der Stirnrand über <lb/>unſerm Auge bildet. </s>
  <s xml:id="echoid-s2864" xml:space="preserve">Die Unterbrechung des Schutzdammes <lb/>an dieſer Stelle iſt alſo eine Erweiterung unſeres Geſichtskreiſes.</s>
  <s xml:id="echoid-s2865" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="87" file="0219" n="219"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2866" xml:space="preserve">Erwägt man dies aber ein wenig näher, ſo merkt man, <lb/>daß es nicht etwa abſichtslos oder zufällig ſo eingerichtet, <lb/>ſondern im vollen Sinne des Wortes zweckentſprechend iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2867" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2868" xml:space="preserve">Die hauptſächliche Richtung unſeres Blickes nach vorn <lb/>entſpricht dem Bau unſerer Beine, die zum Vorwärtsgehen <lb/>eingerichtet ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s2869" xml:space="preserve">Ein Gleiches findet auch bei allen Landtieren <lb/>ſtatt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2870" xml:space="preserve">Die Vögel, welche aufwärts fliegen, haben die Augen <lb/>ſo im Kopfe, daß ſie bei ihrem Fluge ebenſo gut nach oben <lb/>wie nach unten ſehen können; </s>
  <s xml:id="echoid-s2871" xml:space="preserve">die Augen der Vögel ſtehen an <lb/>zwei Seiten des Kopfes und ſind weder von oben her vom <lb/>Rande des Stirnknochens, noch von unten durch die Backen-<lb/>knochen gedeckt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2872" xml:space="preserve">Die Fiſche, die im Waſſer gleichfalls nicht bloß <lb/>vorwärts, ſondern aufwärts und abwärts ſteigend ſchwimmen, <lb/>haben ebenfalls die Stellung der Augen ſo, daß ſie die Richtung <lb/>ihrer Bewegungen nach allen Seiten mit Ausnahme der nach <lb/>rückwärts begünſtigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2873" xml:space="preserve">Die Tiere, die auf den feſten Grund und <lb/>Boden der Erde gebannt ſind, wie wir Menſchen, die weder nach <lb/>der Tiefe noch nach der Höhe Bewegungen zu machen haben, deren <lb/>Augen ſind ſo in den Kopf eingeſetzt, daß das Gebiet ihres <lb/>Blickes ſich nicht nach der Höhe und der Tiefe, ſondern nach <lb/>vorwärts, rechts und links und ein bedeutendes Stück nach <lb/>rückwärts ausdehnt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2874" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2875" xml:space="preserve">Tiere, die langgeſtreckte Leiber haben, ſo daß der Kopf vorn, <lb/>der Körper nicht unter, ſondern hinter demſelben iſt, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s2876" xml:space="preserve">B. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2877" xml:space="preserve">Pferde, Ochſen u. </s>
  <s xml:id="echoid-s2878" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s2879" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s2880" xml:space="preserve">, haben die Stellung der Augen noch weit <lb/>günſtiger als der Menſch, um zu ſehen, was hinter ihrem <lb/>langen Rücken vorgeht. </s>
  <s xml:id="echoid-s2881" xml:space="preserve">Das Pferd, das mit dem Kopf nach <lb/>vorn gerichtet geht, ſchlägt mit dem Schweif nach einer Bremſe, <lb/>die den Hinterſchenkel umſchwärmt, ſieht die Peitſche des <lb/>Kutſcher auf dem Lenkſitz des Wagens. </s>
  <s xml:id="echoid-s2882" xml:space="preserve">Die Stellung der <lb/>Augen iſt ſo, daß dieſelben die ganze Länge des Körpers <lb/>überwachen können, und dies iſt ebenfalls nur dadurch möglich, <lb/>daß am Augenwinkel an der Schläfe eine tiefere Lücke im
<pb o="88" file="0220" n="220"/>
Knochenrand der Augenhöhle iſt, welche dem vortretenden Auge <lb/>einen weiteren Blick rückwärts geſtattet als dem Menſchen, der <lb/>keinen Leib hinter ſich zu überwachen hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s2883" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2884" xml:space="preserve">Wie aber iſt es möglich, daß das Auge ſo weit ſeitwärts <lb/>zu blicken vermag, da doch die Linſe, das eigentlich optiſche <lb/>Inſtrument, tief im Auge liegt, und das, was am Auge her-<lb/>vorragt, nur die mit Waſſer gefüllte Vorkammer iſt?</s>
  <s xml:id="echoid-s2885" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2886" xml:space="preserve">Die Antwort auf dieſe Frage führt uns wieder auf die <lb/>Lehre von der Brechung der Lichtſtrahlen, auf welche wir uns <lb/>hier nicht, ohne weitläufig zu werden, einlaſſen können, nur ſo <lb/>viel dürfen wir unſeren Leſern verſichern, daß aus dieſer Lehre <lb/>von der Brechung des Lichtes mit aller Entſchiedenheit her-<lb/>vorgeht, wie gerade die Flüſſigkeit der Vorkammer, welche in <lb/>einer Wölbung vor der Linſe des Auges ſich befindet, die <lb/>Urſache iſt, daß Lichtſtrahlen, welche ſonſt die Linſe nicht ge-<lb/>troffen haben würden, jetzt ſo gebrochen werden, daß ſie ins <lb/>Auge gelangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2887" xml:space="preserve">Das Waſſer der Vorderkammer, wie die Wölbung <lb/>der vorderſten Glashaut des Auges ſpielt daher eine wichtige <lb/>Rolle bei der Erweiterung des Geſichtsfeldes. </s>
  <s xml:id="echoid-s2888" xml:space="preserve">Daher hat der <lb/>Fiſch im Waſſer eine flache Wölbung der glashellen Vorder-<lb/>haut, der Adler in der Luft dagegen eine außerordentlich hohe <lb/>Wölbung derſelben. </s>
  <s xml:id="echoid-s2889" xml:space="preserve">So iſt denn das Auge dem Element und <lb/>dem Berufe entſprechend ausgeſtattet und auch zugleich in den <lb/>Kopf eingeſetzt, ſo daß man ſagen muß, die unerreichbar <lb/>muſterhafte Kamera-Obſcura, die wir mitbringen, iſt uns auch <lb/>im Schädel außerordentlich wohl überlegt angebracht worden.</s>
  <s xml:id="echoid-s2890" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div76" type="section" level="1" n="69">
<head xml:id="echoid-head76" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXV. Die Nerventapete.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2891" xml:space="preserve">Wir haben bisher das Auge nur als bloße Kamera-<lb/>Obſcura betrachtet und uns mit der Wahrnehmung begnügt, daß
<pb o="89" file="0221" n="221"/>
dieſe Kamera-Obſcura viel beſſer, vorteilhafter, vorzüglicher, <lb/>zweckentſprechender gebaut, eingerichtet, verſorgt, geſchützt, gelenkt <lb/>und in ihren Beſtimmungsort eingeſetzt iſt, als man ſich’s nur <lb/>denken kann; </s>
  <s xml:id="echoid-s2892" xml:space="preserve">jetzt aber müſſen wir einen Schritt weiter gehen <lb/>und ſagen, daß das Auge als Kamera-Obſcura doch nur ein <lb/>unbedeutendes, untergeordnetes Werk iſt neben der Rolle, die <lb/>es in Wahrheit ſpielt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2893" xml:space="preserve">Ja, wir dürfen nicht vergeſſen, daß <lb/>uns mit der beſten Kamera-Obſcura in der Augenhöhle nicht <lb/>gedient iſt, ſobald nicht noch etwas da vorhanden iſt, wodurch <lb/>wir das verkehrte Bildchen, welches die Kamera dort hervor-<lb/>bringt, wahrnehmen können.</s>
  <s xml:id="echoid-s2894" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2895" xml:space="preserve">Auf dieſes Etwas, das ſo eigentlich erſt der wahre Wert <lb/>des Auges iſt, müſſen wir jetzt unſere Aufmerkſamkeit richten, <lb/>denn alles, was wir bisher kennen gelernt haben, iſt nur ein <lb/>optiſches Vorſpiel zum wirklichen Sehen, iſt nur die künſtliche <lb/>Zubereitung der Lichtſtrahlen, damit ſie fähig werden, von dem <lb/>eigentlichen Sehorgan wahrgenommen zu werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s2896" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2897" xml:space="preserve">Und dieſes Etwas iſt der Sehnerv.</s>
  <s xml:id="echoid-s2898" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2899" xml:space="preserve">Wir wollen uns vorerſt nur ganz oberflächlich mit dieſem <lb/>bekannt machen, da wir recht bald näher auf denſelben werden <lb/>eingehen müſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2900" xml:space="preserve">Zu dieſem Zweck wollen wir uns vorſtellen, <lb/>daß wir die Augenkugel eines weißen Kaninchens vor uns <lb/>haben, an welchem wir, wie bereits erwähnt, an der halb <lb/>durchſichtigen Hinterwand das umgekehrte Bildchen aller Gegen-<lb/>ſtände ſehen können, die ſich vor dem Auge befinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2901" xml:space="preserve">Denken <lb/>wir uns hierzu, daß wir das Kaninchen ebenfalls vor uns <lb/>haben, dem die Augenkugel aus der Augenhöhle herausgenommen <lb/>worden iſt, ſo iſt es keinem Zweifel unterworfen, daß auch jetzt <lb/>Licht in die offenſtehende Augenhöhle eindringt; </s>
  <s xml:id="echoid-s2902" xml:space="preserve">allein von <lb/>dieſem Licht hat das Kaninchen ſo wenig Empfindung, ſo wenig, <lb/>wie wir bei feſt verbundenen Augen nicht die mindeſte Em-<lb/>pfindung haben, wenn wir aus einem hellen in einen finſtern <lb/>Raum, oder umgekehrt gebracht werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s2903" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="90" file="0222" n="222"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2904" xml:space="preserve">Bleibt aber das volle wirkliche Tages- und Sonnenlicht, <lb/>das in die Augenhöhle des Kaninchens dringt, ganz ohne <lb/>Wirkung auf dasſelbe, ſo muß man ſich die Frage vorlegen, <lb/>was hat es denn dem Kaninchen genützt, als es früher die <lb/>unverletzte Kamera-Obſcura in der Augenhöhle ſitzen hatte, und <lb/>hierdurch dort ein Bildchen von der Welt draußen exiſtierte?</s>
  <s xml:id="echoid-s2905" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2906" xml:space="preserve">Die Antwort auf dieſe Frage giebt die Naturforſchung <lb/>mit vollſter Beſtimmtheit in folgendem.</s>
  <s xml:id="echoid-s2907" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2908" xml:space="preserve">Von dem Gehirn des Kaninchens geht bis zur Augenkugel <lb/>ein ziemlich dicker Nervenfaden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2909" xml:space="preserve">Dieſer Nervenfaden dringt in <lb/>die Kugel ein und breitet ſich dort tapetenartig an der innern <lb/>Hinterwand des Auges aus, ſo daß das Bildchen, welches wir <lb/>am Auge des Kaninchens ſehen, wirklich auf die hintere, äußerſt <lb/>merkwürdige Nerventapete fällt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2910" xml:space="preserve">Solange nun dieſe Nerven-<lb/>tapete, welche man wiſſenſchaftlich die Netzhaut des Auges <lb/>nennt, in Verbindung mit dem Gehirn ſteht, ſolange alſo der <lb/>Nervenfaden unverletzt iſt, ſolange hat das Gehirn eine <lb/>Empfindung und ein Bewußtſein von dem Bildchen, welches <lb/>auf der Nerventapete exiſtiert, und dieſes Empfinden des <lb/>Bildchens auf der Tapete nennt man eben: </s>
  <s xml:id="echoid-s2911" xml:space="preserve">Sehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2912" xml:space="preserve">Sobald <lb/>jedoch der Nervenfaden verletzt oder gar durchſchnitten iſt, <lb/>nützt das Bildchen in der Augenhöhle und auf der Nerven-<lb/>tapete zu gar nichts, wenn auch das Auge ſelbſt, die Kamera-<lb/>Obſcura, vollkommen unverletzt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2913" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2914" xml:space="preserve">Wie mit dem Kaninchen, ſo iſt es auch mit dem Menſchen <lb/>der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s2915" xml:space="preserve">Ein vom Gehirn ausgehender Nerv läuft in die <lb/>Hinterwand der Augenkugel hinein; </s>
  <s xml:id="echoid-s2916" xml:space="preserve">dort verwandelt ſich dieſer <lb/>Nerv in eine äußerſt merkwürdige Tapete, welche die Hinter-<lb/>wand inwendig austapeziert, ſo daß dieſe Tapete becherartig <lb/>den bereits bekannten Glaskörper einſchließt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2917" xml:space="preserve">Das Kamera-<lb/>Obſcura-Bildchen des Auges entfteht eben auf dieſer merk-<lb/>würdigen Nerventapete, und nur dadurch erfährt das Gehirn <lb/>durch den Nervenfaden, daß da draußen außerhalb des Auges
<pb o="91" file="0223" n="223"/>
und des Körpers Dinge vorhanden ſind, die dieſen Eindruck <lb/>auf die Nerventapete hervorbringen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2918" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2919" xml:space="preserve">Im vollen Sinne des Wortes muß man daher ſagen, <lb/>daß das Gehirn einen Nervenfaden als Boten ausſendet, um <lb/>ſich in einer Höhle, wo Licht von der Außenwelt eindringen <lb/>kann, kelchartig auszubreiten; </s>
  <s xml:id="echoid-s2920" xml:space="preserve">dieſer kelchartig ausgebreitete <lb/>Nerv findet an dieſer Stelle ein Werkzeug, welches ganz wie <lb/>unſere künſtliche Kamera-Obſcura iſt, alſo nur das Mittel, um <lb/>die Lichtſtrahlen von außen her zu einem Bildchen zu ordnen, <lb/>und zwar zu ordnen, damit die merkwürdige Nerventapete einen <lb/>richtigen und der Außenwelt entſprechenden Eindruck erhalte, <lb/>von welchem der Nervenfaden dem Gehirn Bericht zu er-<lb/>ſtatten hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s2921" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2922" xml:space="preserve">Wir ſehen hiernach, daß das, was wir bisher ſo ſehr am <lb/>Auge bewundert haben, doch nur ein dienſtbarer Teil jener <lb/>merkwürdigen Nerventapete iſt, für welche er das Licht von <lb/>außen her der Wirklichkeit entſprechend zu orduen hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s2923" xml:space="preserve">— Wenn <lb/>aber dieſer dienſtbare Teil ſchon ſo zweckentſprechend und <lb/>vorteilhaft nach allen Geſetzen der Lehre vom Licht, welche die <lb/>Menſchen durchforſcht haben, eingerichtet iſt, ſo haben wir <lb/>Urſache, zu ſchließen, daß in dieſer Nerventapete, von der wir <lb/>noch ſprechen werden, viel, unendlich viel ſteckt, was wir nicht <lb/>ahnen, und deren Vorzüglichkeit wir nur darum nicht zu <lb/>ſchätzen wiſſen, weil wir Menſchen noch nichts erfunden haben, <lb/>das dieſem vergleichbar wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s2924" xml:space="preserve">— Denn ſo ſind wir klugen <lb/>Menſchen einmal: </s>
  <s xml:id="echoid-s2925" xml:space="preserve">wir lernen durch neue Erfindungen immer <lb/>erſt begreifen, was wir von Alters her beſitzen, ohne es zu <lb/>verſtehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2926" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div77" type="section" level="1" n="70">
<head xml:id="echoid-head77" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXVI. Die Feinheit der Nerventapete.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2927" xml:space="preserve">Eine Deutlichkeit der Empfindung iſt nur dann möglich, <lb/>wenn man imſtande iſt, dem Gefühle nach mit Genauigkeit
<pb o="92" file="0224" n="224"/>
die Stelle zu beurteilen, wo irgend etwas auf unſere Haut <lb/>einwirkt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2928" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2929" xml:space="preserve">Dies aber iſt, wie wir ſogleich ſehen werden, bei unſerer <lb/>Haut durchaus nur in ſehr beſchränktem Grade der Fall.</s>
  <s xml:id="echoid-s2930" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2931" xml:space="preserve">Man hat über die ſehr verſchiedenartige Sicherheit unſerer <lb/>Hautempfindungen folgende intereſſante Verſuche gemacht.</s>
  <s xml:id="echoid-s2932" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2933" xml:space="preserve">Stellt man zwei Spitzen eines kleinen Zirkels einen und <lb/>einen halben Centimeter weit auseinander, und ſetzt beide <lb/>Spitzen auf den Nacken eines Menſchen und fragt ihn, was er <lb/>empfinde; </s>
  <s xml:id="echoid-s2934" xml:space="preserve">ſo wird er antworten, daß er einen Stich, aber nur <lb/>einen fühlt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2935" xml:space="preserve">Dies iſt ein Beweis, daß unſer Nacken ſo wenig <lb/>feines Gefühl hat, daß man nicht zwei Stiche von einem zu <lb/>unterſcheiden weiß, ſobald dieſelben nur einen halben Zoll weit <lb/>von einander entfernt ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s2936" xml:space="preserve">Erſt wenn man die Zirkelſpitzen <lb/>faſt einen ganzen Zoll weit auseinander ſtellt, erſt dann fühlt <lb/>man am Nacken, daß zwei verſchiedene Stellen geſtochen werden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2937" xml:space="preserve">An den Schenkeln, und zwar an den magern Stellen derſelben, <lb/>iſt das Gefühl noch weniger klar; </s>
  <s xml:id="echoid-s2938" xml:space="preserve">man muß die Zirkelſpitzen <lb/>mehr als anderthalb Zoll weit auseinander bringen, um beim <lb/>Stechen die Empfindung beider Stiche erkennbar zu machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2939" xml:space="preserve"><lb/>Am Rücken iſt die Haut ſo ſchwach im Unterſcheiden des Ein-<lb/>drucks, daß man den Zirkel bis über zwei Zoll öffnen muß, <lb/>um zwei Stiche empfindbar zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2940" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2941" xml:space="preserve">Dafür aber iſt man an anderen Teilen des Körpers bei <lb/>weitem beſſer dran. </s>
  <s xml:id="echoid-s2942" xml:space="preserve">A@ der Backe empfindet man ſchon beide <lb/>Spitzen des Zirkels, wenn er nur ein drittel Zoll geöffnet. </s>
  <s xml:id="echoid-s2943" xml:space="preserve">Am <lb/>Endteil der großen Zehe genügt ſchon ein viertel Zoll Ent-<lb/>fernung der Zirkelſpitzen von einander, um ſie zwiefach zu <lb/>empfinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2944" xml:space="preserve">An den Augenlidern iſt es ebenſo, an den Lippen <lb/>iſt das Gefühl noch feiner; </s>
  <s xml:id="echoid-s2945" xml:space="preserve">man unterſcheidet ſchon die zwei <lb/>Zirkelſpitzen, wenn ſie auch nur eine Linie, ein zwölftel Zoll <lb/>weit, auseinander ſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2946" xml:space="preserve">Das feinſte Gefühl ſitzt an der Taſt-<lb/>ſtelle des Zeigefingers und an der Zungenſpitze, wo eine halbe
<pb o="93" file="0225" n="225"/>
Linie Zwiſchenraum zwiſchen den zwei Zirkelſpitzen hinreicht, <lb/>um beide Spitzen empfinden zu laſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2947" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2948" xml:space="preserve">Denken wir uns nun, daß man die Empfindlichkeit einer <lb/>dazu eingerichteten Hautſtelle für Lichteindrücke außerordent-<lb/>lich groß machen könnte, ſo wird unſer Urteil über das, was <lb/>wir empfinden, ſtets davon abhängig ſein, daß wir genau <lb/>die Stellen, an welchen wir etwas empfinden, zu unterſcheiden <lb/>wiſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2949" xml:space="preserve">An Stellen, wo wir den Stich zweier Zirkelſpitzen als <lb/>Einen empfinden, wenn ſie auch zollweit von einander ab-<lb/>ſtehen, würden wir ein Zoll großes Bildchen der Kamera-<lb/>Obſcura als Licht, aber nicht als Bildchen empfinden, denn <lb/>zum Erkennen des Bildchens würde eben gehören, daß wir <lb/>jeden Teil desſelben an jeder Stelle richtig empfinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2950" xml:space="preserve">Man <lb/>könnte alſo nur jene Stellen zur Einwirkung der Licht-<lb/>empfindungen wählen, welche ein feines Unterſcheidungsgefühl <lb/>haben, und unſere künftige Erfindung würde beſtenfalls an eine <lb/>Fingerſpitze angebracht werden, da man die Zungenſpitze doch <lb/>zu anderen Dingen noch brauchen muß.</s>
  <s xml:id="echoid-s2951" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2952" xml:space="preserve">Da aber auch die Fingerſpitzen nur dann ein richtiges <lb/>Urteil von den Eindrücken gewähren, ſobald dieſe eine halbe <lb/>Linie weit von einander entfernt ſind, ſo wird von einer Em-<lb/>pfindung feiner Lichteindrücke gar nicht die Rede ſein können. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2953" xml:space="preserve">Eine mäßige Kamera-Obſcura, wie ſie unſere Photographen <lb/>brauchen, zeigt in üblicher Entfernung von vier Schritt unge-<lb/>fähr ein zwanzigmal kleineres Bild, und ſomit wird ein <lb/>Menſchengeſicht bei vier Schritt Entfernung von der Kamera-<lb/>Obſcura ſchon ein ſo großes Bildchen auf der matten Scheibe <lb/>und auch auf der lichtempfindlichen Fingerſpitze geben, daß man <lb/>über die einzelnen Teile des Geſichts ein ungefähres Urteil <lb/>hätte, und das wäre viel, ſehr viel, wäre ſchon eine ungeheuere <lb/>Erfindung. </s>
  <s xml:id="echoid-s2954" xml:space="preserve">Dagegen würde ſchon ein ganzer Menſch auf eine <lb/>Entfernung von vierzig Schritt unfühlbar werden, da das <lb/>Bildchen der Kamera durch dieſe Entfernung zu klein wird,
<pb o="94" file="0226" n="226"/>
um auf einer Fingerſpitze erkennbare, unterſcheidende Eindrücke <lb/>zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2955" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2956" xml:space="preserve">Vergleichen wir nun dieſe noch gar nicht gemachte, eigent-<lb/>lich ganz phantaſtiſche Erfindung mit dem wirklichen Auge, <lb/>oder richtiger: </s>
  <s xml:id="echoid-s2957" xml:space="preserve">vergleichen wir die ſchärfſte Empfindlichkeit einer <lb/>Fingerſpitze mit der Lichtempfindlichkeit unſerer Nerventapete <lb/>des Auges, ſo haben wir tauſendfältige Urſache, uns zu freuen, <lb/>daß wir nicht im Sehen auf künftige Menſchenerfindungen an-<lb/>gewieſen ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s2958" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2959" xml:space="preserve">Das Kamera-Obſcura-Bildchen in unſerm Auge iſt ſehr <lb/>klein. </s>
  <s xml:id="echoid-s2960" xml:space="preserve">Wenn der Leſer dieſes Buch, das er eben vor ſich hat, <lb/>circa 8 Zoll vom Auge entfernt, alſo in der natürlichen Leſe-<lb/>Entfernung hält, ſo entſteht in ſeinem Auge, und zwar auf <lb/>deſſen Nerventapete, ein Kamera-Obſcura-Bildchen von dieſem <lb/>Buche. </s>
  <s xml:id="echoid-s2961" xml:space="preserve">In dieſem Bildchen iſt eine ganze Zeile ſo klein, daß <lb/>ſie nur ein ſechſtel Zoll einnimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2962" xml:space="preserve">Da aber in einer Zeile an <lb/>fünfzig Buchſtaben ſtehen, ſo iſt jeder Buchſtabe auf der Nerven-<lb/>tapete des Auges nur ein dreihundertſtel Zoll breit, gleichwohl <lb/>ſehen wir nicht nur jeden Buchſtaben deutlich, ſondern wir <lb/>ſehen auch die gar nicht mitgerechneten Zwiſchenräume und <lb/>können ein 150mal feineres Haar deutlich erkennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2963" xml:space="preserve">Die Nerven-<lb/>tapete im Auge iſt alſo ſo fein in ihrer Empfindung, daß ſie <lb/>vom kleinſten, feinſten Bildchen, welches auf ihr entſteht, <lb/>richtigen Rapport zum Gehirn bringt, während unſere feinſte <lb/>Haut an den Fingerſpitzen irrig urteilt, ſobald die Eindrücke <lb/>nicht in halben Linien ({1/24} Zoll) von einander abſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2964" xml:space="preserve">Mit <lb/>einem Worte: </s>
  <s xml:id="echoid-s2965" xml:space="preserve">die Nerventapete iſt nachweisbar mindeſtens <lb/>tauſendmal feiner in Auffaſſung ihrer Empfindungen als die <lb/>Fingerſpitze!</s>
</p>
<pb o="95" file="0227" n="227"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div78" type="section" level="1" n="71">
<head xml:id="echoid-head78" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXVII. Die Beſchaffenheit der Nerven-Tapete.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2966" xml:space="preserve">Es iſt nicht ſowohl die Empfindlichkeit und Empfänglich-<lb/>keit für Lichteindrücke, welche die Nerventapete auszeichnet, die <lb/>die Hinterwand des Auges bildet, ſondern das Bewunderungs-<lb/>würdigere iſt, daß der Lichteindruck von jedem kleinſten Teilchen <lb/>dieſer Tapete abgeſondert und erkennbar bis zum Gehirn ge-<lb/>leitet wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s2967" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2968" xml:space="preserve">Eine feine, kleine Milbe, welche wir noch recht deutlich <lb/>ſehen können, iſt für unſer Auge in verſchiedenen Teilen er-<lb/>kennbar. </s>
  <s xml:id="echoid-s2969" xml:space="preserve">Wir unterſcheiden Kopf, Leib, Hinterteil und Füße <lb/>ſehr genau von einander. </s>
  <s xml:id="echoid-s2970" xml:space="preserve">Nun aber iſt dies nur dadurch der <lb/>Fall, weil auf der Hinterwand unſerer Augenkugel, wo der <lb/>Sehnerv ſich ausbreitet, ein verkehrtes Bildchen dieſer Milbe <lb/>ſtattfindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s2971" xml:space="preserve">Dieſes Bildchen iſt, wenn wir die Milbe in einem <lb/>Abſtand von acht Zoll vom Auge, alſo in der gewöhnlichen <lb/>Sehweite betrachten, an 216mal kleiner als die Milbe in Wirk-<lb/>lichkeit iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2972" xml:space="preserve">Die ganze Milbe nimmt alſo auf der Nerventapete <lb/>des Auges nur ein äußerſt feines Pünktchen ein. </s>
  <s xml:id="echoid-s2973" xml:space="preserve">Da wir aber <lb/>trotzdem die Teile der Milbe erkennen und ihre Gliederung <lb/>deutlich ſehen, ſo iſt es klar, daß von den feinſten Pünktchen <lb/>der Nerventapete eine Unzahl geſonderter Rapporte zum Ge-<lb/>hirn abgehen und auf dem engſten Raume alſo Vor-<lb/>richtungen vorhanden ſein müſſen, welche es verhindern, daß <lb/>wir nicht wie beim Taſten zwei nahe Eindrücke für einen ein-<lb/>zigen halten.</s>
  <s xml:id="echoid-s2974" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2975" xml:space="preserve">Man hat ſich unendliche Mühe gegeben, um dieſe Vor-<lb/>richtungen genauer kennen zu lernen, iſt jedoch bisher nicht <lb/>weiter gekommen, als bis zu einer ſorgfältigen Unterſuchung <lb/>des Baues der Nerventapete und zu wahrſcheinlichen Ver-<lb/>mutungen über die Art ihrer Wirkſamkeit.</s>
  <s xml:id="echoid-s2976" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2977" xml:space="preserve">Die Unterſuchungen hierüber von H. </s>
  <s xml:id="echoid-s2978" xml:space="preserve"><emph style="sp">Müller</emph> zeigen, daß <lb/>dieſe Tapete kurz nach dem Tode eines Tieres nur als eine
<pb o="96" file="0228" n="228"/>
weiche, äußerſt durchſichtige Schicht erſcheint, welche ſich kaum <lb/>von dem Glaskörper merkbar unterſcheidet. </s>
  <s xml:id="echoid-s2979" xml:space="preserve">Sie nimmt jedoch <lb/>ſchnell eine milchweiße Farbe an, die ſie kenntlicher macht, ohne <lb/>indeſſen dem bloßen Auge einen beſonderen Bau zu verraten. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s2980" xml:space="preserve">— Unterſucht man indeſſen die Schicht, welche man mit dem <lb/>Namen “Retina” (Ton auf der erſten Silbe) oder “Netzhaut” <lb/>bezeichnet, genauer durch die vorzüglichſten Vergrößerungs-<lb/>gläſer, ſo findet man ſie aus nicht weniger als fünf verſchiedenen <lb/>Schichten beſtehend, die ganz außerordentlich merkwürdige <lb/>Formen darbieten.</s>
  <s xml:id="echoid-s2981" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2982" xml:space="preserve">Die Hauptſchicht iſt faſernartig und ſieht wie eine Aus-<lb/>breitung und feine Verteilung des dicken Nervenfadens aus, <lb/>der vom Gehirn zum Auge geht. </s>
  <s xml:id="echoid-s2983" xml:space="preserve">Dieſe Schicht iſt nach hinten <lb/>zu von einer feinen Grenzſchicht umkleidet, die ein weniger <lb/>intereſſantes Gebilde zu ſein ſcheint. </s>
  <s xml:id="echoid-s2984" xml:space="preserve">Auf der Faſerſchicht aber <lb/>zeigen ſich drei eigentümliche Gebilde, denen man es anmerkt, <lb/>daß ſie etwas zu bedeuten haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s2985" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2986" xml:space="preserve">Daß all’ dies äußerſt fein und ungeheuer klein iſt, brauchen <lb/>wir nicht erſt nochmals zu ſagen, wenn wir daran erinnern, <lb/>daß man mit bloßem Auge auch nicht die leiſeſte Spur hiervon <lb/>ſieht, und alle Schichten nur wie ein ſehr feines, milchweißes <lb/>Häutchen erſcheinen. </s>
  <s xml:id="echoid-s2987" xml:space="preserve">Daß ferner die bisherigen Unterſuchungen <lb/>noch immer nicht als die letzten angeſehen werden dürfen, <lb/>werden unſere Leſer uns glauben, da es eine bekannte That-<lb/>ſache iſt, daß gerade in der Naturwiſſenſchaft ſich das Wort <lb/>bewahrheitet: </s>
  <s xml:id="echoid-s2988" xml:space="preserve">ſuchet, ſo werdet Ihr finden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2989" xml:space="preserve">Je mehr man <lb/>ſucht, je vorzüglicher die Mittel des Suchens, das Mikroſkop <lb/>und das Fernrohr, geworden ſind, deſto mehr hat man bisher <lb/>immer noch gefunden. </s>
  <s xml:id="echoid-s2990" xml:space="preserve">— Daß die nähere Unterſuchung das <lb/>Rätſel oft noch weiter verwickelt als löſt, davon überzeugt man <lb/>ſich, wenn man ſieht, wie die Naturwiſſenſchaft immer erſt mit <lb/>der fortſchreitenden Erkenntnis hinter die Größe der Auf-<lb/>gabe kommt, die ſie zu löſen ſucht. </s>
  <s xml:id="echoid-s2991" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<pb o="97" file="0229" n="229"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div79" type="section" level="1" n="72">
<head xml:id="echoid-head79" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXVIII. Einige Verſuche.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2992" xml:space="preserve">Aus der ſehr großen Reihe der Unterſuchungen über die <lb/>Beſchaffenheit der merkwürdigen Nerventapete wie der Ver-<lb/>ſuche über ihre Wirkungen wollen wir einige belehrende und <lb/>intereſſante Thatſachen in Kürze vorführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s2993" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2994" xml:space="preserve">Im Mittelpunkt der Nerventapete, dort, wo ſich die <lb/>Strahlen des Lichtes, das von außen eindringt, zum klarſten <lb/>Bildchen vereinigen, entſteht bald nach der Geburt des Menſchen <lb/>ein kleiner, gelber Fleck, der von einer feinen Falte umgeben <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s2995" xml:space="preserve">In der Mitte des Fleckes befindet ſich eine ſehr dünne <lb/>Stelle, die ſo ausſieht, als ob hier ein Loch wäre, was aber <lb/>keineswegs der Fall iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s2996" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s2997" xml:space="preserve">Die Unterſuchung hat gelehrt, daß an dem gelben Fleck <lb/>das ſchärfſte Sehen und das allerſchärfſte an der dünnen Stelle <lb/>ſtattfindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s2998" xml:space="preserve">Dieſe Wahrnehmung hat nun, wie ſich’s denken <lb/>läßt, Veranlaſſung gegeben, den Bau dieſer Stelle aufs ſorg-<lb/>fältigſte kennen zu lernen; </s>
  <s xml:id="echoid-s2999" xml:space="preserve">es ſind infolgedeſſen auch Unter-<lb/>ſchiede zwiſchen dieſen Stellen und dem übrigen Bau der <lb/>Nerventapete aufgefunden worden, die beſonders darin beſtehen, <lb/>daß dieſe Stelle faſt nur aus lichtempfindenden Stäbchen be-<lb/>ſteht, während die andern Gebilde der Netzhaut mehr zurück-<lb/>treten, was ſomit die große Rolle der Stäbchen für die Wahr-<lb/>nehmung des Lichtes beweiſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3000" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3001" xml:space="preserve">Die Nerventapete iſt auch von einem ſehr feinen Netz von <lb/>Adern durchwebt, denn ſie bedarf, wie jedes Gebilde des <lb/>Körpers, das zur Bewegung oder Empfindung dient, der Er-<lb/>nährung und Erneuerung durch das Blut. </s>
  <s xml:id="echoid-s3002" xml:space="preserve">Bei ſtarkem Blut-<lb/>andrang nach dem Kopfe kommt der Fall vor, daß ſolch ein <lb/>feines Blutgefäßchen an einer Stelle berſtet und ein wenig <lb/>Blut austreten läßt, welches das Sehen verhindert oder zu-<lb/>weilen nur momentweiſe ſtört, ſo daß der Patient vermeint,</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3003" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s3004" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s3005" xml:space="preserve">Volksbücher XIII.</s>
  <s xml:id="echoid-s3006" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="98" file="0230" n="230"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3007" xml:space="preserve">verwirrende Schattenbilder vor ſeinem Auge flimmern und <lb/>flattern zu ſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3008" xml:space="preserve">Die Augenheilkunde hat nicht wenig mit <lb/>Leidenden dieſer Art zu thun; </s>
  <s xml:id="echoid-s3009" xml:space="preserve">ſeitdem jedoch der Augenſpiegel <lb/>im Gebrauch iſt, hat man ein treffliches Mittel, dieſen Zuſtand <lb/>und ſeine Urſache zu unterſuchen, wie wir es bereits früher <lb/>unſern Leſern mitgeteilt haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s3010" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3011" xml:space="preserve">Durch einen leichten Verſuch kann man es dahin bringen, <lb/>daß man die Nerventapete des eigenen Auges ſehen und zu-<lb/>gleich das baumartige Netz der Adern darin wahrnehmen kann. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3012" xml:space="preserve">Wenn man im Finſtern ein brennendes Licht vor dem unbe-<lb/>weglich gehaltenen, offenen Auge ſchnell im Kreiſe herumbewegt, <lb/>und zwar derart, daß man das Licht bald vor dem Munde, <lb/>bald vor der Stirne vorüberführt, ſo glaubt man eine unendlich <lb/>große, lichte Scheibe vor ſich zu ſehen, in welcher baumartige, <lb/>dunkle Verzweigungen ihr Netz ausbreiten. </s>
  <s xml:id="echoid-s3013" xml:space="preserve">Man glaubt dieſes <lb/>außerhalb des Auges wahrzunehmen, während es nichts iſt, <lb/>als ein Reiz, der im Auge empfunden wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3014" xml:space="preserve">Die lichte Scheibe, <lb/>die man ſieht, iſt nur die im Auge vom kreiſenden Licht in <lb/>allen Teilen beleuchtete und deshalb gereizte Nerventapete; </s>
  <s xml:id="echoid-s3015" xml:space="preserve">das <lb/>dunkle, baumartige Netz, das man zu ſehen glaubt, iſt nur das <lb/>Gezweige der Adern, welche die Nerventapete durchziehen, die <lb/>dieſe Stellen vor dem Reiz des kreiſenden Lichtes ſchützen, und <lb/>die demnach als unbeleuchtete, dunkle Streifen im lichten Felde <lb/>erſcheinen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3016" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3017" xml:space="preserve">Die Erklärung dieſer Erſcheinung iſt eben ſo einfach wie <lb/>die Lehre, die man hieraus ziehen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s3018" xml:space="preserve">— Die Kinder wiſſen <lb/>es ſchon, daß man einen feurigen Kreis vor ſich ſieht, wenn <lb/>man einen glimmenden Span ſchnell im Kreiſe herumſchwingt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3019" xml:space="preserve">Der Kreis rührt nur daher, daß das lichte Bildchen des <lb/>glimmenden Spanes im Auge gleichfalls einen Kreis auf der <lb/>Nerventapete beſchrieben und dadurch einen Reiz auf dieſelbe <lb/>ausgeübt hat, der ſich nicht ſchnell verliert. </s>
  <s xml:id="echoid-s3020" xml:space="preserve">Ganz ſo, wie der <lb/>glimmende Span eine Kreislinie auf der Nerventapete gereizt
<pb o="99" file="0231" n="231"/>
hat, ganz ſo hat das herumfahrende, brennende Licht auf die <lb/>ganze Nerventapete den Reiz ausgeübt, der nicht ſofort ver-<lb/>ſchwindet, und deshalb haben wir einen den ganzen Geſichts-<lb/>kreis umfaſſenden Lichtreiz im Auge, welcher den Eindruck <lb/>einer lichten, ungeheuren Scheibe vor uns macht, auf welcher <lb/>nur die Streifen dunkel erſcheinen, welche im Auge wirklich <lb/>unbeleuchtet geblieben ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s3021" xml:space="preserve">— Die Lehre, die wir hieraus <lb/>entnehmen, iſt eben ſo einfach folgende: </s>
  <s xml:id="echoid-s3022" xml:space="preserve">Alles, was einen Reiz <lb/>auf die Nerventapete ausübt, ruft eine Lichterſcheinung in uns <lb/>hervor, deren Urſache wir außerhalb des Auges zu ſehen meinen, <lb/>ſelbſt, wenn ſie dort nicht exiſtiert. </s>
  <s xml:id="echoid-s3023" xml:space="preserve">Dies bewirkt es, daß ein <lb/>Schlag aufs Auge, der die Nerventapete reizt, den Eindruck <lb/>von Flammen macht, welche wir <emph style="sp">vor</emph> dem Auge zu ſehen <lb/>glauben, daß elektriſche Reize am Auge als Blitze <emph style="sp">vor</emph> dem-<lb/>ſelben erſcheinen, daß Fieberkranke, deren erhöhter Blutumlauf <lb/>einen verſtärkten Reiz im Gehirn und im Auge zugleich hervor-<lb/>bringt, phantaſtiſche Vorſtellungen bekommen und zugleich <lb/>phantaſtiſche Bilder wahrnehmen, die ſie wirklich vor ſich zu <lb/>ſehen glauben.</s>
  <s xml:id="echoid-s3024" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3025" xml:space="preserve">Weitere Verſuche haben gezeigt, daß unweit von dem er-<lb/>wähnten gelben Fleck, wo das ſchärfſte Sehen ſtattfindet, eine <lb/>Stelle in der Nerventapete iſt, die ganz unempfindlich iſt für <lb/>das Licht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3026" xml:space="preserve">— Es iſt dies die Stelle, wo der Augennerv herein-<lb/>tritt in die Augenkugel, um von da aus ſich als Tapete über <lb/>die Hinterwand zu verbreiten. </s>
  <s xml:id="echoid-s3027" xml:space="preserve">Da an dieſer Stelle die Faſer-<lb/>ſchicht vorhanden iſt und nur die weitern Schichten fehlen, ſo <lb/>hat man mit Recht hieraus den Schluß gezogen, daß die <lb/>Nervenfaſern allein nicht zum Sehen ausreichen, ſondern die <lb/>über die Faſerſchicht ausgebreiteten, weiteren Schichten, wie <lb/>wir bereits erwähnt haben, die eigentliche Lichtempfindlichkeit <lb/>beſitzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3028" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3029" xml:space="preserve">Man kann ſich durch einen ſehr einfachen Verſuch von der <lb/>Exiſtenz dieſer unempfindlichen Stelle im eigenen Auge über-
<pb o="100" file="0232" n="232"/>
zeugen; </s>
  <s xml:id="echoid-s3030" xml:space="preserve">zu dieſem Zweck ſetzen wir hier drei ſchwarze Punkte <lb/>her; </s>
  <s xml:id="echoid-s3031" xml:space="preserve">die wir durch a, b und c bezeichnen:</s>
  <s xml:id="echoid-s3032" xml:space="preserve"/>
</p>
<figure>
<variables xml:id="echoid-variables7" xml:space="preserve">a b c</variables>
</figure>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3033" xml:space="preserve">Der Leſer ſchließe das linke Auge und blicke mit dem <lb/>rechten Auge von ferne auf den Punkt a; </s>
  <s xml:id="echoid-s3034" xml:space="preserve">er wird nicht nur <lb/>dieſen, ſondern auch, ohne den Blick von a abzuwenden, die <lb/>beiden andern Punkte ſehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s3035" xml:space="preserve">nun aber bringe man das Buch <lb/>dem Auge langſam näher, wobei man ſtets nur auf den Punkt <lb/>a direkt ſieht, und man wird bald bemerken, daß der Punkt c <lb/>unſichtbar wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3036" xml:space="preserve">Fährt man fort, das Buch dem Auge zu <lb/>nähern, ſo wird der Punkt c wieder ſichtbar, während bald <lb/>bei weiterem Nähern der Punkt b verſchwindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s3037" xml:space="preserve">— Will man <lb/>den Verſuch mit dem linken Auge machen, ſo muß man das <lb/>rechte ſchließen, und den Blick auf den Punkt c, ſtatt auf den <lb/>Punkt a richten, und man wird dieſelben Erſcheinungen haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s3038" xml:space="preserve"/>
</p>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption8" xml:space="preserve">Fig. 7.</caption>
</figure>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3039" xml:space="preserve">Für Manche wird der Verſuch mit den drei Punkten die <lb/>beſchriebene Erſcheinung bequem demonſtrieren, Andere werden <lb/>diesbezüglich beſſer durch Benutzung der Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3040" xml:space="preserve">7 fahren, bei der <lb/>das kleine Kreuz mit dem rechten Auge nach Schluß des linken <lb/>anzublicken iſt: </s>
  <s xml:id="echoid-s3041" xml:space="preserve">das Verſchwinden des mächtigen, ſchwarzen <lb/>Fleckes, ſobald die Entfernung des Auges etwa 20 cm beträgt, <lb/>iſt hier höchſt auffallend.</s>
  <s xml:id="echoid-s3042" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="101" file="0233" n="233"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3043" xml:space="preserve">Der Grund hiervon liegt darin, daß, wenn man mit dem <lb/>rechten Auge auf den Punkt a (reſp. </s>
  <s xml:id="echoid-s3044" xml:space="preserve">auf das kleine Kreuz) <lb/>blickt, das Bild dieſes Punktes gerade in den gelben Fleck der <lb/>Nerventapete fällt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3045" xml:space="preserve">Unweit von dieſem Fleck nach der Naſe zu <lb/>iſt aber jene unempfindliche Stelle, nähert man nun das Buch <lb/>dem Auge, ſo fällt erſt das Bildchen des Punktes c auf dieſe <lb/>Stelle, und man ſieht ihn nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3046" xml:space="preserve">Bei weiterem Nähern des <lb/>Buches verläßt der Punkt c dieſe Stelle und wird wieder <lb/>ſichtbar, während das Bildchen des Punktes b (reſp. </s>
  <s xml:id="echoid-s3047" xml:space="preserve">der große <lb/>ſchwarze Fleck) dann auf die Stelle tritt und deshalb nicht ge-<lb/>ſehen wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s3048" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div80" type="section" level="1" n="73">
<head xml:id="echoid-head80" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXIX. Weshalb wir nicht verkehrt ſehen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3049" xml:space="preserve">Es wird ſich wohl ſchon jedem unſerer Leſer die Frage <lb/>aufgedrängt haben: </s>
  <s xml:id="echoid-s3050" xml:space="preserve">woher kommt es, daß wir die Gegenſtände <lb/>aufrecht und richtig ſehen, da wir ja eigentlich durch die Ein-<lb/>wirkung des Nerven nur jenes verkehrte Bildchen wahrnehmen, <lb/>welches auf der Nerventapete des Auges entſteht?</s>
  <s xml:id="echoid-s3051" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3052" xml:space="preserve">Dieſe Frage iſt ſeit der Zeit, daß man den wahren Bau <lb/>des Auges kennen gelernt hat, unendliche Male aufgeworfen <lb/>und mit größter Ausführlichkeit behandelt worden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3053" xml:space="preserve">Keine der <lb/>Antworten aber hat hingereicht, die Frage ein für allemal ab-<lb/>zuthun, weil es keine unumſtößlichen naturwiſſenſchaftlichen <lb/>Beweiſe giebt, durch welche Antworten und Erklärungen derart <lb/>über allen Zweifel erhoben werden können.</s>
  <s xml:id="echoid-s3054" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3055" xml:space="preserve">Die natürlichſte Erklärung dieſer Erſcheinung liegt unſeres <lb/>Erachtens in der Thatſache, daß wir die Welt nie anders als <lb/>mit unſern Augen geſehen haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3056" xml:space="preserve">Daraus, daß zufällig auf <lb/>der Netzhaut des Auges alle Bilder der erblickten Gegenſtände <lb/>auf dem Kopf ſtehen, folgt ja doch noch keineswegs, daß auch
<pb o="102" file="0234" n="234"/>
unſre <emph style="sp">Empfindung</emph> eine verkehrte ſein muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s3057" xml:space="preserve">Die Begriffe von <lb/>oben, unten, rechts und links entſtehen ja im Kinde erſt lange <lb/>Zeit, nachdem es ſehen und nach den Dingen greifen gelernt hat. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3058" xml:space="preserve">Die Erfahrung, daß die Dinge, von denen man ein Bildchen <lb/>im Auge empfindet, vor dem Auge und außerhalb desſelben <lb/>exiſtieren, dieſe Erfahrung machen wir ſchon in einem ſo frühen <lb/>Alter, daß wir uns in ſie ganz einleben und gar nicht mehr <lb/>wiſſen, daß hierbei etwas in unſerem Auge vorgeht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3059" xml:space="preserve">Da uns <lb/>aber dieſelbe Erfahrung vom Beginn unſeres wirklichen Sehens <lb/>und Urteilens an gelehrt hat, daß Dinge, deren Lichtſtrahlen <lb/>wir oben auf der Nerventapete empfinden, in Wahrheit außer-<lb/>halb des Auges und unten exiſtieren, daß ein Reiz, der links <lb/>auf unſere Nerventapete einwirkt, von außerhalb des Auges <lb/>herrührt und von rechts herkommt, und dieſe Erfahrung ſo <lb/>weit geht, daß wir ſehen, ohne zu wiſſen, was in unſerem <lb/>Auge hierbei vorgeht, ſo iſt es gar kein Wunder, daß wir <lb/>rechts, links, oben und unten nach der unausgeſetzten Erfahrung <lb/>beurteilen und nicht nach der Stellung des Bildchens auf unſerer <lb/>Nerventapete, an die wir ja ohnehin beim Sehen gar nicht <lb/>denken, ſelbſt wenn wir davon etwas wiſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3060" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3061" xml:space="preserve">Welche Rolle die Erfahrung und die Gewohnheit über-<lb/>haupt bei unſerem Auge ſpielt, das kann man durch mannig-<lb/>fache Beiſpiele zeigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3062" xml:space="preserve">Die Mikroſkope und die aſtronomiſchen <lb/>Fernröhre zeigen alle Gegenſtände verkehrt, ganz ſo wie die <lb/>Kamera-Obſcura. </s>
  <s xml:id="echoid-s3063" xml:space="preserve">In der erſten Zeit der Benutzung ſolcher <lb/>Inſtrumente verurſacht dies auch wirklich mannigfache Ver-<lb/>wirrung und Unſicherheit im Gebrauch; </s>
  <s xml:id="echoid-s3064" xml:space="preserve">bei weiterer Übung ge-<lb/>wöhnt ſich aber der Naturforſcher ſo daran, daß er alle Hand-<lb/>griffe ſo, wie ſie ſein Inſtrument erfordert, das heißt, verkehrt <lb/>macht, und bald geſchieht dies ohue alles Beſinnen, faſt möchte <lb/>man ſagen, ohne es zu merken. </s>
  <s xml:id="echoid-s3065" xml:space="preserve">Noch entſchiedener kann man <lb/>dies bei geübten Photographen bemerken, die ſich derart an das <lb/>verkehrte Bildchen der Kamera-Obſcura gewöhnen, daß ſie beim
<pb o="103" file="0235" n="235"/>
Photographieren die Begriffe von rechts, links, oben und unten <lb/>ganz anders faſſen als ſonſt im Leben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3066" xml:space="preserve">Ordnet ſich aber ſchon <lb/>in ſolchen Fällen die Anſchauung der Gewohnheit unter, ſo <lb/>muß dies um ſo mehr der Fall beim Gebrauch unſerer Augen <lb/>ſein, wo wir nie im Leben eine andere Erfahrung machen <lb/>und von der früheſten Kindheit an dieſe Art der Vorſtellungen <lb/>gewöhnt ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s3067" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3068" xml:space="preserve">Es ſpielt hierbei aber noch etwas eine Rolle, was wir <lb/>nicht außer acht laſſen wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3069" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3070" xml:space="preserve">Es iſt wahr, daß wir eigentlich nicht die Welt draußen <lb/>ſehen, ſondern nur die Empfindung derſelben durch das ver-<lb/>kehrte Bildchen auf der Nerventapete des Auges wahrnehmen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3071" xml:space="preserve">allein obgleich dies Bild verkehrt iſt, bewirkt doch die Bewe-<lb/>gung des Auges eine richtige Vorſtellung von oben und unten, <lb/>von rechts und links. </s>
  <s xml:id="echoid-s3072" xml:space="preserve">Wir haben nämlich bei der Bewegung <lb/>des Auges das richtige Gefühl, daß wir es bewegen, und <lb/>ebenſo haben wir von der Richtung, in welcher wir das Auge <lb/>bewegen, eine richtige Vorſtellung. </s>
  <s xml:id="echoid-s3073" xml:space="preserve">Wir wiſſen es ganz gut, <lb/>auch wenn wir die Augen ſchließen, ob wir ſie nach rechts oder <lb/>links, nach oben oder unten bewegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3074" xml:space="preserve">Nun aber haben wir <lb/>bereits unſern Leſern gezeigt, daß dieſe Bewegung des Auges <lb/>eigentlich nur ein Rollen oder Herumwälzen der Augenkugel <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3075" xml:space="preserve">Wollen wir das Auge aufwärts bewegen, ſo ziehen wir <lb/>den obern Augenmuskel zuſammen und richten ſo die vordere <lb/>Kugelfläche des Auges nach oben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3076" xml:space="preserve">Hierbei geht freilich die <lb/>hintere Fläche des Auges ſamt der Nerventapete abwärts; </s>
  <s xml:id="echoid-s3077" xml:space="preserve"><lb/>allein davon merken wir nichts. </s>
  <s xml:id="echoid-s3078" xml:space="preserve">Wir wiſſen nur, daß wir den <lb/>obern Muskel bewegen, daß wir die vordere Fläche nach oben <lb/>gerichtet haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s3079" xml:space="preserve">es iſt alſo ganz natürlich, daß wir alles, was <lb/>wir dadurch zu ſehen bekommen, als oben exiſtierend bezeichnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3080" xml:space="preserve"><lb/>Und da die Erfahrung von Jugend auf hiermit übereinſtimmt <lb/>ſo bilden ſich unſere Begriffe hiernach aus, und wir nennen <lb/>oben alles, was dort exiſtiert, was wir ſehen, wenn wir den
<pb o="104" file="0236" n="236"/>
oberen Augenmuskel bewegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3081" xml:space="preserve">Ganz ſo geht es uns mit rechts <lb/>und links und unten. </s>
  <s xml:id="echoid-s3082" xml:space="preserve">Wir ſpüren die Bewegung des Mus-<lb/>kels und die vordere Drehung des Auges, während wir von <lb/>der hintern entgegengeſetzten Drehung nichts merken; </s>
  <s xml:id="echoid-s3083" xml:space="preserve">es iſt alſo <lb/>ganz natürlich, daß wir die Gegenſtände, die wir zu ſehen be-<lb/>kommen, nicht nach der Richtung verſetzen, wohin wir die un-<lb/>ſpürbare Nerventapete drehen, ſondern nach der Gegend, wohin <lb/>wir den Muskel und die vordere Fläche des Auges ſich be-<lb/>wegend fühlen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3084" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3085" xml:space="preserve">Alle dieſe Erklärungen und noch viele andere haben <lb/>etwas für ſich; </s>
  <s xml:id="echoid-s3086" xml:space="preserve">möglicherweiſe wirken ſie zuſammen; </s>
  <s xml:id="echoid-s3087" xml:space="preserve">jedenfalls <lb/>aber iſt die Sache ganz richtig, auch wenn wir klugen <lb/>Menſchen es nicht erklären können; </s>
  <s xml:id="echoid-s3088" xml:space="preserve">denn es iſt wahr und die <lb/>Wiſſenſchaft lehrt es uns, daß eine größere Portion Scharfſinn <lb/>in der Augeneinrichtung des einfältigſten Kindes ſteckt, als in <lb/>allen Mikroſkopen, Fernröhren, Kamera-Obſcuren und allen <lb/>dicken Büchern all’ unſerer bisherigen Gelehrſamkeit.</s>
  <s xml:id="echoid-s3089" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div81" type="section" level="1" n="74">
<head xml:id="echoid-head81" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXX. Zwei Augen und ein Bild.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3090" xml:space="preserve">Giebt ſchon ein Auge ſo unendlich reichen Stoff zum Nach-<lb/>denken und Nachforſchen, ſo brauchen wir wohl nicht erſt zu <lb/>ſagen, daß die Exiſtenz von zwei Augen ein ganz beſonderer <lb/>Gegenſtand der Betrachtung iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3091" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3092" xml:space="preserve">Daß der Menſch und gleich ihm eine große Reihe von <lb/>Tieren mit zwei Augen verſorgt iſt, weiß jeder; </s>
  <s xml:id="echoid-s3093" xml:space="preserve">den Natur-<lb/>forſchern iſt es auch bekannt, daß es Tiere giebt, die mehr als <lb/>zwei Augen beſitzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3094" xml:space="preserve">Spinnen haben acht, Blutegel zehn <lb/>Augen, und wahrſcheinlich nicht zum Luxus, ſondern weil ſie <lb/>ihrer bedürfen, wenngleich wir nicht ſo klug ſind, ſagen zu <lb/>können, wozu dieſer Augenreichtum ihnen dient. </s>
  <s xml:id="echoid-s3095" xml:space="preserve">Jedoch Ge-
<pb o="105" file="0237" n="237"/>
ſchöpfe mit Einem Auge giebt es nicht, trotzdem es uns Menſchen <lb/>ſo ſcheint, als ob Ein Auge hinreichend wäre, ſeinen Zweck zu <lb/>erfüllen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3096" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3097" xml:space="preserve">Bedenkt man, daß es viele durch Erblinden einäugig ge-<lb/>wordene Menſchen giebt, die ganz gut im Leben fertig werden, <lb/>ſo möchte man in der That meinen, daß zwei Augen zwar das <lb/>Geſichtsfeld nach den Seiten hin erweitern, allein zum Sehen <lb/>ſelbſt unnötig wären. </s>
  <s xml:id="echoid-s3098" xml:space="preserve">Allein eine gründliche Unterſuchung <lb/>dieſes Themas hat bisher noch immer dahin geführt, daß dem <lb/>nicht ſo ſei.</s>
  <s xml:id="echoid-s3099" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3100" xml:space="preserve">Es herrſcht ein ſo inniges Zuſammengehören zwiſchen <lb/>beiden Augen, daß man ſie wie eine Zwillingsfrucht auf einem <lb/>Stengel betrachten kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s3101" xml:space="preserve">Wenn beide Früchte ſich ausgebildet <lb/>haben, dann kann eine davon genommen werden, ohne daß die <lb/>andere ſofort darunter leidet; </s>
  <s xml:id="echoid-s3102" xml:space="preserve">allein ehe ſie ausgebildet ſind, <lb/>beherrſcht ein gemeinſamer Trieb das Wachstum und die Bil-<lb/>dung beider, und die eine entſteht nicht, ſobald die andere zu <lb/>entſtehen verhindert iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3103" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3104" xml:space="preserve">Dieſes innige Zuſammengehören, das wir durch zwei <lb/>Früchte eines Triebes deutlich zu machen ſuchen, giebt ſich in <lb/>ſehr hohem Maße zu erkennen, und zwar durch gewöhnliche <lb/>Wahrnehmungen, wie durch tiefer gehende Betrachtungen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3105" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3106" xml:space="preserve">Die gewöhnliche Wahrnehmung, daß wir mit zwei Augen <lb/>dennoch einfach ſehen, iſt ſchon an ſich hinreichend darzuthun, <lb/>wie beide Augen ſich gegenſeitig im Sehen unterſtützen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3107" xml:space="preserve">Die <lb/>Thatſache aber, daß wir gezwungen ſind, mit beiden Augen <lb/>nach einem Gegenſtande hinzublicken, und nur künſtlich oder in <lb/>krankhaften Bildungen oder Zuſtänden ſchielen, dieſe Thatſache <lb/>zeigt, daß die Tendenz zum gleichen Sehen mit beiden Augen <lb/>im Bau der Augen, im Prinzip derſelben, wie man zu ſagen <lb/>pflegt, liegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3108" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3109" xml:space="preserve">Wie dies ſo ganz eigentümlich zuſtande kommt, haben wir <lb/>bereits bei der Bewegung der Augen durch die Muskeln er-
<pb o="106" file="0238" n="238"/>
wähnt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3110" xml:space="preserve">Die beiden Kamera-Obſcuren, die wir an beiden <lb/>Seiten des Kopfes beſitzen, ſind, wie bereits angegeben, ge-<lb/>wiſſermaßen wie ein Geſpann von zwei Pferden geleitet. </s>
  <s xml:id="echoid-s3111" xml:space="preserve">— <lb/>Hier haben wir es nicht ſowohl mit der Bewegung, ſondern <lb/>mit dem Sehen der Augen zu thun, und da müſſen wir uns <lb/>die Sache ein wenig deutlicher machen, obgleich dies nicht gar <lb/>leicht iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3112" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3113" xml:space="preserve">Wir müſſen nämlich unſere Leſer darauf aufmerkſam <lb/>machen, daß es mit den Augen anders iſt, als ſonſt mit Glie-<lb/>dern unſeres Leibes, die wir zweifach haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3114" xml:space="preserve">Wir haben z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3115" xml:space="preserve">B. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3116" xml:space="preserve">zwei Hände, zwei Füße u. </s>
  <s xml:id="echoid-s3117" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s3118" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s3119" xml:space="preserve">, und betrachten wir dieſe, ſo <lb/>finden wir eine Gleichheit in ihnen, welche man Symmetrie <lb/>nennt, aber nicht jene Gleichheit, welche man unter Harmonie <lb/>verſteht; </s>
  <s xml:id="echoid-s3120" xml:space="preserve">bei den Augen dagegen findet Symmetrie und Har-<lb/>monie zugleich ſtatt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3121" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3122" xml:space="preserve">Halten wir z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3123" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s3124" xml:space="preserve">die innere Fläche unſerer beiden Hände <lb/>neben einander, ſo ſehen wir an der rechten Hand den Daumen <lb/>rechts, an der linken Hand dagegen den Daumen links, an der <lb/>rechten Hand den kleinen Finger links, an der linken Hand <lb/>aber den kleinen Finger rechts. </s>
  <s xml:id="echoid-s3125" xml:space="preserve">Die Hände ſind gleich gebaut; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3126" xml:space="preserve">aber ſie haben eine entgegengeſetzte Lage ihrer Teile, das heißt, <lb/>ſie ſind ſymmetriſch, aber nicht harmoniſch. </s>
  <s xml:id="echoid-s3127" xml:space="preserve">Die Hände, und <lb/>ebenſo alle Doppelglieder unſeres Leibes, ſtehen ſo zu einander, <lb/>wie die nebenſtehenden zwei Halbringe (—), die nach ent-<lb/>gegengeſetzten Seiten gerichtet ſind, die man ſymmetriſch ge-<lb/>ordnet nennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3128" xml:space="preserve">Wollte man dieſe zwei Halbringe harmoniſch <lb/>geordnet haben, ſo müßte man ſie ſo (—(ſtellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3129" xml:space="preserve">— Und wie <lb/>die Stellung, ſo iſt auch die Wirkſamkeit der zweifachen Glieder <lb/>des Leibes; </s>
  <s xml:id="echoid-s3130" xml:space="preserve">ſie wechſeln mit einander ab, wie die Füße beim <lb/>Gehen, oder ſie unterſtützen einander, wie die Hände es thun <lb/>köunen, wobei ebenfalls nur ein Erſetzen der einen Hand mit <lb/>der andern, aber nicht das ganz gleiche Thun beider Hände <lb/>an einem Punkte möglich iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3131" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="107" file="0239" n="239"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3132" xml:space="preserve">Bei den Augen iſt es anders. </s>
  <s xml:id="echoid-s3133" xml:space="preserve">Ihr Bau und ihre Lage <lb/>iſt ſymmetriſch, aber ihre Bewegung, ihre Empfindung und <lb/>ihre Thätigkeit iſt zugleich harmoniſch.</s>
  <s xml:id="echoid-s3134" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3135" xml:space="preserve">Den ſymmetriſchen Bau der Augen merkt man leicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3136" xml:space="preserve">Der <lb/>Thränenwinkel des rechten Auges liegt links, der Thränen-<lb/>winkel des linken Auges liegt rechts; </s>
  <s xml:id="echoid-s3137" xml:space="preserve">der Schläfenwinkel des <lb/>rechten Auges iſt rechts, der Schläfenwinkel des linken Auges <lb/>links. </s>
  <s xml:id="echoid-s3138" xml:space="preserve">Auch die Muskeln zur Bewegung des Auges ſind ſym-<lb/>metriſch in Bau und Lage; </s>
  <s xml:id="echoid-s3139" xml:space="preserve">aber trotzdem wirken ſie in Har-<lb/>monie. </s>
  <s xml:id="echoid-s3140" xml:space="preserve">Wendet man das rechte Auge zum Thränenwinkel, ſo <lb/>muß man zugleich das linke Auge zum Schläfenwinkel richten. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3141" xml:space="preserve">Es drehen ſich demnach beide Augen zugleich nach links, wie <lb/>ſie ſich beide zugleich nach rechts drehen müſſen (ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s3142" xml:space="preserve">Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3143" xml:space="preserve">8 u. </s>
  <s xml:id="echoid-s3144" xml:space="preserve">9). </s>
  <s xml:id="echoid-s3145" xml:space="preserve"><lb/>Sie bewegen ſich, wie wir bereits früher gezeigt haben, trotz der <lb/>ſymmetriſchen Lage harmoniſch. </s>
  <s xml:id="echoid-s3146" xml:space="preserve">Eine noch tiefere Harmonie aber <lb/>liegt in der Empfindung und der Thätigkeit der Nerventapete, <lb/>wie dies höchſt ſinnreiche Verſuche und Forſchungen nachgewieſen <lb/>haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3147" xml:space="preserve">Wäre dies nicht der Fall, ſo würden wir nicht nur <lb/>ſtets Doppelbilder ſehen, ſondern wir würden zwei verſchiedene <lb/>Bilder von allen Gegenſtänden wahrnehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3148" xml:space="preserve">Um dies deutlich <lb/>zu machen, wollen wir folgendes Beiſpiel vorführen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3149" xml:space="preserve">Geſetzt, <lb/>wir ſehen das Bild einer großen Schlange vor uns, deren <lb/>Kopf rechts, deren Schwanz links liegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3150" xml:space="preserve">Von dieſer Schlange <lb/>haben wir ſowohl in unſerem rechten, wie in unſerem linken <lb/>Auge ein verkehrtes, kleines Bildchen, das wir eigentlich auf <lb/>der Nerventapete empfinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3151" xml:space="preserve">Aber wie liegt das Bildchen <lb/>dieſer Schlange in unſeren zwei Augen? </s>
  <s xml:id="echoid-s3152" xml:space="preserve">In unſerem rechten <lb/>Auge liegt der Kopf der Schlange nach unſerer Naſe, im linken <lb/>Auge liegt der Kopf der Schlange nach unſerer Schläfe hin. </s>
  <s xml:id="echoid-s3153" xml:space="preserve"><lb/>Wenn wir nun trotzdem nur eine Schlange wahrnehmen und <lb/>über die Lage ihres Kopfes nicht in Zweifel ſind, ſo kann <lb/>dies nur dadurch geſchehen, daß die Empfindung und Thätig-<lb/>keit der Nerventapete beider Augen nicht ſymmetriſch, ſondern
<pb o="108" file="0240" n="240"/>
harmonierend iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3154" xml:space="preserve">Die Nerventapete des rechten Auges an der <lb/>Naſenſeite muß harmonieren mit der Nerventapete des linken <lb/>Auges an der Schläfenſeite. </s>
  <s xml:id="echoid-s3155" xml:space="preserve">Dieſelbe Harmonie muß auch <lb/>zwiſchen der Nerventapete des linken Auges an der Naſenſeite <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0240-01a" xlink:href="fig-0240-01"/>
und der des rechten Auges an der Schläfenſeite ſtattfinden, <lb/>ſo daß neben der Symmetrie des Auges zugleich die Harmonie <lb/>in ihnen waltet.</s>
  <s xml:id="echoid-s3156" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div81" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0240-01" xlink:href="fig-0240-01a">
<caption xml:id="echoid-caption9" xml:space="preserve">Fig. 8.<lb/>Harmoniſche Bewegungen bei normalen Augen.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables8" xml:space="preserve">F D E</variables>
</figure>
</div>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption10" xml:space="preserve">Fig. 9.<lb/>Bewegungen bei ſchielenden Augen.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables9" xml:space="preserve">C A B</variables>
</figure>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3157" xml:space="preserve">Daß dem aber ſo iſt, das bewirken die Augennerven auf <lb/>ihrem Wege zum Gehirn. </s>
  <s xml:id="echoid-s3158" xml:space="preserve">Von jedem Auge geht ein Sehnerv <lb/>zum Gehirn; </s>
  <s xml:id="echoid-s3159" xml:space="preserve">aber auf dem Wege dahin kommen beide Nerven-<lb/>fäden zuſammen und kreuzen ſich ſcheinbar. </s>
  <s xml:id="echoid-s3160" xml:space="preserve">Lange Zeiten <lb/>wußte man nicht, wozu dies geſchieht; </s>
  <s xml:id="echoid-s3161" xml:space="preserve">neuere Unterſuchungen
<pb o="109" file="0241" n="241"/>
aber haben gelehrt, daß ſie ſich nicht wirklich kreuzen, ſondern <lb/>daß ſie ein Tauſchgeſchäft mit der Hälfte ihrer Faſern machen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3162" xml:space="preserve">Jeder der beiden Nervenfäden giebt dem andern die Hälfte <lb/>ſeiner Faſern ab, und zwar ſo, daß jeder Nerv den Eindruck <lb/>beider Augen zum Gehirn führt und ihn zu einem einzigen <lb/>geſtaltet; </s>
  <s xml:id="echoid-s3163" xml:space="preserve">und iſt dieſer Austauſch ſo, daß die harmoniſchen <lb/>Faſern aus beiden Augen ſtets zuſammen kommen, ſo iſt <lb/>ſcheinbar die Harmonie vollkommen erklärt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3164" xml:space="preserve">Genauere Unter-<lb/>ſuchungen haben indes ergeben, daß die Kreuzung der Faſern <lb/>beider Sehnerven allein nicht ausreicht, die Erſcheinung des <lb/>Einfachſehens zu erklären, daß vielmehr auch die Übung und <lb/>Gewohnheit daran ſtark beteiligt ſein müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3165" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div83" type="section" level="1" n="75">
<head xml:id="echoid-head82" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXI. Der Menſch wie er iſt — und was</emph> <lb/><emph style="bf">er erfindet.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3166" xml:space="preserve">Wir ſind bei Betrachtung des Auges wieder bis zu dem <lb/>Punkte gelangt, wo wir ſehen, wie das Werkzeug, das Auge, <lb/>von einer uns unbekannten Kraft, der Nerventhätigkeit, gelenkt <lb/>und geleitet, abgeſtimmt und zum beabſichtigten Zwecke benutzt <lb/>wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3167" xml:space="preserve">Da aber dieſe Kraft eine uns durchaus unerklärliche <lb/>iſt, da wir zwar durch zahlreiche Verſuche in ihre Wirkungen, <lb/>jedoch trotz aller Forſchung nicht eine Einſicht in ihr Weſen <lb/>erlangt haben, ſo müſſen wir bei Behandlung unſeres Themas <lb/>hier inne halten.</s>
  <s xml:id="echoid-s3168" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3169" xml:space="preserve">Was der Menſch erfindet, reicht auch nicht im aller-<lb/>entfernteſten an das heran, was der Menſch an merkwürdigen <lb/>Erfindungen ſchon mit zur Welt bringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3170" xml:space="preserve">Das haben wir im <lb/>allgemeinen und insbeſondere bei der Lunge, bei dem Herzen <lb/>und beim Auge zu zeigen verſucht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3171" xml:space="preserve">Es verſteht ſich nun <lb/>hierbei von ſelbſt, daß wir nur inſoweit den Vergleich an-
<pb o="110" file="0242" n="242"/>
ſtellen können, inſoweit es ſich um Dinge handelt, die der <lb/>Menſch genauer kennen gelernt hat, daß aber jeder Vergleich <lb/>aufhört, wo man auf jenes Gebiet der Nerventhätigkeit kommt, <lb/>das vorläufig ganz außer dem Bereich der menſchlichen Er-<lb/>kenntnis liegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3172" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3173" xml:space="preserve">Wir wollen alſo unſer Thema hiermit beſchließen, wollen <lb/>es aber mit einer Betrachtung thun, zu welcher uns gerade das <lb/>Auge ganz beſonders einladet.</s>
  <s xml:id="echoid-s3174" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3175" xml:space="preserve">Wer ſich ein Gehirn vorſtellt mit den aus demſelben <lb/>hervorgehenden Augennerven und den Augenkugeln, die daran <lb/>wie zwei Früchte hängen, wer hierzu den ganz beſtimmten <lb/>Zweck des Auges bedenkt, das zu nichts zu gebrauchen iſt als <lb/>zum Sehen, dem drängen ſich ganz eigentümliche Gedanken <lb/>auf; </s>
  <s xml:id="echoid-s3176" xml:space="preserve">denn am Auge nimmt man es ſo recht wahr, wie es <lb/>nichts als ein Werkzeug der Nerven iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3177" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3178" xml:space="preserve">Die Lunge iſt ein ſogenannter edler Teil des Leibes, das <lb/>heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s3179" xml:space="preserve">ihre Thätigkeit iſt zum Leben der ganzen menſchlichen <lb/>Maſchinerie notwendig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3180" xml:space="preserve">Das Herz iſt dies in noch höherem <lb/>Grade, denn es darf noch weniger pauſieren als die Lunge. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3181" xml:space="preserve">Das Auge dagegen hat mit der lebenden Maſchine des Menſchen <lb/>nicht direkt etwas zu thun. </s>
  <s xml:id="echoid-s3182" xml:space="preserve">Blindgeborene und Erblindete <lb/>leben fort; </s>
  <s xml:id="echoid-s3183" xml:space="preserve">ihre innere Maſchinerie erleidet durch ihren Mangel <lb/>des Augenlichtes keine Störung. </s>
  <s xml:id="echoid-s3184" xml:space="preserve">Das Auge hat alſo nur für <lb/>den ganz eigentümlichen Sehnerven, an dem es wie eine Frucht <lb/>wächſt, eine wirkliche, direkte Bedeutung und dient erſt ver-<lb/>mittelſt des Gehirns indirekt dem ganzen Körper.</s>
  <s xml:id="echoid-s3185" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3186" xml:space="preserve">Wir haben die Kamera-Obſcura bisher im Vergleich mit <lb/>dem Auge ein wenig verächtlich behandelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3187" xml:space="preserve">Verſuchen wir nun, <lb/>ob wir ihr nicht eine beſſere Seite abgewinnen können.</s>
  <s xml:id="echoid-s3188" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3189" xml:space="preserve">Eine bloße Nachahmung des Auges iſt ſie nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3190" xml:space="preserve">Die <lb/>Kamera-Obſcura iſt erfunden worden, ohne daß man ahnte, <lb/>daß ſie eine alte, ſehr alte Einrichtung iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3191" xml:space="preserve">Es iſt vielmehr <lb/>dieſe Erfindung, wie jede menſchliche Erfindung, auch gewachſen
<pb o="111" file="0243" n="243"/>
und zwar ſehr langſam gewachſen, und auf einem Boden, der <lb/>dem Heimatsboden der natürlichen Kamera-Obſcura, der dem <lb/>Heimatsboden des Auges gar nicht ſo fremd iſt, wie man <lb/>meinen ſollte.</s>
  <s xml:id="echoid-s3192" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3193" xml:space="preserve">Dieſe Erfindung iſt mit der Menſchheit gewachſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3194" xml:space="preserve">Die <lb/>Phönizier haben — ſo ſagt man — das Glas erfunden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3195" xml:space="preserve">Neuer-<lb/>dings fand man unter den Trümmern des alten Ninive eine <lb/>Glaslinſe, die zu einem optiſchen Gebrauch gedient haben muß. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3196" xml:space="preserve">Die Spuren der weiteren Geſchichte dieſer Erfindung ſind ſchwer <lb/>aufzuſpüren; </s>
  <s xml:id="echoid-s3197" xml:space="preserve">aber das iſt wahr und unumſtößlich: </s>
  <s xml:id="echoid-s3198" xml:space="preserve">der Italiener <lb/>Porta, der die Kamera-Obſcura wirklich zuſammengeſtellt, hat <lb/>nur den Schlußſtein dieſer Erfindung gemacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3199" xml:space="preserve">Die Kamera-<lb/>Obſcura iſt wirklich auch gewachſen, zugleich gewachſen mit <lb/>der Menſchheit, ähnlich wie ein Auge mit dem Menſchen <lb/>gleichzeitig im Mutterſchoße wächſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3200" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3201" xml:space="preserve">Und ſehen wir uns nur einmal den Boden an, wo die <lb/>Erfindungen der Menſchen wachſen, ſo merken wir, daß auch <lb/>hier das Gehirn die Hauptſtätte iſt, in der ſie wurzeln, freilich <lb/>nicht am Stoff des Gehirns, aber doch jedenfalls an der <lb/>geiſtigen Thätigkeit derſelben; </s>
  <s xml:id="echoid-s3202" xml:space="preserve">freilich nicht an Nervenfäden, <lb/>aber doch an den geiſtigen Fäden der Naturbetrachtung, der <lb/>Naturbeobachtung und der Naturbenutzung, freilich nicht als <lb/>ſichtbare Frucht, aber doch als geiſtige Frucht, welcher die <lb/>ſchönſte Blüte, die Blüte der Erkenntnis, vorangeht.</s>
  <s xml:id="echoid-s3203" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3204" xml:space="preserve">In dieſem Sinne betrachtet, iſt die Kamera-Obſcura, <lb/>dieſes ſchwache Nachbild des Auges, wirklich eine Frucht, <lb/>ähnlich erwachſen wie das Auge ſelber, erwachſen im geiſtigen <lb/>Mutterſchoß der Menſchheit, wo gar Vieles, Vieles wächſt, <lb/>was wir Menſchen Erfindungen nennen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3205" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="112" file="0244" n="244"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div84" type="section" level="1" n="76">
<head xml:id="echoid-head83" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXII. Schlußbetrachtung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3206" xml:space="preserve">Nachdem wir unſern Leſern vom Leben, ſeiner Entſtehung, <lb/>ſeinen Erſcheinungen und ſeinen Leiſtungen ein flüchtiges Bild <lb/>vorgeführt haben, wollen wir noch zum Schluß eine Frage <lb/>berühren, die zwar weit in die Zukunft hinausreicht, die ſich <lb/>aber uns aufdrängt, je mehr wir zur Überzeugung gelangen, <lb/>daß der Menſch ein Weſen geiſtiger Art iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3207" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3208" xml:space="preserve">Gliche der Menſch dem Tier, das mit angeborenen Fertig-<lb/>keiten ins Leben tritt, um nach einer unabwendbaren Natur-<lb/>vorſchrift zu wachſen, ſich zu vermehren und zu ſterben, ſobald <lb/>das Daſein ſeiner Nachkommenſchaft geſichert iſt, ſo würden <lb/>wir uns jeder Frage über die Zukunft des Menſchengeſchlechts <lb/>zu entſchlagen haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3209" xml:space="preserve">Wir würden, wenn der Menſch dem <lb/>Tiere gleich wäre, ebenſowenig zu fragen brauchen: </s>
  <s xml:id="echoid-s3210" xml:space="preserve">wie wird <lb/>der Menſch nach Millionen Jahren auf Erden ſein? </s>
  <s xml:id="echoid-s3211" xml:space="preserve">ſo wenig <lb/>wir jetzt zu fragen brauchen, wie irgend ein Tier dann ſein <lb/>wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3212" xml:space="preserve">— Die Biene iſt ſeit Jahrtauſenden nicht reicher an <lb/>Einſicht geworden, obwohl ſie eine wunderbare Kunſt ausübt; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3213" xml:space="preserve">wir haben deshalb auch gar keinen Grund anzunehmen, daß <lb/>dieſelbe nach Millionen von Jahren weiter ſein werde, als ſie <lb/>es heute iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3214" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3215" xml:space="preserve">Der Menſch aber gleicht nicht dem Tiere. </s>
  <s xml:id="echoid-s3216" xml:space="preserve">— Wenn der <lb/>Staub eines abgelebten Geſchlechts zum Staube zurückkehrt, <lb/>iſt der Geiſt des geſtorbenen Geſchlechts nicht geſtorben, ſondern <lb/>er lebt fort im überlebenden Geſchlecht, das die Einſicht der <lb/>vergangenen Zeiten in ſich aufnimmt, den Umfang der Er-<lb/>kenntnis in ſich erweitert und das erweiterte Gebiet als einen <lb/>geiſtigen Schatz bereichert auf das kommende Geſchlecht überträgt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3217" xml:space="preserve">— Die Menſchheit iſt ſo weit fortgeſchritten, daß die Weiſeſten <lb/>der alten und der neuen Zeit, wenn ſie aus den Gräbern auf-<lb/>ſtänden, unendlich viel zu lernen hätten, wollten ſie dem jetzigen
<pb o="113" file="0245" n="245"/>
Geſchlecht an Erkenntnis gleichkommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3218" xml:space="preserve">Nicht nur Ptolemäus, <lb/>ſondern auch Kopernikus, Newton, Halley, Bradley, Laplace, <lb/>Beſſel und alle anderen würden reichhaltige Neuigkeiten von <lb/>Entdeckungen und Erfindungen der Wiſſenſchaft anſtaunen, wenn <lb/>ſie jetzt wieder lebend unter uns treten würden.</s>
  <s xml:id="echoid-s3219" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3220" xml:space="preserve">Iſt dem aber ſo, und hat der Naturforſcher gerade Ver-<lb/>anlaſſung anzunehmen, daß dieſer Fortſchritt des Geiſtes <lb/>ebenſo ein Naturgeſetz ſei, wie die ewige Wiederholung der <lb/>Tiergeſchlechter ohne geiſtigen Fortſchritt von Naturgeſetzen <lb/>herrührt, ſo kann man ſich der Frage nicht entſchlagen: </s>
  <s xml:id="echoid-s3221" xml:space="preserve">wo <lb/>hinaus wird der Forſchergeiſt der Menſchheit noch dringen? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3222" xml:space="preserve">läßt ſich der Weg des Geiſtes bezeichnen? </s>
  <s xml:id="echoid-s3223" xml:space="preserve">läßt ſich das <lb/>Ziel des Geiſtes jetzt erkennen? </s>
  <s xml:id="echoid-s3224" xml:space="preserve">iſt der Menſch geeignet, <lb/>eine weit höhere Stufe der Bildung anzunehmen? </s>
  <s xml:id="echoid-s3225" xml:space="preserve">oder <lb/>werden andere Weſen einmal entſtehen, die beſſer ausgerüſtet <lb/>ſind, um höhere Stufen der geiſtigen Entwickelung zu erſteigen <lb/>als der Menſch, der jetzt als höchſtes Geſchöpf auf der Erde <lb/>wandelt?</s>
  <s xml:id="echoid-s3226" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3227" xml:space="preserve">Fragen dieſer Art darf die Naturwiſſenſchaft nicht zurück-<lb/>weiſen, wenn ſie ſich auch weit entfernt halten muß von dem <lb/>Wahn, ſie jetzt ſchon beantworten zu können.</s>
  <s xml:id="echoid-s3228" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3229" xml:space="preserve">Wir unſererſeits wollen das Wenige, das hierüber geſagt <lb/>werden kann, als Schluß unſeres Themas hinſtellen, eines <lb/>Themas, in welchem wir freilich mehr Anregungen als Löſungen <lb/>zu geben vermocht haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s3230" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3231" xml:space="preserve">Das Ziel des geiſtigen Fortſchrittes der Menſchheit iſt <lb/>unbeſtimmbar. </s>
  <s xml:id="echoid-s3232" xml:space="preserve">Eine dunkle Ahnung hat den älteſten Denkern, <lb/>Dichtern und Politikern, die, ſo lange ſie lebten und wirkten, <lb/>von der herrſchenden Macht für Volksverführer ausgegeben <lb/>und lange nach ihrem Tode als “Propheten” verehrt wurden <lb/>— eine dunkle Ahnung dieſer Weiſen ihrer Zeit hat das Ziel <lb/>der menſchlichen Entwickelung in der einſtigen Verſittlichung der <lb/>Menſchheit geſehen, und in einer Verbreitung der Erkenntnis</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3233" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s3234" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s3235" xml:space="preserve">Volksbücher XIII.</s>
  <s xml:id="echoid-s3236" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="114" file="0246" n="246"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3237" xml:space="preserve">über die ganze Erde, in welcher die Weisheit dieſe bedecken <lb/>wird, “wie die Gewäſſer den Meeresabgrund überdecken.</s>
  <s xml:id="echoid-s3238" xml:space="preserve">”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3239" xml:space="preserve">Es liegt eine tiefe Wahrheit in ſolcher Ahnung, obgleich <lb/>ſie unbeſtimmt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3240" xml:space="preserve">Denn Verſiltlichung und Erkenntnis, <lb/>Läuterung der menſchlichen Neigungen und Erleuchtung des <lb/>menſchlichen Geiſtes iſt unzweifelhaft die nächſte erkennbare <lb/>Aufgabe des Menſchendaſeins, durch welche der Menſch ſeines <lb/>Vorranges vor dem Tiere würdig wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s3241" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3242" xml:space="preserve">Als Weg zu dieſem Ziel ſind zunächſt nur zwei Richtungen <lb/>in der Gegenwart erkennbar. </s>
  <s xml:id="echoid-s3243" xml:space="preserve">Die eine iſt eine freie, von <lb/>veralteten Dogmen ſich losſagende Religioſität; </s>
  <s xml:id="echoid-s3244" xml:space="preserve">die andere iſt <lb/>fortſchreitende Richtung der Naturwiſſenſchaften. </s>
  <s xml:id="echoid-s3245" xml:space="preserve">— Beide Wege <lb/>ſind gegenwärtig, wenn auch teilweiſe getrennt von einander, <lb/>doch weit verbreitet in der gebildeten Menſchheit. </s>
  <s xml:id="echoid-s3246" xml:space="preserve">Wir glauben <lb/>aber ſagen zu dürfen, daß der nächſte große Reformator in <lb/>beiden Richtungen vereint wirken und auf dieſem zuſammen-<lb/>gehörigen Gebiete auch eine für Verſittlichung und Erleuchtung <lb/>empfängliche Zeit vorfinden werde.</s>
  <s xml:id="echoid-s3247" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb file="0247" n="247"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div85" type="section" level="1" n="77">
<head xml:id="echoid-head84" xml:space="preserve"><emph style="bf">Kleine Kräfte und große Wirkungen.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head85" xml:space="preserve"><emph style="bf">I.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3248" xml:space="preserve">Wenn der Sturm den Wald durchtobt und mächtige Bäume <lb/>entwurzelt und umſtößt, ſo erſcheint er uns als eine mächtige <lb/>Naturkraft, weil wir den Sturm nach dem Maßſtab der <lb/>geringen Kraft ſchätzen, welche unſer ſchwacher Arm dagegen <lb/>auszuüben vermag. </s>
  <s xml:id="echoid-s3249" xml:space="preserve">— Wir beachten hierbei nicht, daß es auch <lb/>eine Naturkraft war, die den Baumſtamm gar ſo mächtig <lb/>heranwachſen ließ. </s>
  <s xml:id="echoid-s3250" xml:space="preserve">Wir laſſen die ungeheure Summe der <lb/>Einzelkräfte unbeachtet, die den umgeſtürzten Stamm aus einem <lb/>kleinen, ſchwachen Keime zu einem Rieſenbaume herangebildet <lb/>haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s3251" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3252" xml:space="preserve">Aus dieſem Beiſpiel können wir ſo recht entnehmen, wie <lb/>wir in unſeren alltäglichen Anſchauungen nur diejenigen Prozeſſe <lb/>in der Natur als Kraft auffaſſen, die in plötzlichen Impulſen <lb/>wirkſam ſind, und wie von einer willkürlich angefachten Macht <lb/>überraſchend und erſchreckend eintreten, daß wir dagegen die <lb/>Summe der kleinen und kleinſten Kräfte ungeſchätzt an uns <lb/>vorüberziehen laſſen, in welchen in Wahrheit die wirkliche <lb/>Kraft der Natur beſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s3253" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3254" xml:space="preserve">Im allgemeinen kann man den Unterſchied dieſer Schätzung <lb/>der Naturkraft dahin bezeichnen, daß uns nicht die aufbauende, <lb/>ſondern die zerſtörende Wirkſamkeit der Naturprozeſſe als <lb/>Kraft erſcheint. </s>
  <s xml:id="echoid-s3255" xml:space="preserve">Wir ſprechen von der Kraft des Erdbebens,
<pb o="116" file="0248" n="248"/>
von der Gewalt des Sturzbachs, von der Wirkung der ſtürzenden <lb/>Lawine, von der Mächtigkeit des Cyklonenſturmes, die alle <lb/>das ruhig wirkende Naturleben durchbrechen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3256" xml:space="preserve">Es erſcheint in <lb/>der gewöhnlichen Anſchauung das in Ruhe wirkende Natur-<lb/>daſein als kraftlos und nur dasjenige mit Kraft ausgeſtattet <lb/>zu ſein, was zerſtörend und vernichtend dem regelrechten Lauf <lb/>der Natur entgegenwirkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3257" xml:space="preserve">Man darf ſich daher nicht wundern, <lb/>wenn die von dichteriſchen Anſchauungen erfüllten alten Völker <lb/>gerade in den zerſtörenden Eingriffen der Naturerſcheinungen <lb/>eine willkürliche Götterkraft erblickten. </s>
  <s xml:id="echoid-s3258" xml:space="preserve">Der oberſte der Götter <lb/>mußte ein Donnerer ſein, der den Blitz mit ſeiner Hand herab <lb/>auf die Erde ſchleudert. </s>
  <s xml:id="echoid-s3259" xml:space="preserve">Der Sturm mußte ein Gott ſein, <lb/>der aus der Höhle herausfährt, über Feld und Wald Ver-<lb/>nichtung bereitet, der Sturzwellen im Meer auftürmt und die <lb/>Schiffe des ohnmächtigen Menſchengeſchlechtes im Zorn <lb/>zertrümmert. </s>
  <s xml:id="echoid-s3260" xml:space="preserve">— Auf dieſen Vorſtellungen gründete ſich die <lb/>Furcht vor den Göttern, welche die Baſis der ſogenannten <lb/>Gottesfurcht bildet. </s>
  <s xml:id="echoid-s3261" xml:space="preserve">Neben den gefürchteten Göttern, vor deren <lb/>Kraft man zitterte; </s>
  <s xml:id="echoid-s3262" xml:space="preserve">ſtellte ſich dann auch die Verehrung und <lb/>das Anbeten der Götter ein, welche wohlthätig in der Natur <lb/>zu wirken ſchienen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3263" xml:space="preserve">Ein klarer Himmelsdom, von dem die <lb/>Wolken verſcheucht waren, das Aufſtrahlen des Mondes und <lb/>das Leuchten der Sterne verleiteten zu der Götterverehrung, <lb/>durch welche man vermeinte, die Gunſt der himmliſchen Mächte <lb/>erringen zu können.</s>
  <s xml:id="echoid-s3264" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3265" xml:space="preserve">All’ dieſe Mißverſtändniſſe über das Verhältnis des <lb/>Menſchen zu der Natur wurden wachgerufen durch die irrige <lb/>Vorſtellung über die Macht der Naturkräfte. </s>
  <s xml:id="echoid-s3266" xml:space="preserve">So lange man <lb/>die Kraft nach dem Maßſtab der zerſtörenden und vernichtenden <lb/>Wirkungen abſchätzte, die hin und wieder wie willkürliche Ein-<lb/>griffe in den ruhigen Verlauf des Naturdaſeins eintreten, ſo <lb/>lange muß die Natur als kraftlos und die Götter als die Re-<lb/>präſentanten der Kraft erſcheinen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3267" xml:space="preserve">Seitdem jedoch an die
<pb o="117" file="0249" n="249"/>
Stelle der herrſchenden dichteriſchen Anſchauungen die Einſicht <lb/>der Wiſſenſchaft getreten iſt, ſeitdem beginnt der dichteriſche <lb/>Wahn von der allmächtigen Götterherrſchaft zu ſchwinden, und <lb/>es trat an deren Stelle das Streben, die nicht in die Augen <lb/>fallenden Kräfte der ſchaffenden Natur kennen zu lernen, um <lb/>zu begreifen, wie ſich kleine Kräfte zu großen Wirkungen ver-<lb/>binden.</s>
  <s xml:id="echoid-s3268" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3269" xml:space="preserve">Seitdem man weiß, daß der lauteſte Schall nichts iſt als <lb/>eine in Schwingung verſetzte Luftmaſſe, welche das ſehr feine, <lb/>dünne und ſchwache Trommelfell unſeres Ohres erſchüttert, <lb/>fürchtet man den Donner nicht mehr. </s>
  <s xml:id="echoid-s3270" xml:space="preserve">Der Schall, wenn er <lb/>auch erſchreckend auf uns einwirkt, iſt keine mächtige Kraft-<lb/>äußerung eines entrüſteten Gottes. </s>
  <s xml:id="echoid-s3271" xml:space="preserve">Der Schall iſt ſo ohn-<lb/>mächtig, daß er nicht einmal imſtande iſt, ein Sandkörnchen <lb/>wirklich von ſeinem Ort fortzubringen, das wir durch den <lb/>Hauch unſeres Mundes fortblaſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3272" xml:space="preserve">Der Schall erſchüttert die <lb/>Ruhelage aller Gegenſtände, welche von der Welle getroffen <lb/>werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s3273" xml:space="preserve">aber er vermag nur ein Erzittern der allerkleinſten <lb/>Teilchen der Materie hervorzurufen und iſt zu ſchwach, um <lb/>eine Fortbewegung zu erzeugen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3274" xml:space="preserve">Der leiſeſte Wind vermag <lb/>das Segel eines Schiffes zu ſchwellen und das Schiff auf der <lb/>Waſſerfläche dahinzutreiben; </s>
  <s xml:id="echoid-s3275" xml:space="preserve">aber der allerſtärkſte Kanonen-<lb/>donner fliegt mit der Geſchwindigkeit von 300 Meter in der <lb/>Sekunde an dem Schiff vorüber, ohne es von der Stelle zu <lb/>bewegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3276" xml:space="preserve">Wie klein die wirkliche Kraft des Schalles iſt, das <lb/>zeigt uns eine der ſchönſten Erfindungen unſerer Zeit, das <lb/>Telephon, welches den Schall meilenweit auf eine feine Eiſen-<lb/>platte überträgt, ohne daß unſer Auge imſtande iſt, das <lb/>Erzittern dieſer Platte zu bemerken. </s>
  <s xml:id="echoid-s3277" xml:space="preserve">Man kann im Telephon <lb/>in Verbindung mit einem Mikrophon einen Donnerſchlag in <lb/>Paris auch ſehr gut in Berlin hörbar machen, und zwar <lb/>ſo ſtark hörbar machen, als ob es dicht neben dem Hörer, <lb/>der ſein Ohr mit dem Telephon bewaffnet hat, donnerte. </s>
  <s xml:id="echoid-s3278" xml:space="preserve">Daß
<pb o="118" file="0250" n="250"/>
man da aufhören muß, den “allmächtigen Donnerer” zu fürchten, <lb/>verſteht ſich von ſelber.</s>
  <s xml:id="echoid-s3279" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3280" xml:space="preserve">Mit einer mächtigen Kraft ſcheint der Blitz ausgeſtattet; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3281" xml:space="preserve">aber wer es bedenkt, wie man mit einer ſehr ſchwachen Lanze <lb/>aus Metall, mit einem Blitzableiter, der kaum dicker zu ſein <lb/>braucht, wie ein Leitungsdraht an unſeren Telegraphenſtangen <lb/>dem Blitze ſchleudernden Jupiter den Weg ſeiner allmächtigen <lb/>Geſchoſſe anzuweiſen und ſeinen Zornausbruch in ein harmloſes <lb/>Vergnügen zu verwandeln vermag, der wird wohl einſehen, <lb/>wie die kleinen Kräfte des Blitzableiters mächtiger in der <lb/>Wirkung ſind, als der Zorn des Gottes, dem man die Allmacht <lb/>des Himmels und der Erde zugeſchrieben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3282" xml:space="preserve">Daß auch hierdurch <lb/>die Furcht vor den Göttern ſchwinden mußte, läßt ſich gar <lb/>nicht verkennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3283" xml:space="preserve">Daß aber auch die Gottesfurcht hierunter <lb/>nicht ſonderlich leidet, das wird wohl jeder Beobachter unſerer <lb/>öffenlichen Gotteshäuſer bemerken, wenn er ſieht, wie man bei <lb/>aller Gottesfurcht, die in ihren Hallen gelehrt wird, doch nicht <lb/>unterläßt, ſich durch gute Blitzableiter gegen das zornige Ge-<lb/>ſchoß des Himmels zu ſchützen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3284" xml:space="preserve">Der Blitzableiter an der <lb/>Kirche iſt jetzt nicht mehr eine Ketzerei, als welche er zu An-<lb/>fang ſeiner Erfindung noch frommen, gottesfürchtigen Männern <lb/>erſchienen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3285" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3286" xml:space="preserve">Was aber ſteckt in dem ſchwachen Blitzableiter, das ihn <lb/>mächtig genug macht, um den Zornesboten des allmächtig <lb/>ſcheinenden Gottes die Marſchroute vorzuſchreiben? </s>
  <s xml:id="echoid-s3287" xml:space="preserve">Es iſt <lb/>eine kleine, ſehr kleine, tief verborgene Kraft, welche man <lb/>elektriſche Leitungsfähigkeit nennt, die in jedem Atom des <lb/>Metalles ſteckt, das den elektriſchen Strom leitet. </s>
  <s xml:id="echoid-s3288" xml:space="preserve">Und dieſe <lb/>kleine Kraft iſt groß in der Wirkung. </s>
  <s xml:id="echoid-s3289" xml:space="preserve">Sie erzählt uns zwar <lb/>nicht, was im Himmel vorgeht, aber ſie bringt uns trotz aller <lb/>Meeresgötter durch den Meeresabgrund per Kabeldepeſche ganz <lb/>genaue Nachrichten über das, was in dem fernſten Weltteil <lb/>paſſiert.</s>
  <s xml:id="echoid-s3290" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="119" file="0251" n="251"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div86" type="section" level="1" n="78">
<head xml:id="echoid-head86" xml:space="preserve"><emph style="bf">II.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3291" xml:space="preserve">Ein recht ſchlagendes Beiſpiel von der Kleinheit wirklicher <lb/>Kräfte und der Größe ihrer Wirkungen bietet uns die geſamte <lb/>Telegraphie.</s>
  <s xml:id="echoid-s3292" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3293" xml:space="preserve">Was ſieht unſer Auge in einer Telegraphenſtation?</s>
  <s xml:id="echoid-s3294" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3295" xml:space="preserve">Da ſteht eine Reihe von Gläſern, gefüllt mit Flüſſig-<lb/>keiten, in welchen zwei verſchiedene Metalle eingetaucht ſind. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3296" xml:space="preserve">Man nennt dieſe Sammlung von Elementen eine Batterie, <lb/>die an ſich ruhig daſteht und nicht die leiſeſte Spur einer <lb/>Kraft verrät. </s>
  <s xml:id="echoid-s3297" xml:space="preserve">Gleichwohl wiſſen wir, daß man durch <lb/>geeignete Einrichtungen imſtande iſt, eine Wirkung dieſer <lb/>Batterie auszuüben auf einen Apparat, der ſich an vierhundert <lb/>Meilen jenſeit des Weltmeeres in einem anderen Weltteil <lb/>befindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s3298" xml:space="preserve">Welch andere unſeren Sinnen ſich verratende Kraft <lb/>wäre wohl mächtig genug, um auf ſolche Entfernungen eine <lb/>Wirkung auszuüben? </s>
  <s xml:id="echoid-s3299" xml:space="preserve">Keine Rieſenkanone würde das voll-<lb/>bringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3300" xml:space="preserve">Kein Vulkan würde in ſeiner Wirkung auch nur den <lb/>zehnten Teil dieſer Strecke mit ſeiner Kraft durchdringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3301" xml:space="preserve"><lb/>Kein Erdbeben, das einen Weltteil zertrümmert, würde auf <lb/>ſolche Entfernung bemerkbar werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3302" xml:space="preserve">Ja, ganz Europa könnte <lb/>urplötzlich in einen Krater von Meerestiefe verſinken, und es <lb/>würde ſich dies Ereignis in Amerika kaum an den Geſtaden <lb/>des Meeres durch einen heftigen Wellenſchlag verraten. </s>
  <s xml:id="echoid-s3303" xml:space="preserve">Wenn <lb/>jedoch in unſerer Telegraphenſtation zwei Drähte an der <lb/>Batterie ſo eingerichtet ſind, daß der eine in die Erde hinein-<lb/>geht und der andere den Draht eines Kabels berührt, das bis <lb/>zu einer Station in Amerika reicht, ſo wirkt dies in ſo außer-<lb/>ordentlichem Grade, daß man dadurch eine Verſtändigung <lb/>zwiſchen Weltteil und Weltteil herbeiführt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3304" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3305" xml:space="preserve">Blicken wir nun gar noch auf den Stand der Mikrophonie <lb/>und der Telephonie, ſo dürfen wir mit voller Sicherheit vor-<lb/>ausſagen, daß die Zeit nicht mehr fern iſt, in welcher man
<pb o="120" file="0252" n="252"/>
imſtande ſein wird, durch die Kombination von äußerſt kleinen <lb/>Kräften Worte in Amerika deutlich zu vernehmen, die man in <lb/>einer dazu hergerichteten Station in Europa ſpricht, Worte <lb/>mit gewöhnlicher Stimme geſprochen, welche man mit unbe-<lb/>waffnetem Ohr im Nebenzimmer der europäiſchen Station nicht <lb/>mehr vernimmt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3306" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3307" xml:space="preserve">Was ſind die ſogenannten großen Kräfte gegen dieſe <lb/>Kombination der kleinen?</s>
  <s xml:id="echoid-s3308" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3309" xml:space="preserve">Iſt denn aber die Telegraphie wirklich eine Kombination <lb/>von kleinen Kräften? </s>
  <s xml:id="echoid-s3310" xml:space="preserve">Iſt nicht die Elektrizität an ſich ſelbſt <lb/>auch eine große Kraft? </s>
  <s xml:id="echoid-s3311" xml:space="preserve">Vermag man ja durch Elekrizität <lb/>Flammen zu erzeugen, welche dem Sonnenlicht an Kraft nahe <lb/>kommen! Iſt man ja auch imſtande, durch den elektriſchen <lb/>Strom exploſive Maſſen zu entzünden, die Felſen ſprengen!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3312" xml:space="preserve">Es mag ſein, daß man gegenwärtig, wo man die mächtige <lb/>Wirkung der Elektrizität vor Augen hat, ſtark geneigt iſt, ſie <lb/>auch zu den großen Kräften zu zählen; </s>
  <s xml:id="echoid-s3313" xml:space="preserve">aber dieſer Ver-<lb/>wechſelung von Kraft und Wirkung liegt dennoch eine irrige <lb/>Anſchauung zu Grunde. </s>
  <s xml:id="echoid-s3314" xml:space="preserve">Die Kraft iſt in Wirklichkeit klein, <lb/>und nur durch eine wiſſenſchaftliche Kombination iſt ihre <lb/>Wirkung groß. </s>
  <s xml:id="echoid-s3315" xml:space="preserve">Ein Blick auf die Geſchichte der Elektrizität <lb/>wird dies noch deutlicher darthun, als alle bisher vorgeführten <lb/>Beiſpiele.</s>
  <s xml:id="echoid-s3316" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3317" xml:space="preserve">Nachdem Jahrtauſende und Jahrtauſende vergangen <lb/>waren, in welchen die Menſchen keine Ahnung von der Exiſtenz <lb/>einer elektriſchen Kraft hatten, begann man erſt vor wenig <lb/>Jahrhunderten die Aufmerkſamkeit auf die Eigenſchaft einzelner <lb/>Körper zu richten, welche durch Reiben ihrer Oberfläche die <lb/>Fähigkeit erlangen, leichte Fäſerchen anzuziehen und wieder <lb/>abzuſtoßen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3318" xml:space="preserve">Durch eine glückliche Konſtruktion und eine ſinn-<lb/>reiche Kompoſition dieſer Fähigkeit kam man dahin, eine <lb/>Elekriſiermaſchine herzuſtellen, an welcher man zum Erſtaunen <lb/>aller Beobachter ſah, daß ſowohl die anziehende wie abſtoßende
<pb o="121" file="0253" n="253"/>
Kraft ſich in Funken äußert, die blitzartig erſcheinen und von <lb/>einem Körper in den anderen überſpringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3319" xml:space="preserve">Da kam ein fein-<lb/>ſinniger Denker auf die kühne Idee, daß am Ende der Blitz <lb/>aus den Wolken auch nur ein elektriſcher Funke ſein mag, <lb/>der zur Erde herniederfährt, und man auch wohl dieſen großen <lb/>Funken ſo ableiten kann, wie es mit dem Funken der Elektri-<lb/>ſiermaſchine der Fall iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3320" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3321" xml:space="preserve">Es hatte ſich kaum dieſer kühne Gedanke bewahrheitet, da <lb/>trat gegen Ende des vorigen Jahrhunderts die wiſſenſchaftliche <lb/>Beobachtung mit einer neuen Kombination einer noch kleineren <lb/>Kraft auf, um ſchließlich durch ſie eine ganz ungeheure Wirkung <lb/>zu erzielen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3322" xml:space="preserve">Es iſt dies der elektriſche Strom der galvaniſchen <lb/>Elemente, welche wir bereits in Betracht gezogen haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3323" xml:space="preserve">Der <lb/>Strom pflanzt ſich im Moment, wo ein Leitungsdraht der <lb/>Batterie den Kabeldraht berührt, auf hundert, ja auf Tauſende <lb/>von Meilen in einer einzigen Sekunde fort. </s>
  <s xml:id="echoid-s3324" xml:space="preserve">Wie dick mag <lb/>wohl der Draht ſein, der ſolche Wirkung ausübt? </s>
  <s xml:id="echoid-s3325" xml:space="preserve">Nun, <lb/>jeder weiß es wohl, daß der eigentliche Kabeldraht, die Seele <lb/>des Kabels, welches tief auf dem Grunde des Weltmeeres <lb/>liegt, nicht dicker iſt, als eine gewöhnliche Stricknadel, und <lb/>der Draht aus der Batterie, welche den Draht der Leitung <lb/>berührt, iſt nicht viel ſtärker als ein mäßiger Stecknadelknopf, <lb/>und gleichwohl ſehen wir, wie dieſe Berührung von ſehr kleinen <lb/>Punkten die erſtaunliche Wirkung auf viele, viele Hunderte von <lb/>Meilen ausübt!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3326" xml:space="preserve">Gegenwärtig iſt die elektriſche Wirkung in noch viel höherem <lb/>Grade durch die Anwendung von Magneten geſteigert.</s>
  <s xml:id="echoid-s3327" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3328" xml:space="preserve">Hierbei ſpielt nicht einmal eine Berührung zwiſchen Eiſen <lb/>und Magneten die Hauptrolle, ſondern nur die Annäherung <lb/>und das Entfernen der beiden Teile des magneto-elektriſchen <lb/>Apparates iſt die Grundurſache der wirkſamen Ströme. </s>
  <s xml:id="echoid-s3329" xml:space="preserve">Dabei <lb/>iſt die Kraft eines Magneten für unſere Sinneswahrnehmung <lb/>ſo geringfügig, daß wir die Pole des allerſtärkſten Magneten
<pb o="122" file="0254" n="254"/>
mit der Hand berühren können, ohne auch nur eine Spur von <lb/>der Kraft zu merken, die in demſelben ſchlummert. </s>
  <s xml:id="echoid-s3330" xml:space="preserve">Wenn wir <lb/>nicht wiſſen, daß wir einen Magneten in Händen haben, ſind <lb/>wir nicht imſtande, durch unſere ſonſt ſo feinen Sinnes-<lb/>werkzeuge den exiſtierenden Magnetismus nachzuweiſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3331" xml:space="preserve">Man <lb/>ſieht den Magnetismus nicht, man hört ihn nicht, man fühlt, <lb/>man ſchmeckt und riecht ihn nicht, und gleichwohl hat dieſer <lb/>eine gewaltige Macht, wenn man ein Stück Eiſen in deſſen <lb/>Nähe bringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3332" xml:space="preserve">Es tritt hier alſo eine ganz immenſe Wirkung <lb/>in einer für unſere Wahrnehmung ganz und gar unmerklichen <lb/>Kraft auf.</s>
  <s xml:id="echoid-s3333" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3334" xml:space="preserve">Aber nicht bloß in den phyſikaliſchen und chemiſchen Er-<lb/>ſcheinungen erweiſt es ſich, daß kleine Kräfte große Wirkungen <lb/>ausüben, ſondern auch in den lebenden Gebilden der organiſchen <lb/>Welt ſpielen die kleinen und kleinſten Kräfte eine Hauptrolle in <lb/>der Wirkung.</s>
  <s xml:id="echoid-s3335" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3336" xml:space="preserve">Bevor uns die Naturwiſſenſchaft einen Aufſchluß über <lb/>das Wachstum einer Pflanze gab, hatte man keine Ahnung <lb/>davon, daß Millionen und Millionen von ganz kleinen Kräften <lb/>hierbei thätig ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s3337" xml:space="preserve">Erſt das Mikroſkop lehrte uns, daß ſelbſt <lb/>im kleinſten Blättchen einer kleinen Pflanze Tauſende von ganz <lb/>kleinen Öffnungen vorhanden ſind, in welche die unendlich <lb/>kleinen Atome der atmoſphäriſchen Luft eintreten und wieder <lb/>austreten. </s>
  <s xml:id="echoid-s3338" xml:space="preserve">In unſerer Atmoſphäre befindet ſich eine ſehr geringe <lb/>Spur von Kohlenſäure, deren Exiſtenz wir nur durch die <lb/>feinſten und empfindlichſten chemiſchen Unterſuchungen nach-<lb/>weiſen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s3339" xml:space="preserve">Aber die äußerſt feinen Öffnungen in jedem <lb/>Blättchen der Pflanzenwelt verſtehen die Kunſt, die Kohlenſäure <lb/>einzuſaugen, den Kohlenſtoff dabei in ſich aufzunehmen und zu-<lb/>rückzuhalten und den Sauerſtoff wieder auszuhauchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3340" xml:space="preserve">Die <lb/>Säfte der Pflanze, welche von der Wurzel in außerordentlich <lb/>feinen Kanälen aufſteigen, werden dadurch kohlenhaltig, und <lb/>dieſer Kohlenſtoff bildet den Hauptbeſtandteil der Feſtigkeit der
<pb o="123" file="0255" n="255"/>
Pflanzen, das Holzgerüſt, das zu ihrer Exiſtenz unumgänglich <lb/>nötig iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3341" xml:space="preserve">— Es lebt und wächſt der allerkräftigſte Stamm des <lb/>rieſigſten Baumes nur durch die außerordentlich kleinen Kräfte <lb/>heran, die in den für das gewöhnliche Auge ganz unmerkbaren, <lb/>kleinen Öffnungen der Tauſende von Blättern exiſtieren, die <lb/>in die Luft hineinragen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3342" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3343" xml:space="preserve">Die Kraft iſt klein; </s>
  <s xml:id="echoid-s3344" xml:space="preserve">aber die Wirkung der kleinen Kräfte <lb/>iſt groß.</s>
  <s xml:id="echoid-s3345" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div87" type="section" level="1" n="79">
<head xml:id="echoid-head87" xml:space="preserve"><emph style="bf">III.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3346" xml:space="preserve">In viel entſchiedenerem Grade als in der Pflanzenwelt <lb/>treten die kleinen Kräfte und die großen Wirkungen in dem <lb/>Organismus der lebenden Tierwelt auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s3347" xml:space="preserve">Es giebt organiſche <lb/>Gebilde von höchſter Wichtigkeit, deren Wirkung man mit <lb/>hoher Bewunderung wahrnimmt, die aber ſo außerordentlich <lb/>klein ſind, daß ſelbſt das allerfeinſte Mikroſkop ihre Struktur <lb/>vergeblich zu erforſchen ſucht.</s>
  <s xml:id="echoid-s3348" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3349" xml:space="preserve">Um einzelne Erſcheinungen dieſer Art hier vorzuführen, <lb/>wählen wir aus der großen Reihe derſelben nur ſolche Vor-<lb/>gänge, die im eigentlichen Sinne des Wortes noch immer <lb/>ſehr verſchloſſene mechaniſche und phyſikaliſche Rätſel ſind, <lb/>wie ſehr ſich auch die Lebenswiſſenſchaft, die Phyſiologie, be-<lb/>müht, dem Grunde derſelben nachzuſpüren.</s>
  <s xml:id="echoid-s3350" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3351" xml:space="preserve">Man weiß es längſt, daß unſere Schleimhäute und <lb/>namentlich diejenigen, welche die Luftwege zu unſeren Atmungs-<lb/>organen einhüllen, die Eigentümlichkeit haben, die eingeatmete <lb/>Luft zu filtrieren, damit unſere Lunge nicht unreine Stoffe <lb/>aufnehme, welche in der Luft ſchweben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3352" xml:space="preserve">Unſere Naſe, welche <lb/>einen offenen Kanal für die Atmung bildet, iſt mit feinen <lb/>Härchen beſetzt, woran der Staub ſich anſammelt, der die Luft
<pb o="124" file="0256" n="256"/>
verunreinigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3353" xml:space="preserve">Wir beobachten dies nicht bloß auf ſtaubigen <lb/>Straßen, ſondern auch in unſeren Wohnungen, wenn die Stuben-<lb/>luft mit Rauch oder dem Ruß einer blakenden Lampe vermiſcht <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3354" xml:space="preserve">Es iſt dies eine Filtration, welche in unſerem Atmungs-<lb/>prozeß von großer Wichtigkeit iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3355" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3356" xml:space="preserve">Dieſe Filtration durch ein Haarnetz findet in unſerer <lb/>Mundhöhle, welche ebenfalls einen offenen Weg zur Lunge <lb/>bildet, nicht ſtatt; </s>
  <s xml:id="echoid-s3357" xml:space="preserve">dafür iſt die Feuchtigkeit der Schleimhaut <lb/>eine vortrefflich wirkende Fange-Vorrichtung, welche gleichfalls <lb/>zur Reinigung der in die Lunge eindringenden Luft dient. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3358" xml:space="preserve">Man merkt die Wohlthat dieſer Einrichtung ganz beſonders, <lb/>wenn durch eine leichte Entzündung der Schleimhäute, wie <lb/>z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3359" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s3360" xml:space="preserve">beim Schnupfen, dieſer Reinigungsprozeß unterdrückt <lb/>wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3361" xml:space="preserve">Die Atembeſchwerde, welche dann zuweilen eintritt, <lb/>rührt zum großen Teil von dem Mangel der Luftreinigung <lb/>her, ſelbſt wenn die Entzündung ſelber ſich nicht bis in die <lb/>Luftröhre erſtreckt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3362" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3363" xml:space="preserve">Verdankt man dieſem Prozeß der Luftreinigung ſchon an <lb/>ſich eine ſehr wohlthätige Wirkung, ſo iſt der Prozeß ſelber <lb/>mindeſtens phyſikaliſch vollkommen erklärbar. </s>
  <s xml:id="echoid-s3364" xml:space="preserve">Wir ſind auch <lb/>imſtande, durch künſtliche Vorrichtungen eine ſolche Luft-<lb/>reinigung zu bewerkſtelligen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3365" xml:space="preserve">Man kann durch ein Flöckchen <lb/>loſer Baumwolle an einer Stelle, durch welche die Luft hin-<lb/>durchſtreicht, die Kunſt, welche den Härchen der Naſe zuge-<lb/>wieſen wird, recht wohl nachahmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3366" xml:space="preserve">Stellt man an die Stelle, <lb/>an welcher die Luft vorüberſtreicht, eine Glasſcheibe mit etwas <lb/>Glycerin befeuchtet auf, ſo ahmt ſie die Fangekunſt unſerer <lb/>Mundſchleimhaut ebenfalls gut nach. </s>
  <s xml:id="echoid-s3367" xml:space="preserve">Ja, man iſt imſtande, <lb/>durch ſolche Vorrichtungen an einer kleinen Öffnung in einer <lb/>Fenſterſcheibe den Grad der Verunreinigung der Stubenluft <lb/>zu meſſen und thut dies auch mit gutem Erfolge in Kranken-<lb/>zimmern, wenn es gilt, die ſchädlichen Beimiſchungen der Luft <lb/>zu beſtimmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3368" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="125" file="0257" n="257"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3369" xml:space="preserve">Aber in unſerem Organismus geſchieht viel mehr als dies.</s>
  <s xml:id="echoid-s3370" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3371" xml:space="preserve">Würden wir nur auf dieſe Filtration angewieſen ſein, ſo <lb/>würden ſich die ſchädlichen Beimiſchungen der Luft in Mund-<lb/>und Naſenhöhle anſammeln und ſchließlich die ganze wohl-<lb/>thätige Vorrichtung unwirkſam machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3372" xml:space="preserve">Ja, die Anſammlung <lb/>der ſchädlichen Teilchen würde unfehlbar Krankheitserſcheinungen <lb/>herbeiführen, wenn nicht eine andere Fürſorge uns davon be-<lb/>freien würde. </s>
  <s xml:id="echoid-s3373" xml:space="preserve">Um den Schaden abzuwehren, tritt in dem <lb/>oberen Teile der Naſenhöhle ein Reiz ein, der uns zum Nieſen <lb/>zwingt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3374" xml:space="preserve">Sammeln ſich in dem hinteren Teile der Mund-<lb/>ſchleimhaut die ſchädlichen Luftbeimiſchungen zu ſtark an, ſo <lb/>entſteht ein nicht minder wahrnehmbarer Reiz, der unſeren <lb/>Kehlkopf zwingt, ſich einen Moment zu ſchließen und die <lb/>Atmung vorerſt einzuſtellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3375" xml:space="preserve">Zugleich aber erhalten hierdurch <lb/>unſer Zwerchfell und unſere Bauchmuskeln Veranlaſſung, <lb/>plötzlich gegen die Bruſthöhle anzuprallen und die Luft der <lb/>Lunge gewaltſam gegen den verſchloſſenen Kehlkopf zu preſſen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3376" xml:space="preserve">Der Kehlkopf öffnet ſich dadurch gewaltſam, und man huſtet, <lb/>wobei der hintere Teil unſerer Mundhöhle von überflüſſigem <lb/>Schleim und den ſchädlichen, angeſammelten Luftbeimiſchungen <lb/>befreit wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s3377" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3378" xml:space="preserve">Nieſen und Huſten ſind in ſolchen Fällen nicht Krank-<lb/>heitserſcheinungen, ſondern Einrichtungen phyſiologiſcher Natur, <lb/>die zur Reinhaltung der Luftwege ſehr wohlthätig wirken. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3379" xml:space="preserve">Beide Kunſtſtücke vermag man daher auch unter natürlichen <lb/>Umſtänden willkürlich hervorzurufen, und thut es meiſt in der <lb/>Regel, wenn man durch ein gewiſſes Gemeingefühl die Empfin-<lb/>dung hat, daß eine Veranlaſſung dazu obwaltet.</s>
  <s xml:id="echoid-s3380" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3381" xml:space="preserve">Wenngleich dieſer Prozeß auf phyſiologiſchem Gebiet noch <lb/>in manchen Beziehungen weiterer Erklärungen der Wiſſenſchaft <lb/>bedarf, ſo iſt derſelbe doch mindeſtens theoretiſch begreiflich, <lb/>ſobald man die noch immer ſehr rätſelhafte Rolle der Nerven <lb/>dabei zu Hülfe ruft. </s>
  <s xml:id="echoid-s3382" xml:space="preserve">Die Vorrichtung, welche mechaniſch eine
<pb o="126" file="0258" n="258"/>
Reinigung der Luft von außen nach innen bewirkt, iſt wunder-<lb/>bar genug begleitet von phyſiologiſchen Einrichtungen, welche <lb/>ſehr wohlthätig Schädlichkeiten von innen nach außen be-<lb/>ſeitigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3383" xml:space="preserve">Dieſe Kombination iſt an ſich ſehr merkwürdig und <lb/>verdient unſer eifrigſtes Nachdenken; </s>
  <s xml:id="echoid-s3384" xml:space="preserve">aber man nimmt jeden-<lb/>falls dabei wahr, daß ſich auch hierbei kleine Kräfte zu großen <lb/>Wirkungen verbinden.</s>
  <s xml:id="echoid-s3385" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3386" xml:space="preserve">Nun ſollte man meinen, daß hiermit genug zum Schutz <lb/>des Organismus geſchehen ſei. </s>
  <s xml:id="echoid-s3387" xml:space="preserve">Allein nähere Unterſuchungen <lb/>haben erwieſen, daß noch ein ganz anderes Kunſtſtück im <lb/>Organismus hierbei eine Rolle mitſpielt, welches ebenſo <lb/>mechaniſch wie phyſikaliſch vollkommen rätſelhaft iſt und vor <lb/>welchem die Phyſiologie ohne jeden Anhalt einer Erklärung <lb/>daſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s3388" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3389" xml:space="preserve">Man macht nämlich die Bemerkung, daß die Schleimhäute <lb/>der Luftwege und auch in anderen Körperteilen die Kunſt ver-<lb/>ſtehen, kleine Teilchen, welche ſich an ihnen anſetzen, ſehr <lb/>langſam von dort fortzutransportieren, wo ſie nicht hinge-<lb/>hören. </s>
  <s xml:id="echoid-s3390" xml:space="preserve">Dieſer Prozeß geht nicht plötzlich vor ſich, ſondern <lb/>findet ganz unmerklich immerwährend ſtatt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3391" xml:space="preserve">Es geſchieht dies <lb/>durch eigentümliche Organe, mit welchen die Schleimhäute <lb/>ausgeſtattet ſind, die man mit bloßem Auge nicht ſehen kann, <lb/>und die nur durch gute Mikroſkope in ihrer Thätigkeit bemerkt <lb/>werden können.</s>
  <s xml:id="echoid-s3392" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3393" xml:space="preserve">Die Schleimhäute beſitzen nämlich ganz feine Flimmer-<lb/>härchen, welche ſich unausgeſetzt hin und her bewegen und in <lb/>normalen Zuſtänden die kleinſten, ſchädlichen Stoffe, welche ſich <lb/>an die Schleimhaut anſetzen wollen, immer weiter fortſchieben, <lb/>bis ſie aus dem Bereich ihres ſchädlichen Wirkens hinaus-<lb/>transportiert ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s3394" xml:space="preserve">Dieſe Flimmerbewegungen, durch welche <lb/>ganz zweifellos ſehr ſchädliche in den Körper eingedrungene <lb/>Stoffe ausgeſchieden werden, ſind von Kräften dirigiert, welche <lb/>wir nicht kennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3395" xml:space="preserve">Da die Organe, die Flimmerhärchen, ſo
<pb o="127" file="0259" n="259"/>
außerordentlich klein ſind, ſo müſſen die Kräfte, welche ihre <lb/>Thätigkeit anregen, ganz unendlich klein ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s3396" xml:space="preserve">Da man <lb/>jedoch allen Grund hat, zu vermuten, daß durch dieſe Flimmer-<lb/>bewegungen viele giftige Anſteckungsſtoffe, wie Bakterien, <lb/>Bazillen, verhindert werden, ſich in dem Körper anzuſetzen, <lb/>ſo können wir von ihnen ganz beſonders ſagen, daß ſie eine <lb/>ſehr große Rolle in dem Organismus der lebenden Weſen <lb/>ſpielen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3397" xml:space="preserve">Es ſind dies eben kleine Kräfte von ſehr großer, <lb/>mächtiger Wirkung.</s>
  <s xml:id="echoid-s3398" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div88" type="section" level="1" n="80">
<head xml:id="echoid-head88" xml:space="preserve"><emph style="bf">IV.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3399" xml:space="preserve">Noch bewunderungswürdiger als in dem organiſchen Ge-<lb/>bilde zeigt ſich das Zuſammenwirken kleiner Kräfte zu großen <lb/>Effekten in der Thätigkeit unſerer Sinneswerkzeuge.</s>
  <s xml:id="echoid-s3400" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3401" xml:space="preserve">Wie außerordentlich groß die Empfindlichkeit des Auges <lb/>iſt, haben wir vorhin ſchon geſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3402" xml:space="preserve">Hier ſei dem noch hinzu-<lb/>gefügt, daß, wenn man einen Millimeter in hundert Teile teilt, <lb/>aus ſolchen Teilchen ein Quadrat bildet und nach dieſem kleinen <lb/>Maß die Netzhaut unterſucht, man darauf mehr als 150 licht-<lb/>empfindliche, kreisförmig gruppierte Nerven-Organe findet. </s>
  <s xml:id="echoid-s3403" xml:space="preserve">Das <lb/>heißt mit anderen Worten: </s>
  <s xml:id="echoid-s3404" xml:space="preserve">unſer Auge iſt mit ſo kleinen <lb/>organiſchen Gebilden ausgeſtattet, daß viel mehr als fünf-<lb/>zehntauſend derſelben den Raum eines Stecknadelknopfes ein-<lb/>nehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3405" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3406" xml:space="preserve">Von der Feinheit unſeres Ohrs hat man bis auf unſere <lb/>Zeit nur ſehr dunkle Vorſtellungen gehabt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3407" xml:space="preserve">Erſt unſer Helm-<lb/>holtz hat die allerfeinſten Werkzeuge unſeres Gehör-Organs <lb/>erkannt und erläutert. </s>
  <s xml:id="echoid-s3408" xml:space="preserve">Abgeſehen von den feinen, kleinen <lb/>Knöchelchen, welche am Trommelfell liegen und dazu dienen, <lb/>das Trommelfell nicht nachſchwingen zu laſſen, wenn Schall
<pb o="128" file="0260" n="260"/>
und Ton vorüber ſind, befindet ſich in der Schnecke des Ge-<lb/>hörganges ein wirkliches Inſtrument, in welchem feine, ausge-<lb/>ſpannte Membranen ganz ſo wie die Seiten eines Klaviers in <lb/>Mitſchwingung geraten, wenn ein ihrem Eigenton entſprechender <lb/>Ton erſchallt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3409" xml:space="preserve">Neben dieſem muſikaliſch gebauten Organe be-<lb/>findet ſich auch noch eine kleine Höhle mit körniger Flüſſigkeit <lb/>im Hör-Apparat, der nicht Töne, ſondern Geräuſche auf die <lb/>Nerven-Enden überträgt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3410" xml:space="preserve">Zu dieſen Geräuſchen gehört auch <lb/>unſer Sprechen, das nicht nach muſikaliſchen Geſetzen erfolgt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3411" xml:space="preserve">Und trotz der Kleinheit all dieſer Vorrichtungen ſind ſie doch <lb/>ſo empfindlich und wirkſam, daß ſie die magnetiſchen Schwin-<lb/>gungen einer Eiſenplatte im Telephon in all ihren Variationen <lb/>vernehmbar machen, wenngleich dieſe Schwingungen ſo fein <lb/>und ſo klein ſind, daß man ſie durch kein Mikroſkop zu be-<lb/>obachten imſtande iſt!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3412" xml:space="preserve">Gemeinhin nimmt man an, daß unſer Geruchsſinn ma-<lb/>teriellerer Natur iſt und der Feinheit entbehrt, die dem Auge <lb/>und dem Ohr verliehen iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s3413" xml:space="preserve">aber auch dies hat ſich als eine <lb/>irrige Anſchauung ergeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3414" xml:space="preserve">Das Riechorgan unſerer Naſe iſt <lb/>nur für Gaſe eingerichtet. </s>
  <s xml:id="echoid-s3415" xml:space="preserve">Eine Flüſſigkeit, mit welcher man <lb/>die Naſe füllt, und wäre es ſelbſt Eau de Cologne, nimmt <lb/>unſer Geruchsſinn nicht wahr, ſo lange ſie nicht verdunſtet. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3416" xml:space="preserve">Nur das Gas in der Miſchung der eingeatmeten Luft wird <lb/>empfunden; </s>
  <s xml:id="echoid-s3417" xml:space="preserve">aber wie unendlich fein dieſe Empfindung iſt, da-<lb/>für hat man längſt ein Beiſpiel am Moſchusgeruch. </s>
  <s xml:id="echoid-s3418" xml:space="preserve">Selbſt <lb/>die allerfeinſte chemiſche Wage iſt außer ſtande, nachzuweiſen, <lb/>wie viel ein Körnchen Moſchus an Teilchen ſeines Gewichts <lb/>durch Verdunſtung während 24 Stunden verloren hat, während <lb/>der Geruchsſinn es noch nach Jahren herausfindet, wenn ein-<lb/>mal ein Moſchus-Körnchen auch nur eine einzige Minute im <lb/>Zimmer gelegen hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s3419" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3420" xml:space="preserve">Weniger erforſcht iſt unſer Geſchmacksſinn. </s>
  <s xml:id="echoid-s3421" xml:space="preserve">Man weiß <lb/>es nicht cinmal genau anzugeben, an welcher Stelle der Zunge
<pb o="129" file="0261" n="261"/>
und des Gaumens dieſer Sinn ſeinen Hauptſitz hat, weil die <lb/>Flüſſigkeiten, mit welchen man Verſuche anſtellt, ſich in der <lb/>ganzen Mundhöhle verbreiten. </s>
  <s xml:id="echoid-s3422" xml:space="preserve">Selbſt über die Frage, ob die <lb/>Zungenſpitze Geſchmacksnerven hat, iſt man nicht ganz im <lb/>Reinen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3423" xml:space="preserve">Im Berliner phyſiologiſchen Inſtitut iſt vor Jahren <lb/>von jungen Forſchern hierüber ein eigentümliches Erperiment <lb/>mit Elektrizität angeſtellt worden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3424" xml:space="preserve">Man weiß es, daß der <lb/>eine Strom eine Säure, der andere Strom einen alkaliſchen <lb/>Stoff anzieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3425" xml:space="preserve">Da ſtellten ſich denn zwei junge Studenten <lb/>einander gegenüber, ſtreckten ihre Zungenſpitzen einander zu, <lb/>ſo daß ſie ſich berührten, während der eine den poſitiven, der <lb/>andere den negativen Pol einer Batterie in die befeuchtete <lb/>Hand nahm. </s>
  <s xml:id="echoid-s3426" xml:space="preserve">Der Strom ging auch durch die Zungenſpitzen <lb/>und die Empfindungen beider Experimentatoren waren auch <lb/>verſchieden; </s>
  <s xml:id="echoid-s3427" xml:space="preserve">aber ſie mußten dabei doch erſt die Zungenſpitzen <lb/>an den Gaumen bringen, um zu erkennen, was ſie ſchmeckten. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3428" xml:space="preserve">Es ſprach die Wahrſcheinlichkeit dafür, daß wohl die Feuchtig-<lb/>keit der beiden Zungen durch den Strom zerſetzt wurde, daß <lb/>aber der Geſchmack ſelber erſt hervortrat, als die zerſetzten <lb/>Stoffe tiefer in die Mundhöhle eingedrungen waren.</s>
  <s xml:id="echoid-s3429" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3430" xml:space="preserve">Gleichwohl haben wir allen Grund zu behaupten, daß <lb/>auch das verſteckteſte Gebilde unſerer Sinneswirkungen in <lb/>äußerſt kleinen Partikelchen verborgen liegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3431" xml:space="preserve">Es giebt viele <lb/>chemiſche Stoffe, namentlich auf dem Gebiet der organiſchen <lb/>Chemie, welche in allen Beziehungen eine Ähnlichkeit haben <lb/>und ſich ſchwer unterſcheiden laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3432" xml:space="preserve">Da nimmt denn der <lb/>Chemiker auch zum Geſchmacksſinn Zuflucht, und dieſer <lb/>ſpürt oft aus, was nicht die feinſte Wage noch die ent-<lb/>ſcheidenſten Reagentien der Chemiker auszuſpionieren im-<lb/>ſtande ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s3433" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3434" xml:space="preserve">Auch der Taſtſinn iſt äußerſt fein. </s>
  <s xml:id="echoid-s3435" xml:space="preserve">Man ſpürt ein <lb/>Härchen auf der Zunge, das man mit bloßem Auge nicht ſieht. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3436" xml:space="preserve">Als ein anderes Beiſpiel für die Feinheit des Taſtſinnes führen</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3437" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s3438" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s3439" xml:space="preserve">Volksbücher XIII.</s>
  <s xml:id="echoid-s3440" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="130" file="0262" n="262"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3441" xml:space="preserve">wir die Thatſache an, daß man die allerfeinſten Glas-Linſen <lb/>unſerer Fernrohre nicht durch die exakteſten Maſchinen ſchleift <lb/>und poliert, ſondern ſich hierin lieber auf den feinen Taſtſinn <lb/>der Hand eines geübten Glasſchleifers verläßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3442" xml:space="preserve">Erſt in neuerer <lb/>Zeit giebt man äußerſt feinen Schleif-Inſtrumenten den Vorzug. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3443" xml:space="preserve">Wir wiſſen nur ſo viel, daß der der Wiſſenſchaft fruchtreichſte <lb/>Hohlſpiegel, durch den man die tiefſten Tiefen des Weltalls <lb/>in glänzendſtem Maße durchforſcht hat, von dem unſterb-<lb/>lichen <emph style="sp">William Herſchel</emph> (1738—1822) mit eigner Hand ge-<lb/>ſchliffen und poliert wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s3444" xml:space="preserve">Ehre ſeinem jahrelangen Mühen <lb/>und ſeinem Angedenken! —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3445" xml:space="preserve">Zum Schluß unſeres heutigen Themas, das wir nur <lb/>flüchtig berührt haben, mögen hier noch ein paar Worte der <lb/>Betrachtung über die kleinen Kräfte und die großen Wirkungen <lb/>auf dem Gebiete des geiſtigen Fortſchritts der Menſchheit folgen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3446" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3447" xml:space="preserve">Die ehemals geltenden Vorſtellungen über die Exiſtenz <lb/>großer Kräfte in den Naturerſcheinungen waren Ausgeburten <lb/>der Unwiſſenheit früherer Jahrtauſende. </s>
  <s xml:id="echoid-s3448" xml:space="preserve">So lange man den <lb/>großen Donnerer im Himmel fürchtete, kam man nicht zur <lb/>Unterſuchung dieſes erſchreckenden Gepolters. </s>
  <s xml:id="echoid-s3449" xml:space="preserve">Ja, es würde <lb/>als Ketzerei aufgenommen worden ſein, wenn es jemand ge-<lb/>wagt haben würde, die Hand Gottes im Gewitter fortzuleugnen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3450" xml:space="preserve">Wir dürfen uns nicht wundern, wenn im Altertum und im <lb/>Mittelalter jeder unverſtandene Vorgang in der Natur der <lb/>Willkür, dem Zorn oder dem Wohlwollen der Götter zuge-<lb/>ſchrieben wurde, die zu ihrer Verherrlichung Wunder thun. </s>
  <s xml:id="echoid-s3451" xml:space="preserve"><lb/>Zwiſchen Himmel und Erde erdichtete man damit eine Scheide-<lb/>wand, laut welcher im Himmel die Wunder ihren Sitz haben <lb/>und die Erde als der Spielball erſchien, auf dem ſich die <lb/>Götterkraft offenbarte. </s>
  <s xml:id="echoid-s3452" xml:space="preserve">Um dies Bild zu vervollſtändigen, <lb/>wurde zu dieſer Scheidewand noch eine zweite erſonnen, welche <lb/>eine angebliche Unterwelt von der Erde ſonderte. </s>
  <s xml:id="echoid-s3453" xml:space="preserve">Vorſtellungen <lb/>dieſer Art vererbten ſich bis in die neuere Zeit, in welcher
<pb o="131" file="0263" n="263"/>
dergleichen noch als beſeligender Glaubens-Inhalt vielfach feſt-<lb/>gehalten wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s3454" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3455" xml:space="preserve">Wann wurde die Mauer dieſer Vorſtellung durchbrochen?</s>
  <s xml:id="echoid-s3456" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3457" xml:space="preserve">Als <emph style="sp">Kopernikus</emph> (1473—1543) auftrat und zeigte, daß <lb/>die Erde im Weltall ſchwebt und wir Erdenkinder in demſelben <lb/>Himmel exiſtieren, worin die Sterne alle dahin wandern. </s>
  <s xml:id="echoid-s3458" xml:space="preserve">Da <lb/>fiel nicht bloß die alte Scheidewand, ſondern auch die Geiſtes-<lb/>mauer wurde erſchüttert und zerriſſen, die die Menſchheit in Un-<lb/>wiſſenheit hielt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3459" xml:space="preserve">Langſam ſank Stein um Stein aus dem alten <lb/>Glaubensbau mit jedem Schritt des Wiſſens, den ausgewählte <lb/>Geiſter errungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3460" xml:space="preserve">Von der Unterwelt ſchweigen jetzt ſelbſt die <lb/>Gläubigſten, ſeitdem die Tiefen des Meeres von Kabeln durch-<lb/>zogen ſind und Lokomotiven durch Tunnels in die Eingeweide <lb/>der Erde hinein und wieder jenſeits der mächtigſten Felſen-<lb/>wände munter in den Tag hinein rennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3461" xml:space="preserve">Der Blitz der Tele-<lb/>graphie wirkt zündender auf die Welt als ehedem der Blitz-<lb/>ſtrahl aller zürnenden Götter; </s>
  <s xml:id="echoid-s3462" xml:space="preserve">und der elektriſche Lichtſtrahl <lb/>verſcheucht viele Geiſter der Nacht ſamt der Finſternis, in <lb/>welcher ſie meiſt ihr Weſen getrieben.</s>
  <s xml:id="echoid-s3463" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3464" xml:space="preserve">Wie aber lautet die Signatur unſerer lichteren Zeit? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3465" xml:space="preserve">Sie lautet, begründet durch die Summe großer Forſchungen, <lb/>wie folgt:</s>
  <s xml:id="echoid-s3466" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3467" xml:space="preserve">Es giebt nicht eine Kraft der Willkür in der Natur, ſon-<lb/>dern eine Kombination kleiner Kräfte, welche wir durch Geiſtes-<lb/>arbeit ſtudieren, beherrſchen und zu großen Wirkungen im <lb/>Dienſte der Menſchheit benutzen könuen und entſprechend <lb/>der Geiſteswürde des Menſchenweſens auch benutzen ſollen!</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div89" type="section" level="1" n="81">
<head xml:id="echoid-head89" xml:space="preserve">Druck von G. <emph style="sp">Bernſtein</emph> in Berlin.</head>
<pb file="0264" n="264"/>
<pb file="0265" n="265"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div90" type="section" level="1" n="82">
<head xml:id="echoid-head90" xml:space="preserve"><emph style="bf">Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher</emph> <lb/>von <lb/><emph style="bf">A. Bernſtein.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head91" xml:space="preserve"><emph style="bf">Jünfte, reich illuſtrierte Auflage.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head92" xml:space="preserve">Durchgeſehen und verbeſſert <lb/>von <lb/><emph style="bf">H. Wotonié</emph> und <emph style="bf">R. Hennig.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head93" xml:space="preserve">Vierzehnter Teil.</head>
  <figure>
    <image file="0265-01" xlink:href="http://echo.mpiwg-berlin.mpg.de/zogilib?fn=/permanent/library/xxxxxxxx/figures/0265-01"/>
  </figure>
</div>
<div xml:id="echoid-div91" type="section" level="1" n="83">
<head xml:id="echoid-head94" xml:space="preserve"><emph style="bf">Berlin.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head95" xml:space="preserve">Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.</head>
<pb file="0266" n="266"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3468" xml:space="preserve">Das Necht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s3469" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb file="0267" n="267"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div92" type="section" level="1" n="84">
<head xml:id="echoid-head96" xml:space="preserve"><emph style="bf">Inhaltsverzeichnis.</emph></head>
<note position="right" xml:space="preserve"> <lb/>## Geite <lb/>## <emph style="bf">Anleitung zu chemiſchen Experimenten für Anfänger.</emph> <lb/>I. # Wie man Glasrohr gut brechen kann # 2 <lb/>II. # Wie man Glasrohr biegt # 4 <lb/>III. # Ein drittes Kunſtſtück # 6 <lb/>IV. # Probiergläschen # 7 <lb/>V. # Eine Kochflaſche # 8 <lb/>VI. # Gute Pfropfen und deren Vorrichtung # 11 <lb/>VII. # Die pneumatiſche Wanne # 12 <lb/>VIII. # Wie man ſich Waſſerſtoffgas machen kann # 13 <lb/>IX. # Wie man Gas in einem Gefäß auffangen kann # 16 <lb/>X. # Wie man einen kleinen Luftballon füllen kann # 17 <lb/>XI. # Wie man Sauerſtoff macht und auffängt # 18 <lb/>XII. # Einige Verſuche mit Waſſerſtoff # 20 <lb/>XIII. # Einige Verſuche mit Sauerſtoff # 22 <lb/>XIV. # Sauerſtoff mit Schwefel und Phosphor # 22 <lb/>XV. # Sauerſtoff und Eiſen # 24 <lb/>XVI. # Die Hitze, in welcher ſich Waſſerſtoff und Sauerſtoff ver-<lb/># binden # 25 <lb/>XVII. # Etwas vom Stickſtoff # 27 <lb/>XVIII. # Etwas vom Kohlenſtoff # 29 <lb/>XIX. # Wie man Kohlenſtoff mit Sauerſtoff chemiſch verbindet # 31 <lb/>XX. # Einige Verſuche mit Silber # 33 <lb/>XXI. # Einige Verſuche mit reinem Silber und mit Höllenſtein # 36 <lb/>## <emph style="bf">Praktiſche Heizung.</emph> <lb/>I. # Die Wiſſenſchaft und die Praxis # 39 <lb/>II. # Verbrennung und Erwärmung # 43 <lb/>III. # Wir brennen ein Stück Kien an # 46 <lb/>IV. # Der Zug und das Feuer # 50 <lb/>V. # Der Zug im Ofen # 53 <lb/>VI. # Lufttransport und Ofen-Konzert # 57 <lb/>VII. # Ofen und Kamin # 60 <lb/>VIII. # Der Kachelofen # 64 <lb/>IX. # Material, Farbe und Glaſur des Ofens # 67 <lb/>X. # Der Ofen innerlich # 70
<pb o="IV" file="0268" n="268"/>
## Geite <lb/>XI. # Die Züge im Ofen # 74 <lb/>XII. # Die Züge und das Brennmaterial # 77 <lb/>XIII. # Die Schornſtein-Frage # 80 <lb/>XIV. # Die verſchiedenen Brennmaterialien # 83 <lb/>XV. # Die Unterſuchungen der Brennmaterialien # 86 <lb/>XVI. # Die Verſuche über die Heizkraft # 89 <lb/>XVII. # Über den Wert des Kien- und Büchenholzes # 92 <lb/>XVIII. # Der Brennwert des Eichenholzes # 96 <lb/>XIX. # Der Heiz- und der Geldwert # 98 <lb/>XX. # Der Torf # 101 <lb/>XXI. # Der Heizwert des Torfes # 104 <lb/>XXII. # Für und gegen den Torf # 107 <lb/>XXIII. # Der Koks # 110 <lb/>XXIV. # Die Heizkraft des Koks # 113 <lb/>XXV. # Der Koks wiſſenſchaftlich und wirtſchaftlich # 116 <lb/>XXVI. # Die Steinkohle # 119 <lb/>XXVII. # Gegen die Steinkohlen # 123 <lb/>XXVIII. # Die Braunkohle # 125 <lb/>XXIX. # Die Heizung und die Geſundheit # 130 <lb/>XXX. # Die Nebenumſtände der Erwärmung # 133 <lb/>XXXI. # Wände, Stubendecke und Schornſtein-Öffnung # 136 <lb/>XXXII. # Die einmalige Heizung # 139 <lb/>XXXIII. # Der zu ſchnell heizende Ofen # 142 <lb/>XXXIV. # Der eiſerne Ofen # 146 <lb/>XXXV. # Schädlichkeit des eiſernen Ofens # 149 <lb/>XXXVI. # Anwendbarkeit und Unanwendbarkeit des eiſernen <lb/># Ofens # 152 <lb/>XXXVII. # Wie man den Torf praktiſcher macht # 155 <lb/>XXXVIII. # Die luftdicht verſchloſſenen Ofenthüren # 157 <lb/>XXXIX. # Eine Erklärung # 159 <lb/>XL. # Das Kochen im Ofen # 162 <lb/>XLI. # Heizgas, ein Ausblick in die Zukunft # 165 <lb/>## <emph style="bf">Die Heizung im Großen.</emph> <lb/>XLII. # Die Warm-Waſſerheizung # 169 <lb/>XLIII. # Die Niederdruck-Dampfheizung # 181 <lb/></note>
<pb file="0269" n="269"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div93" type="section" level="1" n="85">
<head xml:id="echoid-head97" xml:space="preserve"><emph style="bf">Anleitung zu chemiſchen Grperimenten für</emph> <lb/><emph style="bf">Anfänger.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3470" xml:space="preserve">Schon wiederholt haben wir bei Beſprechung chemiſch-<lb/>phyſikaliſcher Dinge Anweiſungen zur Anſtellung von Experi-<lb/>menten gegeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3471" xml:space="preserve">Wer die Natur wirklich verſtehen will, muß <lb/>ſich die Antworten auf die an ſie geſtellten Fragen ſo viel wie <lb/>möglich ſelber holen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3472" xml:space="preserve">Die Natur läßt ſich oft zwingen auf <lb/>eine beſtimmte Frage eine beſtimmte Antwort zu geben und <lb/>zwar dadurch, daß man Verſuche anſtellt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3473" xml:space="preserve">Die eigene An-<lb/>ſchauung, die eigenen Erfahrungen auf dem Gebiet der Natur-<lb/>wiſſenſchaften ſind der wichtigſte Beſtandteil der Kenntniſſe eines <lb/>Forſchers und überhaupt eines jeden, der über die Natur nach-<lb/>denkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3474" xml:space="preserve">Auch für den freundlichen Leſerkreis iſt es daher von <lb/>großer Wichtigkeit die Mittel kennen zu lernen, die zu Aut-<lb/>worten der Natur führen und wir wollen daher einmal in dem <lb/>folgenden Kapitel insbeſondere eine Anleitung der allererſten <lb/>Grundlagen zu chemiſchen Experimenten geben.</s>
  <s xml:id="echoid-s3475" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3476" xml:space="preserve">Für jeden Freund der Naturwiſſenſchaften, der ſich einen <lb/>Einblick in das Schaffen und Wirken der Chemie aneignen will, <lb/>iſt es alſo ſehr ratſam, ſich mit den Handgriffen der Chemiker <lb/>zu befreunden, ja es iſt für den Anfänger ſogar wichtig, ſich <lb/>die einfachſten Inſtrumente und Apparate womöglich ſelber an-<lb/>zufertigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3477" xml:space="preserve">In den nachſtehenden Blättern wird gezeigt, wie <lb/>man das anfängt, wie man mit ein wenig Handgeſchicklichkeit <lb/>und mit ſehr wenig Geld ſich ſo manches ſchaffen kann, was</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3478" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s3479" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s3480" xml:space="preserve">Volksbücher XIV.</s>
  <s xml:id="echoid-s3481" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="2" file="0270" n="270"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3482" xml:space="preserve">eben ſo viel Vergnügen wie Belehrung gewährt, und wie man <lb/>ſich dadurch im Kleinen eine Einſicht erwirbt, welche das Ver-<lb/>ſtändnis für größere und vollſtändigere Einrichtungen außer-<lb/>ordentlich erleichtert.</s>
  <s xml:id="echoid-s3483" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3484" xml:space="preserve">Wie in allen guten Dingen heißt es auch hier: </s>
  <s xml:id="echoid-s3485" xml:space="preserve">ſelbſt iſt <lb/>der Mann! Was man ſich ſelber machen kann, iſt lehrreicher, <lb/>als was man ſich vormachen läßt oder gar für Geld fertig <lb/>kaufen mag. </s>
  <s xml:id="echoid-s3486" xml:space="preserve">Probieren iſt beſſer als Studieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s3487" xml:space="preserve">Darum wollen <lb/>wir denn gleich mit dem Probieren anfangen; </s>
  <s xml:id="echoid-s3488" xml:space="preserve">das Studieren <lb/>wird dann ſpäter viel leichter werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s3489" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3490" xml:space="preserve">Alſo zur Sache.</s>
  <s xml:id="echoid-s3491" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div94" type="section" level="1" n="86">
<head xml:id="echoid-head98" xml:space="preserve"><emph style="bf">I. Wie man Glasrohr gut brechen kann.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3492" xml:space="preserve">In jeder guten Glashandlung bekommt man für wenige <lb/>Pfennige ein Meter Glasrohr. </s>
  <s xml:id="echoid-s3493" xml:space="preserve">Man thut gut, wenn man es <lb/>nicht dicker nimmt wie etwa ein Bleiſtift und ſich ſolches Rohr <lb/>geben läßt, das dünnwandig und leicht ſchmelzbar iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3494" xml:space="preserve">Der <lb/>Glashändler weiß dann ſchon, wie er es zu geben hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s3495" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3496" xml:space="preserve">Der Anfänger muß nun lernen, wie man ſich von ſolchem <lb/>langen Rohr beliebige Stücke gut abbrechen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s3497" xml:space="preserve">Dies macht <lb/>man in folgender Weiſe, wie es das nebenſtehende Bildchen 1 <lb/>zeigt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3498" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3499" xml:space="preserve">Man macht vorerſt mit einer kleinen, dreikantigen Feile, <lb/>welche in jeder Eiſenhandlung zu haben iſt, einen leichten Strich <lb/>an der Stelle, wo man abbrechen will. </s>
  <s xml:id="echoid-s3500" xml:space="preserve">Es genügt, wenn <lb/>man mit der Feile nur einen ganz kleinen, feinen Riß macht. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3501" xml:space="preserve">Wenn man das Rohr auf den Tiſch legt, den Finger an der <lb/>Stelle hält, wo man den Bruch machen will, und mit der Kante <lb/>der Feile zwei-, dreimal über das Glas hinfährt, ſo gelingt <lb/>dies ganz gut.</s>
  <s xml:id="echoid-s3502" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3503" xml:space="preserve">Nunmehr hält man das Rohr mit beiden Händen, dreht
<pb o="3" file="0271" n="271"/>
es ſo, daß der Feilenſtrich oben iſt, ſetzt unten die beiden <lb/>Daumennägel an und bricht ganz dreiſt ab. </s>
  <s xml:id="echoid-s3504" xml:space="preserve">Das Rohr bricht <lb/>dann ganz glatt, ohne zu ſplittern, an der angeritzten Stelle.</s>
  <s xml:id="echoid-s3505" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3506" xml:space="preserve">Da die Bruchſtelle ein wenig ſcharfkantig und ſchneidend <lb/>iſt, ſo thut man gut, ſie durch Schmelzen abzuſtumpfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3507" xml:space="preserve">Dazu <lb/>iſt eine Spirituslampe nötig, wie man ſie in guten Glashand-<lb/>lungen für ein paar Groſchen kaufen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s3508" xml:space="preserve">Dieſe Ausgabe <lb/>darf man nicht ſcheuen, weil wir die Lampe noch ſehr vielfach <lb/>brauchen werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s3509" xml:space="preserve"/>
</p>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption11" xml:space="preserve">Fig. 1.</caption>
</figure>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3510" xml:space="preserve">Zu ſolcher Lampe gehört auch eine kleine Blechhülſe und <lb/>ein guter Docht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3511" xml:space="preserve">Von ganz beſonderer Wichtigkeit iſt aber <lb/>der hierzu paſſende Glasdeckel, der gut aufgeſchliffen ſein muß. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3512" xml:space="preserve">Jeder ordentliche Glashändler liefert dies alles in gutem Zu-<lb/>ſtande. </s>
  <s xml:id="echoid-s3513" xml:space="preserve">Die Lampe wird mit gutem Spiritus gefüllt, der Docht <lb/>mäßig hoch herausgezogen und zum Gebrauch angezündet. </s>
  <s xml:id="echoid-s3514" xml:space="preserve"><lb/>(Nach dem Gebrauch aber muß immer der Deckel regelrecht <lb/>aufgeſetzt werden, damit der Spiritus nicht verdampft und der <lb/>Docht nicht verdirbt.)</s>
  <s xml:id="echoid-s3515" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3516" xml:space="preserve">Nun kann man ganz dreiſt die Bruchſtelle des Rohrs in <lb/>die Flamme der Lampe, und zwar in den oberen Teil der <lb/>Flamme, wo ſie am heißeſten iſt, hineinhalten und dabei das
<pb o="4" file="0272" n="272"/>
Rohr ein wenig drehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3517" xml:space="preserve">Man wird bald bemerken, daß das <lb/>Glas zu glühen und nach und nach zu ſchmelzen anfängt, wo-<lb/>durch die ſcharfe, ſchneidige Kante hübſch glatt und abgerundet <lb/>wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3518" xml:space="preserve">Wenn man das Rohr aus der Flamme nimmt, ſieht das <lb/>geglühte Ende recht klar aus, und man meint oft, daß es auch <lb/>ſchon wieder kalt ſei, aber das iſt durchaus nicht ſobald der <lb/>Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s3519" xml:space="preserve">Wer ſich nicht die Finger verbrennen will, muß ſich <lb/>hüten, die geglühte Stelle anzufaſſen, wenngleich das Rohr ſonſt <lb/>ganz kalt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3520" xml:space="preserve">Daraus lernt jeder Denkende ſehr leicht, daß <lb/>Glas ein ſchlechter Wärmeleiter iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s3521" xml:space="preserve">denn ſonſt würde das ganze <lb/>Rohr ſtark erhitzt worden ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s3522" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3523" xml:space="preserve">In vielen Haushaltungen hat man eine Berzeliuslampe. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3524" xml:space="preserve">Eine ſolche iſt viel beſſer als die Spirituslampe und kann mit <lb/>Vorteil in allen Fällen anſtatt derſelben gebraucht werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s3525" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3526" xml:space="preserve">Nunmehr kommen wir zu einem zweiten Kunſtſtück.</s>
  <s xml:id="echoid-s3527" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div95" type="section" level="1" n="87">
<head xml:id="echoid-head99" xml:space="preserve"><emph style="bf">II. Wie man Glasrohr biegt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3528" xml:space="preserve">Man nimmt das Glasrohr, wie das Bildchen 2 zeigt, mit <lb/>beiden Händen und erwärmt die Stelle des Rohrs, wo es ge-<lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0272-01a" xlink:href="fig-0272-01"/>
<pb o="5" file="0273" n="273"/>
bogen werden ſoll, ein wenig durch Hin- und Herführen in <lb/>der oberſten Flammenſpitze, am beſten einer Spirituslampe <lb/>oder eines Gas-Bunſen-Brenners, ſo daß dieſe Gegend des <lb/>Rohrs recht klar und ſchön ausſieht, indem jedes Stäubchen und <lb/>jede Feuchtigkeit, die ſich daran befindet, dadurch verbrannt <lb/>und verflüchtigt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3529" xml:space="preserve">Nunmehr bringt man die Stelle, wo <lb/>man das Rohr biegen will, in die Flamme und dreht dabei <lb/>das Rohr langſam mit den Fingern. </s>
  <s xml:id="echoid-s3530" xml:space="preserve">Nach einiger Zeit wird <lb/>man ſehen, wie die Stelle zu glühen anfängt und hübſch roſen-<lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0273-01a" xlink:href="fig-0273-01"/>
rot wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3531" xml:space="preserve">Man muß nun Geduld haben und das Drehen <lb/>ruhig fortſetzen, bis man merkt, daß das Glas weich wird <lb/>und einem recht ſanften Biegen nachgiebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3532" xml:space="preserve">Während des <lb/>Biegens muß man das Rohr ein wenig mit beiden Händen <lb/>ziehen, als ob man es länger machen wollte. </s>
  <s xml:id="echoid-s3533" xml:space="preserve">Es wird denn <lb/>auch hierin nachgeben und ſich ganz hübſch um die Ecke in <lb/>einen rechten Winkel biegen laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3534" xml:space="preserve">Nach einiger Erfahrung <lb/>wird man den richtigen Zeitpunkt, wo man mit Ziehen und <lb/>Biegen anfängt, von ſelber herausfinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3535" xml:space="preserve">War man ungeduldig <lb/>und hat damit zu früh begonnen, ſo wird das Rohr brechen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3536" xml:space="preserve">Aber man darf ſich darum nicht grämen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3537" xml:space="preserve">Es iſt ein kleines
<pb o="6" file="0274" n="274"/>
Lehrgeld, das gute Dienſte leiſtet, wenn man ſich’s richtig merkt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3538" xml:space="preserve">Es wird beim zweiten und dritten Mal ſchon beſſer gehen und <lb/>dem Anfänger Freude machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3539" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div95" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0272-01" xlink:href="fig-0272-01a">
<caption xml:id="echoid-caption12" xml:space="preserve">Fig. 2.</caption>
</figure>
<figure xlink:label="fig-0273-01" xlink:href="fig-0273-01a">
<caption xml:id="echoid-caption13" xml:space="preserve">Fig. 3.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3540" xml:space="preserve">Die Formen, in welche man die Glasröhren biegen muß, <lb/>ſind ſehr verſchieden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3541" xml:space="preserve">Vorerſt genügt es, ſie in der Weiſe zu <lb/>geſtalten, wie die Zeichnung (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3542" xml:space="preserve">3) andeutet.</s>
  <s xml:id="echoid-s3543" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div97" type="section" level="1" n="88">
<head xml:id="echoid-head100" xml:space="preserve"><emph style="bf">III. Ein drittes Kunſtſtück,</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3544" xml:space="preserve">das man nunmehr probieren muß, iſt ſehr leicht.</s>
  <s xml:id="echoid-s3545" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3546" xml:space="preserve">Wir werden zu den kleinen Experimenten, die wir noch <lb/>ausführen wollen, kleine Glasröhren mit feiner Spitze brauchen, <lb/>durch welche Gaſe, die wir uns ſelber herſtellen werden, in <lb/>dünnem Strahl ausſtrömen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3547" xml:space="preserve">Solche “Ausſtrömungsröhren” <lb/>ſtellt man in folgender Weiſe dar.</s>
  <s xml:id="echoid-s3548" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3549" xml:space="preserve">Man behandelt das Glasrohr ſo, als wollte man es <lb/>biegen; </s>
  <s xml:id="echoid-s3550" xml:space="preserve">aber man biegt es nicht, ſondern zieht es, wenn es <lb/>weich geworden iſt, ſanft mit beiden Händen, ſo daß es wirklich <lb/>nach und nach länger wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3551" xml:space="preserve">Die erweichte Stelle wird dabei <lb/>dünner. </s>
  <s xml:id="echoid-s3552" xml:space="preserve">Nun erwärmt man die dünne Stelle weiter und <lb/>zieht endlich das Rohr mit beiden Händen ſo, daß das Glas <lb/>nur noch einen dünnen Faden bildet, der bei weiterem Ziehen <lb/>abreißt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3553" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3554" xml:space="preserve">Man legt nunmehr beide Stäbe zum Abkühlen hohl hin, <lb/>indem man die heißen Stellen auf ein Stückchen Glasrohr legt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3555" xml:space="preserve">Wenn die Abkühlung erfolgt iſt, bricht man die Spitze ſoweit <lb/>ab, daß die Öffnung ungefähr einen Millimeter beträgt und <lb/>etwa eine gewöhnliche Stopfnadel hineingeht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3556" xml:space="preserve">Dieſe Bruchſtelle <lb/>bringt man dann wieder auf einen Moment in die Flamme, <lb/>ſo daß die Öffnung ihre Schärfe verliert.</s>
  <s xml:id="echoid-s3557" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="7" file="0275" n="275"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3558" xml:space="preserve">Man kann mehrere ſolche Ausſtrömungsröhren brauchen <lb/>und macht ſie ungefähr einen Finger lang. </s>
  <s xml:id="echoid-s3559" xml:space="preserve">Wenn man ſparſam <lb/>ſein will — und Sparſamkeit iſt auch in der Chemie eine <lb/>große Tugend — ſo verwendet man hierzu alle verunglückten <lb/>Bruchteile des Rohres und ſammelt ſich einen kleinen Vorrat <lb/>von ſolchen Röhren an.</s>
  <s xml:id="echoid-s3560" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div98" type="section" level="1" n="89">
<head xml:id="echoid-head101" xml:space="preserve"><emph style="bf">IV. Probiergläschen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3561" xml:space="preserve">In jeder guten Glashandlung bekommt man für ein paar <lb/>Groſchen eine ganze Maſſe Probiergläschen, von denen in <lb/>Figur 3 links eines dargeſtellt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3562" xml:space="preserve">Ein Dutzend iſt ausreichend. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3563" xml:space="preserve">Es ſind dies ſpannenlange, ſchmale Gläſer, für welche man ſich <lb/>aus einer alten Zigarrenkiſte <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0275-01a" xlink:href="fig-0275-01"/>
und einem Stück Pappe ein <lb/>Geſtell machen kann, wie es <lb/>die nebenſtehende Zeichnung <lb/>(Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3564" xml:space="preserve">4) darſtellt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3565" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div98" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0275-01" xlink:href="fig-0275-01a">
<caption xml:id="echoid-caption14" xml:space="preserve">Fig. 4.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3566" xml:space="preserve">Mit ſolchem Probier-<lb/>gläschen (“Reagensgläschen”) <lb/>kann man ſofort ein kleines,</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3567" xml:space="preserve">lehrreiches Experiment <lb/>machen, das für den An-<lb/>fänger recht überraſchend iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3568" xml:space="preserve">Man füllt nämlich ſolch ein <lb/>Gläschen etwas über drei <lb/>Viertel mit Waſſer, faßt es unten mit der Hand an und hält <lb/>es dort, wo oben das Waſſer ſteht, in ſchräger Stellung in <lb/>die Spiritusflamme. </s>
  <s xml:id="echoid-s3569" xml:space="preserve">Nach kurzer Zeit wird man bemerken, <lb/>daß dort, wo die Flamme herumſchlägt, im Waſſer erſt kleine <lb/>und dann große Blaſen entſtehen, die platzen und Dampf aus-
<pb o="8" file="0276" n="276"/>
ſtrömen laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3570" xml:space="preserve">Das Waſſer oben kocht und entwickelt Dampf, <lb/>während unten, wo man das Gläschen in den Fingern hält, <lb/>keine ſonderliche Wärme herrſcht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3571" xml:space="preserve">Man lernt hieraus, wie <lb/>man ein kochendes Waſſergefäß ruhig in der Hand halten kann, <lb/>ohne ſich zu verbrennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3572" xml:space="preserve">Es iſt dies darum möglich, weil <lb/>Waſſer ein ſchlechter Leiter der Wärme iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3573" xml:space="preserve">Die obere Hitze <lb/>dringt nicht nach unten. </s>
  <s xml:id="echoid-s3574" xml:space="preserve">Man ſieht aber auch dabei, was da <lb/>vorgeht, wenn Waſſer erhitzt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3575" xml:space="preserve">Es verwandelt ſich das <lb/>Waſſer in Gas und bildet erſt kleine und dann größere Blaſen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3576" xml:space="preserve">die Blaſen ſteigen nach oben und bilden beim Ausſtrömen in <lb/>die Luft Waſſerdampf. </s>
  <s xml:id="echoid-s3577" xml:space="preserve">Waſſerdampf iſt Waſſer, welches über <lb/>100 Grad Celſius heiß iſt und nunmehr Luftgeſtalt annimmt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3578" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div100" type="section" level="1" n="90">
<head xml:id="echoid-head102" xml:space="preserve"><emph style="bf">V. Eine Kochflaſche.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3579" xml:space="preserve">In guten Glashandlungen bekommt man auch ſehr billig <lb/>eine Kochflaſche, die wir zu verſchiedenen Experimenten brauchen <lb/>werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3580" xml:space="preserve">Es iſt dies eine Flaſche aus dünnem Glaſe, welche <lb/>unten rund iſt und alſo nicht ſtehen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s3581" xml:space="preserve">Mit ſolcher Koch-<lb/>flaſche kann man viele ſchöne Experimente anſtellen, ſobald <lb/>man ſich dazu einer Vorrichtung bedient, durch welche man <lb/>die Flaſche über die brennende Lampe bringen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s3582" xml:space="preserve">In <lb/>ordentlichen Laboratorien hat man dazu Ständer, ſog. </s>
  <s xml:id="echoid-s3583" xml:space="preserve">Retorten-<lb/>halter. </s>
  <s xml:id="echoid-s3584" xml:space="preserve">Es beſteht ein ſolcher aus einem Stock, der auf einem <lb/>breiten Brett befeſtigt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3585" xml:space="preserve">An dieſem Stock befindet ſich ein <lb/>drehbarer Arm, den man beliebig hoch oder niedrig ſtellen <lb/>kann und der vorne zwei Brettchen hat, zwiſchen welchen man <lb/>den Hals der Flaſche ſteckt und ſie durch eine Schraube ſo <lb/>aneinander bringt, daß ſie die Flaſche feſthalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s3586" xml:space="preserve">Wer ſich <lb/>einen ſolchen Ständer kaufen kann, der etwa zwei Mark koſtet, <lb/>der thut gut daran. </s>
  <s xml:id="echoid-s3587" xml:space="preserve">Wer jedoch die Ausgabe ſcheut, kann ſich
<pb o="9" file="0277" n="277"/>
mit einiger Handgeſchicklichkeit wohl einen ſolchen herſtellen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3588" xml:space="preserve">aber er muß dabei mit großer Umſicht verfahren, weil bei <lb/>Gebrauch desſelben in vielen Experimenten leicht ein Unfall <lb/>paſſieren kann, der zehnmal mehr beſchädigt, als ein gut her-<lb/>geſtellter Ständer koſtet.</s>
  <s xml:id="echoid-s3589" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3590" xml:space="preserve">Wenn man die Koch-<lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0277-01a" xlink:href="fig-0277-01"/>
flaſche an den Ständer ſo <lb/>befeſtigt hat, daß man <lb/>die Spirituslampe bequem <lb/>unter die Flaſche ſtellen <lb/>kann, füllt man die Flaſche <lb/>zur Hälfte mit Waſſer <lb/>und zündet die Lampe an, <lb/>worauf dann bald das <lb/>Waſſer ins Kochen gerät <lb/>und der Dampf oben aus <lb/>der Flaſche ſtürmiſch ent-<lb/>weicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3591" xml:space="preserve">Man kann auch die <lb/>Kochflaſche auf einen Drei-<lb/>fuß ſtellen, worauf ein <lb/>Dreieck gelegt wird, auf <lb/>welches die Flaſche ſo zu <lb/>ſtehen kommt, wie es das <lb/>nebenſtehende Bildchen <lb/>(Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3592" xml:space="preserve">5) darſtellt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3593" xml:space="preserve">Wenn <lb/>das Kochen einige Minuten <lb/>angehalten hat und das <lb/>Waſſer recht kräftig wallt, nimmt man die Lampe fort und <lb/>verſchließt die Öffnung der Flaſche recht ſchnell mit einem dazu <lb/>vorbereiteten, guten Korkpfropfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3594" xml:space="preserve">Das Kochen wird aufhören, <lb/>und allem Anſchein nach iſt es im Innern der Flaſche wieder <lb/>ſo, wie es war vor dem Kochen; </s>
  <s xml:id="echoid-s3595" xml:space="preserve">allein in Wahrheit iſt der <lb/>Zuſtand ein anderer. </s>
  <s xml:id="echoid-s3596" xml:space="preserve">Der Dampf nämlich hat während des
<pb o="10" file="0278" n="278"/>
Herausſtrömens die atmoſphäriſche Luft aus der Flaſche hin-<lb/>ausgetrieben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3597" xml:space="preserve">Der Pfropfen verhindert, daß wieder Luft in <lb/>die Flaſche eindringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3598" xml:space="preserve">Der ſcheinbar leere Raum in der Flaſche <lb/>iſt nunmehr mit Waſſerdampf gefüllt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3599" xml:space="preserve">Wartet man nun eine <lb/>Weile, bis ſich die Flaſche ſo weit abgekühlt hat, daß man ſie <lb/>in der Hand halten kann, ſo nimmt man ſie aus dem Ständer <lb/>und hält ſie umgekehrt mit dem Pfropfen nach unten. </s>
  <s xml:id="echoid-s3600" xml:space="preserve">Gießt <lb/>man nunmehr aus einem Töpfchen etwas kaltes Waſſer auf die <lb/>Flaſche, ſo wird man mit Überraſchung wahrnehmen, daß das <lb/>Waſſer in der Flaſche nochmals zu kochen anfängt, und zwar <lb/>deſto ſtürmiſcher, je kälter das Waſſer iſt, welches man auf <lb/>die Flaſche gießt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3601" xml:space="preserve">Der Grund dieſer intereſſanten Erſcheinung <lb/>iſt, daß in der Flaſche anſtatt Luft jetzt nur Waſſerdämpfe <lb/>exiſtieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s3602" xml:space="preserve">Durch das kalte Waſſer, welches man über die <lb/>Flaſche gießt, verwandelt ſich der Dampf in der Flaſche in <lb/>Waſſer, und es entſteht da ein leerer Raum. </s>
  <s xml:id="echoid-s3603" xml:space="preserve">Da aber das Waſſer <lb/>in der Flaſche noch warm iſt, ſo beginnt es ſofort wieder zu <lb/>verdampfen, und ſo ſtürmiſch, daß es in ſtarke Wallung gerät, <lb/>wie wenn es recht heftig kochen würde. </s>
  <s xml:id="echoid-s3604" xml:space="preserve">Man kann das hübſche <lb/>Experiment, wobei man ohne Feuer ſcheinbar das Waſſer ins <lb/>Kochen bringt, ſo lange wiederholen, bis das Waſſer in der <lb/>Flaſche ſehr ſtark abgekühlt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3605" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div100" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0277-01" xlink:href="fig-0277-01a">
<caption xml:id="echoid-caption15" xml:space="preserve">Fig. 5.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables10" xml:space="preserve">80° 90° 100° 100°</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3606" xml:space="preserve">Hierbei hat man Gelegenheit, eine wichtige Wahrheit zu <lb/>lernen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3607" xml:space="preserve">Es lautet dieſelbe dahin, daß Waſſer in Berührung <lb/>mit der atmoſphäriſchen Luft erſt kocht, wenn man es bis auf <lb/>100 Grad Celſius erhitzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3608" xml:space="preserve">Schon beim Ausſtrömen des Dampfes <lb/>kühlt er ſich auf circa 90 Grad ab, und oben in der Luft ver-<lb/>wandelt ſich der Dampf bei 80 Grad in feine Waſſertropfen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3609" xml:space="preserve">Die Luft drückt nämlich auf das Waſſer und verhindert die <lb/>ſchnelle Verdampfung. </s>
  <s xml:id="echoid-s3610" xml:space="preserve">Wenn man jedoch die Luft austreibt, <lb/>ſo kocht das Waſſer bereits, wenn es auch nur ſehr mäßig <lb/>erwärmt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3611" xml:space="preserve">Dieſe Erfahrung macht man auch ſchon, <lb/>wenn man auf ſehr hohen Bergen Waſſer kocht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3612" xml:space="preserve">Dort oben
<pb o="11" file="0279" n="279"/>
iſt die Luft dünn, und außerdem iſt die Luftſäule über dem <lb/>Waſſer weniger hoch und drückt deshalb weniger auf das <lb/>Waſſer. </s>
  <s xml:id="echoid-s3613" xml:space="preserve">Es gerät deshalb das Waſſer ins Kochen, wenngleich <lb/>dasſelbe noch keineswegs 100 Grad Celſius warm geworden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3614" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3615" xml:space="preserve">Wir werden die Kochflaſche noch öfter brauchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3616" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div102" type="section" level="1" n="91">
<head xml:id="echoid-head103" xml:space="preserve"><emph style="bf">VI. Gute Pfropfen und deren Vorrichtung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3617" xml:space="preserve">Wer ein wenig Chemie treiben will, muß ſich gute Pfropfen <lb/>kaufen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3618" xml:space="preserve">Im allgemeinen nennt man ſie franzöſiſche oder ſpa-<lb/>niſche Korke; </s>
  <s xml:id="echoid-s3619" xml:space="preserve">man kann indeſſen ganz gut die Pfropfen benutzen, <lb/>womit unſere gewöhnlichen Selterswaſſerflaſchen verſchloſſen <lb/>werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3620" xml:space="preserve">Es iſt gut, wenn man ſich etwas Vorrat davon hält. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3621" xml:space="preserve">Sie dürfen nicht ſo porös ſein, wie ſie bei unſeren Bierflaſchen <lb/>im Gebrauch ſind, weil ſie dann die Luft durchlaſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3622" xml:space="preserve">Man <lb/>muß auch darauf achten, daß ſie gut zur Kochflaſche und zu <lb/>den Probiergläschen paſſen und nach dem Einpreſſen feſt <lb/>ſchließen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3623" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3624" xml:space="preserve">Nunmehr aber muß man mehrere Pfropfen mit ſolchen <lb/>Löchern verſehen, in welche ein Glasrohr gut und feſt hinein-<lb/>paßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3625" xml:space="preserve">Um die Löcher zu machen, nimmt man einen Eiſen-<lb/>draht, der etwa halb ſo dick iſt wie das Glasrohr, glüht den <lb/>Draht im Feuer, bis er gehörig rot iſt, und ſteckt ihn langſam <lb/>in den Pfropfen hinein. </s>
  <s xml:id="echoid-s3626" xml:space="preserve">Der Kork verkohlt dabei, und es <lb/>entſteht ein Loch, das man, wenn das Glasrohr noch nicht <lb/>hineingeht, mit der Feile ein wenig erweitert. </s>
  <s xml:id="echoid-s3627" xml:space="preserve">Sodann macht <lb/>man das Glasrohr ein wenig naß und ſchiebt es mit einiger <lb/>Gewalt durch den Pfropfen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3628" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3629" xml:space="preserve">In ſolche durchlöcherte Pfropfen bringt man die Aus-<lb/>ſtrömungsröhrchen hinein, wie es in unſerer Figur 3 zu ſehen <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3630" xml:space="preserve">Stopft man damit ein Probiergläschen oder die Koch-
<pb o="12" file="0280" n="280"/>
ſlaſche zu, ſo ſtrömen die etwaigen Gaſe, welche man ent-<lb/>wickelt, durch die feine Öffnung der Glasröhre in dünnem <lb/>Strahl heraus.</s>
  <s xml:id="echoid-s3631" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3632" xml:space="preserve">Auch die gebogenen Glasröhren müſſen mit ſolchen Pfropfen <lb/>verſehen ſein, wie wir bald ſehen werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s3633" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3634" xml:space="preserve">Noch eine kleine Ausgabe iſt nötig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3635" xml:space="preserve">Man muß ſich etwas <lb/>Gummiſchlauch anſchaffen, welcher ein klein wenig enger iſt als <lb/>das Glasrohr. </s>
  <s xml:id="echoid-s3636" xml:space="preserve">Man bekommt für ein paar Groſchen einen <lb/>ganzen Meter davon, und es iſt gut, wenn man ſich mit etwas <lb/>Vorrat verſorgt, obwohl man immer nur kleine Enden davon <lb/>gebrauchen wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3637" xml:space="preserve">Mit einer gewöhnlichen Scheere ſchneidet <lb/>man das Gummirohr ganz gut ab, ſoviel man benutzen will. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3638" xml:space="preserve">Wenn man das Glasrohr in die etwas engere Gummiröhre <lb/>hineinbringen will, ſo geſchieht dies am beſten, wenn man <lb/>das Ende der Glasröhren mit dem Munde ein wenig an-<lb/>feuchtet.</s>
  <s xml:id="echoid-s3639" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div103" type="section" level="1" n="92">
<head xml:id="echoid-head104" xml:space="preserve"><emph style="bf">VII. Die pneumatiſche Wanne.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3640" xml:space="preserve">Das letzte Stück, was man ſich anſchaffen muß, iſt eine <lb/>pneumatiſche Wanne. </s>
  <s xml:id="echoid-s3641" xml:space="preserve">Man kann dazu auch eine gewöhnliche <lb/>Waſchſchüſſel gebrauchen; </s>
  <s xml:id="echoid-s3642" xml:space="preserve">aber man muß dazu eine Bank aus <lb/>Blech oder Zink herſtellen, welche in der Waſchſchüſſel gut <lb/>ſtehen kann und zwar ſo niedrig ſein muß, daß ſie unter <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0280-01a" xlink:href="fig-0280-01"/>
Waſſer ſteht, wenn man die <lb/>Schüſſel zur Hälfte mit Waſſer <lb/>füllt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3643" xml:space="preserve">In der Mitte der Bank <lb/>macht man ein Loch, mit einem <lb/>Nagel und erweitert dies mit <lb/>der Feile ſo ſtark, bis es un-<lb/>gefähr ſo groß iſt wie die <lb/>Öffnung der Glasröhre.</s>
  <s xml:id="echoid-s3644" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div103" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0280-01" xlink:href="fig-0280-01a">
<caption xml:id="echoid-caption16" xml:space="preserve">Fig. 6.</caption>
</figure>
</div>
<pb o="13" file="0281" n="281"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3645" xml:space="preserve">Das vorſtehende Bildchen (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3646" xml:space="preserve">6) zeigt die pneumatiſche <lb/>Wanne zum fertigen Gebrauch, den wir näher kennen lernen <lb/>werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3647" xml:space="preserve">Die Bank darf nicht wackeln und muß feſt und breit <lb/>genug ſein, um eine umgekehrte Flaſche oder ein Glas ſicher <lb/>tragen zu können.</s>
  <s xml:id="echoid-s3648" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3649" xml:space="preserve">Wenn man ſich all das angeſchafft hat, ſo kann man die <lb/>chemiſche Kunſt ſofort anfangen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3650" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div105" type="section" level="1" n="93">
<head xml:id="echoid-head105" xml:space="preserve"><emph style="bf">VIII. Wie man ſich Waſſerſtoffgas machen kann.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3651" xml:space="preserve">Waſſerſtoffgas kommt als ſolches in der Natur nur ganz <lb/>ſelten vor. </s>
  <s xml:id="echoid-s3652" xml:space="preserve">Das Gas, wenn es ſich irgendwo, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3653" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s3654" xml:space="preserve">in vul-<lb/>kaniſchen Gaſen, frei entwickelt, ſteigt ſofort in der Luft in die <lb/>Höhe, weil es an vierzehnmal leichter iſt als unſere atmoſphäriſche <lb/>Luft. </s>
  <s xml:id="echoid-s3655" xml:space="preserve">Es iſt daher auch kein Wunder, daß man dieſes Gas <lb/>erſt ſeit etwa hundert Jahren genauer kennt, obwohl es als <lb/>Hauptbeſtandteil des Waſſers in gar gewaltigen Maſſen in <lb/>der Natur exiſtiert. </s>
  <s xml:id="echoid-s3656" xml:space="preserve">Das Waſſer beſteht aus einem Maß <lb/>Sauerſtoff und zwei Maß Waſſerſtoff. </s>
  <s xml:id="echoid-s3657" xml:space="preserve">Wenn man nun ein <lb/>Mittel anwendet, wodurch man einer Maſſe Waſſer den Sauer-<lb/>ſtoff entzieht, ſo wird der Waſſerſtoff frei, und bei einer geeig-<lb/>neten Vorrichtung kann man denſelben ganz gut auffangen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3658" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3659" xml:space="preserve">Man hat viele Mittel, dies zu erreichen; </s>
  <s xml:id="echoid-s3660" xml:space="preserve">wir jedoch wollen <lb/>es in der leichteſten und bequemſten Manier verſuchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3661" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3662" xml:space="preserve">Man ſchüttet in eine gewöhnliche Flaſche eine Handvoll <lb/>kleine Stückchen Zink, wie ſie jeder Klempner für ein paar <lb/>Pfennige abläßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3663" xml:space="preserve">Auch eine Handvoll kleine Nägel iſt dazu <lb/>brauchbar. </s>
  <s xml:id="echoid-s3664" xml:space="preserve">Sodann gießt man verdünnte Schwefelſäure in die <lb/>Flaſche, ſo daß ſie etwa halb voll wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3665" xml:space="preserve">Man wird ſofort <lb/>ſehen, daß von dem Zink oder den eiſernen Nägeln Luftblaſen <lb/>aufſteigen und als Gas aus der Flaſche hinausſtrömen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3666" xml:space="preserve">Nun
<pb o="14" file="0282" n="282"/>
verſchließen wir die Flaſche mit einem Kork, worin ein Aus-<lb/>flußrohr ſteckt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3667" xml:space="preserve">Das in der Flaſche ſich entwickelnde Gas <lb/>wird danach aus der feinen Öffnung des Rohres ausſtrömen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3668" xml:space="preserve">— Da muß man denn vorerſt warten, bis das Gas alle <lb/>atmoſphäriſche Luft, welche in der Flaſche war, hinaus-<lb/>getrieben hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s3669" xml:space="preserve">denn Waſſerſtoff mit atmoſphäriſcher Luft <lb/>bildet in beſtimmter Miſchung Knallgas, und wenn man eine <lb/>Flamme daran bringt, ſo entzündet ſich dieſe Miſchung mit <lb/>heftigem Knall und zerſprengt in gefährlicher Weiſe die ganze <lb/>Flaſche. </s>
  <s xml:id="echoid-s3670" xml:space="preserve">Auch nach einer kleinen Weile thut man gut, erſt zu <lb/>probieren, ob der Waſſerſtoff jetzt rein iſt, und das macht man <lb/>in folgender Weiſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s3671" xml:space="preserve">Man hält ein Probiergläschen umgekehrt <lb/>über das Ausflußrohr und läßt ſo das Gas in das Gläschen <lb/>einſtrömen, wobei die Luft, welche im Gläschen war, verdrängt <lb/>wird von dem leichten Gaſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s3672" xml:space="preserve">Das Gas bleibt auch in dem <lb/>Gläschen ſolange, wie man es mit der Öffnung nach unten <lb/>hält. </s>
  <s xml:id="echoid-s3673" xml:space="preserve">Nun entfernt man das Gläschen recht weit von der <lb/>Flaſche, zündet ein Zündhölzchen an und hält es an die <lb/>Öffnung des Gläschens. </s>
  <s xml:id="echoid-s3674" xml:space="preserve">Das Gas wird ſofort aufflammen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3675" xml:space="preserve"><lb/>War nun in der Flaſche das Gas noch mit Luft gemiſcht, ſo <lb/>wird es beim Aufflammen knallen, ohne jedoch infolge ſeiner <lb/>geringen Menge einen Schaden anzurichten; </s>
  <s xml:id="echoid-s3676" xml:space="preserve">iſt jedoch in der <lb/>Flaſche die Luft bereits verdrängt, ſo wird das Aufflammen <lb/>ruhig vor ſich gehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3677" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3678" xml:space="preserve">Wenn man dies einige Male probiert und ſich überzeugt <lb/>hat, daß kein Knallgas mehr in der Flaſche iſt, ſo kann man <lb/>ohne Beſorgnis ein brennendes Zündholz an das Ausflußrohr <lb/>bringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3679" xml:space="preserve">Das ausſtrömende Gas wird ſich entzünden und <lb/>mit einer wenig leuchtenden, bläulichen Flamme fortbrennen: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3680" xml:space="preserve">Waſſerſtoff iſt ein brennbares Gas.</s>
  <s xml:id="echoid-s3681" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3682" xml:space="preserve">Obwohl die reine Waſſerſtoffflamme wenig leuchtet, iſt ſie <lb/>doch ſehr heiß; </s>
  <s xml:id="echoid-s3683" xml:space="preserve">will man ſie ein wenig leuchtend machen, ſo <lb/>muß man etwas Kohlenſtoff dazu bringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3684" xml:space="preserve">Es genügt, wenn
<pb o="15" file="0283" n="283"/>
man die Kohle des Zündhölzchens in die Flamme bringt; </s>
  <s xml:id="echoid-s3685" xml:space="preserve">auch <lb/>ein wenig Cigarrenrauch, den man in die Flamme bläſt, bringt <lb/>ein helleres Aufflammen hervor. </s>
  <s xml:id="echoid-s3686" xml:space="preserve">Unſer gewöhnliches Leucht-<lb/>gas enthält auch Kohlenſtoff und beſteht demnach aus Kohlen-<lb/>waſſerſtoff, der bekanntlich hell und ſchön leuchtet, aber dafür <lb/>weniger heiß iſt als eine eben ſo große, reine Waſſerſtoffflamme.</s>
  <s xml:id="echoid-s3687" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3688" xml:space="preserve">Was aber iſt in der Flaſche vorgegangen? </s>
  <s xml:id="echoid-s3689" xml:space="preserve">Woher kommt <lb/>der Waſſerſtoff?</s>
  <s xml:id="echoid-s3690" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3691" xml:space="preserve">In der Flaſche hat das Metall, Zink oder Eiſen, die Schwefel-<lb/>ſäure zerſetzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3692" xml:space="preserve">Das Metall hat eine große Neigung, ſich mit <lb/>Sauerſtoff und Schwefel zu verbinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3693" xml:space="preserve">Da nun Schwefelſäure <lb/>ans Waſſerſtoff, Schwefel und Sauerſtoff beſteht, ſo wird der <lb/>Waſſerſtoff frei, wenn das Metall ſeiner Neigung folgt, und <lb/>tritt als Gas aus der Flaſche heraus.</s>
  <s xml:id="echoid-s3694" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3695" xml:space="preserve">Wenn nach einer Weile die Ausſtrömung ſchwach wird, <lb/>ſo öffnet man die Flaſche ein wenig, gießt ſchnell etwas Schwefel-<lb/>ſäure zu und ſetzt den Kork ſofort wieder ein. </s>
  <s xml:id="echoid-s3696" xml:space="preserve">Die Ausſtrömung <lb/>wird dadurch wieder lebhafter. </s>
  <s xml:id="echoid-s3697" xml:space="preserve">Man muß jedoch hierbei <lb/>wiederum die Vorſicht brauchen, nicht früher das Gas anzu-<lb/>zünden, als bis man ſich überzeugt hat, daß es nicht mehr <lb/>mit atmoſphäriſcher Luft gemiſcht iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3698" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3699" xml:space="preserve">Will man dieſen Vorgang längere Zeit erhalten, ſo thut <lb/>man gut, wenn man ſich in der Glashandlung einen kleinen <lb/>Trichter kauft, der ein recht langes, dünnes Rohr hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s3700" xml:space="preserve">Man <lb/>macht dann in den Kork ein zweites kleines Loch, ſteckt das <lb/>Rohr des Trichters hinein, und zwar ſo tief, daß es faſt bis <lb/>auf den Boden der Flaſche reicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3701" xml:space="preserve">Man kann nun durch den <lb/>Trichter immer friſche Schwefelſäure hineingießen, ohne den <lb/>Kork zu lüften, und den Ausſtrömungsprozeß ſo lange unter-<lb/>halten, bis alles Metall aufgelöſt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3702" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3703" xml:space="preserve">Das Metall nämlich verwandelt ſich in ein Salz. </s>
  <s xml:id="echoid-s3704" xml:space="preserve">Es <lb/>iſt dies entweder ſchwefelſaures Zinkoxyd (Zinkſulfat) oder <lb/>ſchwefelſaures Eiſenoxyd (Eiſenvitriol). </s>
  <s xml:id="echoid-s3705" xml:space="preserve">Dieſes Salz löſt ſich
<pb o="16" file="0284" n="284"/>
im Waſſer auf, während der eine Beſtandteil des Waſſers <lb/>als Waſſerſtoffgas ausſtrömt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3706" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div106" type="section" level="1" n="94">
<head xml:id="echoid-head106" xml:space="preserve"><emph style="bf">IX. Wie man Gas in einem Gefäß auffangen kann.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3707" xml:space="preserve">Will man eine größere Maſſe Gas in einem Gefäß auf-<lb/>fangen, ſo macht man es ſo, wie es unſere Figur 7 andeutet.</s>
  <s xml:id="echoid-s3708" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3709" xml:space="preserve">Man füllt die pneumatiſche Wanne mit Waſſer, ſo daß <lb/>das darin befindliche Bänkchen völlig unter Waſſer ſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3710" xml:space="preserve">So-<lb/>dann füllt man ein hohes Glas, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3711" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s3712" xml:space="preserve">ein langes Weißbier-<lb/>glas oder auch eine Flaſche mit mäßig weitem Hals ganz voll <lb/>mit Waſſer. </s>
  <s xml:id="echoid-s3713" xml:space="preserve">Sodann deckt man das Glas oder die Flaſche <lb/>mit einem dünnen Brettchen oder mit einem Stück ſteifen <lb/>Papier zu, hält die Hand auf dieſen Deckel und kehrt das <lb/>Glas oder die Flaſche um. </s>
  <s xml:id="echoid-s3714" xml:space="preserve">Das Waſſer fließt nicht aus, und <lb/>man ſetzt das ſo umgeſtülpte Gefäß in die pneumatiſche Wanne, <lb/>nimmt unter Waſſer den Deckel fort und ſtellt das Gefäß mit <lb/>der Öffnung auf das Bänkchen dort, wo ſich das Loch des-<lb/>ſelben befindet.</s>
  <s xml:id="echoid-s3715" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3716" xml:space="preserve">Nunmehr bringt man ein in rechten Winkeln gebogenes <lb/>Rohr, wie unſere Zeichnung zeigt, mit einem guten Pfropfen <lb/>auf die Flaſche, worin ſich das Gas entwickelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3717" xml:space="preserve">Solch ein <lb/>Rohr nennt man das “Entbindungsrohr”. </s>
  <s xml:id="echoid-s3718" xml:space="preserve">Nun ſteckt man <lb/>das andere Ende dieſes Rohres unter das Bänkchen und unter <lb/>das Loch desſelben.</s>
  <s xml:id="echoid-s3719" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3720" xml:space="preserve">Man wird ſofort ſehen, daß Gasblaſen aus dem Ende <lb/>des Rohres aufſteigen und in das umgeſtülpte Gefäß hinauf-<lb/>wandern. </s>
  <s xml:id="echoid-s3721" xml:space="preserve">In demſelben Maße, wie das geſchieht, ſinkt das <lb/>Waſſer in dem Gefäß und fließt in die pneumatiſche Wanne. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3722" xml:space="preserve">Wenn alles Waſſer ausgefloſſen iſt, ſo iſt das Gefäß mit Gas <lb/>gefüllt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3723" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="17" file="0285" n="285"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3724" xml:space="preserve">Nunmehr hebt man das Gefäß umgekehrt mit der Öffnung <lb/>nach unten heraus und ſtellt es umgekehrt auf den Tiſch. </s>
  <s xml:id="echoid-s3725" xml:space="preserve">Da <lb/>Waſſerſtoff leichter iſt als die atmoſphäriſche Luft, ſo bleibt <lb/>das Gas darin, auch wenn man das Gefäß unten frei und <lb/>offen läßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3726" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3727" xml:space="preserve">Dieſe Art und Weiſe wendet man auch beim Sauerſtoff <lb/>an, wie wir das noch zeigen werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3728" xml:space="preserve">Der Anfänger lernt <lb/>hierbei, wie man Gaſe auffangen und in ein Gefäß bringen <lb/>kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s3729" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3730" xml:space="preserve">Zuweilen paßt das Entbindungsrohr nicht, weil es zu <lb/>kurz oder zu lang iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3731" xml:space="preserve">Da muß man ſich zu helfen wiſſen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3732" xml:space="preserve">Man bricht in der angegebenen Weiſe das Entbindungsrohr <lb/>entzwei und ſetzt zwiſchen die Stücken ein Stück Gummiſchlauch <lb/>ein, das biegſam und allenthalben paſſend iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3733" xml:space="preserve">Der Prozeß <lb/>der Entbindung wird dadurch nicht geändert.</s>
  <s xml:id="echoid-s3734" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div107" type="section" level="1" n="95">
<head xml:id="echoid-head107" xml:space="preserve"><emph style="bf">X. Wie man einen kleinen Luftballon füllen kann.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3735" xml:space="preserve">In guten Gummihandlungen kauft man für ein paar <lb/>Groſchen einen kleinen Beutel von feinem Gummi, an dem ein <lb/>Röhrchen angebracht iſt, durch welches man mit dem Munde <lb/>den Beutel zu einem mäßig großen Ballon aufblaſen kann. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3736" xml:space="preserve">Der Ballon iſt freilich dann ſehr leicht; </s>
  <s xml:id="echoid-s3737" xml:space="preserve">aber die Luft, welche <lb/>wir mit dem Munde hineinblaſen, iſt zu ſchwer, um den Ballon <lb/>in die Höhe zu treiben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3738" xml:space="preserve">Um ihn ſteigen zu laſſen, muß man <lb/>ihn mit Waſſerſtoff füllen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3739" xml:space="preserve">Dies bewirkt man, wenn man den <lb/>gut ausgedrückten, leeren Gummibeutel durch ein Röhrchen <lb/>Gummiſchlauch mit der Waſſerſtoffflaſche in Verbindung ſetzt <lb/>und das Gas einſtrömen läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3740" xml:space="preserve">Anfangs geht die Ausdehnung <lb/>nur langſam vor ſich; </s>
  <s xml:id="echoid-s3741" xml:space="preserve">aber wenn man nur Geduld hat, ſo</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3742" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s3743" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s3744" xml:space="preserve">Volksbücher XIV.</s>
  <s xml:id="echoid-s3745" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="18" file="0286" n="286"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3746" xml:space="preserve">wird ſich nach und nach der Ballon ganz mächtig ausdehnen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3747" xml:space="preserve">Schnürt man dann den Ballon mit feinem Bindfaden zu, ſo <lb/>daß das Gas nicht ausſtrömen kann, ſo ſteigt er in die Höhe <lb/>und giebt ein Bild eines wirklichen Luftballons ab.</s>
  <s xml:id="echoid-s3748" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div108" type="section" level="1" n="96">
<head xml:id="echoid-head108" xml:space="preserve"><emph style="bf">XI. Wie man Sauerſtoff macht und auffängt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3749" xml:space="preserve">Sauerſtoff iſt gemiſcht mit Stickſtoff in der Luft, welche <lb/>wir atmen, enthalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s3750" xml:space="preserve">Wäre man nun imſtande, irgend einen <lb/>Stoff aufzufinden, der ſtarke Neigung hat, ſich chemiſch mit <lb/>Stickſtoff zu verbinden, ſo könnte man in irgend einem ge-<lb/>ſchloſſenen Luftraume den Stickſtoff fortſchaffen, und man <lb/>würde dann den Sauerſtoff der Luft einfangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3751" xml:space="preserve">Allein der <lb/>Stickſtoff iſt durchaus nicht chemiſch verbindungsluſtig, und da <lb/>muß man denn Sauerſtoff in anderer Weiſe zu gewinnen <lb/>ſuchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3752" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3753" xml:space="preserve">Es giebt nun einige Salze, welche viel Sauerſtoff in ſich <lb/>haben und ihn beim Erhitzen von ſich geben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3754" xml:space="preserve">Solch ein Salz <lb/>iſt das chlorſaure Kali, das ſehr billig in jeder Apotheke oder <lb/>Droguenhandlung zu haben iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3755" xml:space="preserve">Dieſes in feinen Kryſtallen <lb/>käufliche Salz vermiſcht man mit ungefähr halb ſoviel Braun-<lb/>ſteinpulver und thut dies Gemiſch in die Kochflaſche. </s>
  <s xml:id="echoid-s3756" xml:space="preserve">Sodann <lb/>bringt man die Kochflaſche ſo an dem Ständer an, daß man <lb/>die Spirituslampe gut darunter ſtellen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s3757" xml:space="preserve">Man ſteckt nun <lb/>einen Kork mit einem Entbindungsrohr auf die Flaſche und <lb/>bringt das Ende des Entbindungsrohrs in die pneumatiſche <lb/>Wanne. </s>
  <s xml:id="echoid-s3758" xml:space="preserve">Zündet man nun die Lampe an, ſo wird zuerſt durch <lb/>die Wärme die Luft ausgetrieben, welche in der Kochflaſche <lb/>und im Rohr iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3759" xml:space="preserve">Dieſe Luft iſt kein reiner Sauerſtoff, und <lb/>man fängt ſie deshalb nicht auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s3760" xml:space="preserve">Bald aber wird die Miſchung
<pb o="19" file="0287" n="287"/>
in der Kochflaſche ſchmelzen und Blaſen ausſtrömen laſſen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3761" xml:space="preserve">Da ſetzt man denn auf das Loch des Bänkchens der pneu-<lb/>matiſchen Wanne ein mit Waſſer gefülltes Glas oder eine <lb/>Flaſche ebenſo, wie man es mit dem Waſſerſtoff gemacht hat, <lb/>und wie es die folgende Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3762" xml:space="preserve">7 andeutet. </s>
  <s xml:id="echoid-s3763" xml:space="preserve">Es ſteigen nunmehr <lb/>Sauerſtoffblaſen auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s3764" xml:space="preserve">Sie füllen das Gefäß und verdrängen <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0287-01a" xlink:href="fig-0287-01"/>
das Waſſer. </s>
  <s xml:id="echoid-s3765" xml:space="preserve">Wenn dies nun voll Sauerſtoff iſt, ſo dreht man <lb/>das Geſäß um, deckt es mit einem Brettchen oder mit einem <lb/>Stück ſteifem Papier zu und ſtellt es beiſeite, um noch andere <lb/>Gläſer oder Flaſchen zu füllen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3766" xml:space="preserve">Aus dem Gemiſch kann man <lb/>wohl fünf bis ſechs große Gefäße mit Sauerſtoff füllen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3767" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div108" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0287-01" xlink:href="fig-0287-01a">
<caption xml:id="echoid-caption17" xml:space="preserve">Fig. 7.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3768" xml:space="preserve">Nunmehr muß man das Entbindungsrohr ſofort aus dem <lb/>Waſſer herausnehmen, und erſt dann darf man die Spiritus-
<pb o="20" file="0288" n="288"/>
lampe auslöſchen, weil ſonſt ſehr leicht beim Aufhören des <lb/>Ausſtrömens und der Abkühlung der Kochflaſche Waſſer durch <lb/>das Entbindungsrohr in die Kochflaſche hineinſteigt und eine <lb/>Exploſion in derſelben hervorruft, die leicht einen Unfall her-<lb/>beiführen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s3769" xml:space="preserve">Um das Zurückſteigen des Waſſers in die <lb/>Kochflaſche zu verhüten, iſt es empfehlenswert, das Entbindungs-<lb/>rohr zu zerbrechen und die beiden Enden durch einen Gummi-<lb/>ſchlauch zu verbinden, dann ſchneidet man mit einer Scheere <lb/>einen kleinen, ſchrägen Schlitz in die Gummiröhre. </s>
  <s xml:id="echoid-s3770" xml:space="preserve">Es entweicht <lb/>dann zwar zuweilen ein wenig Sauerſtoff aus dem Schlitz, <lb/>aber man hat dabei den Vorteil, daß, wenn man die Lampe <lb/>zu früh fortgenommen, die Luft durch den Schlitz eindringt <lb/>und es verhindert, daß Waſſer in die Kochflaſche ſteigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3771" xml:space="preserve">Am <lb/>beſten iſt es freilich, wenn man, bevor man die Lampe aus-<lb/>löſcht oder fortnimmt, das Entbindungsrohr aus dem Waſſer <lb/>heraushebt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3772" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div110" type="section" level="1" n="97">
<head xml:id="echoid-head109" xml:space="preserve"><emph style="bf">XII. Einige Verſuche mit Waſſerſtoff.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3773" xml:space="preserve">Wir haben bereits erwähnt, daß Waſſer aus den zwei <lb/>Gaſen, Waſſerſtoff und Sauerſtoff, beſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3774" xml:space="preserve">Jetzt wollen wir <lb/>einmal zeigen, wie man ſich auf chemiſchem Wege Waſſer <lb/>machen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s3775" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3776" xml:space="preserve">Man hat ſchon im gewöhnlichen Leben ſehr oft Gelegen-<lb/>heit, dies Kunſtſtück zu ſehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s3777" xml:space="preserve">allein man achtet in der Regel <lb/>nicht darauf. </s>
  <s xml:id="echoid-s3778" xml:space="preserve">Wenn man eine Petroleumlampe anſteckt und <lb/>den Cylinder aufſetzt, ſo wird wohl ſchon jeder unſerer Leſer <lb/>beobachtet haben, daß im erſten Moment der Cylinder inwendig <lb/>wie angehaucht erſcheint, dann aber bald nach und nach klar <lb/>wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3779" xml:space="preserve">Dies iſt beſonders recht bemerkbar, wenn der Cylinder <lb/>kalt war. </s>
  <s xml:id="echoid-s3780" xml:space="preserve">Was verurſacht dieſen Hauch? </s>
  <s xml:id="echoid-s3781" xml:space="preserve">Es iſt Waſſer,
<pb o="21" file="0289" n="289"/>
wirkliches Waſſer, welches ſich beim Ausſtrömen des brennenden <lb/>Petroleums bildet. </s>
  <s xml:id="echoid-s3782" xml:space="preserve">Petroleum iſt nämlich eine Verbindung <lb/>von Kohlen- und Waſſerſtoff, und beim Brennen verbindet <lb/>ſich der Waſſerſtoff mit dem Sauerſtoff der Luft. </s>
  <s xml:id="echoid-s3783" xml:space="preserve">Im erſten <lb/>Momente, wo der Zug durch den Cylinder noch ſchwach iſt, <lb/>ſchlägt ſich dieſes gasartige Waſſer an die Wände des Cylinders <lb/>nieder und läßt ihn ſo erſcheinen, als wenn man in denſelben <lb/>hineingehaucht hätte. </s>
  <s xml:id="echoid-s3784" xml:space="preserve">Bald aber wird der Cylinder heiß und <lb/>der Zug durch denſelben ſtark. </s>
  <s xml:id="echoid-s3785" xml:space="preserve">Dadurch verdampft das an-<lb/>gehauchte Waſſer, und der Cylinder wird wieder ganz klar.</s>
  <s xml:id="echoid-s3786" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3787" xml:space="preserve">Ein zweiter Verſuch, den wir anſtellen wollen, iſt ſchon <lb/>ein kleines chemiſches Kunſtſtück und wird auch die Bildung <lb/>von Waſſer recht deutlich machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3788" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3789" xml:space="preserve">Man ſteckt auf die Flaſche mit Waſſerſtoff einen Kork mit <lb/>einem Stück Glasrohr, das man nicht zugeſpitzt hat, und hält <lb/>die Öffnung einige Zeit mit dem Finger zu, damit das Gas <lb/>ſich ſtark anſammelt und, wenn man den Finger fortnimmt, <lb/>recht ſtark ausſtrömt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3790" xml:space="preserve">Nun zündet man das Gas an und hält <lb/>recht ſchnell eine Glasglocke, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3791" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s3792" xml:space="preserve">eine Butter- oder Käſe-<lb/>glocke, darüber. </s>
  <s xml:id="echoid-s3793" xml:space="preserve">Da wird man denn ſehen, wie ſich an die <lb/>Glocke recht ſtarke Waſſertropfen anſetzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3794" xml:space="preserve">Hält man die Glocke <lb/>ein wenig ſchräg, ſo ſammeln ſich am unteren Rande die <lb/>Waſſertropfen und ſließen ordentlich ab. </s>
  <s xml:id="echoid-s3795" xml:space="preserve">Wenn man das <lb/>Experiment recht lange fortſetzt, kann man ſich in ſolcher Weiſe <lb/>ſchon ein halbes Weinglas Waſſer fabrizieren.</s>
  <s xml:id="echoid-s3796" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3797" xml:space="preserve">Woher dies Waſſer kommt, das iſt leicht einzuſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3798" xml:space="preserve">Der <lb/>Waſſerſtoff brennt nur im Sauerſtoff der Luft, und es entſteht <lb/>dabei aus den beiden Gaſen das Waſſer, das ſich in Tropfen <lb/>niederſchlägt und ſich bei richtiger Haltung der Glocke auch <lb/>anſammelt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3799" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="22" file="0290" n="290"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div111" type="section" level="1" n="98">
<head xml:id="echoid-head110" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIII. Einige Verſuche mit Sauerſtoff.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3800" xml:space="preserve">Die Gefäße, welche wir mit Sauerſtoff gefüllt haben, <lb/>bieten uns manchen Stoff zu recht auffallenden Experimenten. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3801" xml:space="preserve">Wir nehmen einen dünnen Holzſ@ahn und zünden ihn an, <lb/>blaſen ihn aber wieder aus und laſſen nur ein wenig glim-<lb/>mende Kohle daran. </s>
  <s xml:id="echoid-s3802" xml:space="preserve">Dieſen glimmenden Holzſpahn ſtecken wir <lb/>recht ſchnell in ein Gefäß, worin Sauerſtoff iſt, und da werden <lb/>wir ſehen, wie er in heller Flamme zu brennen anfängt, in <lb/>viel hellerer Flamme, als er in der Luft brennen würde. </s>
  <s xml:id="echoid-s3803" xml:space="preserve">Der <lb/>Sauerſtoff ſelber brennt nicht; </s>
  <s xml:id="echoid-s3804" xml:space="preserve">aber er befördert die Ver-<lb/>brennung gar mächtig, denn die Verbrennung iſt eben gar nichts <lb/>Anderes als eine chemiſche Verbindung des Sauerſtoffs mit <lb/>der glühenden Kohle. </s>
  <s xml:id="echoid-s3805" xml:space="preserve">Die Verbrennung hält auch nicht lange <lb/>an. </s>
  <s xml:id="echoid-s3806" xml:space="preserve">Der Sauerſtoff verbindet ſich eben mit der Kohle und <lb/>bildet ein Gas, welches Kohlenſäure heißt, ein Gas, welches <lb/>als ein Beſtandteil des Selterswaſſers ſehr bekannt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3807" xml:space="preserve">Wenn <lb/>in dem Gefäß noch ein wenig Waſſer iſt, ſo merkt man auch <lb/>beim Schmecken, daß es etwas Kohlenſäure aufgenommen hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s3808" xml:space="preserve"><lb/>es ſchmeckt ein wenig ſäuerlich und erinnert an abgeſtandenes <lb/>Selterswaſſer.</s>
  <s xml:id="echoid-s3809" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3810" xml:space="preserve">Wenn man bei dem vorhergehenden Verſuch ein Waſſer-<lb/>fabrikant war, ſo lehrt uns der jetzige Verſuch, wie man Kohlen-<lb/>ſäure machen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s3811" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3812" xml:space="preserve">Viel leichtere Methoden, Kohlenſäure zu fabrizieren, werden <lb/>wir auch bald kennen lernen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3813" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div112" type="section" level="1" n="99">
<head xml:id="echoid-head111" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIV. Sauerſtoff mit Schwefel und Phosphor.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3814" xml:space="preserve">Man befeſtigt mit einem Schwefelfaden an einem Draht <lb/>ein Stückchen feſten Schwefel und zündet ihn an. </s>
  <s xml:id="echoid-s3815" xml:space="preserve">Er wird
<pb o="23" file="0291" n="291"/>
mit gelblicher, ſchwacher Flamme brennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3816" xml:space="preserve">Wenn man jedoch <lb/>den Draht ſamt dem brennenden Schwefel in ein Gefäß mit <lb/>Sauerſtoff hineinſteckt, ſo wird man ſofort ſehen, wie der <lb/>Schwefel mit hellem, blauen Lichte darin verbrennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3817" xml:space="preserve">Auch bei <lb/>der Verbrennung in der atmoſphäriſchen Luft findet eine Ver-<lb/>bindung von Schwefel mit Sauerſtoff ſtatt, woraus eine Luft-<lb/>art entſteht, die man im Waſſer auffangen und löſen kann: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3818" xml:space="preserve">man erhält dann die ſogenannte “ſchweflige Säure”. </s>
  <s xml:id="echoid-s3819" xml:space="preserve">Dies iſt das <lb/>Gas, welches ſo unangenehm riecht, wenn man ein Zündhölzchen, <lb/>woran Schwefel brennt, unter die Naſe hält. </s>
  <s xml:id="echoid-s3820" xml:space="preserve">In reinem <lb/>Sauerſtoff geht die Verbrennung oder Verbindung von Schwefel <lb/>und Sauerſtoff und die Bildung des Gaſes noch viel ſchneller <lb/>und lebhafter vor ſich. </s>
  <s xml:id="echoid-s3821" xml:space="preserve">Wartet man nun einige Minuten und <lb/>verſucht das etwa in dem Gefäß noch befindliche Waſſer, ſo <lb/>findet man, daß es einen brennenden, ſauren Geſchmack hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s3822" xml:space="preserve"><lb/>Man muß noch ein paar Löffel Waſſer hinzuthun, um den <lb/>brennenden Geſchmack zu mildern und die Säure deutlicher zu <lb/>empfinden.</s>
  <s xml:id="echoid-s3823" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3824" xml:space="preserve">Ein noch ſchöneres Experiment bietet ein wenig Phosphor <lb/>dar, welches man in Sauerſtoff verbrennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3825" xml:space="preserve">Doch iſt dabei <lb/>Vorſicht von nöten, da der Phosphor ſich ſehr leicht entzündet. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3826" xml:space="preserve">Um dies zu bewerkſtelligen, muß man ein Stückchen Kreide an <lb/>einen Eiſendraht befeſtigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3827" xml:space="preserve">Die Kreide höhlt man ein wenig <lb/>aus, legt darauf ein erbſengroßes Stückchen Phosphor und ſteckt <lb/>es in das Gefäß mit Sauerſtoff. </s>
  <s xml:id="echoid-s3828" xml:space="preserve">Sodann erhitzt man ein Stück <lb/>Draht an der Lampe und berührt damit den Phosphor. </s>
  <s xml:id="echoid-s3829" xml:space="preserve">Der-<lb/>ſelbe wird ſofort mit glanzvollem Lichte zu brennen anfangen, <lb/>wobei ſich im Gefäß weiße Dämpfe bilden, welche darin <lb/>ſchwebend bleiben, wenn das Brennen aufgehört hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s3830" xml:space="preserve">Nach <lb/>einer Weile ſenken ſich dieſe Dämpfe auf den Boden des <lb/>Gefäßes, und wenn ſich dort ein wenig Waſſer angeſammelt <lb/>hat, ſo ſaugt dies die Dämpfe ein und bildet eine andere <lb/>Säure als die des Schwefels. </s>
  <s xml:id="echoid-s3831" xml:space="preserve">Es iſt dies Phosphorſäure,
<pb o="24" file="0292" n="292"/>
welche ſich im Waſſer auflöſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3832" xml:space="preserve">In g@höriger Verdünnung hat <lb/>ſie einen angenehmen, ſauren Geſchmack, ſo daß man ſie mit <lb/>Zucker recht gut als Limonade gebrauchen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s3833" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div113" type="section" level="1" n="100">
<head xml:id="echoid-head112" xml:space="preserve"><emph style="bf">XV. Sauerſtoff und Eiſen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3834" xml:space="preserve">Schwefel und Phosphor brennen auch, wie wohl jeder-<lb/>mann weiß, in der gewöhnlichen Luft, obwohl nicht mit ſo <lb/>heller Flamme wie im reinen Sauerſtoff. </s>
  <s xml:id="echoid-s3835" xml:space="preserve">Man ſieht aus den <lb/>vorangegangenen Verſuchen, daß der eigentliche Verbrennungs-<lb/>akt in einer Verbindung des Sauerſtoffs mit den in Flammen <lb/>verſetzten Stoffen beſteht, woraus bei vervollſtändigter Ope-<lb/>ration auch Schwefelſäure und Phosphorſäure fabriziert wird. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3836" xml:space="preserve">Dagegen gelingt es keineswegs mit gewöhnlichen Mitteln, <lb/>ſchwere Metalle, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3837" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s3838" xml:space="preserve">Eiſen, in der Luft in Brand zu <lb/>ſetzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3839" xml:space="preserve">In reinem Sauerſtoff aber findet die Verbrennung von <lb/>Eiſen ſehr leicht und mit großer Lebhaftigkeit ſtatt, wie fol-<lb/>gendes Experiment beweiſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3840" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3841" xml:space="preserve">Man nimmt einen feinen Eiſendraht, wie man ihn etwa <lb/>zur Befeſtigung der Pfropfen auf den Selterswaſſerflaſchen <lb/>gebraucht und wickelt das eine Ende um eine dünne Bleifeder <lb/>oder einen Griffel ſo auf, daß der Draht, wenn man ihn her-<lb/>unterzieht, wie ein Pfropfenzieher ausſieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3842" xml:space="preserve">An die Spitze <lb/>dieſes Drahtes ſteckt man ein Stückchen Feuerſchwamm. </s>
  <s xml:id="echoid-s3843" xml:space="preserve">Das <lb/>andere Ende des Drahtes läßt man gerade und befeſtigt es an <lb/>ein Brettchen, welches man als Deckel auf das Gefäß mit <lb/>Sauerſtoff auflegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3844" xml:space="preserve">Nun zündet man den Feuerſchwamm an und <lb/>ſteckt den Draht in das Gefäß. </s>
  <s xml:id="echoid-s3845" xml:space="preserve">— Man wird ſofort bemerken, <lb/>wie der Schwamm lebhaft zu flackern anfängt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3846" xml:space="preserve">Aber er ent-<lb/>zündet auch den Eiſendraht; </s>
  <s xml:id="echoid-s3847" xml:space="preserve">das Eiſen brennt mit faſt blendender <lb/>Flamme im Sauerſtoff und bildet daſelbſt kleine Kügelchen, die
<pb o="25" file="0293" n="293"/>
abfallen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3848" xml:space="preserve">Dieſes helle Verbrennen des Eiſens dauert ſolange <lb/>fort, bis der Sauerſtoff aufgezehrt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3849" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3850" xml:space="preserve">Was iſt aus dem Eiſen geworden?</s>
  <s xml:id="echoid-s3851" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3852" xml:space="preserve">Wir haben bei den vorigen Experimenten geſehen, wie die <lb/>Kohle in ihrer Verbindung mit Sauerſtoff ein Gas “Kohlen-<lb/>ſäure” bildet. </s>
  <s xml:id="echoid-s3853" xml:space="preserve">Ferner: </s>
  <s xml:id="echoid-s3854" xml:space="preserve">wie beim Verbrennen des Schwefels <lb/>eine Verbindung desſelben mit Sauerſtoff entſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3855" xml:space="preserve">Beim Ver-<lb/>brennen des Phosphors ſind Dämpfe entſtanden, welche bei der <lb/>Verbindung desſelben mit Waſſer die Phosphorſäure bildet. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3856" xml:space="preserve">Aus dem Eiſen jedoch iſt kein Gas und kein Dampf, ſondern <lb/>ein feſter Körper, jene Kügelchen, entſtanden, welche von dem <lb/>brennenden Draht abgefallen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s3857" xml:space="preserve">Wir lernen daraus, daß <lb/>aus einem ſo feſten Stoffe wie Eiſen und einem ſo leichten <lb/>Stoffe wie Sauerſtoff ein neuer feſter Körper entſtehen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s3858" xml:space="preserve"><lb/>Er heißt Eiſenoxyd.</s>
  <s xml:id="echoid-s3859" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3860" xml:space="preserve">Merkwürdig iſt noch beſonders hierbei die gewaltige Hitze <lb/>dieſer Kügelchen im Moment ihrer Entſtehung. </s>
  <s xml:id="echoid-s3861" xml:space="preserve">Wenn man <lb/>das Gefäß näher unterſucht, findet man, daß die Kügelchen <lb/>beim Abfallen in den Boden des Glaſes hineingedrungen ſind, <lb/>indem ſie das Glas geſchmolzen haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3862" xml:space="preserve">Selbſt wenn man ein <lb/>wenig Waſſer in das Gefäß gethan hat, verhindert dies nicht <lb/>das Einſchmelzen der Eiſenoxydkügelchen in den Boden des <lb/>Glaſes. </s>
  <s xml:id="echoid-s3863" xml:space="preserve">Die Hitze, unter welcher ſich Eiſen und Sauerſtoff <lb/>verbunden haben, iſt eine ſo große, daß ſie trotz des den Boden <lb/>des Gefäßes bedeckenden Waſſers noch ausreicht, das Glas zu <lb/>ſchmelzen und in dasſelbe einzudringen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3864" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div114" type="section" level="1" n="101">
<head xml:id="echoid-head113" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVI. Die Hitze, in welcher ſich Waſſerſtoff und</emph> <lb/><emph style="bf">Sauerſtoff verbinden.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3865" xml:space="preserve">Nunmehr wollen wir in einem Experiment darthun, wie <lb/>leicht man ſich mit den beiden Gaſen einen gewaltigen Grad
<pb o="26" file="0294" n="294"/>
von Hitze herſtellen und welch ſchönes, helles Licht von blen-<lb/>dendem Glanz man damit machen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s3866" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3867" xml:space="preserve">Wir füllen eine Schweinsblaſe mit Sauerſtoff. </s>
  <s xml:id="echoid-s3868" xml:space="preserve">Dazu iſt <lb/>iſt nicht viel Kunſt nötig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3869" xml:space="preserve">Man macht die Blaſe mit Waſſer <lb/>naß, wodurch ſie weich wird und ſich leicht zuſammendrücken <lb/>läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3870" xml:space="preserve">Nun ſteckt man in die Öffnung der Blaſe einen Pfropfen <lb/>mit einem kurzen Glasrohre und bindet Blaſe und Pfropfen <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0294-01a" xlink:href="fig-0294-01"/>
mit ein wenig Bindfaden feſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3871" xml:space="preserve">Sodann drückt man die Blaſe <lb/>ſo zuſammen, daß keine Luft mehr drin iſt, und bringt ſie <lb/>mit Hilfe eines kleinen Stückchens Gummiſchlauch an das Ent-<lb/>bindungsrohr des Apparates, wo man Sauerſtoff ausſtrömen <lb/>läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3872" xml:space="preserve">Der Sauerſtoff ſtrömt ſomit in die Blaſe ein und dehnt <lb/>ſich wieder ſo aus wie früher, als atmoſphäriſche Luft darin <lb/>war. </s>
  <s xml:id="echoid-s3873" xml:space="preserve">Um den Sauerſtoff nicht wieder aus der Blaſe aus-<lb/>fließen zu laſſen, genügt es, wenn man das Gummirohr mit <lb/>den Fingern zuſammendrückt, dann mit einem Bindfaden um-<lb/>windet und einen Knoten daran macht.</s>
  <s xml:id="echoid-s3874" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div114" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0294-01" xlink:href="fig-0294-01a">
<caption xml:id="echoid-caption18" xml:space="preserve">Fig. 8.</caption>
</figure>
</div>
<pb o="27" file="0295" n="295"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3875" xml:space="preserve">Nunmehr richtet man ein Geſtell durch eine Fußbank oder <lb/>mehrere Ziegelſteine ſo ein, daß die darauf gelegte Blaſe mit <lb/>ihrem Rohre ſo hoch ſteht, wie die Spitze des Ausflußrohrs <lb/>auf der Waſſerſtoffflaſche, ungefähr ſo, wie Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s3876" xml:space="preserve">8 es zeigt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3877" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3878" xml:space="preserve">Nachdem man das Waſſerſtoffgas wieder vermittelſt eines <lb/>Probiergläschens unterſucht und ſich überzeugt hat, daß es <lb/>nicht Knallgas enthält, zündet man den Waſſerſtoff an, zieht <lb/>den Gummiſchlauch von dem Ausſtrömungsrohr der Blaſe ab <lb/>und läßt, durch einen ſanften Druck der Hand befördert, den <lb/>Sauerſtoff gerade in die Waſſerſtoffflamme recht munter hinein-<lb/>ſtrömen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3879" xml:space="preserve">Die Waſſerſtoffflamme biegt ſich, von dem Strom des <lb/>Sauerſtoffs getrieben, ab und ſpitzt ſich recht ſcharf zu. </s>
  <s xml:id="echoid-s3880" xml:space="preserve">Hier <lb/>in dieſer Spitze entſteht eine ſo gewaltige Hitze, daß darin ein <lb/>Eiſendraht ebenfalls in Glut gerät und abſchmilzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3881" xml:space="preserve">Da bringen <lb/>wir denn ein Stück Kreide in dieſe Spitzflamme, und gar bald <lb/>werden wir wahrnehmen, wie da ein höchſt blendendes Licht <lb/>entſteht, in das man kaum hineinblicken kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s3882" xml:space="preserve">Es iſt dies das <lb/>“Drummondſche Kalklicht”, welches freilich nicht ſo hell wie das <lb/>elektriſche Licht ſtrahlt, aber doch demſelben an Glanz ſehr <lb/>nahe kommt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3883" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div116" type="section" level="1" n="102">
<head xml:id="echoid-head114" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVII. Etwas vom Stickſtoff.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3884" xml:space="preserve">Stickſtoff iſt ein Gas, welches frei in der Natur, und zwar <lb/>gemiſcht mit Sauerſtoff, in unſerer Luft exiſtiert. </s>
  <s xml:id="echoid-s3885" xml:space="preserve">Unſere Luft, <lb/>die Atmoſphäre, in welcher wir leben, beſteht größtenteils aus <lb/>vier Teilen Stickſtoff und einem Teil Sauerſtoff. </s>
  <s xml:id="echoid-s3886" xml:space="preserve">Wenn man <lb/>daher eine Vorrichtung herſtellt, durch welche man einer Maſſe <lb/>eingeſchloſſener Luft den Sauerſtoff entzieht, ſo bleibt in ihr <lb/>der Stickſtoff übrig.</s>
  <s xml:id="echoid-s3887" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3888" xml:space="preserve">Man kann dies auch in ſehr einfacher Weiſe anſchaulich
<pb o="28" file="0296" n="296"/>
machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3889" xml:space="preserve">Man ſchneidet eiu Brettchen oder einen recht breiten <lb/>Kork in der Größe eines ſilbernen Fünfmarkſtückes und legt <lb/>darauf ein Stück Fenſterſchwamm, der mit gutem Spiritus <lb/>angefeuchtet wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3890" xml:space="preserve">Dies läßt man auf einem Teller, der zur <lb/>Hälfte mit Waſſer angefüllt iſt, ſchwimmen und zündet den <lb/>Spiritus an. </s>
  <s xml:id="echoid-s3891" xml:space="preserve">Sodann ſtülpt man darüber ein gewöhnliches <lb/>leeres Bierglas. </s>
  <s xml:id="echoid-s3892" xml:space="preserve">Man wird nun ſofort gewahr, daß ein Teil <lb/>des Waſſers in das Glas hinaufſteigt und endlich die Flamme <lb/>des Spiritus erliſcht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3893" xml:space="preserve">Der Grund dieſer Erſcheinung beſteht <lb/>darin, daß der Sauerſtoff der Luft, welcher ſich im Glaſe be-<lb/>funden hat, eine Verbindung mit dem brennbaren Waſſerſtoff <lb/>des Spiritus eingegangen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3894" xml:space="preserve">Der Sauerſtoff, der den fünften <lb/>Teil der Luft ausmacht, iſt demnach ausgeſchieden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3895" xml:space="preserve">Im Glaſe be-<lb/>ſteht faſt nur noch der Stickſtoff, welcher vier Teile des Raumes <lb/>einnimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3896" xml:space="preserve">Ein Fünftel des Raumes wird von dem einge-<lb/>ſtiegenen Waſſer eingenommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3897" xml:space="preserve">— Man kann dasſelbe Kunſt-<lb/>ſtück auch mit einem brennenden Fidibus machen, weil bei der <lb/>Verbrennung des Papiers ebenfalls der Sauerſtoff aufgezehrt <lb/>wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3898" xml:space="preserve">Der im Glaſe befindliche Stickſtoff iſt indeſſen nicht <lb/>ganz rein, da die Atmoſphäre auch noch andre Stoffe als Stick-<lb/>ſtoff und Sauerſtoff in minimaler Menge enthält. </s>
  <s xml:id="echoid-s3899" xml:space="preserve">— Will man <lb/>reinen Stickſtoff erhalten, ſo muß man zu einem andern Mittel <lb/>Zuflucht nehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3900" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3901" xml:space="preserve">Man legt auf das Brettchen oder den Kork ein Stückchen <lb/>Phosphor, zündet dasſelbe an und ſtülpt das Glas darüber. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3902" xml:space="preserve">Bei der Verbrennung des Phosphors entſteht Phosphor-<lb/>ſäure, die ſich als weißer Nebeldampf bemerkbar macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3903" xml:space="preserve"><lb/>Das aufſteigende Waſſer hat indeſſen eine ſtarke Neigung, <lb/>die Phosphorſäure aufzunehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3904" xml:space="preserve">Nach einer Weile ver-<lb/>ſchwinden die Nebeldämpfe, und im Glaſe bleibt reiner Stick-<lb/>ſtoff übrig.</s>
  <s xml:id="echoid-s3905" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3906" xml:space="preserve">Stickſtoff beſitzt faſt gar keine Verbindungsluſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3907" xml:space="preserve">Man muß <lb/>ihm durch beſondere Kunſtſtücke im Moment ſeines Freiwerdens
<pb o="29" file="0297" n="297"/>
auflauern und ihm den Stoff, mit welchem er ſich verbinden <lb/>ſoll, ebenfalls im Moment ſeines Freiwerdens zuführen, worauf <lb/>denn die Verbindung des Stickſtoffs mit dem anderen Stoff <lb/>leicht hergeſtellt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3908" xml:space="preserve">Für den Anfänger ſind ſolche Künſte <lb/>viel zu umſtändlich, um ſie mit einfachen Mitteln zu bewerk-<lb/>ſtelligen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3909" xml:space="preserve">In großen chemiſchen Anſtalten jedoch wird der-<lb/>gleichen im großen Maßſtab ausgeführt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3910" xml:space="preserve">Wenn man die <lb/>Verbindung des Stickſtoffs in ſolcher Weiſe mit Sauerſtoff <lb/>herſtellt, ſo entſteht daraus die Salpeterſäure. </s>
  <s xml:id="echoid-s3911" xml:space="preserve">Wenn man <lb/>Stickſtoff mit Waſſerſtoff zur Verbindung bringt, ſo bilden ſie <lb/>zuſammen Ammoniak. </s>
  <s xml:id="echoid-s3912" xml:space="preserve">Salpeterſäure wie Ammoniak werden <lb/>zu mannigfachen Gewerben in großen Maſſen gebraucht.</s>
  <s xml:id="echoid-s3913" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div117" type="section" level="1" n="103">
<head xml:id="echoid-head115" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVIII. Etwas vom Kohlenſtoff.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3914" xml:space="preserve">Der Kohlenſtoff iſt mit ſo wunderbaren chemiſchen Eigen-<lb/>ſchaften ausgeſtattet, daß man ihn nicht mit Unrecht als den <lb/>Urſtoff der lebenden Welt bezeichnet. </s>
  <s xml:id="echoid-s3915" xml:space="preserve">Wir werden von dieſem <lb/>Stoff noch ſehr, ſehr viel in den folgenden Abhandlungen <lb/>unſern Leſern vorführen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3916" xml:space="preserve">Für jetzt, wo wir nur eine Seite <lb/>desſelben berühren, welche auch dem Anfänger Gelegenheit <lb/>bietet, ſich mit ihm zu befaſſen, begnügen wir uns mit der <lb/>Andeutung, daß dieſer Stoff in drei verſchiedenen Geſtaltungen <lb/>in der Natur vorkommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3917" xml:space="preserve">Erſtens in Kryſtallform, @ er als <lb/>Diamant erſcheint; </s>
  <s xml:id="echoid-s3918" xml:space="preserve">zweitens in einer Art feinen Puluers, <lb/>welches den Namen Graphit, auch Waſſerblei führt, und drittens <lb/>in der Form, in welcher wir ihn ſehr leicht herſtellen, wenn <lb/>wir irgend einen Stoff der Pflanzenwelt, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3919" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s3920" xml:space="preserve">Holz erhitzen <lb/>und in Kohle verwandeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s3921" xml:space="preserve">Holzkohle kennt ein jeder. </s>
  <s xml:id="echoid-s3922" xml:space="preserve">Nicht <lb/>minder iſt Lampenruß wirkliche Kohle in feiner Verteilung. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3923" xml:space="preserve">Auch Knochen laſſen ſich durch Hitze verkohlen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3924" xml:space="preserve">Mit einem
<pb o="30" file="0298" n="298"/>
Wort: </s>
  <s xml:id="echoid-s3925" xml:space="preserve">ſämtliche Pflanzenſtoffe und tieriſche Subſtanzen, aus <lb/>welchen man durch Hitze die in ihnen enthaltenen Gaſe, be-<lb/>ſtehend aus Waſſerſtoff, Sauerſtoff und Stickſtoff, verdrängt, <lb/>laſſen Kohle und noch etwas Aſche übrig, die aus verſchiedenen <lb/>Salzen beſteht, welche in den pflanzlichen und tieriſchen Stoffen <lb/>in geringer Menge enthalten ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s3926" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3927" xml:space="preserve">Reine Kohle hat die Eigentümlichkeit, daß man ſie weder <lb/>durch Hitze ſchmelzen, noch durch irgend welche Flüſſigkeit auf-<lb/>löſen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s3928" xml:space="preserve">Der Diamant freilich beweiſt uns, daß auch ein <lb/>Grad von Hitze exiſtieren muß, in welchem die Kohle ſchmilzt <lb/>und im langſamen Erkalten ſich in einen Kryſtall verwandelt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3929" xml:space="preserve">Auch Graphit, welchen man in der Erde findet, kann wohl durch <lb/>einen Prozeß entſtanden ſein, bei dem geſchmolzene Kohle die <lb/>Hauptrolle geſpielt und deſſen Kryſtalliſation durch irgend <lb/>welche Erſchütterung verhindert worden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3930" xml:space="preserve">Die Auflöſung <lb/>des Kohlenſtoffs in einer Flüſſigkeit iſt bisher nicht gelungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3931" xml:space="preserve"><lb/>Gold löſt ſich in einer Flüſſigkeit auf, die aus Salzſäure und <lb/>Salpeterſäure beſteht (Königswaſſer). </s>
  <s xml:id="echoid-s3932" xml:space="preserve">Silber löſt ſich in <lb/>Salpeterſäure auf, Kupfer in kochender Schwefelſäure, Eiſen, <lb/>Zink u. </s>
  <s xml:id="echoid-s3933" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s3934" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s3935" xml:space="preserve">in kalter, verdünnter Schwefelſäure. </s>
  <s xml:id="echoid-s3936" xml:space="preserve">Für Kohle <lb/>iſt die Flüſſigkeit, welche ſie auflöſt, noch nicht erfunden worden. </s>
  <s xml:id="echoid-s3937" xml:space="preserve"><lb/>Kohle iſt gewiſſermaßen der beſtändigſte, feſteſte Stoff aller Lebe-<lb/>weſen ſowohl in der Pflanzen- wie in der Tierwelt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3938" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3939" xml:space="preserve">Trotz dieſer Beſtändigkeit hat die Kohle die merkwürdige <lb/>Eigenſchaft, daß ſie ſich ſehr leicht mit Sauerſtoff, Waſſerſtoff, <lb/>Stickſtoff und anderen Gaſen verbindet und in dieſer Ver-<lb/>bindung ebenfalls Gasform annimmt oder in einer Flüſſigkeit <lb/>oder unter Umſtänden auch in feſter Form exiſtiert. </s>
  <s xml:id="echoid-s3940" xml:space="preserve">Nur der <lb/>reine Kohlenſtoff iſt ſo merkwürdig widerſtandsfähig; </s>
  <s xml:id="echoid-s3941" xml:space="preserve">in <lb/>chemiſcher Verbindung mit anderen Stoffen iſt er ſehr gefügig.</s>
  <s xml:id="echoid-s3942" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="31" file="0299" n="299"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div118" type="section" level="1" n="104">
<head xml:id="echoid-head116" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIX. Wie man Kohlenſtoff mit Sauerſtoff chemiſch</emph> <lb/><emph style="bf">verbindet.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3943" xml:space="preserve">Die Verbindung des Kohlenſtoffs mit Sauerſtoff iſt ſehr <lb/>leicht herzuſtellen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3944" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3945" xml:space="preserve">Zunächſt wollen wir uns ein wenig reine Kohle machen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3946" xml:space="preserve">Man nimmt einen trockenen, langen Holzſpahn, zündet ihn an <lb/>und hält ihn zum Teil in ein Probiergläschen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3947" xml:space="preserve">Man wird <lb/>bald bemerken, daß der Spahn, ſoweit er in das Gläschen hin-<lb/>einragt, zu brennen aufhört und nur verkohlt, jedoch weiter <lb/>flammt, ſoweit er aus dem Gläschen hinausragt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3948" xml:space="preserve">Bläſt man <lb/>den Spahn nun aus, ſo bemerkt man, daß er oben, wo er im <lb/>Gläschen geſteckt hat, verkohlt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3949" xml:space="preserve">Zur vollen Verbrennung <lb/>gehört Sauerſtoff, der im Gläschen nicht reichlich genug vor-<lb/>handen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3950" xml:space="preserve">Allenthalben, wo man Holz in einem Raum in <lb/>Brand ſetzt, worin man keinen hinreichenden Luftzug zuläßt, ver-<lb/>wandelt ſich das Holz in Kohle. </s>
  <s xml:id="echoid-s3951" xml:space="preserve">Holzkohle wird in ähnlicher <lb/>Weiſe auch in Kohlenmeilern fabriziert. </s>
  <s xml:id="echoid-s3952" xml:space="preserve">Zünden wir aber reine <lb/>Kohle in einem Raume an, wo hinreichend Sauerſtoff zuſtrömen <lb/>kann, ſo verſchwindet die Kohle; </s>
  <s xml:id="echoid-s3953" xml:space="preserve">ſie zehrt ſich, wie man im ge-<lb/>wöhnlichen Leben ſagt, auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s3954" xml:space="preserve">In Wahrheit aber geht da eine <lb/>Verwandlung, ein chemiſcher Prozeß vor ſich. </s>
  <s xml:id="echoid-s3955" xml:space="preserve">Aus der Kohle <lb/>wird mit dem ſich damit verbindenden Sauerſtoff ein Gas, <lb/>welches Kohlenſäure heißt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3956" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3957" xml:space="preserve">Kohlenſäure iſt ein Gas, das wohl jeder oft im Selters-<lb/>waſſer genoſſen hat, worin dieſes Gas die Hauptſache aus-<lb/>macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s3958" xml:space="preserve">Man kann dies Gas auch ſehr leicht entwickeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s3959" xml:space="preserve">Wenn <lb/>man für ein paar Pfennige kohlenſaures Natron in ein Glas <lb/>ſchüttet, darauf Waſſer gießt und irgend eine Säure, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3960" xml:space="preserve">B. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3961" xml:space="preserve">Eſſig oder etwas Schwefelſäure oder Salzſäure hineintröpfelt, <lb/>ſo verdrängt dieſe Säure die Kohlenſäure aus dem Natron <lb/>Nimmt man dies in einer Flaſche vor und ſchüttct etwas
<pb o="32" file="0300" n="300"/>
Weinſteinſäure anſtatt einer andern Säure hinzu, ſo erhält <lb/>man Selterswaſſer, das nur weniger rein iſt als das käufliche, <lb/>weil noch die Salze darin ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s3962" xml:space="preserve">Man kann auch in gleicher <lb/>Weiſe wie aus dem Natron aus einem Stückchen Kreide, die <lb/>eigentlich kohlenſaurer Kalk iſt, die Kohlenſäure durch irgend <lb/>eine ſtärkere Säure verdrängen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3963" xml:space="preserve">Aber man kann auch das <lb/>Umgekehrte machen und aus Kalk Kreide fabrizieren.</s>
  <s xml:id="echoid-s3964" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3965" xml:space="preserve">In jeder Apotheke bekommt man für einige Pfennige ein <lb/>Fläſchchen voll Kalkwaſſer. </s>
  <s xml:id="echoid-s3966" xml:space="preserve">Es iſt dies gewöhnlicher gelöſchter <lb/>Kalk, den man in reinem, deſtillierten Waſſer aufgelöſt hat. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s3967" xml:space="preserve">Das Kalkwaſſer iſt daher auch vollkommen klar. </s>
  <s xml:id="echoid-s3968" xml:space="preserve">Wenn man <lb/>in dieſe Flüſſigkeit ein wenig Kohlenſäure hineinbringt, ſei es, <lb/>daß man eine Flaſche Selterswaſſer öffnet und die ausſtrömende <lb/>Kohlenſäure durch ein Glasrohr in das Kalkwaſſer leitet, oder <lb/>daß man ein wenig Selterswaſſer in das Kalkwaſſer hinein-<lb/>gießt, ſo wird man gleich bemerken, daß das Kalkwaſſer trübe <lb/>und weiß wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3969" xml:space="preserve">Der Kalk nimmt ſofort die Kohlenſäure auf <lb/>und verwandelt ſich dadurch in Kreide. </s>
  <s xml:id="echoid-s3970" xml:space="preserve">Aus dem Kalkwaſſer <lb/>wird ſomit Kreidewaſſer.</s>
  <s xml:id="echoid-s3971" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3972" xml:space="preserve">Bekanntlich atmen wir auch Kohlenſäure aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s3973" xml:space="preserve">Wenn man <lb/>daher ein Glasrohr in klares Kalkwaſſer hineinſteckt und mit <lb/>dem Munde hineinbläſt, trübt ſich ebenfalls das Waſſer und <lb/>bekommt ein ſchwach milchiges Anſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3974" xml:space="preserve">Wir haben da mit <lb/>unſerm Atem aus Kalk wirklich Kreide gemacht.</s>
  <s xml:id="echoid-s3975" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3976" xml:space="preserve">Aber auch Kreide löſt ſich in Waſſer auf, worin ſehr viel <lb/>Kohlenſäure enthalten iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3977" xml:space="preserve">Daher wird das milchige Ausſehen <lb/>des Kreidewaſſers auch verſchwinden, wenn man recht viel <lb/>Kohlenſäure in das Waſſer hineinpumpt.</s>
  <s xml:id="echoid-s3978" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="33" file="0301" n="301"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div119" type="section" level="1" n="105">
<head xml:id="echoid-head117" xml:space="preserve"><emph style="bf">XX. Einige Verſuche mit Silber.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3979" xml:space="preserve">Für Anfänger iſt es ſehr lehrreich, einige Verſuche anzu-<lb/>ſtellen, deren Ergebniſſe ſich dem Auge ſehr leicht ſichtbar <lb/>machen und die merkwürdige Wirkung der chemiſchen Kräfte <lb/>außerordentlich ſchnell verraten. </s>
  <s xml:id="echoid-s3980" xml:space="preserve">Zu dieſem Zwecke iſt folgendes <lb/>Experiment ſehr geeignet.</s>
  <s xml:id="echoid-s3981" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3982" xml:space="preserve">In ein Probiergläschen thut man eine kleine Silbermünze, <lb/>z. </s>
  <s xml:id="echoid-s3983" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s3984" xml:space="preserve">ein Fünfzigpfennigſtück hinein, übergießt dies mit <lb/>Salpeterſäure, welche man durch etwas Waſſer verdünnt hat, <lb/>und läßt es ruhig ſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s3985" xml:space="preserve">Nach einiger Zeit wird man be-<lb/>merken, daß die ſonſt klare Flüſſigkeit anfängt, ſich bläulich zu <lb/>färben. </s>
  <s xml:id="echoid-s3986" xml:space="preserve">Die blaue Farbe rührt daher, daß in dem kleinen <lb/>ſilbernen Geldſtück auch Kupfer enthalten iſt, weil reines Silber <lb/>zu weich iſt und ſich im alltäglichen Gebrauch der Münzen <lb/>ſehr leicht abnutzen würde. </s>
  <s xml:id="echoid-s3987" xml:space="preserve">Eine Miſchung von Silber und <lb/>Kupfer, die man eine Legierung nennt, giebt ein feſteres und <lb/>dauerhafteres Metall ab, weshalb man all unſer Silbergeld <lb/>kupferhaltig macht.</s>
  <s xml:id="echoid-s3988" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3989" xml:space="preserve">Nach und nach wird man aber auch bemerken, daß das <lb/>Silber der kleinen Münze von der Salpeterſäure angegriffen <lb/>und die Münze vollſtändig aufgelöſt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s3990" xml:space="preserve">Hieraus kann man <lb/>entnehmen, daß ſowohl Kupfer wie Silber der auflöſenden <lb/>Kraft der Salpeterſäure nicht widerſtehen, und es fragt ſich <lb/>zunächſt, ob man wohl imſtande iſt, die in der Flüſſigkeit ent-<lb/>haltenen beiden Metalle von einander zu ſondern.</s>
  <s xml:id="echoid-s3991" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3992" xml:space="preserve">Der chemiſchen Kunſt iſt es gelungen, dieſe Scheidung <lb/>durch einen leichten Prozeß vollkommen zu bewerkſtelligen.</s>
  <s xml:id="echoid-s3993" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3994" xml:space="preserve">Zu dieſem Zweck löſe man in einem andern Probiergläschen <lb/>einen halben Theelöffel voll gewöhnliches Kochſalz in gewöhn-<lb/>lichem Waſſer auf und warte ab, bis dieſe Löſung vollkommen <lb/>klar iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s3995" xml:space="preserve">Gießt man dieſe Flüſſigkeit tropfenweiſe in die Löſung</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s3996" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s3997" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s3998" xml:space="preserve">Volksbücher XIV.</s>
  <s xml:id="echoid-s3999" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="34" file="0302" n="302"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4000" xml:space="preserve">der beiden Metalle, ſo bemerkt man bei jedem Tropfen, daß ſich <lb/>ein weißer, käſeartiger Niederſchlag bildet, der zu Boden fällt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4001" xml:space="preserve">Setzt man dieſen Prozeß fort, ſo findet man, daß ſich nach und <lb/>nach eine ganze Maſſe käſigen Niederſchlags gebildet hat, der <lb/>ſich bei ruhigem Stehenlaſſen ganz zu Boden ſetzt, und eine <lb/>klare, bläuliche Flüſſigkeit ſteht darüber.</s>
  <s xml:id="echoid-s4002" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4003" xml:space="preserve">Was hierbei eigentlich vorgegangen iſt, läßt ſich leicht nach-<lb/>weiſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4004" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4005" xml:space="preserve">In der verdünnten Salpeterſäure befanden ſich Kupfer und <lb/>Silber in eine Flüſſigkeit verwandelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4006" xml:space="preserve">Im Salzwaſſer hat <lb/>ſich Kochſalz befunden. </s>
  <s xml:id="echoid-s4007" xml:space="preserve">Nun aber beſteht Kochſalz aus zwei <lb/>Grundſtoffen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4008" xml:space="preserve">Der eine iſt ein Metall, welches Natrium heißt, <lb/>und der zweite iſt eine Luftart, die den Namen Chlor hat. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4009" xml:space="preserve">Chlor aber hat eine große Verbindungsluſt zum Silber, und <lb/>infolgedeſſen verläßt das Chlor ſeinen bisherigen Genoſſen <lb/>Natrium, verbindet ſich mit dem Silber und bildet Chlorſilber, <lb/>welches eben die weiße, käſige Subſtanz iſt, die ſich im Waſſer <lb/>nicht auflöſt und, weil ſchwerer, zu Boden geſunken iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4010" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4011" xml:space="preserve">Mit einiger Behutſamkeit kann man die Flüſſigkeit, welche <lb/>über dem Chlorſilber ſteht, abgießen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4012" xml:space="preserve">Bringt man nun reines <lb/>Waſſer zum Chlorſilber, ſo kann man damit dasſelbe immer <lb/>mehr reinigen und ganz von der Säure befreien. </s>
  <s xml:id="echoid-s4013" xml:space="preserve">Läßt man <lb/>dieſes nun einige Zeit ruhig ſtehen, ſo ſetzt ſich das Chlor-<lb/>ſilber wiederum zu Boden, und bei nochmaligem Abgießen des <lb/>Waſſers erhält man die Chlorſilbermaſſe ziemlich gut gereinigt, <lb/>mit welcher man ein ſehr einfaches, hübſches Experiment machen <lb/>kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s4014" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4015" xml:space="preserve">Zu dieſem Zweck beſtreicht man ein Blättchen reines Papier <lb/>mit einem kleinen Teil Chlorſilber. </s>
  <s xml:id="echoid-s4016" xml:space="preserve">Das Papier bleibt anfangs <lb/>rein und weiß; </s>
  <s xml:id="echoid-s4017" xml:space="preserve">wenn man es jedoch dem Tageslicht oder noch <lb/>beſſer dem hellen Sonnenlicht ausſetzt, ſo bemerkt man, daß <lb/>ſich das Papier erſt zu röten anfängt, ſodann bläulich zu <lb/>werden beginnt und ſchließlich, bei längerem Liegen im Lichte,
<pb o="35" file="0303" n="303"/>
tiefblau und nach und nach ganz ſchwarz mit einigem metalliſchen <lb/>Glanz wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s4018" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4019" xml:space="preserve">Daß hierbei das Licht eine beſondere Rolle ſpielt, bemerkt <lb/>man ſehr leicht, wenn man das Chlorſilberpapier durch einen <lb/>undurchſichtigen Gegenſtand teilweiſe vor der Wirkung des <lb/>Lichtes ſchützt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4020" xml:space="preserve">Die geſchützte Stelle bleibt weiß, während die <lb/>ungeſchützte Stelle ſchwarz wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s4021" xml:space="preserve">Wenn man auf das Chlor-<lb/>ſilberpapier ein dünnes Blättchen Papier legt, das auf der <lb/>einen Seite bedruckt iſt, ſo daß die ſchwarzen Buchſtaben auf <lb/>das Chlorſilberpapier zu liegen kommen, ſo wird man bemerken, <lb/>daß nach einiger Zeit das Chlorſilberpapier die Buchſtaben <lb/>in weißer Schrift auf ſchwarzem Grunde enthält. </s>
  <s xml:id="echoid-s4022" xml:space="preserve">Sorgt man <lb/>durch ein auf beide Papiere aufgelegtes Stückchen Glasſcheibe <lb/>dafür, daß die Papiere recht dicht aufeinanderliegen, ſo kann <lb/>man die ganze Schrift in weißen Buchſtaben vom Chlorſilber-<lb/>papier leſen, wobei ſie freilich als Spiegelſchrift, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s4023" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s4024" xml:space="preserve">in ver-<lb/>kehrter Geſtalt erſcheint.</s>
  <s xml:id="echoid-s4025" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4026" xml:space="preserve">Wenn man vorher das Chlorſilberpapier im Dunkeln hat <lb/>trocken werden laſſen, ſo wird die Spiegelſchrift ſehr klar und <lb/>deutlich.</s>
  <s xml:id="echoid-s4027" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4028" xml:space="preserve">Dieſes Schwärzen des Chlorſilberpapiers im Lichte iſt <lb/>die Grundlage der jetzt ſo allgemein bekannten Photographie. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4029" xml:space="preserve">Bei einiger Aufmerkſamkeit auf dieſen Prozeß wird man auch <lb/>ſehr leicht einſehen, daß, wenn man anſtatt des bedruckten <lb/>Papiers ein ſchwarzes Bildchen auf das Chlorſilberpapier <lb/>auflegt, man ein weißes Bildchen erhält, ſobald man das Licht <lb/>darauf einwirken läßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4030" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4031" xml:space="preserve">Da wir uns hier nicht mit der Kunſt der Photographie <lb/>zu beſchäftigen haben, ſo wollen wir uns jetzt wieder zu dem <lb/>vor unſeren Augen vorgegangenen chemiſchen Prozeß wenden.</s>
  <s xml:id="echoid-s4032" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4033" xml:space="preserve">Wir haben zunächſt Chlorſilber vor uns; </s>
  <s xml:id="echoid-s4034" xml:space="preserve">das Silber hier-<lb/>zu hat die kleine Geldmünze hergegeben, und das Chlor hat <lb/>das Kochſalz geliefert. </s>
  <s xml:id="echoid-s4035" xml:space="preserve">Wo aber ſteckt jetzt die Salpeterſäure
<pb o="36" file="0304" n="304"/>
das Kupfer und das Natrium des Kochſalzes? </s>
  <s xml:id="echoid-s4036" xml:space="preserve">Dieſe Stoffe <lb/>ſind in der abgegoſſenen Flüſſigkeit enthalten und können durch <lb/>weitere chemiſche Operationen auch alle wiederum dargeſtellt <lb/>werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s4037" xml:space="preserve">Es ſind dieſe Operationen indeſſen zu weiläufig für <lb/>den Anfänger, um ſie durchzuführen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4038" xml:space="preserve">Für unſern jetzigen Zweck <lb/>iſt es Hauptſache, einmal zu zeigen, wie die zwei verſchiedenen <lb/>Urſtoffe, Silber und Chlor, ihre frühere Verbindung verlaſſen <lb/>und gegenſeitig eine andere Verbindung geſchloſſen, welche in <lb/>ihrer käſeartigen Geſtalt alle Ähnlichkeit mit ihren wirklichen <lb/>Beſtandteilen verloren hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s4039" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div120" type="section" level="1" n="106">
<head xml:id="echoid-head118" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXI. Einige Verſuche mit reinem Silber und</emph> <lb/><emph style="bf">mit Höllenſtein.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4040" xml:space="preserve">In feinen Metallhandlungen und auch bei Goldſchmieden <lb/>kann man für einige Groſchen ein paar Gramm chemiſch reines <lb/>Silber kaufen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4041" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4042" xml:space="preserve">Wenn man das Silber mit Salpeterſäure übergießt, ſo <lb/>löſt dieſe das Metall auf, ohne eine bläuliche Farbe anzunehmen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4043" xml:space="preserve">Da iſt es denn zunächſt wichtig, ſich durch einen Verſuch zu <lb/>überzeugen, wie dieſer Auflöſungsprozeß ein durchaus anderer <lb/>iſt, als eine Auflöſung von Zucker oder Salz im Waſſer.</s>
  <s xml:id="echoid-s4044" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4045" xml:space="preserve">Läßt man Zuckerwaſſer oder Salzwaſſer kochen, ſo ver-<lb/>dampft das Waſſer, und man erhält dann den Zucker oder das <lb/>Salz in Form von feinen Kryſtallen in der Kochſchale. </s>
  <s xml:id="echoid-s4046" xml:space="preserve">Macht <lb/>man es aber mit dem in Salpeterſäure aufgelöſten Silber <lb/>ebenſo, bringt man dies in einer Porzellan- oder Glasſchale <lb/>zum Kochen, ſo verdampft wohl die Flüſſigkeit, aber anſtatt <lb/>des Silbers, das zurückbleiben ſoll, findet man nach der Ver-<lb/>dampfung eine eigene Art Salz, welches man wiſſenſchaftlich
<pb o="37" file="0305" n="305"/>
ſalpeterſaures Silber, ſonſt auch “Höllenſtein” nennt, und das <lb/>ganz merkwürdige Eigenſchaften hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s4047" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4048" xml:space="preserve">Schon beim Kochen dieſer Flüſſigkeit muß man ſich ein <lb/>wenig in acht nehmen, weil die Verdampfung unter heftigem <lb/>Spritzen vor ſich geht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4049" xml:space="preserve">Hat man ſich den Finger mit der <lb/>Flüſſigkeit benetzt, ſo bekommt man davon nach einiger Zeit <lb/>einen ſchwarzen Fleck, den man durch Waſchen durchaus nicht <lb/>fortbringen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s4050" xml:space="preserve">Selbſt das zurückgebliebene, trockene Salz <lb/>erhält die Eigenſchaft, die Haut zu ſchwärzen, wenn man es <lb/>ein wenig anfeuchtet. </s>
  <s xml:id="echoid-s4051" xml:space="preserve">Auch die Wäſche wie überhaupt jede <lb/>Pflanzenfaſer wird nach und nach ſchwarz an der Stelle, welche <lb/>man mit einer verdünnten Löſung von ſalpeterſaurem Silber <lb/>beſtreicht, und dieſe Schwärze läßt ſich dann durch Waſchen <lb/>nicht wieder entfernen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4052" xml:space="preserve">Man benutzt daher dieſe Flüſſigkeit <lb/>als unverlöſchliche Tinte und zeichnet die Wäſche damit, wozu <lb/>man ſich jedoch eines Pinſels oder einer Gänſefeder bedienen <lb/>muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s4053" xml:space="preserve">Eine gewöhnliche Stahlfeder würde durch das ſalpeter-<lb/>ſaure Silber ſtark angegriffen werden, wie wir ſpäter noch <lb/>ſehen werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s4054" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4055" xml:space="preserve">Da das Herſtellen von ſalpeterſaurem Silber für den An-<lb/>fänger aber umſtändlich iſt, ſo thut ein ſolcher am beſten, <lb/>ſich in einer Apotheke für ein paar Groſchen Höllenſtein zu <lb/>kaufen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4056" xml:space="preserve">Es iſt dies nichts anderes als geſchmolzenes ſalpeter-<lb/>ſaures Silber, welches man in Form einer Federpoſe erhält. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4057" xml:space="preserve">Den Namen “Höllenſtein” verdankt es eben der Eigenſchaft, <lb/>daß es ſchwärzt, wenn man es ein wenig anfeuchtet und damit <lb/>einen Strich oder ſonſt ein Zeichen auf die Haut macht, den <lb/>man nicht durch Waſchen, ſondern nur durch chemiſche Mittel <lb/>fortbringen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s4058" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4059" xml:space="preserve">Man ſtelle das Probiergläschen mit der Höllenſtein-<lb/>Löſung aufrecht hin, ſo daß ſich die Flüſſigkeit darin nicht <lb/>bewegt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4060" xml:space="preserve">ſodann nehme man einen dünnen Streifen Zinkblech, <lb/>der etwas länger iſt als das Probiergläschen und ſtecke dieſen
<pb o="38" file="0306" n="306"/>
in die Flüſſigkeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s4061" xml:space="preserve">Es wird ſich da ſehr bald ein eigentüm-<lb/>liches Schauſpiel zeigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4062" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4063" xml:space="preserve">Man wird dann bemerken, daß ſich an das Zinkſtäbchen <lb/>feine, graue Flöckchen anſetzen, als ob es einen Bart bekäme. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4064" xml:space="preserve">Die Flöckchen vergrößern ſich bald und werden zweigartig, als <lb/>ob ſich in der Flüſſigkeit eine Art Trauerweide bildete. </s>
  <s xml:id="echoid-s4065" xml:space="preserve">Läßt <lb/>man den Prozeß ganz ungeſtört, ſo wird der Anblick unge-<lb/>mein intereſſant. </s>
  <s xml:id="echoid-s4066" xml:space="preserve">Bei guten, ſauberen Flüſſigkeiten nehmen die <lb/>Flöckchen das Anſehen von Silberblättchen an, welche an dem <lb/>Zinkſtreifen wachſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4067" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4068" xml:space="preserve">Was aber iſt hier vorgegangen?</s>
  <s xml:id="echoid-s4069" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4070" xml:space="preserve">In der Höllenſtein-Löſung war eine chemiſche Verbindung <lb/>von Silber und Salpeterſäure. </s>
  <s xml:id="echoid-s4071" xml:space="preserve">Nun aber hat die Salpeter-<lb/>ſäure eine viel größere Neigung, ſich mit Zink zu verbinden, <lb/>als mit Silber. </s>
  <s xml:id="echoid-s4072" xml:space="preserve">Nachdem man nun den Zinkſtreifen in die <lb/>Flüſſigkeit hineingeſetzt hat, verließ die Salpeterſäure das Silber <lb/>und verband ſich mit dem Zink.</s>
  <s xml:id="echoid-s4073" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4074" xml:space="preserve">All dieſe kleinen Experimente ſind unterhaltend und für <lb/>den denkenden Anfänger auch ſehr lehrreich. </s>
  <s xml:id="echoid-s4075" xml:space="preserve">Sie leiten zum <lb/>Verſtändnis vieler anderer chemiſcher Prozeſſe an, die für den <lb/>Anfänger nicht ſo leicht herzuſtellen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s4076" xml:space="preserve">Sie zeigen, wie ſich <lb/>im chemiſchen Prozeß die Stoffe verändern, wenn ſie neue Ver-<lb/>bindungen eingehen, und wie ſie oft einander aus beſtehender <lb/>Verbindung verdrängen und zu neuen Geſtaltungen gelangen, <lb/>die man ohne Vorkenntnis der Naturprozeſſe nur blind an-<lb/>ſtaunen kann, ohne ſie zu begreifen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4077" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4078" xml:space="preserve">Wer an ſolchen kleinen Experimenten Vergnügen findet, <lb/>dem wird es durch Beſchäftigung damit auch viel leichter <lb/>werden, ſich in wiſſenſchaftlichen Werten weiter zurecht zu finden.</s>
  <s xml:id="echoid-s4079" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb file="0307" n="307"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div121" type="section" level="1" n="107">
<head xml:id="echoid-head119" xml:space="preserve"><emph style="bf">Praktiſche Heizung.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head120" xml:space="preserve"><emph style="bf">I. Die Wiſſenſchaft und die Praxis.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4080" xml:space="preserve">Die Naturwiſſenſchaft ſteht oft vor den Forderungen des <lb/>praktiſchen Lebens in derſelben Verlegenheit, wie der junge <lb/>Mediziner vor dem Krankenbette.</s>
  <s xml:id="echoid-s4081" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4082" xml:space="preserve">Im Buch und im Kollegium ſind die Krankheiten immer <lb/>ſehr ordentlich, ihre Urſachen ſind ſehr klar, ihre Entwickelungen <lb/>ſehr zutreffend, ihr Verlauf ſehr beſtimmt, ihre Behandlung <lb/>ſehr ſicher, und ihr Ausgang ſehr zuverläſſig. </s>
  <s xml:id="echoid-s4083" xml:space="preserve">Im Bette da-<lb/>gegen wird eine Krankheit oft ſo unordentlich, daß man ſie <lb/>gar nicht wieder erkennt, werden die Urſachen oft ſo unklar, <lb/>daß man ſie nicht herausfindet, nimmt die Entwickelung oft <lb/>eine ſo unerwartete Wendung, daß ſie aller Bücherregeln <lb/>ſpottet, und werden Verlauf und Ausgang ſo widerſpenſtig, als <lb/>ob ſie jeder Art von Behandlung Trotz bieten wollten.</s>
  <s xml:id="echoid-s4084" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4085" xml:space="preserve">Was überhebt den jungen Mediziner endlich dieſer <lb/>ſchlimmen Verlegenheit? </s>
  <s xml:id="echoid-s4086" xml:space="preserve">Nichts anderes, als daß er, wie man <lb/>es ſo nennt, ein “<emph style="sp">praktiſcher Arzt</emph>“ wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s4087" xml:space="preserve">Er geht im <lb/>vollen Sinne des Wortes, wenn er die mediziniſche Schule <lb/>verlaſſen hat, noch einmal beim praktiſchen Leben in die <lb/>Schule, bis er die Krankheiten in ihrer unordentlichen Er-<lb/>ſcheinung, die Krankheit im Bette, kennen lernt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4088" xml:space="preserve">und verſteht <lb/>er es dann, ſich zurecht zu finden und das Allgemeine aus <lb/>den Büchern und Schulen für jeden beſonderen Fall ſich be-
<pb o="40" file="0308" n="308"/>
ſonders zuzurichten, ſo wird er zwar nicht Wunder wirken, <lb/>aber je nach den Umſtänden richtig einzugreifen wiſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4089" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4090" xml:space="preserve">Dem Naturforſcher und namentlich dem Teutſchen geht es <lb/>ſehr häufig ſo.</s>
  <s xml:id="echoid-s4091" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4092" xml:space="preserve">Die Regeln der Naturwiſſenſchaft ſind vortrefflich, ihre <lb/>Verſuche vorzüglich, ihre Beweiſe und Berechnungen unum-<lb/>ſtößlich; </s>
  <s xml:id="echoid-s4093" xml:space="preserve">aber die praktiſchen Zuſtände ſind nicht dazu ein-<lb/>gerichtet, um die Reſultate rein und ungetrübt zu bewahr-<lb/>heiten. </s>
  <s xml:id="echoid-s4094" xml:space="preserve">Die Umſtände werden im praktiſchen Leben äußerſt <lb/>verſchieden und bringen oft eine ſolche Änderung in den <lb/>Wirkungen der Naturgeſetze zu Wege, daß nichts übrig bleibt, <lb/>als auch hier bei der Praxis noch einmal in die Schule zu <lb/>gehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4095" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4096" xml:space="preserve">Zu dieſen Äußerungen werden wir durch das Thema ver-<lb/>anlaßt, welches wir in einer Reihe von Aufſätzen hier be-<lb/>handeln wollen, das Thema ֦von der Heizung”, wobei wir <lb/>von dem Wunſche ausgehen, daß es uns gelingen möge, die <lb/>vorzüglichen Reſultate der wiſſenſchaftlichen Forſchungen neuerer <lb/>Zeit, die an ſich wenig zu wünſchen übrig laſſen, ſo den <lb/>faktiſchen Zuſtänden angemeſſen darlegen zu können, daß ſie <lb/>dem Volke im praktiſchen Leben auch die richtigen Vorteile <lb/>bringen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4097" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4098" xml:space="preserve">Dieſes Ziel zu erreichen iſt nicht leicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4099" xml:space="preserve">Die Schwierig-<lb/>keit liegt darin, daß die Naturforſcher bei ihren Arbeiten ſtets <lb/>geordnete und einfache Zuſtände vor Augen haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s4100" xml:space="preserve">Man <lb/>lernt bei ihnen gewiſſermaßen die Krankheit im <emph style="sp">Buche</emph> <lb/>kennen, und die iſt niemals gar zu ſchwierig. </s>
  <s xml:id="echoid-s4101" xml:space="preserve">In der An-<lb/>wendung fürs praktiſche Leben aber ſieht man, gleich dem <lb/>jungen Mediziner, die Krankheit im <emph style="sp">Bette</emph>, und bei dieſer <lb/>ſpielen eine ſolche Maſſe Nebendinge eine Hauptrolle, daß <lb/>man die Hauptſache oft ganz und gar aus den Augen verliert.</s>
  <s xml:id="echoid-s4102" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4103" xml:space="preserve">Ein Beiſpiel wird das, was wir meinen, deutlicher <lb/>machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4104" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="41" file="0309" n="309"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4105" xml:space="preserve">Geſetzt, es wollte ein Fabrikbeſitzer eine Feuerung neu <lb/>einrichten, und zwar in einem neu anzulegenden Feuerraum für <lb/>ein beliebig zu wählendes Brennmaterial mit den vorteil-<lb/>hafteſten Luftzügen und der zweckmäßigſten Einrichtung des <lb/>Schornſteins, ſo würde das ſchon nicht wenig Mühe machen, <lb/>ihm in all’ dem den beſten Rat zu erteilen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4106" xml:space="preserve">Man würde nicht <lb/>nur über jeden dieſer genannten Punkte eine ganz genaue <lb/>Benutzung der bisherigen Forſchung anzuwenden haben, <lb/>ſondern man müßte auch eine große Reihe von Neben-<lb/>umſtänden berückſichtigen, die eigentlich nicht direkt mit der <lb/>Feuerung im Zuſammenhang ſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4107" xml:space="preserve">Wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s4108" xml:space="preserve">B.</s>
  <s xml:id="echoid-s4109" xml:space="preserve">, ob der er-<lb/>leichterte Transport des ſchlechten Brennmaterials ihm die <lb/>Vorteile des für ihn ſchwieriger zu transportierenden, beſſeren <lb/>Brennmaterials aufwiege? </s>
  <s xml:id="echoid-s4110" xml:space="preserve">Ob er die Aſche verwerten kann? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4111" xml:space="preserve">Ob er durch ſein aufzuftellendes Maſchinenwerk ein Luftgebläſe <lb/>nebenher mit geringen Koſten wird betreiben können. </s>
  <s xml:id="echoid-s4112" xml:space="preserve">— Die <lb/>Beantwortung ſolcher Haupt- und Nebenfragen bietet im <lb/>praktiſchen Leben nicht wenige Schwierigkeiten, aber ſie gehören <lb/>noch immer zu den Dingen, wo aus der Wiſſenſchaft guter <lb/>Rat zu holen iſt, und wir dürfen es mit Genugthuung ſagen, <lb/>daß für dieſes Fach manch praktiſcher Mann und praktiſches <lb/>Buch vorhanden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4113" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4114" xml:space="preserve">Ganz anders geſtalten ſich aber die Dinge, wenn man, <lb/>wie es für das Volk nötig iſt, in gegebenen vorhandenen, ſo-<lb/>genannten bürgerlichen Zuſtänden Rat erteilen ſoll, die ſich <lb/>oft von den Zuſtänden, wie ſie die Naturforſchung vorausſetzt, <lb/>eben ſo ſehr unterſcheiden, wie die Krankheit im Bette von <lb/>der Krankheit im Buche.</s>
  <s xml:id="echoid-s4115" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4116" xml:space="preserve">Was man auch Schönes über vorteilhafte Einrichtungen <lb/>von Stuben-Öfen beſitzt, wie gewiſſenhaft und vorzüglich auch <lb/>die Unterſuchung über die Heizkraft der verſchiedenen Brenn-<lb/>materialien geführt worden iſt, es wird doch in der Praxis <lb/>immer darauf ankommen, die beſonderen Umſtände, die ſehr
<pb o="42" file="0310" n="310"/>
verſchieden ſind, zu berückſichtigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4117" xml:space="preserve">Ein Ofen, der in der <lb/>Parterre-Wohnung, wo der Schornſtein noch ſechzig Fuß Höhe <lb/>hat, bevor er ſeinen Inhalt in die weite Welt ſendet, vortreff-<lb/>liche Dienſte leiſtet, muß notwendig im dritten Stock, wo die <lb/>Ofenröhre faſt ſelber in die Luft hinein mündet, unbrauchbar <lb/>werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s4118" xml:space="preserve">— Ein Brennmaterial, das im Keller lagert, wo es <lb/>ſtets Feuchtigkeit in ſich aufnimmt, wird anders, wenn es in <lb/>der Dachkammer aufbewahrt wird, wo es gut austrocknet. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4119" xml:space="preserve">Ein herrſchaftliches Zimmer mit tapezierten Wänden und be-<lb/>legtem Fußboden, das man alle Morgen lüftet und dann mit <lb/>Doppelthüren und Doppelfenſtern wohl verſchließt, das man <lb/>um ſieben Uhr morgens heizt, das aber erſt um elf Uhr warm <lb/>zu ſein braucht, um bis Mitternacht gemütlich zu bleiben — <lb/>ſolch ein Zimmer läßt ſich durchaus nicht in gleicher Weiſe <lb/>mit einer Stube behandeln, wo die Hausfrau den Kaffee und <lb/>das Mittagbrod im Ofen kochen will und froh iſt, wenn es <lb/>abends um ſieben Uhr auf die drei Stunden gemütlich wird, <lb/>wo der Mann Feierabend macht und die Kleinen zu Bette ge-<lb/>bracht ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s4120" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4121" xml:space="preserve">Die gleichmäßige Erwärmung weiter Räume erfordert <lb/>eine ganz andere Art der Heizung, als die ſchnelle Erwärmung <lb/>des engen Raumes eines möblierten Zimmers, in welchem <lb/>ſich ein Junggeſelle in der ſpäten Abendſtunde ſeines Daſeins <lb/>freuen will. </s>
  <s xml:id="echoid-s4122" xml:space="preserve">— Man ſieht wohl, daß hier glattweg die An-<lb/>wendung der Wiſſenſchaft auf Schwierigkeiten ſtößt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4123" xml:space="preserve">Die <lb/>Krankheit ſieht eben ganz anders aus, wenn ſie ſich im Bette <lb/>produziert.</s>
  <s xml:id="echoid-s4124" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4125" xml:space="preserve">Da wir aber gerade in dieſen Artikeln dem Volke einen <lb/>Nutzen darbieten, und auf die Zuſtände des Volkes, wie es <lb/>lebt, ja ſogar auf ſeinen Geſundheitszuſtand dabei Rückſicht <lb/>nehmen möchten, ſo ſei man uns nicht gram, wenn wir neben <lb/>dem allgemeinen wiſſenſchaftlichen Teil dieſer Aufgabe, ſo weit <lb/>er über die <emph style="sp">Heizung</emph> handelt, unſer Augenmerk auch auf die
<pb o="43" file="0311" n="311"/>
Wände, auf die Fenſter, auf die Thüren, auf den Keller, auf <lb/>den Boden, ja ſogar den Topf der Hausfrau und die Hantierung <lb/>des Mannes richten, die zwar nicht auf die Heizung, aber <lb/>doch auf die Erwärmung Einfluß haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s4126" xml:space="preserve">— Denn im Grunde <lb/>genommen iſt ja das Praktiſche der Heizung eben die <emph style="sp">Er-<lb/>wärmung</emph>.</s>
  <s xml:id="echoid-s4127" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div122" type="section" level="1" n="108">
<head xml:id="echoid-head121" xml:space="preserve"><emph style="bf">II. Verbrennung und Erwärmung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4128" xml:space="preserve">Bei der Heizung in unſeren Küchen und in unſeren <lb/>Stubenöfen ſpielen eine große Reihe von Naturerſcheinungen <lb/>eine Rolle, die man freilich alle kennen muß, wenn man ſich <lb/>die Aufgabe der Sparſamkeit bei der Heizung ſtellen will. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4129" xml:space="preserve">Wir müſſen deshalb unſern Leſern vor allem die Reſultate all <lb/>der Forſchungen deutlich machen, welche die Naturwiſſenſchaft <lb/>über dieſes Thema angeſtellt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s4130" xml:space="preserve">Wir wollen uns jedoch <lb/>hierbei nicht all zu lange aufhalten, ſondern uns vorerſt mit <lb/>einer kurzen Darſtellung begnügen, indem wir im Verlauf <lb/>unſeres Themas oft genug Gelegenheit haben werden, einzelne <lb/>theoretiſche Wahrheiten an praktiſchen Fällen klarer und faß-<lb/>licher machen zu können.</s>
  <s xml:id="echoid-s4131" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4132" xml:space="preserve">Die Hauptrolle bei unſerer gewöhnlichen Heizung ſpielt <lb/>die Verbrennung von zwei Stoffen, welche in unſerem Brenn-<lb/>material vorhanden ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s4133" xml:space="preserve">Da ſie beide chemiſche Stoffe ſind <lb/>und auch die Verbrennung ein chemiſcher Vorgang iſt, ſo <lb/>müſſen wir ſchon ein wenig in die Chemie hineinzublicken <lb/>ſuchen, um das, was hierbei vorgeht, zu verſtehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4134" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4135" xml:space="preserve">Die Chemie lehrt durch unumſtößliche Thatſachen, daß alle <lb/>Verbrennungen, welche im gewöhnlichen Leben vorkommen, <lb/>nichts ſind, als die chemiſche Verbindung von dem Kohlenſtoff <lb/>des Brennmaterials mit dem Sauerſtoff der Luft; </s>
  <s xml:id="echoid-s4136" xml:space="preserve">in anderen
<pb o="44" file="0312" n="312"/>
Fällen iſt es auch die Verbindung des Waſſerſtoffs des Brenn-<lb/>materials mit dem Sauerſtoff der Luft, in beſonderen Fällen <lb/>endlich iſt es eine Miſchung von Kohlenſtoff und Waſſerſtoff, <lb/>welche die chemiſche Verbindung mit dem Sauerſtoff der Luft <lb/>eingeht, und welche Verbindung eben die Erſcheinungen her-<lb/>vorbringt, die wir bei der Verbrennung wahrnehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4137" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4138" xml:space="preserve">Dieſe Lehre iſt durch öftere Wiederholung in gelehrten <lb/>und ungelehrten Werken, in Vorträgen und Geſprächen ſo ge-<lb/>läufig geworden, daß ſie wohl ſchon jeder, der ſich überhaupt für <lb/>Naturerſcheinungen intereſſiert, zur Genüge gehört hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s4139" xml:space="preserve">allein <lb/>da es zu oft im Leben vorkommt, daß über die alltäglichſten <lb/>Dinge am leichteſten ſich Irrtümer und Mißverſtändniſſe ein-<lb/>ſchleichen, ſo müſſen wir von dieſer Lehre der Chemie noch <lb/>ein paar Worte ſprechen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4140" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4141" xml:space="preserve">Wir wollen dies bei Gelegenheit eines praktiſchen, ſehr <lb/>bekannten Verſuches thun und zu dieſem Zweck einmal wirklich <lb/>eine Verbrennung vornehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4142" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4143" xml:space="preserve">Wie fangen wir dies an? </s>
  <s xml:id="echoid-s4144" xml:space="preserve">— Wir nehmen ein Schwefel-<lb/>Phosphor-Zündhölzchen und reiben deſſen Spitze, und ſofort <lb/>beginnt eine Verbrennung.</s>
  <s xml:id="echoid-s4145" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4146" xml:space="preserve">Woher kommt die, und was iſt dies für ein Vorgang?</s>
  <s xml:id="echoid-s4147" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4148" xml:space="preserve">Das Zündhölzchen hat an der Spitze ein wenig Phosphor. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4149" xml:space="preserve">Der Phosphor aber iſt ein chemiſcher Stoff, der, wenn er ein <lb/>wenig erwärmt wird, ſich ſehr ſchnell mit dem Sauerſtoff der <lb/>Luft verbindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s4150" xml:space="preserve">Es genügt, den Phosphor nur mit der warmen <lb/>Hand zu berühren, um ſogleich deſſen Verbindungsluſt zum <lb/>Sauerſtoff zu wecken; </s>
  <s xml:id="echoid-s4151" xml:space="preserve">wie denn ſchon jeder bemerkt haben <lb/>wird, daß im Finſtern eine Art flammender Rauch aus einem <lb/>Bündchen Schwefelhölzer aufſteigt, wenn man mit der warmen <lb/>Hand darüber hinfährt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4152" xml:space="preserve">Das iſt auch eine Verbrennung, aber <lb/>eine ſehr ſchwache Verbrennung, die aufhört, ſobald die um-<lb/>gebende Luft den Phosphor wieder abkühlt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4153" xml:space="preserve">Reiben wir in-<lb/>deſſen den Phosphor des Zündhölzchens ſtärker, ſo erhält der
<pb o="45" file="0313" n="313"/>
Phosphor eine höhere Erwärmung; </s>
  <s xml:id="echoid-s4154" xml:space="preserve">in dieſer verbindet er ſich <lb/>ſchnell mit dem Sauerſtoff der Luft und erzeugt dabei eine <lb/>Wärme, welche hinreicht, das bißchen Schwefel zu erhitzen, <lb/>welches das Zündhölzchen gleichfalls an der Spitze hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s4155" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4156" xml:space="preserve">Dies bringt nun wieder eine Verbrennung zu Wege: </s>
  <s xml:id="echoid-s4157" xml:space="preserve">die <lb/>Verbrennung des Schwefels. </s>
  <s xml:id="echoid-s4158" xml:space="preserve">— Schwefel nämlich hat auch <lb/>eine ſtarke Neigung, ſich mit dem Sauerſtoff der Luft zu ver-<lb/>binden; </s>
  <s xml:id="echoid-s4159" xml:space="preserve">aber er thut dies nur, wenn er ſtark erwärmt wird. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4160" xml:space="preserve">Die Wärme des brennenden Phosphors iſt ausreichend, um <lb/>der dünnen Schicht Schwefel dieſe Wärme zu erteilen, und die <lb/>Verbrennung des Schwefels beginnt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4161" xml:space="preserve">Die Wärme des <lb/>brennenden Schwefels aber iſt ſtark genug, um eine neue Ver-<lb/>brennung hervorzurufen, und zwar die des Hölzchens ſelber.</s>
  <s xml:id="echoid-s4162" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4163" xml:space="preserve">Holz nämlich beſteht aus drei chemiſchen Stoffen: </s>
  <s xml:id="echoid-s4164" xml:space="preserve">aus <lb/>Kohlenſtoff, Waſſerſtoff und Sauerſtoff. </s>
  <s xml:id="echoid-s4165" xml:space="preserve">Die beiden letzteren <lb/>Stoffe, den Waſſerſtoff und Sauerſtoff des Hölzchens, wollen <lb/>wir für jetzt nicht weiter berückſichtigen, da ſie hierbei keine <lb/>für unſere Betrachtung weſentliche Rolle ſpielen; </s>
  <s xml:id="echoid-s4166" xml:space="preserve">der Kohlenſtoff <lb/>dagegen hat bei ſtarker Erwärmung große Neigung, ſich mit <lb/>dem Sauerſtoff der Luft zu verbinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s4167" xml:space="preserve">Der brennende <lb/>Schwefel erhitzt den Kohlenſtoff nun ſo ſtark, daß er die nötige <lb/>Portion Wärme erhält, welche er zu ſeiner Verbindung mit <lb/>Sauerſtoff braucht, und es beginnt demnach dieſe Verbindung, <lb/>die Verbrennung des Hölzchens.</s>
  <s xml:id="echoid-s4168" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4169" xml:space="preserve">Was aber iſt denn die Flamme, welche wir hierbei ſehen?</s>
  <s xml:id="echoid-s4170" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4171" xml:space="preserve">Die Flamme iſt nichts als der Raum, in welchem dieſe <lb/>Verbindung des brennenden Stoffes mit dem Sauerſtoff vor <lb/>ſich geht.</s>
  <s xml:id="echoid-s4172" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4173" xml:space="preserve">Die Flamme hat in den meiſten Fällen auch noch eine <lb/>Leuchtkraft; </s>
  <s xml:id="echoid-s4174" xml:space="preserve">dieſe jedoch, die Leuchtkraft oder das Licht, iſt <lb/>eine ganz aparte Erſcheinung bei der Verbrennung, die uns <lb/>hier nichts angeht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4175" xml:space="preserve">Wir haben uns nur das Eine zu merken, <lb/>daß gewiffe Stoffe ſich bei der Erwärmung mit Sauerſtoff
<pb o="46" file="0314" n="314"/>
verbinden, daß dieſe Verbindung wieder andere Gegenſtände <lb/>zu erwärmen imſtande iſt, und, falls ſie Stoffe enthalten, die <lb/>ſich mit Sauerſtoff verbinden können, auch dieſe zur Ver-<lb/>brennung anzuregen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4176" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4177" xml:space="preserve">So ſehen wir denn, wie die Reibung des Phosphors ein <lb/>wenig Wärme erzeugt, und wie dieſe Wärme eine chemiſche <lb/>Verbindung des Phosphors mit dem Sauerſtoff der Luft be-<lb/>günſtigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4178" xml:space="preserve">Wir ſehen ferner, wie dieſe chemiſche Verbindung <lb/>einen höheren Grad der Erwärmung hervorruft, die ſich dem <lb/>Schwefel mitteilt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4179" xml:space="preserve">Wir ſehen endlich, wie dieſer in der höheren <lb/>Erwärmung nun auch fähig wird, ſich mit dem Sauerſtoff der <lb/>Luft zu verbinden und alſo auch zu brennen anfängt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4180" xml:space="preserve">Dieſe <lb/>Verbindung erzengt wieder einen noch höheren Grad der Er-<lb/>wärmung, und dieſe Erwärmung macht den Kohlenſtoff fähig <lb/>zur chemiſchen Verbindung, und ſomit brennt das Zündhölzchen, <lb/>mit welchem wir uns gleich ein Stückchen Kien anſtecken wollen, <lb/>um ordentlich Feuer anzumachen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4181" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4182" xml:space="preserve">Kien? </s>
  <s xml:id="echoid-s4183" xml:space="preserve">— Warum brennt denn Kien ganz anders und <lb/>weit ſchneller, als gewöhnliches Holz?</s>
  <s xml:id="echoid-s4184" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4185" xml:space="preserve">Nun, das wollen wir gleich ſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4186" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div123" type="section" level="1" n="109">
<head xml:id="echoid-head122" xml:space="preserve"><emph style="bf">III. Wir brennen ein Stück Kien an.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4187" xml:space="preserve">Brennen wir am Zündhölzchen ein Stückchen Kienholz <lb/>an, ſo gewahrt man zunächſt die Verbrennung eines neuen <lb/>Stoffes. </s>
  <s xml:id="echoid-s4188" xml:space="preserve">— Kienholz iſt nämlich von Natur aus mit Terpen-<lb/>tin getränkt, einem Gemiſch von Harz und Terpentinöl. </s>
  <s xml:id="echoid-s4189" xml:space="preserve">Dieſes <lb/>beſteht aus zwei Stoffen, welche ſehr leicht in der Wärme <lb/>Verbindungen mit Sauerſtoff eingehen, nämlich aus Kohlen-<lb/>ſtoff und Waſſerſtoff. </s>
  <s xml:id="echoid-s4190" xml:space="preserve">So wie nun das Terpentin durch das <lb/>Zündhölzchen ſo warm gemacht wird, daß die Verbindung
<pb o="47" file="0315" n="315"/>
vor ſich gehen kann, ſo tritt ſie ſofort ein. </s>
  <s xml:id="echoid-s4191" xml:space="preserve">Hierbei entſteht <lb/>im erſten brennenden Körnchen Terpentin eine ſolche Wärme, <lb/>daß der nächſtliegende Terpentin auch entzündet wird, und ſo <lb/>verbreitet ſich mit großer Schnelligkeit eine Flamme über das <lb/>Kienholz, noch ehe das Holz ſelbſt wirklich in Brand gerät. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4192" xml:space="preserve">Erſt ſpäter, wenn der Terpentin faſt ausgebrannt iſt, beginnt <lb/>das Holz ſelbſt zu brennen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4193" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4194" xml:space="preserve">Beim Brennen des Kienholzes haben wir aber Gelegen-<lb/>heit, eine Reihe von Beobachtungen zu machen, die über die <lb/>Verbrennung Aufſchluß gewähren und auch für die Heizung <lb/>von Wichtigkeit ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s4195" xml:space="preserve">und dieſe Gelegenheit wollen wir <lb/>benutzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4196" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4197" xml:space="preserve">Woher mag es wohl kommen, daß Kien ganz anders <lb/>brennt als ſonſt ein Gegenſtand, den wir bisher angebrannt <lb/>haben? </s>
  <s xml:id="echoid-s4198" xml:space="preserve">Warum flackert Schwefel nicht ſo weit und ſo flammig <lb/>auf, warum brennt Kien mit röterer Farbe als Holz, und <lb/>weshalb ſchickt er ſoviel Ruß von ſich aus?</s>
  <s xml:id="echoid-s4199" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4200" xml:space="preserve">Um dieſe Frage klar zu beantworten, müſſen wir einen <lb/>Hauptlehrſatz von der Verbrennung hier aufführen, der im <lb/>Volke zu wenig gekannt iſt, weshalb die ganze Verbrennungs-<lb/>lehre leider zu ſelten richtig aufgefaßt wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s4201" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4202" xml:space="preserve">Wir haben es bereits geſagt, und es iſt tauſendfältig auch <lb/>ſchon anderweitig deutlich gemacht worden, daß die gewöhnliche <lb/>Verbrennung im wahren Sinne des Wortes nichts iſt als die <lb/>Verbindung irgend eines Stoffes mit Sauerſtoff. </s>
  <s xml:id="echoid-s4203" xml:space="preserve">Nun aber <lb/>iſt es allbekannt, daß auch Eiſen, Zink u. </s>
  <s xml:id="echoid-s4204" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s4205" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s4206" xml:space="preserve">ſich mit <lb/>Sauerſtoff verbinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s4207" xml:space="preserve">Eiſen roſtet, Zink belegt ſich in der <lb/>Luft mit einer weißen Kruſte, die ebenfalls Roſt oder richtiger <lb/>eine Verbindung von Sauerſtoff mit dem Metall iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4208" xml:space="preserve">Da nun <lb/>auch dieſe Metalle ſich mit Sauerſtoff verbinden, weshalb <lb/>kann man denn nicht auch mit ihnen und noch mit vielen <lb/>anderen Dingen, die ſich mit Sauerſtoff verbinden, Feuer an-<lb/>machen?</s>
  <s xml:id="echoid-s4209" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="48" file="0316" n="316"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4210" xml:space="preserve">Die Antwort auf dieſe Frage iſt folgende:</s>
  <s xml:id="echoid-s4211" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4212" xml:space="preserve">Es iſt zur Bildung einer Flamme nötig, daß der Stoff, <lb/>welcher ſich mit Sauerſtoff verbindet, dies in <emph style="sp">Luftform thut</emph>; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4213" xml:space="preserve">denn das, was wir in Flammen brennen ſehen, iſt eigentlich <lb/>nicht der <emph style="sp">Stoff</emph>, ſondern das <emph style="sp">Gas</emph>, welches dieſer Stoff bei <lb/>der Erhitzung erzeugt oder ausſondert. </s>
  <s xml:id="echoid-s4214" xml:space="preserve">— Der erhitzte Stoff <lb/>verwandelt ſich in Gas oder läßt die in ihm enthaltenen gas-<lb/>artigen Stoffe ausſtrömen, oder er nimmt im Augenblick der <lb/>Verbindung mit dem Sauerſtoff Gasform an; </s>
  <s xml:id="echoid-s4215" xml:space="preserve">in all’ ſolchen <lb/>Fällen bildet ſich um dieſen brennbaren Stoff eine Gashülle, <lb/>in welcher die Verbindung vor ſich geht, und dieſe Gashülle <lb/>in ihrer chemiſchen Thätigkeit erſcheint eben als Flamme, <lb/>welche ven brennbaren Stoff umgiebt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4216" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4217" xml:space="preserve">Würde man Eiſen leicht durch Erhitzung in Gasform <lb/>verwandeln können, und wäre Roſt, dieſe Verbindung von <lb/>Eiſen und Sauerſtoff, ein gasförmiger Körper, ſo würde man <lb/>eine Stricknadel ebenſo gut anzünden können, wie ein Holz-<lb/>ſpänchen, und würde eben ſo eine die Stricknadel einhüllende <lb/>Flamme erblicken, wie man ſie am brennenden Zündhölzchen <lb/>ſieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4218" xml:space="preserve">Da Eiſen jedoch unter gewöhnlicher Erhitzung nicht in <lb/>Gas verwandelt werden kann und auch nicht in der Verbin-<lb/>dung mit Sauerſtoff Luftform annimmt, kann man es zwar <lb/>glühen, aber nicht wie Holz verbrennen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4219" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4220" xml:space="preserve">Indem wir über weitere Unterſchiede, die in Bezug auf <lb/>die Wärme zwiſchen Eiſen und Holz ſtattfinden, noch ſpäter-<lb/>hin ſprechen werden, wollen wir uns für jetzt nur die eine <lb/>Regel merken, daß eine <emph style="sp">flammende</emph> Verbrennung ſtets nur <lb/>dann ſtattfindet, wenn der brennbare Stoff bei der Erhitzung <lb/>oder der chemiſchen Verbindung in den gasartigen Zuſtand <lb/>verſetzt wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s4221" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4222" xml:space="preserve">Hieraus folgt, daß wir eigentlich von jeher nie eine <lb/>andere, als eine Gasheizung beſeſſen haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s4223" xml:space="preserve">denn Alles, was <lb/>im Torf, im Holz, in der Steinkohle und im Koks verbrennt,
<pb o="49" file="0317" n="317"/>
iſt eigentlich Gas; </s>
  <s xml:id="echoid-s4224" xml:space="preserve">der Unterſchied zwiſchen ſolcher Heizung <lb/>und der Heizung durch Leuchtgas beſteht nur darin, daß wir <lb/>in unſeren gewöhnlichen Oefen eine kleine Gasanſtalt be-<lb/>ſitzen, indem wir zuerſt das Brennmaterial erhitzen und die <lb/>Gaſe, die es enthält, austreiben oder entwickeln; </s>
  <s xml:id="echoid-s4225" xml:space="preserve">wir fabri-<lb/>zieren das Gas, das wir verbrauchen, ſelber, während bei <lb/>Leuchtgasheizung das Gas anderweitig in Anſtalten be-<lb/>reitet wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s4226" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4227" xml:space="preserve">Da wir auch hierüber noch zu ſprechen haben werden, <lb/>wollen wir jetzt wieder zu unſerem brennenden Kien zurück-<lb/>kehren und die Erſcheinung an demſelben uns zu erklären <lb/>ſuchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4228" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4229" xml:space="preserve">Der Terpentin, der eigentlich beim Anzünden des Kien-<lb/>ſpans zunächſt brennt, iſt ein Stoff, der außerordentlich leicht <lb/>in Gasform übergeht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4230" xml:space="preserve">Alle Hausfrauen werden ſchon wiſſen, <lb/>daß Kienbretter im Küchenſpinde allen aufbewahrten Speiſen <lb/>den Terpentingeſchmack verleihen, weil ſich eben Terpentin ſo <lb/>leicht in Gasform verbreitet und in die Speiſen dringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4231" xml:space="preserve">Dieſe <lb/>Eigenſchaft des leichten Uebergangs in Gas iſt, wie wir <lb/>wiſſen, für die Verbrennung ſehr günſtig. </s>
  <s xml:id="echoid-s4232" xml:space="preserve">— Allein zu ſtark <lb/>darf ſie auch nicht ſein; </s>
  <s xml:id="echoid-s4233" xml:space="preserve">denn wenn ſich ein Stoff zu leicht in <lb/>Gasform verwandelt, ſo dehnt er ſich bei dem Verbrennen zu <lb/>weit von der Stelle der eigentlichen Erwärmung aus, wodurch <lb/>er erkaltet und zu unvollſtändig verbrennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4234" xml:space="preserve">Dies iſt mit dem <lb/>Kien der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s4235" xml:space="preserve">Die Beſtandteile des Terpentins dehnen ſich <lb/>zu weit von der eigentlichen Verbrennungsſtelle aus, ſie ſind <lb/>zu flüchtig, deshalb erkalten die entfernten Teile zu ſchnell, <lb/>und es bleibt hauptſächlich der Kohlenſtoff darin unverbrannt <lb/>und ſliegt als Ruß davon, der zugleich die Flamme trübt <lb/>und rötet.</s>
  <s xml:id="echoid-s4236" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4237" xml:space="preserve">Was wir uns alſo bei der Verbrennung des Kienſpans <lb/>und ſeiner Erſcheinung merken wollen, das iſt die Thatſache, <lb/>deren Wichtigkeit wir ſpäter noch darthun werden, daß eine</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4238" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s4239" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s4240" xml:space="preserve">Volksbücher XIV.</s>
  <s xml:id="echoid-s4241" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="50" file="0318" n="318"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4242" xml:space="preserve">Verbrennung, bei welcher Rauch entſteht, eine unvollſtändige <lb/>Verbrennung iſt, bei welcher brennbarer Stoff unnütz ver-<lb/>loren geht.</s>
  <s xml:id="echoid-s4243" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div124" type="section" level="1" n="110">
<head xml:id="echoid-head123" xml:space="preserve"><emph style="bf">IV. Der Zug und das Feuer.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4244" xml:space="preserve">Aufmerkſame Hausfrauen haben gewiß oft ſchon am <lb/>brennenden Kien manche Beobachtungen gemacht, die zu Be-<lb/>lehrungen wichtiger Art Gelegenheit geben.</s>
  <s xml:id="echoid-s4245" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4246" xml:space="preserve">Sie werden oſt genug wahrgenommen haben, daß ein <lb/>Stück fettes Kienholz, auf dem Herd verbrannt, ungemein ſtark <lb/>raucht und weit mehr blakt, als wenn es im Ofen verbrannt <lb/>wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s4247" xml:space="preserve">Kocht man mit fettem Kienholz auf dem Herd, ſo <lb/>legt ſich eine dicke Schicht Ruß an Topf und Keſſel, die das <lb/>ſchnellere Kochen der Speiſen verhindert; </s>
  <s xml:id="echoid-s4248" xml:space="preserve">ja, der Ruß dringt <lb/>ſogar in die Speiſen ein und giebt ihnen einen ſo räucherigen, <lb/>widerlichen Geſchmack, daß der Gebrauch des Kienholzes auf <lb/>dem Herde mit Recht ſehr gemieden wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s4249" xml:space="preserve">— Brennt man <lb/>indeſſen Kienholz im Ofen, ſo zeigt es keineswegs dieſe <lb/>ſchlimme Eigenſchaft in ſo hohem Maße, es rußt weniger und <lb/>blakt auch die Speiſe, die man hineinſchiebt, nicht ſo be-<lb/>deutend an.</s>
  <s xml:id="echoid-s4250" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4251" xml:space="preserve">Woher kommt das?</s>
  <s xml:id="echoid-s4252" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4253" xml:space="preserve">Es rührt dies daher, daß in unſerem Ofen der Zug weit <lb/>ſtärker iſt, als auf dem gewöhnlichen, offenen Kochherd.</s>
  <s xml:id="echoid-s4254" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4255" xml:space="preserve">Wir wiſſen bereits, daß der Ruß nichts iſt als unver-<lb/>branntes Brennmaterial; </s>
  <s xml:id="echoid-s4256" xml:space="preserve">wir wiſſen ferner, daß die Ver-<lb/>brennung eigentlich die chemiſche Verbindung des Brenn-<lb/>materials mit dem Sauerſtoff der Luft iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4257" xml:space="preserve">Nun aber haben <lb/>Unterſuchungen aufs entſchiedenſte gelehrt, daß, wenn man <lb/>einem brennenden Körper recht viel Luft und ſomit auch viel
<pb o="51" file="0319" n="319"/>
Sauerſtoff zuführt, er bei weitem vollſtändiger verbrennt als <lb/>ſonſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4258" xml:space="preserve">Im Ofen alſo, wo bekanntlich der Zug bei weitem <lb/>ſtärker iſt als auf dem offenen Herd, rußt ein fettes Stück <lb/>Kienholz bei weitem weniger, weil eben dort der Zug, das <lb/>Zuſtrömen der friſchen Luft, in ſtarkem Grade ſtattfindet, und <lb/>ſomit mehr Sauerſtoff mit dem Brennmaterial in Berührung <lb/>kommt als auf dem Herde. </s>
  <s xml:id="echoid-s4259" xml:space="preserve">In dieſem Ueberſchuß von <lb/>Sauerſtoff verbrennt demnach mehr von dem Brennmaterial <lb/>als auf dem Herde, das heißt, es verbrennt im Ofen der-<lb/>jenige Teil, der auf dem Herde als Ruß unverbrannt bleibt, <lb/>oder einfacher ausgedrückt: </s>
  <s xml:id="echoid-s4260" xml:space="preserve">im Ofen hat der beſſere Zug das <lb/>Brennmaterial vollſtändiger verbrannt als auf dem offenen <lb/>Herd.</s>
  <s xml:id="echoid-s4261" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4262" xml:space="preserve">Wir wollen uns dies vorläufig merken, denn es wird uns <lb/>weiterhin ſehr zu Nutzen kommen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4263" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4264" xml:space="preserve">Woher aber mag es wohl kommen, daß beim Feuermachen <lb/>im Ofen der Kien ganz gemütlich brennt, ſo lange die Ofen-<lb/>thür offen ſteht und oft ſofort erliſcht, wenn man ſie zumacht <lb/>und der Zug ſo recht durch die Thürklappe zieht?</s>
  <s xml:id="echoid-s4265" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4266" xml:space="preserve">Jede Hausfrau wird mit Recht hierauf antworten, daß <lb/>der Zug die noch ſchwache Flamme ausgeblaſen habe; </s>
  <s xml:id="echoid-s4267" xml:space="preserve">allein <lb/>wenn ſtarker Zug eine Flamme ausbläſt, wie vermag er unter <lb/>anderen Umſtänden gerade das Feuer anzufachen?</s>
  <s xml:id="echoid-s4268" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4269" xml:space="preserve">Um dieſe Frage zu beantworten, müſſen wir wiederum <lb/>einen Lehrſatz der Verbrennung ins Auge faſſen und zugleich <lb/>einige Nebenumſtände hierbei erwägen, die von Wichtigkeit <lb/>ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s4270" xml:space="preserve">Wir wollen aber auch dieſen Lehren einige praktiſche <lb/>Beiſpiele voranſchicken.</s>
  <s xml:id="echoid-s4271" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4272" xml:space="preserve">Die Kinder wiſſen es ſchon, daß man ein brennendes <lb/>Licht auspuſten kann, daß man aber, ſobald der Docht noch <lb/>glimmt, durch Puſten das Licht wieder zum Brennen zu <lb/>bringen vermag.</s>
  <s xml:id="echoid-s4273" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4274" xml:space="preserve">Woher kommt dieſer merkwürdige Widerſpruch?</s>
  <s xml:id="echoid-s4275" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="52" file="0320" n="320"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4276" xml:space="preserve">Es rührt dies von folgenden Urſachen her.</s>
  <s xml:id="echoid-s4277" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4278" xml:space="preserve">Wir haben es bereits geſagt, daß die Flamme eigentlich <lb/>nur aus Gas beſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4279" xml:space="preserve">Die Flamme iſt nur der weite Raum, <lb/>in welchem die Verbindung des brennbaren Gaſes mit dem <lb/>Sauerſtoff der Luft vor ſich geht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4280" xml:space="preserve">Dies iſt auch bei Talg-, <lb/>Wachs- und ſonſtigen Lichten und ebenſo bei Oellampen der <lb/>Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s4281" xml:space="preserve">Wir beſitzen eigentlich ſchon ſeit vielen, vielen Jahr-<lb/>tauſenden Gaslicht; </s>
  <s xml:id="echoid-s4282" xml:space="preserve">wir wußten es nur nicht, und vicle <lb/>Menſchen wiſſen dies auch jetzt noch nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4283" xml:space="preserve">— Steckt man ein <lb/>Talglicht an, ſo thut man im wahren Sinne des Wortes nichts <lb/>anderes, als daß man vorerſt den Talg, der am Dochte ſitzt, <lb/>erhitzt und dadurch in Gas verwandelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4284" xml:space="preserve">Dieſes Gas iſt brenn-<lb/>bar und entzündet ſich zur Flamme. </s>
  <s xml:id="echoid-s4285" xml:space="preserve">Wer ein Talglicht <lb/>brennt, brennt eigentlich ſelbſtfabriziertes Gas, und das iſt <lb/>mit Oel, Wachs, Stearin u. </s>
  <s xml:id="echoid-s4286" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s4287" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s4288" xml:space="preserve">auch der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s4289" xml:space="preserve">— Nun <lb/>aber iſt es bekannt, daß Gaſe ſehr leicht beweglich ſind; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4290" xml:space="preserve">puſtet man in die Flamme, ſo puſtet man eigentlich in das <lb/>Gas und bewegt es fort vom Docht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4291" xml:space="preserve">Durch dieſe Trennung <lb/>verhindert man, daß das brennende Gas den am Docht auf-<lb/>ſteigenden, neuen Brennſtoff in neues Gas verwandelt und an-<lb/>zündet; </s>
  <s xml:id="echoid-s4292" xml:space="preserve">und dadurch erliſcht die Flamme.</s>
  <s xml:id="echoid-s4293" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4294" xml:space="preserve">Hierzu kommt noch ein zweiter Umſtand, der ebenfalls <lb/>auf das Erlöſchen einwirkt, und der liegt darin, daß die Luft, <lb/>die wir in die Flamme hineinpuſten, viel kälter iſt, als das <lb/>brennbare Gas ſein muß, wenn es brennen ſoll. </s>
  <s xml:id="echoid-s4295" xml:space="preserve">Wir puſten <lb/>alſo mit dem Munde das ſchon brennende Gas vom Dochte <lb/>fort und kühlen zugleich das neu entſtehende Gas ab, ſodaß <lb/>aus doppelten Urſachen das Fortbrennen unterbrochen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4296" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4297" xml:space="preserve">Nun aber iſt oft der Docht, oder richtiger die Kohle des <lb/>Dochtes, noch ſo heiß, daß er, wenn wir zu blaſen aufgehört <lb/>haben, fortglimmt und unten noch Gas entſtehen läßt, das <lb/>als Blak, Ruß u. </s>
  <s xml:id="echoid-s4298" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s4299" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s4300" xml:space="preserve">aufſteigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4301" xml:space="preserve">Iſt dies der Fall und <lb/>blaſen wir nun in den Docht hinein, ſodaß wir dieſem eine
<pb o="53" file="0321" n="321"/>
ſtarke Portion Sauerſtoff zuführen, ſo erhöhen wir die Ver-<lb/>brennung der noch glimmenden Dochtkohle und verwandeln <lb/>ſie in eine Flamme. </s>
  <s xml:id="echoid-s4302" xml:space="preserve">Dieſe Flamme zündet das noch zu-<lb/>ſtrömende Gas an, und wir haben das Licht wieder angepuſtet.</s>
  <s xml:id="echoid-s4303" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4304" xml:space="preserve">In ganz gleichem Maße iſt dies mit dem brennenden <lb/>Kien im Ofen der Fall.</s>
  <s xml:id="echoid-s4305" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4306" xml:space="preserve">Wir haben es bereits geſagt, daß anfangs am Kien nur <lb/>das Terpentingas brennt, und erſt ſpäter der Kohlenſtoff des <lb/>Holzes zu brennen anfängt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4307" xml:space="preserve">Laſſen wir den Luftzug ſofort <lb/>auf den Kien einwirken, ſo führt er erſtens das brennende, <lb/>leicht bewegliche Gas davon und kühlt zweitens das nach-<lb/>ſtrömende Gas ſo ab, daß es ſich nicht entzündet, und das <lb/>Feuer geht aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s4308" xml:space="preserve">Haben wir aber dem Feuer Zeit gelaſſen, <lb/>den Kohlenſtoff des Holzes zu entzünden, ſo kann zwar der <lb/>kalte Zug ebenſo ſchädlich wirken, wenn er zu früh kommt, <lb/>allein der friſch zuſtrömende Sauerſtoff befördert die Ver-<lb/>brennung und ruft eine Flamme hervor, ſodaß das Gas im <lb/>Entſtehen und Fortſtrömen ſich entzündet, und eine vollſtändigere <lb/>Verbrennung entſteht als ohne Zug.</s>
  <s xml:id="echoid-s4309" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4310" xml:space="preserve">Hieraus haben wir Gelegenheit, wieder etwas zu lernen, <lb/>was wir uns merken müſſen, und das iſt Folgendes:</s>
  <s xml:id="echoid-s4311" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4312" xml:space="preserve">Der Zug im Ofen iſt notwendig, damit die Verbrennung <lb/>vollſtändig ſei. </s>
  <s xml:id="echoid-s4313" xml:space="preserve">Allein in ſehr vielen Fällen führt der Zug <lb/>das Gas brennend davon, ſo daß die vollſtändige Verbrennung <lb/>nicht im Ofen geſchieht, ſondern im Schornſtein, wo ſie uns <lb/>nichts nützt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4314" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div125" type="section" level="1" n="111">
<head xml:id="echoid-head124" xml:space="preserve"><emph style="bf">V. Der Zug im Oſen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4315" xml:space="preserve">Wie aber entſteht denn der Zug im Ofen?</s>
  <s xml:id="echoid-s4316" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4317" xml:space="preserve">Der Zug im Ofen entſteht ganz in derſelben Weiſe, wie <lb/>die Zugluft in der Stube.</s>
  <s xml:id="echoid-s4318" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="54" file="0322" n="322"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4319" xml:space="preserve">Wenn man im warmen Zimmer die Thür ein ganz klein <lb/>wenig öffnet, ſo braucht man nur ein brennendes Licht an die <lb/>Thürſpalte zu halten, um zu ſehen, wie die Luft der warmen <lb/>Stube mit der kältern Luft draußen ein Tauſchgeſchäft macht. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4320" xml:space="preserve">Hält man das brennende Licht nach unten, ſo merkt man, daß <lb/>da die kalte Luft ins Zimmer ſtrömt, denn ſie weht die Flamme <lb/>in die Stube hinein; </s>
  <s xml:id="echoid-s4321" xml:space="preserve">hält man dagegen die Kerze oben an die <lb/>Thürſpalte, ſo ſieht man, daß die Stubenluft hinausſtrömt, <lb/>denn ſie weht die Flamme zum Zimmer hinaus.</s>
  <s xml:id="echoid-s4322" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4323" xml:space="preserve">Der Grund hiervon iſt auch leicht einzuſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4324" xml:space="preserve">Die Wärme <lb/>dehnt bekanntlich alle Dinge aus; </s>
  <s xml:id="echoid-s4325" xml:space="preserve">in der Kälte ziehen ſich die <lb/>Dinge zuſammen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4326" xml:space="preserve">Warme Luft iſt alſo gedehnter als kalte, <lb/>und weil ſie eben gedehnter iſt, iſt ſie auch leichter als kalte. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4327" xml:space="preserve">Deshalb iſt es in der Stube an der Decke immer wärmer als <lb/>am Fußboden, denn die warme und deshalb leichtere Luft <lb/>ſteigt nach oben und ſchwimmt gewiſſermaßen auf der kältern <lb/>Luftſchicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4328" xml:space="preserve">Deshalb frieren oft in der geheizten Stube die <lb/>Füße, während einem der Kopf brennt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4329" xml:space="preserve">deshalb ſetzen ſich die <lb/>Septemberfliegen oben an der Stubendecke feſt, wenn es im <lb/>Zimmer ſchon kalt wird, und darum freut ſich manche Haus-<lb/>frau im dritten Stock darüber, wenn unter ihr im zweiten <lb/>Stock die Stube gut geheizt worden; </s>
  <s xml:id="echoid-s4330" xml:space="preserve">die warme Stubendecke <lb/>im zweiten Stock trägt in der That zur Erwärmung des Fuß-<lb/>bodens im dritten Stock viel bei. </s>
  <s xml:id="echoid-s4331" xml:space="preserve">— All’ dies und viele Bei-<lb/>ſpiele aus dem Leben können jeden aufmerkſamen Menſchen <lb/>überzeugen, daß allenthalben, wo kalte und warme Luft ſich <lb/>miſchen, ſtets die warme Luft aufwärts ſteigt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4332" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4333" xml:space="preserve">Macht man nun Feuer im Ofen an, ſo wird zunächſt die <lb/>Luft im Ofen erhitzt, ſie ſtrömt deshalb, leichter geworden, nach <lb/>oben durch die Klappe in den Schornſtein hinein. </s>
  <s xml:id="echoid-s4334" xml:space="preserve">Im Schorn-<lb/>ſtein hat ſie ſo recht Bahn nach aufwärts zu ziehen und er-<lb/>regt hier eine Strömung, die außerordentlich hoch über den <lb/>Schornſtein hinaus ſteigt, wovon man ſich oft an windſtillen
<pb o="55" file="0323" n="323"/>
Tagen überzeugt, wo die Schornſteine beträchtlich hohe Rauch-<lb/>ſäulen emporſenden. </s>
  <s xml:id="echoid-s4335" xml:space="preserve">Dadurch aber entſteht eine Luftleere im <lb/>Ofen, und wenn man die Zugklappe an der Ofenthür geöffnet <lb/>hat, ſtrömt die kalte Luft der Stube mit Macht in den Ofen <lb/>hinein, wird dort wiederum heiß und ſtrömt dann wieder zum <lb/>Schornſtein hinaus. </s>
  <s xml:id="echoid-s4336" xml:space="preserve">— Und das iſt der Zug.</s>
  <s xml:id="echoid-s4337" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4338" xml:space="preserve">Auf dem Feuerherd iſt dies zwar auch der Fall, aber in <lb/>weit geringerem Maße. </s>
  <s xml:id="echoid-s4339" xml:space="preserve">Auf dem offenen Feuerherd iſt die <lb/>Luft, welche zunächſt erhitzt wird, nicht eingeſchloſſen in einem <lb/>beſtimmten Raum. </s>
  <s xml:id="echoid-s4340" xml:space="preserve">Sie dehnt ſich zwar durch die Erwärmung <lb/>aus, aber ihr iſt der Weg nicht ſo beſtimmt zum Schornſtein hin-<lb/>aus vorgeſchrieben, wie im Ofen, wo nur die eine Klappe den <lb/>Ausweg öffnet. </s>
  <s xml:id="echoid-s4341" xml:space="preserve">Es ſtrömt dem Feuer auf dem Herd auch <lb/>kalte Luft zu, aber dieſes Zuſtrömen findet nicht an einer be-<lb/>ſtimmten Stelle ſtatt, wie beim Ofen, wo nur die Zugklappe <lb/>der Ofenthür die kalte Luft zuläßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4342" xml:space="preserve">Es vertheilt ſich daher <lb/>das Abſtrömen der heißen und das Zuſtrömen der kalten Luft <lb/>auf einen weiten Raum in der Runde; </s>
  <s xml:id="echoid-s4343" xml:space="preserve">der Zug iſt alſo an <lb/>der Feuerſtelle bei weitem nicht ſo ſtark.</s>
  <s xml:id="echoid-s4344" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4345" xml:space="preserve">Dies iſt auch die Urſache, daß die Witterung auf das <lb/>Feuer auf dem Herd weit mehr Einfluß hat als auf das Feuer <lb/>im Ofen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4346" xml:space="preserve">— Wenn das Feuer auf dem Herd nicht recht bren-<lb/>nen will, und es in der Küche zu rauchen anfängt, ſo ver-<lb/>kündet oft eine erfahrene Hausfrau hieraus eine Wetterver-<lb/>änderung; </s>
  <s xml:id="echoid-s4347" xml:space="preserve">und ſie hat gar nicht ſo Unrecht, wie man meinen <lb/>ſollte. </s>
  <s xml:id="echoid-s4348" xml:space="preserve">Der Luftzug auf dem Feuerherd ſteht in ſehr innigem <lb/>Zuſammenhang mit dem Zuſtand der Luft im Schornſtein und <lb/>über demſelben. </s>
  <s xml:id="echoid-s4349" xml:space="preserve">Wenn die Sonne ſo recht auf den Schorn-<lb/>ſtein brennt, iſt oft die Luft oben ſo warm, daß ſie leichter <lb/>iſt als die dort anlangende Luft, die vom Herd aufſteigt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4350" xml:space="preserve">Der Rauch ſchlägt demnach in die Küche zurück. </s>
  <s xml:id="echoid-s4351" xml:space="preserve">Setzt ſich der <lb/>Wind in den Schornſtein, ſo drückt er oft den aufſteigenden <lb/>Luftſtrom nieder und verhindert deſſen Abzug. </s>
  <s xml:id="echoid-s4352" xml:space="preserve">Entſteht Regen
<pb o="56" file="0324" n="324"/>
oder Schnee in den höheren Luftſchichten, ſo wird ſtets die <lb/>Luft hierbei wärmer, und der Zug im Schornſtein dadurch <lb/>ſchlechter. </s>
  <s xml:id="echoid-s4353" xml:space="preserve">— Eine erfahrene Hausfrau weiß auch oft, daß bei <lb/>Weſtwind in dieſer, bei Oſtwind an einer andern Ecke des <lb/>Herdes das Feuer beſſer brennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4354" xml:space="preserve">Mit einem Worte: </s>
  <s xml:id="echoid-s4355" xml:space="preserve">ein <lb/>Feuerherd oder richtiger der Zug im Schornſtein iſt zuweilen <lb/>ſo abhängig vom Wetter, daß man ihn faſt zum Wetterpro-<lb/>pheten machen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s4356" xml:space="preserve">Beim Zug-Ofen iſt dies zwar auch der <lb/>Fall; </s>
  <s xml:id="echoid-s4357" xml:space="preserve">allein der ſtarke Zug der erhitzten, im Ofen einge-<lb/>ſchloſſenen Luft, die nur den einen Ausweg hat, überwindet <lb/>leichter all’ die Hinderniſſe des Schornſteins und läßt dieſen <lb/>nicht ſo wetterwendiſch erſcheinen, wie er wirklich iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4358" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4359" xml:space="preserve">Genug alſo, der Zug entſteht daher, daß wir durch den <lb/>Ofen eine große Portion von heißer Luft erzeugen, welche <lb/>durch den Schornſtein hinauszieht und den Ofen zwingt, durch <lb/>die Zugklappe der Ofenthür neue, kalte Luft aus der Stube <lb/>einzuziehen, ſo daß eine fortwährendes Strömen entſteht, wo-<lb/>bei kalte Luft in den Ofen und warme Luft zum Schornſtein <lb/>hinausfliegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4360" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4361" xml:space="preserve">Iſt dies aber nicht ein ungeheuerer Verluſt an Wärme?</s>
  <s xml:id="echoid-s4362" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4363" xml:space="preserve">Ohne Zweifel iſt es ſo; </s>
  <s xml:id="echoid-s4364" xml:space="preserve">und deshalb iſt eben das ſparſame, <lb/>richtige Heizen ein wahres Kunſtſtück.</s>
  <s xml:id="echoid-s4365" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4366" xml:space="preserve">Der Ofen braucht Zug; </s>
  <s xml:id="echoid-s4367" xml:space="preserve">es muß ihm friſche Luft zuge-<lb/>führt werden, die ihm den Sauerſtoff abgiebt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4368" xml:space="preserve">allein unſere Luft <lb/>beſteht nicht aus bloßem Sauerſtoff, ſondern ſie enthält vier-<lb/>mal ſo viel Stickſtoff als Sauerſtoff. </s>
  <s xml:id="echoid-s4369" xml:space="preserve">Dieſer, der Stickſtoff, iſt <lb/>bei der Verbrennung ganz unnütz; </s>
  <s xml:id="echoid-s4370" xml:space="preserve">da er aber kalt in den Ofen <lb/>kommt und erwärmt zum Schornſtein hinauszieht, ſo thut er <lb/>dem Feuer ungeheuren Abbruch. </s>
  <s xml:id="echoid-s4371" xml:space="preserve">Er kühlt vor Allem das <lb/>noch nicht brennende Brennmaterial ab, ſo daß es ſich ſchwerer <lb/>entzündet; </s>
  <s xml:id="echoid-s4372" xml:space="preserve">er weht auch oft das brennbare Gas ſo weit von <lb/>der eigentlichen, heißen Stelle fort, daß es unverbrannt oder <lb/>nur halbverbrannt in den Schornſtein kommt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4373" xml:space="preserve">er nimmt end-
<pb o="57" file="0325" n="325"/>
lich noch beim Durchziehen durch den Ofen Wärme in ſich auf <lb/>und heizt damit die weite Welt, die uns nichts angeht.</s>
  <s xml:id="echoid-s4374" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div126" type="section" level="1" n="112">
<head xml:id="echoid-head125" xml:space="preserve"><emph style="bf">VI. Lufttransport und Ofen-Kouzert.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4375" xml:space="preserve">Es wäre eine herrliche Erfindung, welche es zu Wege <lb/>brächte, daß irgend ein chemiſcher Stoff, vor die Zugklappe der <lb/>Ofenthür gelegt, der einſtrömenden Luft den Stickſtoff entzöge, <lb/>ſo daß nur Sauerſtoff in den Ofen ſpazierte. </s>
  <s xml:id="echoid-s4376" xml:space="preserve">Allein es iſt ſo <lb/>gut wie gar keine Ausſicht für dieſe Erfindung vorhanden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4377" xml:space="preserve">Der Stickſtoff iſt ein höchſt eigenſinniger, hageſtolzer Geſelle, <lb/>der ſich, wie wir ja ſchon wiſſen, äußerſt ſchwer zu einer chemi-<lb/>ſchen Verbindung verſteht; </s>
  <s xml:id="echoid-s4378" xml:space="preserve">ja er iſt gerade durch dieſe Eigen-<lb/>ſchaft von ſo bedeutender Wichtigkeit im Haushalt der Natur, <lb/>daß wir nicht einmal wünſchen dürfen, daß er verbindungs-<lb/>luſtiger werde. </s>
  <s xml:id="echoid-s4379" xml:space="preserve">Genug, auf dieſe Erfindung müſſen wir ver-<lb/>zichten und könnten ſchon zufrieden ſein, wenn dies der einzige <lb/>Nachteil wäre, den uns der ſo notwendige Zug im Ofen zu-<lb/>zieht.</s>
  <s xml:id="echoid-s4380" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4381" xml:space="preserve">Er hat aber in Wahrheit noch einen andern Nachteil, auf <lb/>den die Männer der Wiſſenſchaft bisher wenig Rückſicht ge-<lb/>nommen haben, weil ſie in ihren gewiſſenhaft geführten For-<lb/>ſchungen ihre Aufmerkſamkeit nicht auf die Zuſtände richten, <lb/>die im praktiſchen Leben den Hausfrauen ſelten entgehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4382" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4383" xml:space="preserve">Durch den Schornſtein geht, wie wir geſehen haben, in-<lb/>folge des Zuges eine große Portion heißer Luft in die weite <lb/>Welt hinein; </s>
  <s xml:id="echoid-s4384" xml:space="preserve">dafür ſtrömt aber eine eben ſo große Portion <lb/>kalter Luft aus der Stube in den Ofen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4385" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4386" xml:space="preserve">Wie aber, müſſen wir fragen, wird dadurch nicht die Stube <lb/>luftleer?</s>
  <s xml:id="echoid-s4387" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4388" xml:space="preserve">Keineswegs; </s>
  <s xml:id="echoid-s4389" xml:space="preserve">denn dergleichen iſt nicht möglich. </s>
  <s xml:id="echoid-s4390" xml:space="preserve">Würde in
<pb o="58" file="0326" n="326"/>
die Stube keine neue Luft eindringen, ſo würde der Ofen auch <lb/>nicht ziehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s4391" xml:space="preserve">im Gegenteil, bei einer wirklichen Luftverdünnung <lb/>in der Stube würde der Luftdruck im Schornſtein den Rück-<lb/>zug bewirken, und Feuer, Rauch und Luft würden durch die <lb/>Zugklappe der Ofenthür in die Stube hineinſchlagen, wie das <lb/>zuweilen kommt, wenn ein plötzlicher Sturmſtoß in den Schorn-<lb/>ſtein hineinfährt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4392" xml:space="preserve">— Eine Stube kann man überhaupt nicht <lb/>luftleer machen, denn der Druck ver Luft von außen her würde <lb/>die Fenſter zertrümmern, ſobald nicht Luftmaſſe genug in der <lb/>Stube iſt, um den Gegendruck auszuüben.</s>
  <s xml:id="echoid-s4393" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4394" xml:space="preserve">In der That fehlt es in Stuben, wo der Zugofen brennt, <lb/>keineswegs an Luft, obgleich der Ofen ſeinen großen Luftbe-<lb/>darf aus der Stube bezieht; </s>
  <s xml:id="echoid-s4395" xml:space="preserve">denn kein Fenſter, keine Thür <lb/>iſt ſo dicht, daß nicht die Luft von draußen reichlich einſtrömen <lb/>ſollte.</s>
  <s xml:id="echoid-s4396" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4397" xml:space="preserve">Was aber iſt die Folge hiervon?</s>
  <s xml:id="echoid-s4398" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4399" xml:space="preserve">Dieſelbe Portion Luft, welche von der Stube in den Ofen hin-<lb/>eingezogen wird, dieſelbe Portion ſpaziert fortwährend durch Thür-<lb/>und Fenſterſpalten und ſonſtige ſichtbare und unſichtbare Riſſe in <lb/>die Stube herein, und da dieſe Luft kalt iſt, ſo bildet der Zug im <lb/>Ofen recht eigentlich eine Luftwanderung, bei welcher die kalte <lb/>Luft in die Stube zieht, und weil ſie eben kälter und ſchwerer <lb/>als die Stubenluft iſt, auf den Fußboden niederſinkt, und von <lb/>da langſamen Weges bis vor die Zugklappe der Ofenthür <lb/>wandert, um dort recht kräſtig im Wirbel gefaßt und durchs <lb/>Feuer und den Ofen hindurch zum Schornſtein hinaus in die <lb/>weite Welt expediert zu werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s4400" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4401" xml:space="preserve">Zuweilen, wenn im Zimmer alles ruhig iſt und die tief-<lb/>liegende Winterſonne ihren willkommenen, hellen Schein zum <lb/>Fenſter herein und bis zur offenen Zugklappe des brennenden <lb/>Ofens hinwirft — eine Erſcheinung, die in der Naturgeſchichte <lb/>großer Städte nur vier Treppen hoch zu ſpielen pflegt, — zu-<lb/>weilen kann man in ſolchen Momenten ein wenig Tabakdampf,
<pb o="59" file="0327" n="327"/>
den man am Fenſter aufwirbeln ließ, auf ſeiner Wanderung <lb/>durch die Stube verfolgen, und man merkt, daß er eine Luft-<lb/>reiſe macht, welche die Reiſe der Luft durch das Zimmer er-<lb/>kennen läßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4402" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4403" xml:space="preserve">Das Tabakswölkchen zieht, weil es von der erhitzten Pfeifen-<lb/>luft getragen wird, anfangs am Fenſter in die Höhe. </s>
  <s xml:id="echoid-s4404" xml:space="preserve">Hier ge-<lb/>rät es in den Strom kalter Luft, der zum Fenſter hereinzieht, <lb/>um die Luft zu erſetzen, welche die Stube an den Ofen abgiebt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4405" xml:space="preserve">Das Wölkchen verliert ſeine ſchöne Kreiſelung und wird ziem-<lb/>lich breitſpurig vom kalten Luftzug hinuntergetragen in die <lb/>Stube. </s>
  <s xml:id="echoid-s4406" xml:space="preserve">Im Sonnenſchein ſieht man es nun deutlich in un-<lb/>förmiger, wolkiger Maſſe ſeinen breiten Weg am Fußboden <lb/>entlang nehmen, und langſam bis in die Nähe des Ofens hin-<lb/>ziehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4407" xml:space="preserve">Hier aber wird es von einem zitternden Luftwirbel <lb/>gefaßt, es zieht ſich in lange, krauſe Ringelfäden bis zur Nähe <lb/>der Zugklappe, wo es ſchlangenartig hineinzieht, um — wie <lb/>man wiſſenſchaftlich ſich ganz richtig ausdrückt — einer voll-<lb/>ſtändigen Verbrennung entgegenzugehen, denn auch Tabaksrauch <lb/>iſt eine Folge der unvollſtändigen Verbrennung.</s>
  <s xml:id="echoid-s4408" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4409" xml:space="preserve">Was hilft uns aber die vollſtändige Rauchverbrennung, <lb/>wenn der hierzu nötige Zug ſo viel kalte Luft in die Stube <lb/>bringt?</s>
  <s xml:id="echoid-s4410" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4411" xml:space="preserve">Wahrlich, daß iſt eine wichtige, ſehr wichtige Frage, deren <lb/>Beantwortung für praktiſche Zwecke und für bürgerliche Stuben-<lb/>heizung leichter manchem Gelehrten den Kopf als ein kaltes <lb/>Zimmer warm machen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s4412" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4413" xml:space="preserve">Wir werden zu dieſer Frage noch kommen, wenn es ſich <lb/>darum handeln wird, ob man von draußen oder von der Stube <lb/>aus heizen ſoll, ob Öfen freien Zug oder luftdichte Thüren <lb/>haben müſſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s4414" xml:space="preserve">— aber ſo weit ſind wir noch nicht, denn der <lb/>Zug nimmt unſer Ohr in Anſpruch und macht uns ein <lb/>Heizungs-Konzert.</s>
  <s xml:id="echoid-s4415" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4416" xml:space="preserve">Warum klappert denn der Zug ſo? </s>
  <s xml:id="echoid-s4417" xml:space="preserve">Warum läßt er zu-
<pb o="60" file="0328" n="328"/>
weilen einen haſtigen Zapfenſtreich, zuweilen einen Lokomo-<lb/>tiventakt, zuweilen ein Blaſebalgbrauſen hören, bei dem nicht <lb/>ſelten alle loſen Fenſterſcheiben muſikaliſch angeregt werden?</s>
  <s xml:id="echoid-s4418" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4419" xml:space="preserve">Hierüber ließe ſich viel ſprechen, aber wir wollen’s kurz <lb/>machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4420" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4421" xml:space="preserve">Der kalte Zug macht viel Wirtſchaft im Ofen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4422" xml:space="preserve">Er puſtet <lb/>in einem Atem das Feuer aus und an. </s>
  <s xml:id="echoid-s4423" xml:space="preserve">Er verdichtet durch <lb/>ſeine Kälte das Gas im Ofen, und dehnt ſich und das wieder <lb/>anbrennende Gas im ſelben Moment aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s4424" xml:space="preserve">Seine Wirkung iſt <lb/>auch deshalb auf verſchiedene Holzarten verſchieden: </s>
  <s xml:id="echoid-s4425" xml:space="preserve">Kienholz <lb/>hat wegen der Flüchtigkeit ſeines Gaſes ein anderes Heizungs-<lb/>Konzert als Büchenholz. </s>
  <s xml:id="echoid-s4426" xml:space="preserve">Dies bringt nun das Flattern und <lb/>Klappern der Luft im Ofen hervor; </s>
  <s xml:id="echoid-s4427" xml:space="preserve">hiervon wird die Ofenthür <lb/>ergriffen und hin und her gerüttelt, und auch die einſtrömende <lb/>Luft ſelber ſchon vor dem Ofen in ein Zittern verſetzt, das ſich <lb/>ſogar einem Fidibus mitteilt, den man durch die Zugklappe <lb/>ſtecken will.</s>
  <s xml:id="echoid-s4428" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4429" xml:space="preserve">Das macht es aber auch, daß an jeder Luftöffnung der <lb/>Stube ein ähnliches, unbeobachtetes Konzert ſtattfindet, wo die <lb/>kalte Luft nach dem Takt der Ofenmuſik ins Zimmer hinein-<lb/>tanzt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4430" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4431" xml:space="preserve">Genug. </s>
  <s xml:id="echoid-s4432" xml:space="preserve">Der Zug iſt notwendig; </s>
  <s xml:id="echoid-s4433" xml:space="preserve">aber er wird uns noch <lb/>viel, zu ſchaffen machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4434" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div127" type="section" level="1" n="113">
<head xml:id="echoid-head126" xml:space="preserve"><emph style="bf">VII. Ofen und Kamin.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4435" xml:space="preserve">Wir ſind für jetzt ſo weit, daß wir das Feuer ruhig bren-<lb/>nen laſſen und uns derweilen ein wenig nach dem Ofen um-<lb/>ſehen müſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4436" xml:space="preserve">Denn — das wollen wir unſern Leſern lieber <lb/>gleich ſagen — eine gute, praktiſche Heizung iſt darum ſolch <lb/>ein ſeltenes Kunſtſtück, weil da viele Dinge durcheinander eine
<pb o="61" file="0329" n="329"/>
Rolle ſpielen und die Aufgabe verwirren; </s>
  <s xml:id="echoid-s4437" xml:space="preserve">und Eines dieſer <lb/>vielen Dinge iſt der Ofen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4438" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4439" xml:space="preserve">Wozu dient denn eigentlich der Ofen?</s>
  <s xml:id="echoid-s4440" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4441" xml:space="preserve">Es weiß ja jedes Kind, daß der Ofen an ſich kalt iſt, und <lb/>daß man ihn erſt erwärmt, damit er die Stube wärme, daß <lb/>man ihm die Hitze eigentlich nur in Kommiſſion giebt, damit <lb/>er ſie uns wieder gebe. </s>
  <s xml:id="echoid-s4442" xml:space="preserve">— Wozu aber hat man das nötig? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4443" xml:space="preserve">Weshalb erwärmt man die Zimmer nicht durch einen offenen <lb/>Kamin, der ſeine Hitze gleich in die Stube ſendet?</s>
  <s xml:id="echoid-s4444" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4445" xml:space="preserve">Jeder unſerer Leſer wird es wohl ſchon wiſſen, daß man <lb/>in der That in früheren Zeiten keine Öfen und ſtatt deren nur <lb/>Kamine hatte, daß es Länder giebt, wo noch jetzt die Öfen, dieſe <lb/>echt deutſchen, gemütlichen Winterfreunde, eine Seltenheit ſind, <lb/>und wo ſtatt des warmen Sitzes an ihrer Seite der Platz am <lb/>Kamin der Ehrenplatz des Hauſes an kühlen Tagen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4446" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4447" xml:space="preserve">Hiernach könnte es freilich ſcheinen, als ob der Ofen wirk-<lb/>lich ein überflüſſiger Kommiſſionär und eine unpraktiſche, deutſche <lb/>Erfindung wäre; </s>
  <s xml:id="echoid-s4448" xml:space="preserve">denn man ſagt es ja alle Tage von uns, daß <lb/>wir Deutſchen ein unpraktiſches Volk ſeien. </s>
  <s xml:id="echoid-s4449" xml:space="preserve">— Allein man <lb/>thäte hiermit dem Deutſchen und noch mehr ſeinem Ofen ſehr <lb/>Unrecht.</s>
  <s xml:id="echoid-s4450" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4451" xml:space="preserve">Das deutſche Volk iſt als Volk unpraktiſch. </s>
  <s xml:id="echoid-s4452" xml:space="preserve">Im Vergleich <lb/>mit anderen Völkern denkt es ſehr viel und handelt ſehr wenig. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4453" xml:space="preserve">Der Deutſche iſt auch im Geſellſchaftsweſen und im öffenlichen <lb/>Leben unbeholfener und unpraktiſcher, als viele geiſtig weit <lb/>unter ihm ſtehende Nationen; </s>
  <s xml:id="echoid-s4454" xml:space="preserve">allein auf den Deutſchen in ſeiner <lb/>Häuslichkeit laſſen wir nichts kommen, und namentlich am <lb/>Ofen — zuweilen auch hinterm Ofen — iſt er wirklich geſcheit, <lb/>ſparſam und wohlüberlegt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4455" xml:space="preserve">mit einem Worte: </s>
  <s xml:id="echoid-s4456" xml:space="preserve">hier iſt er prak-<lb/>tiſch. </s>
  <s xml:id="echoid-s4457" xml:space="preserve">Das iſt wirklich wahr.</s>
  <s xml:id="echoid-s4458" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4459" xml:space="preserve">Ein Blick auf jene Länder, wo keine Öfen und ſtatt der-<lb/>ſelben Kamine im Gebrauch ſind, lehrt, daß es nicht ein wirt-<lb/>ſchaftliches Sparſamkeitsſyſtem iſt, welches dieſen Zuſtand auf-
<pb o="62" file="0330" n="330"/>
recht erhält. </s>
  <s xml:id="echoid-s4460" xml:space="preserve">In warmen Ländern, wo wenig Brennmaterial <lb/>gebraucht wird, wie im ſüdlichen Fraukreich, hat man nicht <lb/>Urſache, mit den Heizmitteln zu ſparen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4461" xml:space="preserve">In Polen, wo frei-<lb/>lich die Kälte ſtark genug iſt, um die beſtändigere Wärme des <lb/>Ofens der nur flüchtigen des Kamins vorzuziehen, iſt Brenn-<lb/>material in ſo reicher Fülle vorhanden, daß ſie aufs Sparen <lb/>nicht angewieſen ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s4462" xml:space="preserve">auch liegt es nicht im Charakter der <lb/>Vermögenden der polniſchen Nation, zu ſparen, während der <lb/>Arme dort in Zuſtänden lebt, wo es ihm bequem und ange-<lb/>nehm iſt, Küche und Stube in einem Raum zu beſitzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4463" xml:space="preserve">— <lb/>Daß aber in England der Kamin ſich noch behauptet, das hat <lb/>ſeinen Grund teils in dem mildern See-Klima Englands, teils <lb/>in der Heizung der Steinkohlen, die in der That, wie wir noch <lb/>ſpäter ſehen werden, eine andere Art von Feuer liefern als <lb/>Holz, wie hauptſächlich in der Hartnäckigkeit und Zähigkeit des <lb/>engliſchen Charakters, welche eine Änderung der häuslichen <lb/>Einrichtung ſtets zurückweiſt, ſobald ſie einmal durch das Her-<lb/>kommen und die Sitte ihm lieb geworden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4464" xml:space="preserve">— Übrigens hat <lb/>trotz des ſtarren Feſthaltens am Herkommen in der That der <lb/>praktiſchere Ofen in neuen Häuſern Londons den Kamin <lb/>verdrängt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4465" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4466" xml:space="preserve">Worin liegt aber das Praktiſche des Ofens? </s>
  <s xml:id="echoid-s4467" xml:space="preserve">Warum <lb/>bedient man ſich dieſes Kommiſſionärs, dem man die Hitze <lb/>zunächſt zuführt, um ſie von ihm der Stube zugehen zu <lb/>laſſen, und bedient ſich nicht der Wärme des Feuers aus erſter <lb/>Hand?</s>
  <s xml:id="echoid-s4468" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4469" xml:space="preserve">Die Antwort hierauf iſt folgende.</s>
  <s xml:id="echoid-s4470" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4471" xml:space="preserve">Der Ofen iſt eine gute Sparbüchſe der Wärme, die, ohne <lb/>läſtig zu werden, viel Hitze auf einmal einnimmt und ſie <lb/>ohne weſentlichen Verluſt langſam nach und nach wieder ab-<lb/>giebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4472" xml:space="preserve">— Freilich iſt es wahr, daß der Ofen hiernach einge-<lb/>richtet ſein muß!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4473" xml:space="preserve">Die Unterſchiede zwiſchen der Wirkung eines Kaminfeuers
<pb o="63" file="0331" n="331"/>
und einer Ofenheizung ſind jeder einſichtigen Hausfrau ſicher <lb/>ſchon durch Erfahrung klar geworden.</s>
  <s xml:id="echoid-s4474" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4475" xml:space="preserve">Ein Kaminfeuer verbreitet all’ ſeine Wärme ſchnell durch <lb/>Ausſtrahlung. </s>
  <s xml:id="echoid-s4476" xml:space="preserve">Ein Ofenfeuer hat einen anderen Zweck. </s>
  <s xml:id="echoid-s4477" xml:space="preserve">Es <lb/>erhitzt den Ofen durch unmittelbare Berührung. </s>
  <s xml:id="echoid-s4478" xml:space="preserve">Ein Kamin-<lb/>feuer ſendet während des Brennens wärmende Strahlen in die <lb/>Luft des Zimmers; </s>
  <s xml:id="echoid-s4479" xml:space="preserve">dieſe ſteigt erwärmt aufwärts, läßt die <lb/>untere, kältere Luft zuſtrömen und wiederum erwärmen, und da <lb/>dies ſchnell genug und nach allen Seiten hin geſchieht, ſo iſt <lb/>die Luft des Zimmers auch ſehr bald in hohem Grade er-<lb/>wärmt und gewährt eine ſchnelle Behaglichkeit, ſo lange dieſe <lb/>Wärmequelle thätig iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4480" xml:space="preserve">— Ein Ofen dagegen erfüllt ſeinen <lb/>eigentlichen Zweck nur, wenn er nach allen Seiten hin die <lb/>Flamme ſo umgiebt, daß die Wärme nicht die Luft trifft. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4481" xml:space="preserve">Denn die wärmende Luft im Ofen, das wiſſen wir ja, fliegt <lb/>in den Schornſtein. </s>
  <s xml:id="echoid-s4482" xml:space="preserve">Der Ofen muß die Wärme durch un-<lb/>mittelbare Berührung aufnehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4483" xml:space="preserve">Auf die in die Ferne wir-<lb/>kenden Wärmeſtrahlen des Feuers muß man bei einem Ofen <lb/>verzichten. </s>
  <s xml:id="echoid-s4484" xml:space="preserve">Es liegt im Prinzip des Ofens, dem Feuer nir-<lb/>gends einen Raum zur Ausſtrahlung der Wärme darzubieten, <lb/>ſondern von allen Seiten dem Feuer friſche Flächen entgegen-<lb/>zuſtellen, deren Erhitzung unmittelbar geſchieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4485" xml:space="preserve">Erliſcht dann <lb/>das Feuer, ſo bleibt der erhitzte Ofen zurück und giebt die <lb/>empfangene Wärme dem Zimmer ab.</s>
  <s xml:id="echoid-s4486" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4487" xml:space="preserve">Zwar wiſſen wir, daß der Zug im Ofen eine ſtarke <lb/>Portion Wärme in den Schornſtein führt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4488" xml:space="preserve">allein der Kamin <lb/>erfordert einen bei weitem freiern Abzug des Rauches in den <lb/>Schornſtein, und das Feuer erleidet dadurch einen unverhält-<lb/>nismäßig größern Verluſt an Wärme, ſo daß eine Kaminheizung <lb/>in jedem Falle mehr dem Schornſtein, als dem Zimmer zu <lb/>gute kommt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4489" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="64" file="0332" n="332"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div128" type="section" level="1" n="114">
<head xml:id="echoid-head127" xml:space="preserve"><emph style="bf">VIII. Der Kachelofen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4490" xml:space="preserve">Unſere Leſer werden unſerem Lobe des Ofens ſchon an-<lb/>gemerkt haben, daß wir eigentlich damit den üblichen Kachelofen <lb/>meinen, und dem iſt auch ſo. </s>
  <s xml:id="echoid-s4491" xml:space="preserve">Wir wollen auch vorerſt dieſen <lb/>kennen lernen und uns die nähere Bekanntſchaft der übrigen <lb/>Öfen auf ſpäter vorbehalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s4492" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4493" xml:space="preserve">Iſt es wohl zufällig, daß man den Ofen aus ſolchem <lb/>Material baut? </s>
  <s xml:id="echoid-s4494" xml:space="preserve">Iſt es zufällig, daß man den weißen Ofen <lb/>einem dunkelfarbigen vorzieht? </s>
  <s xml:id="echoid-s4495" xml:space="preserve">Hat es ſeinen guten Grund, <lb/>daß man die Ofenkacheln glaſiert und ſich nicht mit einer <lb/>andern Art von Zierde derſelben begnügt?</s>
  <s xml:id="echoid-s4496" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4497" xml:space="preserve">Um dieſe Fragen zu beantworten, muß man auf den Zweck <lb/>eines Kachelofens zurückgehen und auch in die Natur der Wärme <lb/>ein wenig hineinblicken.</s>
  <s xml:id="echoid-s4498" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4499" xml:space="preserve">Der Zweck des Kachelofens iſt, wie bereits erwähnt, daß <lb/>man ihm eine Portion Wärme mit einemmale zuführt, damit <lb/>er ſie einzeln der Stube abgeben ſoll; </s>
  <s xml:id="echoid-s4500" xml:space="preserve">will man aber dieſen <lb/>Zweck erreichen, ſo muß man ſich’s klar machen, was es eigent-<lb/>lich mit dem Geben und Abgeben der Wärme für eine Be-<lb/>wandtnis hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s4501" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4502" xml:space="preserve">Was Wärme iſt, wollen wir an dieſer Stelle nicht er-<lb/>örtern. </s>
  <s xml:id="echoid-s4503" xml:space="preserve">Dieſe ſtreng wiſſenſchaftliche Frage ſoll uns jetzt nicht <lb/>den Kopf warm machen; </s>
  <s xml:id="echoid-s4504" xml:space="preserve">allein das wollen wir uns merken, <lb/>daß die Wärme ein Ding iſt, das man erzeugen kann, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s4505" xml:space="preserve">B. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4506" xml:space="preserve">durch Reiben; </s>
  <s xml:id="echoid-s4507" xml:space="preserve">ferner, daß man ſie ſteigern kann, bis die <lb/>Dinge, in welchen ſie angehäuft wird, ſich chemiſch und phyſi-<lb/>kaliſch ganz und gar verändern. </s>
  <s xml:id="echoid-s4508" xml:space="preserve">So verändert ſich z. </s>
  <s xml:id="echoid-s4509" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s4510" xml:space="preserve">Holz <lb/>chemiſch bei Steigerung der Hitze und zerfällt in verſchiedene <lb/>Gasarten, in Kohle und in Aſche; </s>
  <s xml:id="echoid-s4511" xml:space="preserve">während Waſſer bei ge-<lb/>ſteigerter Hitze ins Kochen gerät und ſich phyſikaliſch in Dampf <lb/>verwandelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4512" xml:space="preserve">— Endlich weiß man von der Wärme, daß ſie ein
<pb o="65" file="0333" n="333"/>
Ding iſt, das man durch nichts in der Welt einſperren kann, <lb/>denn ſie iſt durch und durch kommuniſtiſch geſinnt und verteilt <lb/>ſich gleichmäßig durch die ganze Welt, und wenn ſie deshalb <lb/>durch die dickſten Mauern wandern muß.</s>
  <s xml:id="echoid-s4513" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4514" xml:space="preserve">In dieſer Beziehung ſind Licht und Wärme, die beide ſehr <lb/>nahe verwandt zu ſein ſcheinen, außerordentlich von einander <lb/>verſchieden. </s>
  <s xml:id="echoid-s4515" xml:space="preserve">Licht kann man eben ſo leicht einſperren wie aus-<lb/>ſperren. </s>
  <s xml:id="echoid-s4516" xml:space="preserve">Man kann eine Stube erleuchten, und, wenn man nur <lb/>ringsum alle Öffnungen mit undurchſichtigen Wänden ver-<lb/>ſchließt, ſo wird nicht eine Spur von Licht hinausdringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4517" xml:space="preserve">Eben <lb/>ſo leicht kann man Licht ausſperren und einen Raum herſtellen, <lb/>der allenthalben zu iſt, in den alſo kein Licht eindringen kann. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4518" xml:space="preserve">— Mit der Wärme dagegen läßt ſich dies nicht machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4519" xml:space="preserve"><lb/>Bringt man einen heißen Körper in irgend einen kalten Raum <lb/>hinein, ſo wird ſich die Wärme nicht nur in dieſem Raum <lb/>verbreiten, ſondern ſie geht durch die dickſten Mauern hindurch, <lb/>und verliert ſich nach und nach durch immer weitere Ver-<lb/>teilung, bis ſie alles gleich warm gemacht hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s4520" xml:space="preserve">Die Wärme <lb/>läßt ſich alſo nicht einſperren, man kennt kein Ding, durch <lb/>welches ſie nicht hindurchdringt, und deshalb läßt ſie ſich auch <lb/>nicht ausſperren; </s>
  <s xml:id="echoid-s4521" xml:space="preserve">man kann keinen Behälter herſtellen, <lb/>welcher imſtande iſt, der Wärme von außen her völlig <lb/>zu widerſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4522" xml:space="preserve">Sie wandert durch Alles aus und dringt in Alles <lb/>hinein.</s>
  <s xml:id="echoid-s4523" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4524" xml:space="preserve">In dieſer Beziehung ſind wir alſo eigentlich ſchlimm <lb/>daran, wenn wir uns die Aufgabe ſtellen, irgend etwas in <lb/>einem einmal erzeugten Grad von Wärme zu erhalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s4525" xml:space="preserve">Der <lb/>Verluſt iſt unvermeidlich. </s>
  <s xml:id="echoid-s4526" xml:space="preserve">Es giebt hierin nur ein einziges <lb/>Mittel, und das beſteht darin, daß man die Wärme mit <lb/>ſolchen Dingen umſchließt, welche ſie nicht ſo ſchnell durch-<lb/>bricht.</s>
  <s xml:id="echoid-s4527" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4528" xml:space="preserve">Es giebt nämlich Dinge, durch welche die Wärme mit <lb/>fabelhaſter Leichtigkeit hindurchſpaziert, und wiederum andere</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4529" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s4530" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s4531" xml:space="preserve">Volksbücher XIV.</s>
  <s xml:id="echoid-s4532" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="66" file="0334" n="334"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4533" xml:space="preserve">Dinge, durch welche es ihr ſehr ſauer wird, hindurchzudringen, <lb/>durch welche ſie ſo zu ſagen enorm langſam durchkriecht.</s>
  <s xml:id="echoid-s4534" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4535" xml:space="preserve">Warum das ſo iſt, das weiß man nicht; </s>
  <s xml:id="echoid-s4536" xml:space="preserve">genug es iſt ſo, <lb/>und jedermann wird bei Erwähnung einiger Beiſpiele ſchnell <lb/>genug einſehen, daß er das oft ſchon erfahren hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s4537" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4538" xml:space="preserve">Durch Metalle wandert die Wärme mit fabelhafter <lb/>Leichtigkeit hindurch. </s>
  <s xml:id="echoid-s4539" xml:space="preserve">Hält man eine Stricknadel mit der einen <lb/>Spitze kurze Zeit in ein brennendes Licht, ſo erwärmt ſich <lb/>nicht nur dieſe, ſondern die ganze Nadel. </s>
  <s xml:id="echoid-s4540" xml:space="preserve">Die Wärme bleibt <lb/>alſo nicht an der Stelle, wo ſie entſteht, ſondern läuft durch <lb/>die Nadel der Länge nach davon. </s>
  <s xml:id="echoid-s4541" xml:space="preserve">— In einem nicht emaillierten, <lb/>eiſernen Topf kühlt ſich das Eſſen außerordentlich ſchnell ab, <lb/>denn die Wärme geht durch die Metallwände des Topfes ſehr <lb/>ſchnell hindurch und verteilt ſich nach außen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4542" xml:space="preserve">Unter einem <lb/>Zinkdach iſt es im Sommer vor Hitze und im Winter vor Kälte <lb/>nicht auszuhalten, denn die Wärme des Sonnenlichts geht <lb/>durchs Zink mit Schnelligkeit hindurch, während im Winter die <lb/>Wärme, die unter dem Zinkdach künſtlich erzeugt wird, ebenſo <lb/>ſchnell durchs Zink hindurch nach außen wandert.</s>
  <s xml:id="echoid-s4543" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4544" xml:space="preserve">Es giebt aber auch Dinge, wo die Wärme ſehr langſam <lb/>eindringt, und durch welche ſie deshalb auch nur langſam hin-<lb/>durchgehen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s4545" xml:space="preserve">Durch dicke Mauerwerke, durch Erdſchichten, <lb/>durch Geſteine dringt die Wärme zwar ein; </s>
  <s xml:id="echoid-s4546" xml:space="preserve">allein es geſchieht <lb/>dies ſehr langſam. </s>
  <s xml:id="echoid-s4547" xml:space="preserve">Es dauert deshalb lange, ehe man einen <lb/>Ziegelſtein heiß macht, denn die Wärme dringt langſam in <lb/>denſelben ein, aber er bleibt dann auch lange warm, denn die <lb/>Wärme geht wiederum ſehr langſam durch denſelben fort. </s>
  <s xml:id="echoid-s4548" xml:space="preserve">In <lb/>Aſche dringt auch die Wärme äußerſt langſam ein; </s>
  <s xml:id="echoid-s4549" xml:space="preserve">daher <lb/>bleibt auch Aſche, wenn ſie heiß iſt, lange warm. </s>
  <s xml:id="echoid-s4550" xml:space="preserve">In guter <lb/>Aſche halten ſich Kohlenſtückchen brennend oft von einem Tag <lb/>zum andern. </s>
  <s xml:id="echoid-s4551" xml:space="preserve">— Durch Wolle, durch Federbetten dringt die <lb/>Wärme ſehr ſchwer durch; </s>
  <s xml:id="echoid-s4552" xml:space="preserve">deshalb bleibt der Leib warm, wenn <lb/>man ihn in wollene Decken oder Betten einhüllt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4553" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="67" file="0335" n="335"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4554" xml:space="preserve">Mit einem Worte: </s>
  <s xml:id="echoid-s4555" xml:space="preserve">die Wärme durchdringt Alles und läßt <lb/>ſich nirgend ſeſthalten; </s>
  <s xml:id="echoid-s4556" xml:space="preserve">allein es giebt Dinge, durch welche ſie <lb/>ſich ſchnell hindurchdrängt, und dieſe nennt man gute Leiter <lb/>der Wärme, denn ſie leiten, transportieren die Wärme ſchnell <lb/>hinweg; </s>
  <s xml:id="echoid-s4557" xml:space="preserve">es giebt aber auch Dinge, durch welche die Wärme <lb/>ſchwerer hindurchmarſchiert; </s>
  <s xml:id="echoid-s4558" xml:space="preserve">dieſe nennt man ſchlechte Wärme-<lb/>Leiter. </s>
  <s xml:id="echoid-s4559" xml:space="preserve">— Und da es uns beim Heizen gerade oft drum zu <lb/>thun iſt, die Wärme, die im Ofen entſteht, nicht ſchnell davon <lb/>zu laſſen, ſo iſt die Herſtellung des Ofens aus Materialien, <lb/>welche die Wärme ſchlecht leiten, ſehr vorteilhaft.</s>
  <s xml:id="echoid-s4560" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4561" xml:space="preserve">Wir werden ſehen, daß der Kachelofen dieſen Vorteil <lb/>darbietet.</s>
  <s xml:id="echoid-s4562" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div129" type="section" level="1" n="115">
<head xml:id="echoid-head128" xml:space="preserve"><emph style="bf">IX. Material, Farbe und Glaſur des Ofens.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4563" xml:space="preserve">Auf die Leitung der Wärme hat aber noch etwas Einfluß, <lb/>und das iſt die Farbe eines Dinges.</s>
  <s xml:id="echoid-s4564" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4565" xml:space="preserve">Woher das kommt, das weiß man leider auch nicht; </s>
  <s xml:id="echoid-s4566" xml:space="preserve">denn <lb/>man kennt das innerſte Weſen der Dinge gar zu wenig; </s>
  <s xml:id="echoid-s4567" xml:space="preserve">aber <lb/>es ſteht feſt, daß hellfarbige Dinge weit ſchwerer zu erwärmen <lb/>ſind, als dunkelfarbige. </s>
  <s xml:id="echoid-s4568" xml:space="preserve">Ja man kann es nachweiſen, daß die <lb/>Wärme, wenn ſie auf einen hellen, weißen Gegenſtand <lb/>trifft, zurückzuſtrahlen anfängt, weil ſie eben wegen der <lb/>weißen Farbe nicht in den Gegenſtand eindringen kann; </s>
  <s xml:id="echoid-s4569" xml:space="preserve">während <lb/>ſie in dieſelbe Maſſe leicht eindringt, ſobald ſie ſchwarz ange-<lb/>ſtrichen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4570" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4571" xml:space="preserve">Viele Erſcheinungen dieſer Art ſind ſchon im gewöhnlichen <lb/>Leben bekannt genug. </s>
  <s xml:id="echoid-s4572" xml:space="preserve">— Von einer weiß angeſtrichenen Mauer <lb/>prallt die Wärme der Sonnenſtrahlen derart zurück, daß man <lb/>es oft in ihrer Nähe kaum aushalten kann, während die Mauer <lb/>ſelbſt ziemlich kühl bleibt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4573" xml:space="preserve">Iſt ſie ſchwarz angeſtrichen, ſo
<pb o="68" file="0336" n="336"/>
dringt die Wärme in ſie ein, ohne zurückzuſtrahlen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4574" xml:space="preserve">Deshalb <lb/>gedeiht der Wein, der viel Wärme braucht, immer beſſer an <lb/>einem dunkeln als an einem hellen Zaun; </s>
  <s xml:id="echoid-s4575" xml:space="preserve">denn der dunkle <lb/>nimmt mehr Wärme in ſich auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s4576" xml:space="preserve">Deshalb ſchützt ein heller <lb/>Sonnenſchirm ein Damengeſicht beſſer vor der Sonnenhitze als <lb/>ein dunkler. </s>
  <s xml:id="echoid-s4577" xml:space="preserve">Ein heller Hut iſt kühler als ein ſchwarzer. </s>
  <s xml:id="echoid-s4578" xml:space="preserve">Die <lb/>Frauen handeln ganz richtig, daß ſie ſich im Sommer hell, im <lb/>Winter dunkel kleiden; </s>
  <s xml:id="echoid-s4579" xml:space="preserve">durch helle Kleidung dringt die Wärme <lb/>von außen her nicht ſo ſchnell ein wie durch dunkle. </s>
  <s xml:id="echoid-s4580" xml:space="preserve">— Aus <lb/>gleichem Grunde ſieht man ſtets, daß der durch Fuhrwerke und <lb/>Fußgänger ſchmutzig gewordene Schnee ſchneller ſchmilzt, als der <lb/>neben ihm liegende helle. </s>
  <s xml:id="echoid-s4581" xml:space="preserve">Beſtreut man den vereiſten Bürgerſteig <lb/>mit ſchwarzer Aſche und Kohlenſtaub, ſo thaut er viel ſchneller <lb/>auf als der mit weißem Sand beſtreute. </s>
  <s xml:id="echoid-s4582" xml:space="preserve">Auf ſchwarzem Boden <lb/>gedeiht und grünt alles früher als auf hellerm. </s>
  <s xml:id="echoid-s4583" xml:space="preserve">Hängt man <lb/>zwei Thermometer, das eine weiß, das andere ſchwarz ange-<lb/>ſtrichen in die Sonne, ſo ſteigt das ſchwarz angeſtrichene be-<lb/>trächtlich höher als das andere.</s>
  <s xml:id="echoid-s4584" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4585" xml:space="preserve">Ganz in derſelben Weiſe aber, wie die weiße Farbe ein <lb/>Schutz iſt, daß die Wärme nicht ſchnell durch ſie eindringt, <lb/>ganz in demſelben Maße iſt ſie auch ein Schutz, daß die <lb/>Wärme nicht ſchnell verloren geht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4586" xml:space="preserve">— Weiße Gefäße halten <lb/>Flüſſigkeiten länger warm als dunkle. </s>
  <s xml:id="echoid-s4587" xml:space="preserve">In einer weißen <lb/>Taſſe wird der Kaffee nicht ſo ſchnell kalt als in einer <lb/>ſarbigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4588" xml:space="preserve">Zwei weiße Hemden ſchützen im Winter beſſer vor <lb/>Kälte als zwei ſchwarze Röcke; </s>
  <s xml:id="echoid-s4589" xml:space="preserve">eine weißwollene Unterjacke hält <lb/>beſſer warm als eine blaue oder braune; </s>
  <s xml:id="echoid-s4590" xml:space="preserve">denn die weiße Farbe <lb/>läßt die Wärme des Körpers nicht nach außen hin ſtrömen, <lb/>und verhütet ſomit den Verluſt der natürlichen Leibeswärme.</s>
  <s xml:id="echoid-s4591" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4592" xml:space="preserve">All’ dieſe Thatſachen, die Viele im Leben ſchon oft an <lb/>ſich ſelbſt erfahren haben, ſind durch wiſſenſchaftliche Unter-<lb/>ſuchungen beſtätigt worden. </s>
  <s xml:id="echoid-s4593" xml:space="preserve">Füllt man ein weißes und ein <lb/>ſchwarzes Gefäß von gleicher Maſſe und gleicher Dicke mit
<pb o="69" file="0337" n="337"/>
gleich heißem Waſſer und ſetzt in jedes ein Thermometer <lb/>hinein, ſo zeigt es ſich, daß nach einiger Zeit das Waſſer im <lb/>ſchwarzen Gefäß ſchneller erkaltet als im weißen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4594" xml:space="preserve">— Will <lb/>daher eine Hausfrau den Thee ſchnell fertig haben und lange <lb/>warm halten, ſo wird ſie das Waſſer in der Metall-Kaſſerolle <lb/>kochen, welche die Wärme ſchnell dem Waſſer abgiebt, und den <lb/>Thee in der weißen Kanne aufbrühen, die die Wärme nicht ſo <lb/>leicht davon läßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4595" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4596" xml:space="preserve">Die Wärme hat aber noch etwas Eigenes an ſich. </s>
  <s xml:id="echoid-s4597" xml:space="preserve">Sie <lb/>dringt durch eine glatte, blanke, glänzende, glaſierte Oberfläche <lb/>bei weitem ſchwerer ein, als durch eine rauhe, und ebenſo läßt <lb/>ein blankes, glattes, glänzendes, glaſiertes Gefäß weit lang-<lb/>ſamer die Wärme ausſtrahlen, als eines mit rauher Außen-<lb/>ſeite. </s>
  <s xml:id="echoid-s4598" xml:space="preserve">In der blanken Kaffeemaſchine bleibt dieſes gemütliche <lb/>deutſche Getränk länger warm, als in der ungeputzten; </s>
  <s xml:id="echoid-s4599" xml:space="preserve">in der <lb/>glaſierten Kaffeekanne wärmer, als in der unglaſierten. </s>
  <s xml:id="echoid-s4600" xml:space="preserve">Ein <lb/>Atlaskleid hält wärmer, als ein eben ſo dickes Wollenkleid. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4601" xml:space="preserve">In gewichſten Stiefeln verliert man weniger Wärme des Fußes, <lb/>als in ungewichſten. </s>
  <s xml:id="echoid-s4602" xml:space="preserve">Die ſchwarze Haut der Neger würde die <lb/>Sonnenwärme ihnen unerträglich machen, wenn nicht die <lb/>ſtarke Abſonderung der Talgdrüſen der Haut derſelben einen <lb/>glänzenden Überzug verleihen würde, der das Eindringen der <lb/>Wärme erſchwert; </s>
  <s xml:id="echoid-s4603" xml:space="preserve">die Wilden in kalten Weltgegenden würden <lb/>im halbnackten Zuſtande ihre Körperwärme ſchnell verlieren, <lb/>wenn ſie nicht durch Einreiben der Haut mit Fiſchthran, der <lb/>die Wärme ſchlecht leitet, ihr noch jenen blanken Anſtrich <lb/>geben würden, der die Körperwärme nicht ausſtrömen läßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4604" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4605" xml:space="preserve">Kommen wir nun auf den Ofen zurück, ſo müſſen wir <lb/>ſagen, daß es praktiſch, wie wiſſenſchaftlich ausgemacht iſt, daß <lb/>das Material, woraus der übliche Kachel-Ofen beſteht, daß alſo <lb/>Lehm und gebrannter Thon ſehr ſchlechte Leiter der Wärme <lb/>ſind, daß ſie alſo die Wärme, die man in ihnen erregt, zu-<lb/>ſammenhalten und ſie nur langſam von ſich geben, daß alſo
<pb o="70" file="0338" n="338"/>
dieſe Materialien dem Zwecke des Ofens vollkommen ent-<lb/>ſprechen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4606" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4607" xml:space="preserve">Ferner iſt auch der Umſtand von Wichtigkeit, daß der Ofen <lb/>inwendig dunkel und auswendig weiß iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4608" xml:space="preserve">Durch die inwendige, <lb/>dunkle Farbe nimmt er die Wärme leichter auf; </s>
  <s xml:id="echoid-s4609" xml:space="preserve">durch die <lb/>weiße Farbe von außen giebt er ſie nur langſam ab. </s>
  <s xml:id="echoid-s4610" xml:space="preserve">Ein <lb/>weißer Kachelofen iſt alſo eine gute Sparbüchſe der Wärme.</s>
  <s xml:id="echoid-s4611" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4612" xml:space="preserve">Endlich iſt es auch nicht zufällig, daß man ihn von innen <lb/>rauh läßt und von außen glaſierte Kacheln nimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4613" xml:space="preserve">Die rauhe <lb/>Innenfläche nimmt die Wärme beſſer auf; </s>
  <s xml:id="echoid-s4614" xml:space="preserve">die glaſierte Ober-<lb/>fläche giebt ſie langſam ab; </s>
  <s xml:id="echoid-s4615" xml:space="preserve">er erfüllt alſo auch in dieſer <lb/>Weiſe die Anforderung, die man gemeinhin an ihn ſtellt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4616" xml:space="preserve">Das <lb/>Glaſieren der Kacheln iſt ſo wichtig, daß ohne dasſelbe ein <lb/>ſchwarzer Ofen für dieſen Zweck, den wir vorerſt im Auge <lb/>haben, den Zweck des Aufſparens der Wärme, ſehr unbrauch-<lb/>bar wäre.</s>
  <s xml:id="echoid-s4617" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4618" xml:space="preserve">Wir werden von anderen Arten von Öfen, namentlich von <lb/>eiſernen Öfen, noch viel zu ſprechen haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s4619" xml:space="preserve">vorerſt müſſen wir <lb/>uns aber noch an viele andere Dinge halten, die von weſent-<lb/>lichem Einfluß beim Heizen ſind, und das ſind zunächſt die <lb/>Ofenzüge und der Schornſtein, die wir nunmehr in ihrem Wert <lb/>und Unwert kennen lernen wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4620" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div130" type="section" level="1" n="116">
<head xml:id="echoid-head129" xml:space="preserve"><emph style="bf">X. Der Ofen innerlich.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4621" xml:space="preserve">So ähnlich alle Öfen einander ſind, wenn man ſie von <lb/>außen anſieht, ſo unähnlich ſind ſie ſich innerlich; </s>
  <s xml:id="echoid-s4622" xml:space="preserve">und ſo un-<lb/>ähnlich ſie ſich innerlich ſind, ſo unähnlich ſind ſie ſich oft in <lb/>ihren Eigenſchaften.</s>
  <s xml:id="echoid-s4623" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4624" xml:space="preserve">Von außen ſehen ſich alle Öfen und namentlich in neuerer <lb/>Zeit gleich an. </s>
  <s xml:id="echoid-s4625" xml:space="preserve">— Alle haben auf der einen Seite die Ofenthür mit
<pb o="71" file="0339" n="339"/>
einer Zug-Öffnung, auf der andern das Ofenrohr, welches zum <lb/>Schornſtein führt, und in der Mitte des Ofens die ſogenannte <lb/>Röhre, die nicht ſelten ein unentbehrlicher Behälter in der <lb/>Wirtſchaft iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4626" xml:space="preserve">— Gleichwohl merken die achtſamen Hausfrauen <lb/>ſehr wohl, daß man aufs äußere Anſehen beim Ofen nicht <lb/>viel geben darf, und ihre erſte Frage iſt mit Recht: </s>
  <s xml:id="echoid-s4627" xml:space="preserve">“wie <lb/>heizt er ſich?</s>
  <s xml:id="echoid-s4628" xml:space="preserve">” denn das iſt im Grunde genommen die Haupt-<lb/>ſache.</s>
  <s xml:id="echoid-s4629" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4630" xml:space="preserve">Dieſe Hauptſache aber iſt von außerordentlich vielen Um-<lb/>ſtänden im Bau des Ofens abhängig, die wir jetzt teilweiſe <lb/>kennen lernen wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4631" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4632" xml:space="preserve">Ehedem waren die Öfen von außen, vom Flur, von der <lb/>Küche aus zu heizen, und der Bau der Öfen war ein durchaus <lb/>einfacher. </s>
  <s xml:id="echoid-s4633" xml:space="preserve">Der Ofen war eigentlich nur ein Kaſten, der unten <lb/>die Thür und oben das Abzugsrohr zum Schornſtein hatte. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4634" xml:space="preserve">Als einfacher Kaſten faßte er auch eine große Portion Brenn-<lb/>material, und wenn er gehörig damit verſorgt war, wurde das <lb/>Feuer in ihm oft mit großen Schwierigkeiten in Brand gebracht, <lb/>wobei nicht ſelten die Küche voll Rauch, der Heizer voll Ruß, <lb/>der Schornſtein im beſten Fall durch eine wahre Feuerſäule <lb/>geſchmückt war, die ſich durch das Abzugsrohr hinausdrängte.</s>
  <s xml:id="echoid-s4635" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4636" xml:space="preserve">Mit der Verteuerung des Brennmaterials erkannte man <lb/>ſehr bald das Unpraktiſche dieſer Heizung. </s>
  <s xml:id="echoid-s4637" xml:space="preserve">Durch die offene <lb/>Ofenthür ſtrömte eine Portion Hitze hinaus in die Küche, mit <lb/>der man faſt eine zweite Stube hätte heizen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s4638" xml:space="preserve">Schloß <lb/>man die Ofenthür aber zu zeitig, ſo ging das Feuer aus, weil es <lb/>ihm an Luft ſehlte. </s>
  <s xml:id="echoid-s4639" xml:space="preserve">Bald lernte man auch einſehen, daß Rauch <lb/>und Ruß unverbrannte Teile des Heizmaterials ſind, die richtig <lb/>geleitet und mitverbrannt die Wärme des Ofens erhöhen <lb/>würden. </s>
  <s xml:id="echoid-s4640" xml:space="preserve">Endlich war auch das unbequeme und ſchwierige, oft <lb/>ſchmierige Heizen von außen ein läſtiges Geſchäft, das man <lb/>ſich wo möglich erleichtern wollte.</s>
  <s xml:id="echoid-s4641" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4642" xml:space="preserve">Mit der Aufgabe, den Ofen von drinnen, das heißt von
<pb o="72" file="0340" n="340"/>
der Stube aus zu heizen, war aber durchaus ein anderer <lb/>innerer Bau des Ofens notwendig. </s>
  <s xml:id="echoid-s4643" xml:space="preserve">Wer es weiß, welch’ ein <lb/>feuer- und rauchſpeiendes Weſen ein Ofen nach alter Manier <lb/>für die Küche war, der wird ſofort einſehen, daß ſolches Un-<lb/>getüm in der Stube nicht geduldet werden kann; </s>
  <s xml:id="echoid-s4644" xml:space="preserve">es verſtand <lb/>ſich von ſelbſt, daß man dem Heizen einen ganz andern An-<lb/>ſtrich geben mußte, und dies geſchah dadurch, daß man die <lb/>Zug-Öfen einrichtete.</s>
  <s xml:id="echoid-s4645" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4646" xml:space="preserve">Dieſe Einrichtung beſteht darin, daß nicht ein gerader <lb/>Weg von der Thür des Ofens zum Abzugsrohr gelaſſen, ſon-<lb/>dern dem Feuer Umwege dargeboten werden, durch welche es <lb/>ſich hindurchzwängen muß, daß Hinderniſſe ihm in den Weg <lb/>gelegt werden, gegen welche es anprallen und die es beſonders <lb/>erhitzen muß, bevor der Abzug des Rauches nach mehreren <lb/>Hin- und Hergängen im Ofen möglich iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4647" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4648" xml:space="preserve">Man ſollte meinen, daß dies das Rauchen nur noch <lb/>fördern müßte; </s>
  <s xml:id="echoid-s4649" xml:space="preserve">allein man hat zugleich hierbei den Ofen ſo <lb/>eingerichtet, daß der eigentliche Brennraum, die Stelle, wo <lb/>man das Brennmaterial einlegt, ſehr klein iſt im Vergleich <lb/>zum ganzen Ofen; </s>
  <s xml:id="echoid-s4650" xml:space="preserve">dadurch wird der Ofen eigentlich in zwei <lb/>Teile geteilt, in den Brennraum, den man ſofort vor ſich hat, <lb/>wenn man die Ofenthür öffnet, und in den Luftraum, der ſich <lb/>über ihm hin und her ſchlängelt bis zum Rohr, das in den <lb/>Schornſtein führt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4651" xml:space="preserve">Macht man nun im Brennraum Feuer an, <lb/>ſo erhitzt man zunächſt die Luft im Luftraum, in den Zügen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4652" xml:space="preserve">dieſe ſtrömt mit Macht ins Abzugsrohr und veranlaßt das <lb/>Nachſtrömen der Luft des Zimmers in den Ofen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4653" xml:space="preserve">Dieſes <lb/>Nachſtrömen, das eigentlich der Zug iſt, verhindert das Rauchen, <lb/>dabei iſt die Zugklappe ſo angebracht, daß die friſche Luft ſo <lb/>recht in die Mitte des Brennraumes hineinſtrömt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4654" xml:space="preserve">hier bewirkt <lb/>ſie vermöge des Sauerſtoffs eine vollſtändigere Verbrennung, <lb/>wobei der Rauch zum Teil mitverbrannt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s4655" xml:space="preserve">Die brenn-<lb/>baren Gaſe, die aus dem Holz ſich entwickeln, verbrennen
<pb o="73" file="0341" n="341"/>
wenigſtens teilweiſe gut innerhalb der Luftzüge des Ofens, <lb/>die Flamme ſchlängelt ſich hierbei durch alle Hin- und Her-<lb/>gänge des Ofens und giebt an den Wänden zur Seite und <lb/>hauptſächlich an den Stellen, wo ſie anſchlagen und umbiegen <lb/>muß, ihre Hitze ab, ſo daß alles, was in den Schornſtein <lb/>ausſtrömt, ſchon bis zu einem gewiſſen Grade ſeine Wärme <lb/>abgegeben hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s4656" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4657" xml:space="preserve">Die Kinder machen ſich oft das Vergnügen, alle Kacheln <lb/>des Ofens zu unterſuchen, um zu ſehen, welche am ſchnellſten <lb/>warm wird; </s>
  <s xml:id="echoid-s4658" xml:space="preserve">wenn man ihnen dieſes harmloſe Vergnügen <lb/>nachmacht und dieſe naturwiſſenſchaftliche Unterſuchung nur mit <lb/>ein wenig Umſicht und Nachhilfe ergänzt, ſo hat man ungefähr <lb/>einen Maßſtab für die Lage der Züge im Ofen, oder richtiger <lb/>für die Bahn, welche die Flamme vom Brennraum aus bis <lb/>zum Rohr, das nach dem Schornſtein führt, zurücklegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4659" xml:space="preserve">Die-<lb/>jenigen Kacheln, gegen welche der Zug geht, und an der er <lb/>aufwärts ſteigend umkehrt, um nach dem entgegengeſetzten Ende <lb/>des Ofens hinzuziehen, die werden eben am erſten warm.</s>
  <s xml:id="echoid-s4660" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4661" xml:space="preserve">Wer nun verſchiedene Öfen in dieſer Weiſe mit Umſicht <lb/>unterſucht, der wird es bald herausfinden, daß oft zwei Öfen <lb/>in einer und derſelben Wohnung von außen ganz und gar <lb/>gleich ausſehen, daß Fuß, Farbe, Thüren und Verzierungen <lb/>darauf ſchließen laſſen, daß beide auch innerlich gleich be-<lb/>ſchaffen ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s4662" xml:space="preserve">allein ſie heizen ſich doch ganz verſchieden, weil <lb/>eben die Lage der Züge im Ofen eine verſchiedene iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4663" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4664" xml:space="preserve">Wie aber müſſen die Züge eingerichtet ſein, um ein gün-<lb/>ſtiges Reſultat zu erzielen?</s>
  <s xml:id="echoid-s4665" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4666" xml:space="preserve">Dieſe Frage iſt mit eine Hauptſache bei der Heizung; </s>
  <s xml:id="echoid-s4667" xml:space="preserve">wir <lb/>wollen ſie, ſo gut es geht, beantworten, aber von vorn herein <lb/>ſagen, daß die Umſtände hierbei ſo verſchiedenartig ſind, daß <lb/>eine allgemein gültige Antwort zu den ſchwierigſten dieſes <lb/>Themas gehört.</s>
  <s xml:id="echoid-s4668" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="74" file="0342" n="342"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div131" type="section" level="1" n="117">
<head xml:id="echoid-head130" xml:space="preserve"><emph style="bf">XI. Die Züge im Ofen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4669" xml:space="preserve">Wie bei allen Ofeneinrichtungen, muß man ſich auch <lb/>bei Einrichtung der Züge des Ofens klar zu machen ſuchen, <lb/>zu welchem Zweck und unter welchen Umſtänden ſie nützlich ſind</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4670" xml:space="preserve">Bekanntlich geben verſchiedene Brennmaterialien ver-<lb/>ſchiedene Flammen und entwickeln verſchiedene Arten von <lb/>Hitze, wie wir dies weiterhin noch ausführlicher darlegen <lb/>werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s4671" xml:space="preserve">für jetzt wollen wir nur das Eine hier erwähnen, <lb/>was bereits alle wirklichen Hausfrauen wiſſen, daß nämlich <lb/>gewiſſe Brennmaterialien mit großer, ſtürmiſcher Gasent-<lb/>wicklung, andere mit geringerer und langſamerer brennen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4672" xml:space="preserve">Jene, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s4673" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s4674" xml:space="preserve">Kienholz, brennen, wie die Frauen ſagen, mit <lb/><emph style="sp">langer</emph> Flamme, dieſe, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s4675" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s4676" xml:space="preserve">Büchenholz, mit <emph style="sp">kurzer</emph> Flamme. </s>
  <s xml:id="echoid-s4677" xml:space="preserve"><lb/>Mit noch kürzerer Flamme brennt Torf, und mit außerordent-<lb/>lich kurzer brennt Koks. </s>
  <s xml:id="echoid-s4678" xml:space="preserve">— Da wir bereits wiſſen, daß die <lb/>Flamme eigentlich nichts iſt als ausſtrömend brennendes Gas <lb/>rings um das erhitzte Brennmaterial, ſo wollen wir die lang-<lb/>ſlammigen Materialien die flüchtigen, die kurzflammigen die <lb/>weniger flüchtigen nennen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4679" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4680" xml:space="preserve">Nun aber müſſen wir noch einen Unterſchied kennen <lb/>lernen, der in der Wirkung des Feuers ſtattfindet.</s>
  <s xml:id="echoid-s4681" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4682" xml:space="preserve">Ein jedes Feuer wärmt bekanntlich auch in der Ferne; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4683" xml:space="preserve">ſtärker wird die Erwärmung, wenn man den zu erwärmenden <lb/>Gegenſtand dem Feuer näher bringt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4684" xml:space="preserve">am allerſtärkſten aber <lb/>iſt ſie, wenn man denſelben unmittelbar der Flamme ausſetzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4685" xml:space="preserve"><lb/>Die Erwärmung in die Ferne nennt man die <emph style="sp">ſtrahlende</emph> <lb/>Wärmung, und die Geſetze dieſer Erwärmung kann man ſehr <lb/>genau auf wiſſenſchaftlichem Wege deutlich machen; </s>
  <s xml:id="echoid-s4686" xml:space="preserve">die Er-<lb/>wärmung durch das Anſchlagen der Flamme ſelbſt wollen wir <lb/>die Erwärmung durch Berührung nennen und wollen nur <lb/>ſagen, daß bei dieſer außerordentlich verſchiedenartige Umſtände
<pb o="75" file="0343" n="343"/>
obwalten können, durch welche die Erwärmung ſehr geſteigert, <lb/>aber auch ſehr vermindert werden kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s4687" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4688" xml:space="preserve">Von den Geſetzen der ſtrahlenden Wärme wollen wir nur <lb/>das Eine beſonders hier hervorheben, daß die Wärmeſtrahlen <lb/>ganz ſo wie Lichtſtrahlen nur in gerader Linie wirken. </s>
  <s xml:id="echoid-s4689" xml:space="preserve">Um <lb/>ſich vor der ſtrahlenden Wärme eines hellen Feuers zu ſchützen, <lb/>braucht man nur irgend einen Gegenſtand als Schirm zwiſchen <lb/>ſich und das Feuer zu bringen, und wenn er noch ſo dünn <lb/>iſt, er wird hinreichen, die Wärme abzuhalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s4690" xml:space="preserve">Die ſtrahlende <lb/>Wärme der Sonne wird ja bekanntlich durch den feinen <lb/>Sonnenſchirm der Frauen hinreichend unwirkſam gemacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4691" xml:space="preserve">Die <lb/>ſtrahlende Wärme wärmt alſo nicht um die Ecke, und demnach <lb/>auch nicht in die <emph style="sp">Züge</emph> eines Ofens. </s>
  <s xml:id="echoid-s4692" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4693" xml:space="preserve">Wir müſſen aber auch ein Geſetz von der Erwärmung <lb/>durch die unmittelbare Flamme näher betrachten, und dies iſt <lb/>das Geſetz von den verſchiedenen Graden der Wärme an den <lb/>verſchiedenen Stellen einer und derſelben Flamme.</s>
  <s xml:id="echoid-s4694" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4695" xml:space="preserve">Man kann ſich durch zwei Stricknadeln, die man an ver-<lb/>ſchiedenen Stellen in eine Lichtflamme hält, leicht überzeugen, <lb/>daß dieſe verſchiedenen Stellen eine ſehr verſchiedene Wärme <lb/>haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s4696" xml:space="preserve">Hält man nämlich eine Stricknadel an den unteren, <lb/>nur bläulich brennenden Teil der Flamme, eine zweite an den <lb/>oberſten, mit gelblicher Flamme brennenden, ſo wird man bald <lb/>gewahren, daß die letztere Nadel bei weitem ſchneller zu <lb/>glühen anfängt, zum Zeichen, daß an dieſer Stelle der höhere <lb/>Grad von Hitze exiſtiert. </s>
  <s xml:id="echoid-s4697" xml:space="preserve">Es iſt mit der Flamme des Feuers <lb/>ebenſo, wie mit der Flamme eines Lichtes. </s>
  <s xml:id="echoid-s4698" xml:space="preserve">Die Flamme iſt <lb/>ſtets an der Spitze, kurz vor dem Ende derſelben, am heißeſten, <lb/>ja, ſie iſt bei ſtarkem Luftzug, der ſo eingerichtet iſt, daß das <lb/>Ende der Flamme ſich wirklich zuſpitzt, ſo heiß, daß ſie Kupfer <lb/>und Eiſen ſchmilzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4699" xml:space="preserve">Man nennt dieſe Spitze die Stichflamme, <lb/>und obwohl unſere Stubenöfen nicht ſo eingerichtet ſind, daß <lb/>ſie wirkliche Stichflammen erzeugen, wollen wir dieſen Namen
<pb o="76" file="0344" n="344"/>
beibehalten, um dadurch die heißeſte Spitze der Flamme zu <lb/>bezeichnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4700" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4701" xml:space="preserve">Stellen wir uns nun einen Ofen vor, der ſo gebaut iſt, <lb/>daß die Züge desſelben etagenweiſe aufwärts dreimal hin- und <lb/>hergehen, bevor ſie durch das Abzugsrohr in den Schornſtein <lb/>münden, ſo wird ſich der Vorteil und der Nachteil ſolcher <lb/>Einrichtung leicht einſehen laſſen, wenn wir uns einmal den-<lb/>ſelben mit einem recht flüchtigen und ein andermal mit einem <lb/>weniger flüchtigen Brennmaterial geheizt denken.</s>
  <s xml:id="echoid-s4702" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4703" xml:space="preserve">Geſetzt, wir füllen den Feuerraum eines ſolchen Ofens <lb/>mit recht fettem Kienholz, das, wie bereits geſagt, ſehr lang-<lb/>flammig brennt, ſo wird im unteren Brennraum nicht Platz <lb/>genug für die ganze Flamme ſein, ſie wird in die erſte Etage <lb/>des Ofenzuges einſtrömen und hier noch als Flamme wirken; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4704" xml:space="preserve">ja, ſie wird unter Umſtänden, wenn nämlich der Luftzug ſo <lb/>geleitet werden kann, daß ſie in dieſer erſten Etage noch mit <lb/>friſcher Luft geſpeiſt wird, hier alle ſchwerer brennenden Gaſe, <lb/>die ſich aus dem Holz entwickeln, entzünden und eine neue, <lb/>noch heißere Flamme erzeugen, die aufwärts bis in die zweite <lb/>Etage des Zuges ſteigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4705" xml:space="preserve">Eine Flamme dieſer Art wird einen <lb/>langen Raum des Ofens durch unmittelbare Berührung er-<lb/>hitzen, und wenn dies eine Zeit anhält, ſo wird, wenn das <lb/>Feuer ausgebrannt und die Ofenthür feſt verſchloſſen worden <lb/>iſt, um das Einſtrömen weiterer Luft, die den Ofen wieder <lb/>kühlen würde, zu verhindern, der Ofen heiß genug ſein, um <lb/>der Stube eine erwünſchte Wärme zu erteilen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4706" xml:space="preserve">Wie aber iſt <lb/>es, wenn der Zug der Luft nicht ſtark genug iſt, um in der <lb/>erſten Etage des Ofenzuges die Gaſe zu entzünden? </s>
  <s xml:id="echoid-s4707" xml:space="preserve">— Dann <lb/>wird eine eigentlich heiße Flamme, die Stichflamme, nicht <lb/>entſtehen, die Gaſe werden unverbrannt, unter Blak und Ruß <lb/>in den Schornſtein ſtrömen, und die Züge noch den Nachteil <lb/>haben, daß nicht einmal die ſtrahlende Wärme den Ofen er-
<pb o="77" file="0345" n="345"/>
hitzen kann, was wohl der Fall wäre, wenn der Ofen ein <lb/>bloßer Kaſten ohne Züge wäre.</s>
  <s xml:id="echoid-s4708" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4709" xml:space="preserve">Wie ganz anders es ſich herausſtellen würde, wenn wir <lb/>denſelben Ofen mit kurzflammigem Brennmaterial heizen <lb/>würden, das wollen wir ſoſort zeigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4710" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div132" type="section" level="1" n="118">
<head xml:id="echoid-head131" xml:space="preserve"><emph style="bf">XII. Die Züge und das Brennmaterial.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4711" xml:space="preserve">Würden wir denſelben Ofen mit ſeinen Zügen in drei <lb/>Etagen vermittelſt eines kurzflammigen Brennmaterials heizen, <lb/>ſo würde der untere Brennraum vollkommen ausreichen, alle <lb/>Flammen ſpielen zu laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4712" xml:space="preserve">Es würde kein brennbares Gas <lb/>unverbrannt in die erſte Etage des Zuges gelangen; </s>
  <s xml:id="echoid-s4713" xml:space="preserve">es würde <lb/>vielmehr hier nur die glühende Luft einſtrömen, welche im <lb/>Brennraum unten erzeugt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s4714" xml:space="preserve">Hier wird ſie an die Wände <lb/>der Züge etwas Wärme abgeben; </s>
  <s xml:id="echoid-s4715" xml:space="preserve">ein Gleiches wird in der <lb/>zweiten und dritten Etage des Zuges ſtattfinden, ſodann <lb/>aber wird ſie durch das Abzugsrohr in den Schornſtein hin-<lb/>einziehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4716" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4717" xml:space="preserve">Welche Wirkung aber wird das haben?</s>
  <s xml:id="echoid-s4718" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4719" xml:space="preserve">Eine außerordentlich verſchiedene, je nachdem das <lb/>Material und der Bau des Ofens und ſeiner Züge ver-<lb/>ſchieden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4720" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4721" xml:space="preserve">Im unteren Brennraum wird ein ſehr hoher Grad von <lb/>Wärme ſtattfinden, denn alle kurzflammigen Brennmaterialien, <lb/>das heißt alle Materialien, welche nicht die Gaſe ſo leicht und <lb/>ſo weit von ſich ausſtrömen laſſen, verbrennen zwar ſchwerer, <lb/>aber unter größerer Hitze. </s>
  <s xml:id="echoid-s4722" xml:space="preserve">Iſt nun dieſer Brennraum ſo ein-<lb/>gerichtet, daß die kurze Flamme allenthalben Wände vorfindet, <lb/>die es berührt und erhitzt, ſo wird eine tüchtige Portion <lb/>Wärme in die Ofenwände, in dieſe Sparbüchſen der Hitze,
<pb o="78" file="0346" n="346"/>
einziehen, die ſpäter der Stube zu gute kommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4723" xml:space="preserve">— Iſt dies <lb/>aber nicht der Fall, ſind die Wände nicht ſo geſtellt, daß ſie <lb/>das Brennmaterial ordentlich einſchließen und von der Flamme <lb/>gehörig berührt werden, ſo werden die Wände nur durch <lb/>Strahlung Wärme empfangen, die viel zu geringfügig iſt, um <lb/>namentlich die Wände eines guten Kachelofens zu durchhitzen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4724" xml:space="preserve">Es wird vielmehr die einſtrömende Luft ihr Spiel mit den <lb/>Wänden treiben; </s>
  <s xml:id="echoid-s4725" xml:space="preserve">denn je mehr Platz der Brennraum für die <lb/>Luft läßt, deſto mehr Luftmaſſe wird erhitzt, ausgedehnt und <lb/>in die Etagen der Züge hineingetrieben. </s>
  <s xml:id="echoid-s4726" xml:space="preserve">Es wird unter <lb/>ſolchen Umſtänden eine Art Luftheizung innerhalb des Ofens <lb/>ſtattfinden, aber eine Heizung, die nur dem Schornſtein zu <lb/>gute kommt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4727" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4728" xml:space="preserve">Iſt der Brennraum bei einem kurzflammigen Brenn-<lb/>material nicht gehörig eingezwängt, ſo iſt es beſſer, einen <lb/>Oſen ohne Züge und ohne ſtarken Luftzug zu haben, weil bei <lb/>ſolchem das Brennmaterial langſamer verbrennt und mindeſtens <lb/>den ganzen Ofen durch ſtrahlende Wärme erhitzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4729" xml:space="preserve">Die alt-<lb/>modiſchen Öfen, von außen zu heizen, die bloß wie Kaſten <lb/>gebaut waren, haben bei einer kurzflammigen Torfheizung <lb/>ihre Dienſte geleiſtet, beſſere Dienſte, als ein kurzſlammiges <lb/>Brennmaterial im weiten Brennraum eines Zug-Ofens.</s>
  <s xml:id="echoid-s4730" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4731" xml:space="preserve">Blicken wir nun auf die Wirkung der Züge ſelber beim <lb/>Gebrauch eines kurzflammigen Brennmaterials, ſo können dieſe <lb/>unter gewiſſen Umſtänden vorzüglich, unter gewiſſen Umſtänden <lb/>aber auch ſehr ſchädlich wirken.</s>
  <s xml:id="echoid-s4732" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4733" xml:space="preserve">Nehmen wir an, daß im unteren Brennraum alles in <lb/>Ordnung iſt und die Wände hinreichend der Flamme ausge-<lb/>ſetzt ſind, ſo wird es nur erhitzte Luſt ſein, welche durch die <lb/>Züge hindurch zum Schornſtein geht; </s>
  <s xml:id="echoid-s4734" xml:space="preserve">die Aufgabe dieſer Züge <lb/>iſt es nun, der hindurchſtreichenden Luft die Hitze zu entziehen, <lb/>damit ſie der Stube zu gute komme, und dies wird erreicht <lb/>werden können, wenn entweder die Züge recht weit gehen,
<pb o="79" file="0347" n="347"/>
viel Fläche der hindurchſtreichenden Luft darbieten, ſodaß ſie <lb/>allenthalben etwas Hitze abgeben muß und ſtark abgekühlt <lb/>wird, oder wenn die Züge ſelbſt aus einem Material gebaut <lb/>ſind, das die Wärme ſchnell leitet uud demnach der heißen <lb/>Luft auch auf kurzem Wege die Hitze entzieht.</s>
  <s xml:id="echoid-s4735" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4736" xml:space="preserve">In der That wird dieſes Syſtem von Heizung in ſolchen <lb/>Gegenden befolgt, die viel Braunkohle oder Steinkohle haben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4737" xml:space="preserve">Hier wird der Brennraum für dieſes kurzflammige Brenn-<lb/>material ſehr ſchmal und aus Kacheln gebaut; </s>
  <s xml:id="echoid-s4738" xml:space="preserve">aber auf dieſem <lb/>ſehr kleinen Kachelofen bringt man einen Aufſatz von eiſernen <lb/>Luſtzügen an, den man Zirkulier-Ofen nennt, und der drei bis <lb/>vier Etagen hoch, nur aus einer hin und hergehenden Bahn <lb/>für die heiße Luft beſteht, die nach dem Schornſtein eilt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4739" xml:space="preserve"><lb/>Da nun das Eiſen ein Material iſt, welches ſchnell die Hitze <lb/>aufnimmt und ſie ſchnell der Stube abgiebt, ſo kühlen dieſe <lb/>Züge die heiße Luft des Ofens ſtark ab, und der Verluſt an <lb/>Wärme iſt ein geringfügiger.</s>
  <s xml:id="echoid-s4740" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4741" xml:space="preserve">Wir werden ſpäter noch ein Näheres über dieſe Verbin-<lb/>dung des Kachelofens mit dem eiſernen Ofen vorführen, für <lb/>jetzt wollen wir uns nur das eine merken, daß die Züge eines <lb/>Ofens unter gewiſſen Umſtänden vorteilhaft, unter gewiſſen <lb/>aber eine wahre Quelle der Wärme-Verſchwendung ſind, und <lb/>daß hierbei nicht der Bau des Ofens, ſondern hauptſächlich <lb/>das verſchiedene Brennmaterial eine Rolle ſpielt, womit man <lb/>denſelben heizt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4742" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4743" xml:space="preserve">Sehr oft kommt es vor, daß ein Ofen, der äußerlich ganz <lb/>dasſelbe Anſehen hat, wie ſein Stubennachbar, eine andere <lb/>Behandlung beanſprucht; </s>
  <s xml:id="echoid-s4744" xml:space="preserve">hierbei iſt auf Züge, Brennraum und <lb/>Brennmaterial genau Rückſicht zu nehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4745" xml:space="preserve">Iſt der Brenn-<lb/>raum eng, ſind die Züge des Ofens lang, ſo muß man ein <lb/>kurzflammiges Brennmaterial darin heizen; </s>
  <s xml:id="echoid-s4746" xml:space="preserve">ſind Brennraum <lb/>und Züge weit, dann wird ein langflammiges Brennmaterial <lb/>mit Vorteil benutzt werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s4747" xml:space="preserve">Sind dieſe Einrichtungen nicht
<pb o="80" file="0348" n="348"/>
ganz entſchieden in der einen oder der anderen Weiſe, ſo muß <lb/>man es mit einer gemiſchten Heizung verſuchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4748" xml:space="preserve">Es giebt <lb/>ſehr häufig Öfen, welche zuerſt mit langflammigem Kienholz, <lb/>ſodann mit etwas Torf darauf traktiert ſein wollen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4749" xml:space="preserve">Das Kien-<lb/>holz bewirkt die Heizung der oberen, meiſt dünn gebauten <lb/>Etagen, und der Torſ giebt den dickeren Wänden des Brenn-<lb/>raums ſeine nachhaltige Portion Hitze. </s>
  <s xml:id="echoid-s4750" xml:space="preserve">Ja, nicht ſelten thut <lb/>es gut, wenn man hinterher auf den Torf noch ein paar <lb/>Stücke Holz aufwirft, damit die kurze und die lange Flamme <lb/>zugleich ausgebrannt ſei, wenn man den Ofen ſchließen will. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4751" xml:space="preserve">— Mit einem Worte: </s>
  <s xml:id="echoid-s4752" xml:space="preserve">faſt jeder Ofen verlangt je nach ſeinem <lb/>Bau ſeine eigene Behandlung, und wenn man ſich beim Mieten <lb/>der Wohnung bei den alten Mietern nach den einzelnen Öfen <lb/>und ihrem Befinden erkundigt, ſo unterlaſſe man nicht, ſich <lb/>auch das Brennmaterial zu merken, mit welchem der alte <lb/>Mieter ſeine Erfahrungen gemacht hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s4753" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div133" type="section" level="1" n="119">
<head xml:id="echoid-head132" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIII. Die Schornſtein-Frage.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4754" xml:space="preserve">Über die Heizkraft eines Ofens hat auch der Schornſtein <lb/>ein Wort mit drein zu ſprechen, und er thut es in ſolcher <lb/>Weiſe, daß man nicht ſelten Urſache hat, mit dem Schornſtein <lb/>zu hadern, wenn man meint, mit dem Ofen unzufrieden ſein <lb/>zu müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4755" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4756" xml:space="preserve">Der Schornſtein iſt der Kanal, der den heißen, engen <lb/>Ofen mit der kalten, weiten Welt draußen verbindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s4757" xml:space="preserve">Solange <lb/>die Ofenthüre offen iſt, verläßt unausgeſetzt erhitzte Luft den <lb/>Ofen und ſtrömt zum Schornſtein hinaus ins Freie. </s>
  <s xml:id="echoid-s4758" xml:space="preserve">Daß <lb/>dies einen Verluſt an Wärme hervorbringt, der ungemein groß <lb/>iſt, das läßt ſich denken. </s>
  <s xml:id="echoid-s4759" xml:space="preserve">Man darf ohne Übertreibung an-<lb/>nehmen, daß ſelbſt an den beſten Öfen und den vorzüglichſten
<pb o="81" file="0349" n="349"/>
Schornſteinen immer noch die Luſt ſo heiß in den Schornſtein <lb/>einſtrömt, daß man imſtande iſt, dadurch eiskaltes Waſſer zum <lb/>Kochen zu bringen, wenn man es unmittelbar der Hitze der <lb/>ausſtrömenden Luft ausſetzt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4760" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4761" xml:space="preserve">Hierbei iſt meiſt der Schornſtein ſo wetterwendiſch, daß <lb/>man noch froh ſein kann, wenn er nur eben die heiße Luft <lb/>ſortziehen läßt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4762" xml:space="preserve">denn bei der jetzigen Einrichtung, wo die <lb/>Öfen von der Stube aus geheizt werden, iſt nichts unange-<lb/>nehmer, als wenn der Schornſtein ſeinen böſen Tag hat und <lb/>den Zug nicht recht in Ordnung hält, ſodaß Rauch und ſchäd-<lb/>liche Dünſte ins Zimmer hineinſchlagen und die ganze Heizerei <lb/>vergällen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4763" xml:space="preserve">Dazu kommt noch, daß mit dem Schornſtein nicht <lb/>viel zu ſpaßen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4764" xml:space="preserve">Ein guter Mieter findet wohl noch bei <lb/>unſeren teueren Zeiten zuweilen einen reſpektabeln Hauswirt, <lb/>der einen ſchlechten Ofen umbauen läßt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4765" xml:space="preserve">zu jenem Gedanken <lb/>eines goldenen Zeitalters aber ſich zu erheben, wo ein Haus-<lb/>eigentümer zum Vorteil ſeiner Mieter einen einmal verpfuſchten <lb/>Schornſtein umbaut, dazu iſt ſelbſt die wohlmeinendſte Phan-<lb/>taſie des beſten Mieters zu zaghaft. </s>
  <s xml:id="echoid-s4766" xml:space="preserve">Ein ſchlechter Schornſtein <lb/>gehört zu den unheilbaren Schäden eines Hauſes.</s>
  <s xml:id="echoid-s4767" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4768" xml:space="preserve">Was aber beim Schornſtein die Sache noch ſchlimmer <lb/>macht, iſt der Umſtand, daß man theoretiſch den Schornſtein, <lb/>wie er ſein ſoll, recht gut anzugeben weiß, daß man aber in <lb/>der Praxis hierbei auf verſchiedenartige Umſtände ſtößt, die <lb/>alle Theorie zu Schanden und ſomit allen klugen Rat über-<lb/>ſlüſſig machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4769" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4770" xml:space="preserve">Könnte man von jedem Kamin, von jedem Ofen aus einen <lb/>beſonderen Schornſtein bis zum Dach hinausbauen, ſo ließen <lb/>ſich die gründlichen Reſultate der wiſſenſchaftlichen Unterſuchung <lb/>ganz gut anwenden. </s>
  <s xml:id="echoid-s4771" xml:space="preserve">Man würde die Weite des Schornſteins <lb/>im richtigſten Verhältnis zur Höhe desſelben und zur Zug-<lb/>Öffnung bringen können, wie man das in der That bei Fabrik-<lb/>Anlagen thut, wo man den Schornſtein für die beſtimmte</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4772" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s4773" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s4774" xml:space="preserve">Volksbücher XIV.</s>
  <s xml:id="echoid-s4775" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="82" file="0350" n="350"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4776" xml:space="preserve">Feuerung, für den beſtimmten Luftzug laut Berechnung und <lb/>Theorie anlegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4777" xml:space="preserve">Daß dies aber in Wohnhäuſern nicht der <lb/>Fall iſt, nicht der Fall ſein kann, das ſieht wohl jeder ein, <lb/>und ſomit iſt die Schornſtein-Frage wirklich die verwickeltſte in <lb/>der Heizungs-Praxis.</s>
  <s xml:id="echoid-s4778" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4779" xml:space="preserve">Was die Lehre von dem Luftzuge in den Schornſteinen <lb/>ergiebt, das werden wir hier nur kurz berühren.</s>
  <s xml:id="echoid-s4780" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4781" xml:space="preserve">Ein Schornſtein führt deshalb die Luft aufwärts, weil die <lb/>Luftſäule, die ſich in demselben befindet, von unten, vom <lb/>Heizraum her erhitzt, ausgedehnt und alſo leichter wird, <lb/>während die obere Schicht am Dache kalt, dicht, und alſo <lb/>ſchwer iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4782" xml:space="preserve">Die leichte Luſt hat das Beſtreben, nach oben zu <lb/>ſteigen und nimmt in dieſem Aufſteigen die Rauchteilchen mit, <lb/>welche dem Ofen entſtrömen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4783" xml:space="preserve">Dieſes Ausſtrömen der Luft <lb/>zum Schornſtein hinaus wird um ſo ſchneller vor ſich gehen, <lb/>je heißer der Oſen und je kälter die Witterung iſt, weshalb <lb/>denn bei hellem, kalten Wetter alle Schornſteine gut ziehen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4784" xml:space="preserve">Der Zug hängt aber auch von Nebenumſtänden ab, die beim <lb/>Bau des Schornſteins wohl beachtet werden müſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4785" xml:space="preserve">Durch <lb/>Theorie und praktiſche Verſuche hat man die Schornſteine als <lb/>die richtigſten gefunden, welche etwa viermal ſo weit ſind, als <lb/>die Öffnung des Ofenrohres, aus welchem der Rauch in den <lb/>Schornſtein ſteigt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4786" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4787" xml:space="preserve">Der Schornſtein ſoll z. </s>
  <s xml:id="echoid-s4788" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s4789" xml:space="preserve">keine Biegungen haben und in-<lb/>wendig eine möglichſt glatte Fläche dem Rauch darbieten, <lb/>widrigenfalls der Zug ſich ſehr verzögert. </s>
  <s xml:id="echoid-s4790" xml:space="preserve">Für alle dieſe <lb/>Regeln hat man nun die Rechnungen ganz gut zur Hand, <lb/>und wenn man eine beſtimmte Feuerung, einen beſtimmten <lb/>Brennraum, ein beſtimmtes Brennmaterial und eine wenigſtens <lb/>zum Teil beſtändig gleiche Hitze des Ofens vor ſich hat, ſo <lb/>läßt ſich nach dieſen Regeln und Berechnungen die hierzu <lb/>nötige Einrichtung des Schornſteins ganz gut angeben.</s>
  <s xml:id="echoid-s4791" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4792" xml:space="preserve">All’ dies aber läßt uns im Stich, wenn wir auf die
<pb o="83" file="0351" n="351"/>
Heizung unſerer Wohuungen, und namentlich in großen <lb/>Städten, blicken. </s>
  <s xml:id="echoid-s4793" xml:space="preserve">In Häuſern, wo ein und derſelbe Schorn-<lb/>ſtein für vier Stockwerke dienen muß, wo zuweilen vier <lb/>Feuerherde und zwölf bis ſechzehn Öfen ihre Öffnungen in <lb/>den Schornſtein haben, wo abwechſelnd bald aus allen Öff-<lb/>nungen, bald aus wenigen, bald aus den oberſten, bald aus <lb/>den unterſten allein die erhitzte Luft ihren Auswen ſucht, wo <lb/>Thüren und Fenſter der Küchen und Stuben bald geſchloſſen, <lb/>bald geöffnet ſind und ſomit Nebenumſtände und Bedingungen <lb/>entſtehen, die von weſentlichem Einfluß ſind und doch nicht <lb/>berechnet werden können — da hört alle allgemeine Regel <lb/>auſ, und man muß nicht nur ſür jeden Ofen einen beſonderen <lb/>Arzt anſtellen, ſondern auch noch dieſem die Sorge aufbürden, <lb/>beim jedesmaligen Heizen ſich nach dem Befinden aller Nach-<lb/>bar-Öfen zu erkundigen, die in den gemeinſamen Schorn-<lb/>ſtein münden.</s>
  <s xml:id="echoid-s4794" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4795" xml:space="preserve">Hier läßt ſich in der That nur durch praktiſche Verſuche <lb/>an jedem Ofen eine Erſparnis erzielen, und wir wollen zu-<lb/>frieden ſein, wenn unſere weiteren Ausführungen zu ſolchen <lb/>Verſuchen eine brauchbare Anleitung geben werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s4796" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div134" type="section" level="1" n="120">
<head xml:id="echoid-head133" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIV. Die verſchiedenen Brennmaterialien.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4797" xml:space="preserve">Unſere Leſer werden ſicherlich einſehen, daß all’ das, was <lb/>wir bisher über die einzelnen Umſtände des Heizens geſagt <lb/>haben, nur geeignet iſt, die Schwierigkeit unſerer Aufgabe <lb/>darzuthun, ja dieſelbe faſt als unüberwindlich darzuſtellen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4798" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4799" xml:space="preserve">In der That iſt es wahr, daß die einzelnen Umſtände <lb/>bei jedem Ofen ſo verſchieden und außerdem noch ſo unab-<lb/>hängig von vielen, unberechenbaren Zufällen ſind, daß wir nur <lb/>ſehr beſcheidene Anſprüche an den Gewinn machen dürfen, der
<pb o="84" file="0352" n="352"/>
durch allgemeine Belehrungen zu erzielen iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4800" xml:space="preserve">das Meiſte wird <lb/>die Erſahrung der Hausfrauen ſelber hierbei thun müſſen, <lb/>deren Urteil wir eben nur auf die richtigen und wichtigen <lb/>Thatſachen leiten wollen, die ſie bei ihren praktiſchen Er-<lb/>fahrungen zu beobachten haben werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s4801" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4802" xml:space="preserve">Wir haben aber einen Umſtand noch garnicht berührt, <lb/>und das iſt in der Wirtſchaft ſicherlich die Hauptſache, wir <lb/>meinen das Brennmaterial.</s>
  <s xml:id="echoid-s4803" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4804" xml:space="preserve">Wie weiches Holz ganz anders brennt als hartes, das <lb/>wiſſen die Hausfrauen vortrefflich; </s>
  <s xml:id="echoid-s4805" xml:space="preserve">auch lehrt ſie die Erſahrung <lb/>die richtige Verwendung der verſchiedenen Brennmaterialien <lb/>für ſehr verſchiedene Zwecke; </s>
  <s xml:id="echoid-s4806" xml:space="preserve">wie es denn eine bekannte That-<lb/>ſache iſt, daß eine wirtliche Hausfrau ſich gern mit allerhand <lb/>Brennmaterial verſorgt, um für jeden beſonderen Fall ein be-<lb/>ſonderes Feuer anmachen zu können.</s>
  <s xml:id="echoid-s4807" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4808" xml:space="preserve">Wie ſehr auch der Gatte zuweilen den Kopf dazu ſchütteln <lb/>mag, ſo behält doch die Hausfrau Recht, wenn ſie ſich mit ein <lb/>ein wenig Kienholz verſorgt, um im vorkommenden Fall das <lb/>Kaffee- und Thee-Waſſer äußerſt ſchnell ins Kochen zu bringen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4809" xml:space="preserve">wenn ſie ſich mit ein wenig Elſenholz verſieht, um Fiſche <lb/>leicht gar zu haben und nicht anbrennen zu laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4810" xml:space="preserve">Eine <lb/>Überraſchung mit einer Portion kleingehauenem Büchenholz <lb/>nimmt eine Hausfrau ihrem Gatten niemals übel; </s>
  <s xml:id="echoid-s4811" xml:space="preserve">ſie weiß, <lb/>daß das Mittagbrot dabei am beſten im Kochen erhalten <lb/>wird, ohne zu viel Aufmerkſamkeit zu erſordern und ohne <lb/>Geſchirr, Speiſen, Hände und Geſicht anzurußen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4812" xml:space="preserve">Ein paar <lb/>tüchtige büchene Kloben hebt ſich die wirtliche Hausfrau ſo <lb/>gewiß zur Wäſche auf, daß der Hausherr ſchon der Waſch-<lb/>Laune aus dem Wege zu gehen anfängt, wenn er den Feuer-<lb/>herd mit ein paar Kloben derart geſchmückt ſieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4813" xml:space="preserve">— Daß man <lb/>etwas Torfgeruch zu den Annehmlichkeiten häuslicher Waſch-<lb/>Tage zählt, beweiſt, daß auch der Torf in Sommermonaten <lb/>einige Verwendung finden kann, wenn er wohlausgetrocknet in
<pb o="85" file="0353" n="353"/>
die Hände einer wirtlichen Hausfrau gerät. </s>
  <s xml:id="echoid-s4814" xml:space="preserve">— Daß endlich ein <lb/>wenig Kohlen zum Plätten gehören, giebt jeder Mann ſchon <lb/>deshalb gern mit Vergnügen zu, weil mit der Glut des letzten <lb/>Bolzens meiſt das Morgenrot der häuslichen Friedenskonferenzen <lb/>emporſtrahlt und im ſchwarzen Meer der üblen Laune jedes <lb/>Kriegsſegel bis zur Nacht der nächſten Wäſche abtakelt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4815" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4816" xml:space="preserve">Genug, wir ſehen, wie die wirtliche Hausfrau jedes <lb/>Brennmaterial anders zu verwenden weiß, auch wenn ſie es <lb/>nicht zur Heizung benutzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4817" xml:space="preserve">Daß dies bei der Heizung noch <lb/>mehr der Fall iſt, das iſt bekannt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4818" xml:space="preserve">Daß die Eine mit Büchen, <lb/>die Andere mit Elſen, die Dritte mit Kien, die Vierte mit <lb/>Koks, die Fünfte mit Torf, die Sechſte mit Braunkohle und <lb/>die Siebente mit Steinkohle beſſer zu heizen vermeint, das ſehen <lb/>wir alltäglich; </s>
  <s xml:id="echoid-s4819" xml:space="preserve">wir wiſſen alſo, daß ſchon im gewöhnlichen <lb/>Leben der Brenn- und Heizwert jedes Brennmaterials ſehr ver-<lb/>ſchieden angeſchlagen wird, und deshalb wollen wir den Wert <lb/>der gebräuchlichen Brennmaterialien etwas näher kennen lernen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4820" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4821" xml:space="preserve">Zum Glück dürfen wir ſagen, daß keiner der Umſtände, <lb/>welche bei der Heizung von Wichtigkeit ſind, mit ſolcher Gründ-<lb/>lichkeit unterſucht worden iſt, wie die Heizkraſt des Brenn-<lb/>materials, ſodaß wir in dieſem Punkte mit weit ſichereren <lb/>wiſſenſchaftlichen Reſultaten vor unſere Leſer treten können <lb/>als in allen übrigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4822" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4823" xml:space="preserve">Da es ein ſehr allgemeines Intercſſe hat, die wiſſen-<lb/>ſchaftlichen Unterſuchungen hierüber kennen zu lernen, ſo wollen <lb/>wir in aller Kürze die Geſchichte der Unterſuchung und die <lb/>Art und Weiſe, wie ſie geleitet worden, hier unſeren Leſern <lb/>vorführen, damit ſie die Gewiſſenhaftigkeit einſehen, mit <lb/>welcher die Reſultate erforſcht worden ſind, welche nunmehr <lb/>als ſicher und feſtſtehend betrachtet werden, und die Sorgfalt <lb/>und den Fleiß achten leruen, welche zur Erreichung dieſer <lb/>Reſultate auſgewendet werden mußten.</s>
  <s xml:id="echoid-s4824" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="86" file="0354" n="354"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div135" type="section" level="1" n="121">
<head xml:id="echoid-head134" xml:space="preserve"><emph style="bf">XV. Die Unterſuchungen der Brennmaterialien.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4825" xml:space="preserve">Das vortreffliche Werk von Brix über die Heizkraft der <lb/>wichtigſten Brennſtoffe des preußiſchen Staates enthält eine <lb/>Einleitung, die Rechenſchaft ablegt von all’ den Einrichtungen, <lb/>die getroffen werden mußten, um zu einem ſicheren Reſultat <lb/>zu kommen, und aus ihr erſieht man, daß gerade die Haupt-<lb/>aufgabe der geſamten Verſuche darin beſtanden hat, den <emph style="sp">prak-<lb/>tiſchen</emph> Wert eines jeden Brennmaterials kennen zu lernen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4826" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4827" xml:space="preserve">Wieviel Hitze ein Stück Holz beim Verbrennen entwickelt, <lb/>das kann man auch durch <emph style="sp">Berechnung</emph> herausbringen, ohne <lb/>daß man es zu verbrennen braucht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4828" xml:space="preserve">Man kann das Stück <lb/>Holz chemiſch unterſuchen, und daraus wird ſich ergeben, <lb/>wieviel Kohlenſtoff, wieviel Waſſerſtoff, wieviel Sauerſtoff es <lb/>enthält, wie viel unverbrennliche Teile darin ſind, welche als <lb/>Aſche zurückbleiben werden, und da man weiß, unter welcher <lb/>Wärme reiner Kohlenſtoff und reiner Waſſerſtoff verbrennt, <lb/>ſo läßt ſich die Wärmeſumme dieſer Stoffe in dem Stück Holz <lb/>mit Genauigkeit herausfinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s4829" xml:space="preserve">— Allein dieſe Berechnung iſt <lb/>für die Praxis nicht maßgebend; </s>
  <s xml:id="echoid-s4830" xml:space="preserve">denn erſtens geht ein Teil <lb/>der Wärme verloren, indem ſie in ſolche Teile eindringt, wo <lb/>ſie unbenutzt bleibt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4831" xml:space="preserve">Der Feuerherd, die Aſche, die umgebende <lb/>Luft und ſelbſt der noch nicht brennende Teil des Brenn-<lb/>materials wird mit erhitzt, ohne daß dieſe Wärme nutzbar ge-<lb/>macht werden kann; </s>
  <s xml:id="echoid-s4832" xml:space="preserve">und zweitens liegt, wie wir ſchon gezeigt <lb/>haben, die größte Schwierigkeit darin, eine praktiſche Ein-<lb/>richtung zu finden, welche wirklich die <emph style="sp">nutzbare</emph> Verbrennung <lb/>aller brennbaren Teile eines Materials möglich macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4833" xml:space="preserve">Was <lb/>hilft uns die Berechnung, die uns zeigt, daß aus einem Stück <lb/>Holz ſo viel Wärme entwickelt werden kann, wenn wir nicht <lb/>imſtande ſind, zu verhindern, daß beim ſchönſten Verbrennen <lb/>ein Teil des Materials unverbrannt auf und davon durch
<pb o="87" file="0355" n="355"/>
den Schornſtein fliegt, und auch, abgeſehen hiervon, wenn <lb/>Kohlenſäure und Waſſer, welche ſich aus Kohle und Waſſer-<lb/>ſtoff bei der Verbrennung bilden, ſelbſt im beſten Falle einen <lb/>Teil Wärme in ſich behalten, zur Zeit, wo ſie den Brenn-<lb/>raum verlaſſen!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4834" xml:space="preserve">Die Reſultate, die die Unterſuchungen von Brix ergeben, <lb/>haben daher ihren Wert gerade darin, daß ſie nicht die <emph style="sp">ganze</emph> <lb/>Summe der Heizkraft eines jeden Brennmaterials angeben, <lb/>ſondern den <emph style="sp">nutzbaren</emph> Teil derſelben, der freilich ſtets kleiner <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4835" xml:space="preserve">Eine Tabelle in dem Werke, welche eine Vergleichung <lb/>enthält, zeigt, daß der Verluſt in der Praxis nicht gering und <lb/>daß er bei verſchiedenen Brennmaterialien ſehr verſchieden iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4836" xml:space="preserve">Selbſt bei dem in dieſer Beziehung vorteilhafteſten Brenn-<lb/>material, dem Linumer Torf, laſſen ſich praktiſch nur 86 Pro-<lb/>zent nutzbar machen, während 14 Prozent der Geſamtheizkraft <lb/>verloren gehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s4837" xml:space="preserve">bei anderen Sorten Brennmaterial, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s4838" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s4839" xml:space="preserve">der <lb/>geformten Braunkohle, iſt ſogar nur ein Nutzbarmachen der <lb/>Hälfte der wirklichen Heizkraſt möglich.</s>
  <s xml:id="echoid-s4840" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4841" xml:space="preserve">Es läßt ſich denken, daß zur Feſtſtellung dieſer Unter-<lb/>ſuchungen die ſorgfältigſten Einrichtungen getroffen werden <lb/>mußten. </s>
  <s xml:id="echoid-s4842" xml:space="preserve">Die nähere Darlegung derſelben iſt äußerſt lehrreich; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4843" xml:space="preserve">wir müſſen uns indeſſen mit wenigen Andeutungen derſelben <lb/>begnügen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4844" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4845" xml:space="preserve">Vor allem mußte ein beſtimmtes Maß geſunden werden, <lb/>durch welches man die durch die Verbrennung jedes einzelnen <lb/>Materials hervorgerufene Wärme genau meſſen konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s4846" xml:space="preserve">Ein <lb/>Thermometer iſt hierzu keineswegs anwendbar, denn würde <lb/>man auch ein ſolches an irgend einer Stelle eines Ofens an-<lb/>bringen, der heute mit Kienholz, morgen mit Koks geheizt <lb/>wird, ſo könnte es leicht möglich ſein, daß das langflammige <lb/>Kienholz gerade dieſe Stelle des Ofens ſtärker erhitzt als der <lb/>kurzflammige Koks, während der Ofen im ganzen beim Kien-<lb/>holz kälter bliebe als bei der Koksheizung. </s>
  <s xml:id="echoid-s4847" xml:space="preserve">Außer dieſer
<pb o="88" file="0356" n="356"/>
Unbeſtimmtheit bietet das Thermometer noch viele andere <lb/>Unſicherheiten, wenn man nicht die augenblickliche Hitze, ſondern <lb/>die dauernde, anhaltende Heizkraſt eines Brennmaterials prüfen <lb/>will. </s>
  <s xml:id="echoid-s4848" xml:space="preserve">— Man mußte deshalb von einem anderen Maß der <lb/>Wärme Gebrauch machen, und man that dies, indem man <lb/>einen Waſſerkeſſel über dem Feuerraum eines eigens dazu ge-<lb/>bauten Oſens anbrachte, und beim jedesmaligen Verſuch irgend <lb/>eines Brennmaterials genau durch Inſtrumente ausmaß, wie <lb/>viel Dampf dies Brennmaterial zu erzeugen imſtande iſt, von <lb/>welcher Spannung dieſer Dampſ zu jeder Zeit iſt, und wie <lb/>diel Waſſer man während dieſes Verſuches und nach vollen-<lb/>detem Verſuche wieder in den Keſſel thun muß, um den <lb/>Waſſerſtand herzuſtellen, wie er vor dem Verſuche war.</s>
  <s xml:id="echoid-s4849" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4850" xml:space="preserve">Wie ſich denken läßt, wurde die natürliche Wärme, welche <lb/>das Waſſer ſchon vor dem Verſuch hatte, ſtets in Abrechnung <lb/>gebracht, während man die Wärme des Waſſers nach dem <lb/>Verſuch der Wirkung des Heizmaterials zurechnete. </s>
  <s xml:id="echoid-s4851" xml:space="preserve">Es ergab <lb/>ſich ſomit, daß beim Verbrennen von ſo und ſo viel Pfund <lb/>Kienholz z. </s>
  <s xml:id="echoid-s4852" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s4853" xml:space="preserve">ſo und ſo viel Pſund Waſſer in Dampf ver-<lb/>wandelt werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s4854" xml:space="preserve">Vergleicht man dies mit einem gleichen <lb/>Gewicht anderen Holzes oder eines anderweitigen Brenn-<lb/>materials, ſo kann man an der Summe des gebildeten Dampfes <lb/>oder an dem fehlenden Waſſer ſehen, ob dieſe Holzart oder <lb/>das anderweitige Brennmaterial mehr Hitze entwickelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4855" xml:space="preserve">Um <lb/>nun einen gleichen Maßſtab zu haben, wurde ſtets durch <lb/>Rechnung ermittelt, wie viel Waſſer von einem Pſund jedes <lb/>Brennmaterials vom Gefrierpunkt bis über den Kochpunkt er-<lb/>hitzt werden kann, und dieſes Maß wurde die Wärme-Einheit <lb/>genannt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4856" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4857" xml:space="preserve">Hierbei wurde nun mit beſonderer Sorgfalt in allen Ver-<lb/>ſuchen darauf geſehen, daß die vorteilhafteſte Lagerung des <lb/>Brennmaterials ſtattfinde, daß der Roſt je nach dem Bedarf <lb/>vergrößert und verkleinert werden konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s4858" xml:space="preserve">Es wurde durch
<pb o="89" file="0357" n="357"/>
Inſtrumente die Temperatur der Luft gemeſſen, welche in den <lb/>Ofen einſtrömte; </s>
  <s xml:id="echoid-s4859" xml:space="preserve">es wurde ferner die Einrichtung getroffen, <lb/>daß der Rauch verbrannt wurde, eine Einrichtung, von der <lb/>wir weiterhin noch ſprechen werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s4860" xml:space="preserve">und endlich zeigten In-<lb/>ſtrumente, wie heiß jedesmal die ausſtrömende Luft war, als <lb/>ſie in den Schornſtein kam.</s>
  <s xml:id="echoid-s4861" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4862" xml:space="preserve">Um aber unſeren Leſern deutlich zu machen, wie zugleich <lb/>mit dieſem Hauptumſtande eine große Reihe wichtiger Neben-<lb/>umſtände bei jedem Verſuch beobachtet und in jedem Reſultat <lb/>in Rechnung gebracht wurde, wollen wir beiſpielshalber ein-<lb/>mal das aufzählen, was bei einem einzigen Verſuch zu thun <lb/>nötig war.</s>
  <s xml:id="echoid-s4863" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div136" type="section" level="1" n="122">
<head xml:id="echoid-head135" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVI. Die Verſuche über die Heizkraft.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4864" xml:space="preserve">Jedem einzelnen Verſuche von Brix über die Heizkraft <lb/>eines Brennmaterials mußte eine Reihe von Unterſuchungen <lb/>und Beobachtungen vorangehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4865" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4866" xml:space="preserve">Geſetzt, der Verſuch ſollte über die Heizkraft von einem <lb/>Pfund Kienholz angeſtellt werden, ſo iſt es vor allem klar, <lb/>daß man eine ſehr bedeutende Maſſe dieſes Holzes verbrennen <lb/>mußte, um nur den Feuerraum, die Wände des Ofens, die <lb/>Roſte, die Luft in den Zügen und im Schornſtein und endlich <lb/>die Keſſelwände zu erhitzen, bevor noch irgend eine Wirkung <lb/>auf das Waſſer im Keſſel verſpürt werden konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s4867" xml:space="preserve">— Erſt <lb/>dann, wenn all’ dies ſo erhitzt war, konnte von einem Nutzen <lb/>der Heizkraft die Rede ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s4868" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4869" xml:space="preserve">Ferner wird auch jedermann leicht einſehen, daß ein <lb/>ſolcher Verſuch, bei welchem das in Dampf verwandelte <lb/>Waſſer den eigentlichen Maßſtab abgeben ſollte, nicht mit <lb/>einer Heizung durch ein oder zwei Stunden abgethan werden
<pb o="90" file="0358" n="358"/>
konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s4870" xml:space="preserve">In der That wurde zu jedem Verſuch ein Feuern <lb/>durch faſt regelmäßig zehn Stunden fortgeſetzt, wobei im <lb/>erſten Verſuch über die Heizkraft des Kienholzes 889 Pfund <lb/>dieſes Brennmaterials verbrannt wurden.</s>
  <s xml:id="echoid-s4871" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4872" xml:space="preserve">Nun aber ſpielt bei der Heizkraft die Feuchtigkeit oder <lb/>Trockenheit eines Brennmaterials eine außerordentlich große <lb/>Rolle; </s>
  <s xml:id="echoid-s4873" xml:space="preserve">da ſich aber kein Brennmaterial von vollſtändiger <lb/>Trockenheit herſtellen läßt, ſo mußte ermittelt werden, wie viel <lb/>Pfund Waſſer in dieſen 889 Pfund Kienholz ſtecken. </s>
  <s xml:id="echoid-s4874" xml:space="preserve">— Beim <lb/>erſten der erwähnten Verſuche ergab ſich, daß 180 Pſund <lb/>Waſſer darin enthalten waren. </s>
  <s xml:id="echoid-s4875" xml:space="preserve">Da aber auch von jedem Holz <lb/>Aſche zurückbleibt, die aus unverbrennlichen Teilen beſteht und <lb/>zur Heizung nichts beiträgt, ſo muß auch die Summe der <lb/>Aſche abgezogen werden, und dies ergab beim erſten Verſuch, <lb/>daß eigentlich noch weniger als rund 700 Pfund Brennſtoff <lb/>bei demſelben wirkſam waren.</s>
  <s xml:id="echoid-s4876" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4877" xml:space="preserve">Aus dem, was wir unſeren Leſern bereits bei der ge-<lb/>wöhnlichen Heizung vorgeführt haben, wiſſen wir ſchon, daß <lb/>die Witterung auf das Brennen des Feuers, namentlich auf <lb/>den Zug, von Einfluß iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4878" xml:space="preserve">Bei der Genauigkeit der von Brix <lb/>angeſtellten Verſuche dürfte dieſer Umſtand nicht unberückſichtigt <lb/>bleiben; </s>
  <s xml:id="echoid-s4879" xml:space="preserve">wir finden daher auch den jedesmaligen Stand des <lb/>Barometers beim jedesmaligen Unterſuchen des ganzen Vor-<lb/>ganges angegeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s4880" xml:space="preserve">Außerdem aber mußte ſtets die Wärme <lb/>des Waſſers beim Beginn des Verſuches unterſucht werden; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4881" xml:space="preserve">ferner die Wärme der Luft draußen, ebenſo wie die des <lb/>Brennraumes, der Luftzüge und des Schornſteins.</s>
  <s xml:id="echoid-s4882" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4883" xml:space="preserve">Schritt man nun zum Verſuch und begann endlich das <lb/>Brennen des Feuers, ſo mußte fortdauernd ermittelt werden, <lb/>unter welchen Umſtänden der beſte Erfolg von dem Brenn-<lb/>material zu erzielen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4884" xml:space="preserve">Zu dieſem Zwecke wurden ſehr ver-<lb/>ſchiedene Einrichtungen nötig, um Veränderungen des Raumes <lb/>der Roſte, der Luftzüge, der Vorrichtung zur Rauchverbrennung
<pb o="91" file="0359" n="359"/>
und der Ausſtrömung zum Schornſtein möglich zu machen, je <lb/>nachdem man das eine oder das andere Brennmaterial vor <lb/>ſich hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s4885" xml:space="preserve">Selbſt während des Brennens eines und desſelben <lb/>Materials treten ſehr verſchiedene Zuſtände ein, wenn man <lb/>neues Brennmaterial zuführt, oder wenn man das Aufſchütten <lb/>friſchen Brennmaterials verzögert. </s>
  <s xml:id="echoid-s4886" xml:space="preserve">All’ dies mußte durch Be-<lb/>obachtung erſt feſtgeſtellt werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s4887" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4888" xml:space="preserve">Von weſentlichem Wert iſt es für die Praxis zu wiſſen, <lb/>wann eigentlich die Wirkung eines Feuers den höchſten und <lb/>den niedrigſten Grad erreicht, unter welchen Umſtänden die <lb/><emph style="sp">Dampfentwickelung</emph> am günſtigſten, unter welchen die Auf-<lb/>ſchüttung neuen Brennmaterials am wenigſten ſtörend auf <lb/>dieſe einwirkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4889" xml:space="preserve">All’ dieſe Fragen laſſen uns die ſorgfältig dar-<lb/>gelegten Beobachtungen dieſer Verſuche mit weit größerer <lb/>Sicherheit entnehmen als bisher. </s>
  <s xml:id="echoid-s4890" xml:space="preserve">— Auch über die Fragen über <lb/>die Erweiterung oder Verkürzung der Noſtfläche, der Fugen-<lb/>ſläche und der Fläche des Keſſels, an welche die Flamme an-<lb/>ſchlägt, geben die Notizen der Verſuche reichhaltigen Aufſchluß.</s>
  <s xml:id="echoid-s4891" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4892" xml:space="preserve">Zudem findet ſich genau von Stunde zu Stunde der ge-<lb/>ſamte Zuſtand aller einzelnen beim Verſuch gebrauchten Appa-<lb/>rate angegeben, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s4893" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s4894" xml:space="preserve">die Spannung des Dampfes, die <lb/>wechſelnde Wärme des Keſſels, die Wärme-Steigerung der <lb/>über dem Keſſel beſindlichen Gaſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s4895" xml:space="preserve">Ferner ſindet ſich mit <lb/>Sorgfalt die jedesmalige Stellung aller Schieber und Klappen <lb/>und Luftplatten hier angegeben, die den Zug regulieren, und <lb/>verſolgt man all’ dies mit Genauigkeit auf der durch Zeich-<lb/>nung und Beſchreibung deutlich gemachten Darlegung der <lb/>ganzen Einrichtung, ſo kann man aus der Geſchichte der <lb/>Heizungs-Verſuche eines Tages eine große Reihe von Auf-<lb/>ſchlüſſen erhalten, die bei ähnlichen Fener-Anlagen von be-<lb/>deutendem Nutzen ſein müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4896" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4897" xml:space="preserve">Indem wir nun die Heizung unſerer Stubenöfen zu <lb/>unſerem eigentlichen Thema gemacht haben, ſo müſſen wir
<pb o="92" file="0360" n="360"/>
uns mit dieſen Andeutungen der vortrefflich ausgeſührten Ver-<lb/>ſuche begnügen, die weſentlich für Fabrik-Anlagen und Dampſ-<lb/>apparate überhaupt von Vorteil ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s4898" xml:space="preserve">Was aber für uns auch <lb/>wichtig iſt, das iſt das Endreſultat eines jeden Verſuches, in <lb/>welchem ſich’s herausſtellt, wie viel Heizkraſt ein Pſund eines <lb/>jeden Brennmaterials beſitzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4899" xml:space="preserve">— Dies ergiebt z. </s>
  <s xml:id="echoid-s4900" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s4901" xml:space="preserve">beim erſten <lb/>Verſuch, der mit jungem, friſchen Kienholz angeſtellt wurde, <lb/>daß ein Pfund dieſes Brennmaterials, wenn es trocken iſt, <lb/>circa 4 {1/2} Pfund eiskaltes Waſſer in Dampſ verwandeln kann. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4902" xml:space="preserve">— Wer alſo eine Einrichtung beſitzt, wo er von jedem Pſund <lb/>ſolchen Holzes weniger Dampf erhält, der weiß nun, daß es <lb/>bei ſeiner Heizung nicht richtig zugeht, und daß ſein Oſen, <lb/>ſein Keſſel, ſein Zug oder ſein Schornſtein u. </s>
  <s xml:id="echoid-s4903" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s4904" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s4905" xml:space="preserve">einer <lb/>Verbeſſerung bedarf, oder mindeſtens, daß eine ſolche mög-<lb/>lich iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4906" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4907" xml:space="preserve">Dadurch aber, daß bei jedem Brennmaterial dieſe Angabe <lb/>gemacht iſt, haben wir auch darin ein wichtiges Material ſür <lb/>die Stubenheizung; </s>
  <s xml:id="echoid-s4908" xml:space="preserve">denn wir werden ſehen, daß man dadurch <lb/>in den Stand geſetzt iſt, zu berechnen, wie man bei der <lb/>Stubenheizung am billigſten die beſte Erwärmung erzielen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s4909" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div137" type="section" level="1" n="123">
<head xml:id="echoid-head136" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVII. Über den Wert des Kien- und Büchen-</emph> <lb/><emph style="bf">holzes.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4910" xml:space="preserve">Mit Bezug auf unſer Thema wollen wir von den Re-<lb/>ſultaten der von <emph style="sp">Brix</emph> ausgeführten Verſuche nur diejenigen <lb/>hier vorführen, die für die Heizung der gewöhnlichen Stuben-<lb/>öſen von beſonderer Wichtigkeit ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s4911" xml:space="preserve">und unter dieſen verſtehen <lb/>wir die Holzgattungen, die als Brennholz üblich ſind, wie auch <lb/>den Torf in verſchiedener Sorte, die Kohlen und endlich den
<pb o="93" file="0361" n="361"/>
Koks, obgleich dieſer meiſt nur für eiſerne Öfen gebraucht <lb/>wird, über welche wir erſt in der Folge ſprechen werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s4912" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4913" xml:space="preserve">Die Verſuche von Brix ergeben das gewiß viele unſerer <lb/>Leſer überraſchende Reſultat, daß die Heizkraft der Holzarten <lb/>durchaus nicht ſehr verſchieden iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4914" xml:space="preserve">ja, daß das ſogenannte <lb/>weiche Holz mehr Heizkraft beſitzt als hartes.</s>
  <s xml:id="echoid-s4915" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4916" xml:space="preserve">Mit einem Pfund Kienholz hat <emph style="sp">Brix</emph> durchſchnittlich <lb/>4 Pfd. </s>
  <s xml:id="echoid-s4917" xml:space="preserve">und 21 Lot eiskaltes Waſſer in Dampf verwandelt, <lb/>während er mit einem Pfund Weißbüchenholz nur durchſchnitt-<lb/>lich 4 Pfd. </s>
  <s xml:id="echoid-s4918" xml:space="preserve">und 6 Lot desſelben Waſſers in Dampf ver-<lb/>wandeln konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s4919" xml:space="preserve">— Ein Pfund Elſenholz, das ebenfalls zur <lb/>leichten Gattung gezählt wird, verſetzt 4 Pfund 15 Lot <lb/>Waſſer in die Verdampfungshitze, während ein Pfund Rot-<lb/>büchenholz durchſchnittlich nur 4 Pfund und 10 Lot Waſſer <lb/>verdampfte. </s>
  <s xml:id="echoid-s4920" xml:space="preserve">Birken- und Eichenholz ergaben ſich ſo ziemlich <lb/>gleich ſtark in der Heizkraft, obgleich man Eichen zu den <lb/>harten, Birken zu den weniger harten Holzarten zählt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4921" xml:space="preserve">ſie <lb/>haben beide pro Pfund Holz circa 4 Pfund 12 bis 15 Lot <lb/>Waſſer verdampft. </s>
  <s xml:id="echoid-s4922" xml:space="preserve">— Man ſieht alſo, daß der Unterſchied in <lb/>den Holzgattungen, die zum Heizen dienen, nicht ſo beträchtlich <lb/>iſt, wie man meint, und daß gerade weiches Holz pro Pfund <lb/>mehr Hitze entwickelt, als hartes. </s>
  <s xml:id="echoid-s4923" xml:space="preserve">— Indeſſen iſt es doch nicht <lb/>ein bloßes Vorurteil der Hausfrauen, wenn ſie dem harten <lb/>Holz beſonders zugethan ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s4924" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4925" xml:space="preserve">Vor allem muß man nämlich bedenken, daß ein Pfund <lb/>Büchenholz weniger Raum einnimmt, als ein Pfund Kienholz. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4926" xml:space="preserve">Da man aber Holz nicht nach dem Gewicht, ſondern nach <lb/>dem Maß kauft, ſo erhält man in der That in einer Klafter <lb/>Büchenholz mehr Heizkraft, als in einer Klafter Kienholz. </s>
  <s xml:id="echoid-s4927" xml:space="preserve"><lb/>Eine Klafter Büchenholz wiegt ca. </s>
  <s xml:id="echoid-s4928" xml:space="preserve">3000 Pfund; </s>
  <s xml:id="echoid-s4929" xml:space="preserve">rechnet man <lb/>in jedem Pfund eine Brennkraft, die 4 Pfund und 6 Lot <lb/>eiskaltes Waſſer in Dampf verwandelt, ſo können damit <lb/>12600 Pfund Waſſer verdampfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4930" xml:space="preserve">Dagegen iſt eine Klafter
<pb o="94" file="0362" n="362"/>
Kienholz nur ca. </s>
  <s xml:id="echoid-s4931" xml:space="preserve">2640 Pfund ſchwer, und wenn auch jedes <lb/>Pfund 15 Lot Waſſer mehr zu verdampfen imſtande iſt als <lb/>Büchenholz, ſo beſitzt man doch in der ganzen Klafter nur <lb/>eine Heizkraft, die etwa 12400 Pfund eiskaltes Waſſer in <lb/>Dampf verwandeln kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s4932" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4933" xml:space="preserve">Gleichwohl ſieht man, daß der Heizwert der Klafter Büchen-<lb/>holz bei weitem geringer iſt, als man ihn im Vergleich mit <lb/>Kienholz vermuten ſollte, wenn man den Preis beider Holz-<lb/>arten zum Maßſtab nimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4934" xml:space="preserve">Vergleicht man die Heizkraft <lb/>beider Holzarten, und beſtimmt man nach ihnen den Preis, <lb/>ſo müßte der des Kienholzes mit dem des Büchenholzes faſt <lb/>gleich ſein; </s>
  <s xml:id="echoid-s4935" xml:space="preserve">wenn ein Haufen Kienholz 30 Thaler koſtet, ſo <lb/>dürfte man für einen Haufen Büchenholz nicht mehr als <lb/>30 {1/2} Thaler bezahlen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4936" xml:space="preserve">Wir wiſſen aber, daß dem nicht ſo iſt, <lb/>daß Büchenholz um mehr als zweimal ſo teuer iſt als Kien-<lb/>holz, daß alſo das Büchenholz im Vergleich zum Kienholz <lb/>viel zu hoch bezahlt wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s4937" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4938" xml:space="preserve">Wollte man indeſſen hieraus ſchließen, daß in dem <lb/>Gebrauch von teuerem Büchenholz eine Verſchwendung liegt, <lb/>ſo müſſen wir dem doch widerſprechen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4939" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4940" xml:space="preserve">Würde nur der wiſſenſchaftlich ermittelte Heizwert eine <lb/>Rolle ſpielen, ſo würde dies freilich der Fall ſein; </s>
  <s xml:id="echoid-s4941" xml:space="preserve">allein in <lb/>der Praxis ſtellen ſich die Dinge durch weſentliche Einflüſſe <lb/>anders.</s>
  <s xml:id="echoid-s4942" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4943" xml:space="preserve">Vor allem muß man berückſichtigen, daß ſelbſt gut ge-<lb/>haltenes Holz nicht waſſerfrei iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4944" xml:space="preserve">es iſt alſo in einer Klafter Holz <lb/>eine Portion Waſſer enthalten, die ſehr verſchieden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4945" xml:space="preserve">Weiches <lb/>Holz ſaugt ſich ſeiner Natur nach ſchneller mit Waſſer an als <lb/>hartes, wenn beide Sorten auf dem Holzplatz dem Regen aus-<lb/>geſetzt ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s4946" xml:space="preserve">Selbſt aber, wenn ſie mittelmäßig trocken ſind, <lb/>muß man eine mittlere Feuchtigkeit in beiden Sorten von dem <lb/>Brennſtoff in Abrechnung bringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4947" xml:space="preserve">Nun ergaben die Unter-<lb/>ſuchungen, daß Büchenholz circa 14 Prozent Waſſer, während
<pb o="95" file="0363" n="363"/>
Kienholz ungefähr 20 Prozent Waſſer enthält, das heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s4948" xml:space="preserve">in <lb/>einer Klafter Büchenholz von 3000 Pfund kauft man 430 <lb/>Pfund Waſſer mit; </s>
  <s xml:id="echoid-s4949" xml:space="preserve">in einer Klafter Kienholz dagegen von <lb/>2640 Pfund Gewicht bekommt man 520 Pfund Waſſer. </s>
  <s xml:id="echoid-s4950" xml:space="preserve">Zieht <lb/>man nun von beiden Brennmaterialien das Waſſer ab, ſo <lb/>kauft man eigentlich in einer Klafter Büchenholz 2570 Pfund <lb/>Brennmaterial, während man in einer Klafter Kienholz nur <lb/>2120 Pfund Brennmaterial bekommt, und hiernach ſteigert ſich <lb/>ſchon der Wert des Büchenholzes um etwas mehr als ein <lb/>Zehntel des Preiſes.</s>
  <s xml:id="echoid-s4951" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4952" xml:space="preserve">Ferner darf man nicht vergeſſen, daß bei den Unter-<lb/>ſuchungen von Brix die Vorrichtung der Rauchverbrennung <lb/>angewendet wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s4953" xml:space="preserve">Kienholz, das langflammig und blakend <lb/>brennt, hat im gewöhnlichen Ofen viel Ruß und Rauch; </s>
  <s xml:id="echoid-s4954" xml:space="preserve">kann <lb/>man dieſen nicht mit verbrennen, ſo geht ein beträchtlicher <lb/>Teil des Materials verloren. </s>
  <s xml:id="echoid-s4955" xml:space="preserve">Büchenholz dagegen brennt <lb/>kurzflammiger und bei weitem weniger rauchend, namentlich <lb/>wenn es gut kleingehauen und getrocknet iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4956" xml:space="preserve">es iſt alſo für die <lb/>gewöhnliche Stubenheizung von viel größerem Wert.</s>
  <s xml:id="echoid-s4957" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4958" xml:space="preserve">Endlich darf man nicht außer acht laſſen, daß der Gebrauch <lb/>von Kienholz auf dem Herd ſehr zu widerraten iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4959" xml:space="preserve">Das <lb/>Anblaken des Eſſens, das Einrußen der Geſchirre, das An-<lb/>ſchwärzen nicht nur der Hände, ſondern ſogar nicht ſelten der <lb/>Stirn, Naſe und Wangen unſerer Hausfrauen gehört zu den <lb/>nicht angenehmen Eigenſchaften des Kienholzes, die das Büchen-<lb/>holz wertvoller machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4960" xml:space="preserve">— Schließlich iſt die Kohle des <lb/>Büchenholzes lang andauernd und erhält das Eſſen im Kochen, <lb/>wenn auch die Flamme erloſchen iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s4961" xml:space="preserve">die leichte Kohle des <lb/>Kienholzes dagegen verliſcht zu ſchnell und macht zuweilen zum <lb/>Verdruß des ganzen Hauſes ein nochmaliges Feueranmachen <lb/>nötig. </s>
  <s xml:id="echoid-s4962" xml:space="preserve">Rechnet man noch hierzu, daß die Büchenaſche wegen <lb/>der Salze, die ſie enthält, zum Scheuern und Waſchen ſehr <lb/>vorteilhaft iſt, ſo dürfte alles in allem den großen Vorzug des
<pb o="96" file="0364" n="364"/>
Büchenholzes vor dem Kien rechtfertigen, obgleich die wiſſen-<lb/>ſchaftliche Unterſuchung ſie ſehr nahe gleich an Wert er-<lb/>geben hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s4963" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div138" type="section" level="1" n="124">
<head xml:id="echoid-head137" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVIII. Der Brennwert des Eichenholzes.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4964" xml:space="preserve">Was den Preis des Büchenholzes noch außerdem ver-<lb/>teuert, das liegt nicht in ſeinen Eigenſchaften als Brenn-<lb/>material, ſondern als Nutzholz überhaupt, weil dieſe Holzart <lb/>auch in kleinen Stücken zu einer Maſſe von Geräten benutzt <lb/>werden kann, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s4965" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s4966" xml:space="preserve">zu feſtern Drechslerarbeiten, zu denen <lb/>weiche Hölzer unbrauchbar ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s4967" xml:space="preserve">Dies ſteigert demnach die <lb/>Nachfrage nach Büchenholz ſo ſehr, und wer einmal von deſſen <lb/>Benutzung als Brennmaterial nicht abgehen will, muß es in <lb/>der That über ſeinen Wert hinaus bezahlen.</s>
  <s xml:id="echoid-s4968" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4969" xml:space="preserve">Vergleicht man die zwei allgemeinſten Brennholzarten, <lb/>das Kien- und Büchenholz, mit anderen Gattungen, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s4970" xml:space="preserve">B. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s4971" xml:space="preserve">mit Eichen-, Birken- und Elſenholz, ſo ergiebt die Unterſuchung <lb/>von Brix, daß der Vorzug dem Eichenholz gebührt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4972" xml:space="preserve">Ein <lb/>Klafter Eichenholz enthält noch etwas mehr Gewicht als <lb/>Büchenholz, und da man mit einem Pfund Eichenholz durch-<lb/>ſchnittlich 4 Pfund 15 Lot eiskaltes Waſſer verdampfen kann, <lb/>alſo auch der Heizwert in dieſer Beziehung größer iſt als der <lb/>des Büchenholzes, ſo müßte man eigentlich dem Eichenholz den <lb/>Vorzug geben, zumal es faſt um ein Achtel billiger auf dem <lb/>Holzplatz zu haben iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s4973" xml:space="preserve">Allein man darf bei der Anwendung <lb/>wiſſenſchaftlicher Unterſuchungen für die Praxis nie die be-<lb/>ſonderen Umſtände außer acht laſſen, unter welchen die Verſuche <lb/>angeſtellt worden ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s4974" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4975" xml:space="preserve">Bei den Unterſuchungen von Brix kam es auf Transport <lb/>und Preis eines angewandten Brennmaterials nicht an. </s>
  <s xml:id="echoid-s4976" xml:space="preserve">Tie
<pb o="97" file="0365" n="365"/>
Materialien wurden von dort hergeſchafft, wo ſie am beſten <lb/>vorhanden waren. </s>
  <s xml:id="echoid-s4977" xml:space="preserve">Die Eigentümer lieferten ſie meiſt umſonſt, <lb/>und die Eiſenbahnen beeiferten ſich zum Nutzen der Wiſſen-<lb/>ſchaft den Transport unentgeltlich zu beſorgen. </s>
  <s xml:id="echoid-s4978" xml:space="preserve">Es läßt ſich <lb/>alſo denken, daß bei der Unterſuchung ein Eichenholz in An-<lb/>wendung kam, wie man es vergeblich auf allen Holzplätzen <lb/>ſuchen würde. </s>
  <s xml:id="echoid-s4979" xml:space="preserve">In der That beſtand dieſes unterſuchte Holz, wie <lb/>Brix in ſeinem mit der größten Gewiſſenhaftigkeit und Genauigkeit <lb/>gearbeiteten Werke mitteilt, aus großen, meiſt ſehr knorrigen, <lb/>aber geſunden Kloben, welche von einem alten Beſtande etwa <lb/>300 jähriger Stämme aus der Neumark herrühren. </s>
  <s xml:id="echoid-s4980" xml:space="preserve">Brix fügt dem <lb/>hinzu, daß ſo altes Holz ſich in dem Forſt, dem es entnommen <lb/>iſt, nicht mehr vorfinden ſolle. </s>
  <s xml:id="echoid-s4981" xml:space="preserve">Wir ſehen alſo, daß die Unter-<lb/>ſuchung keineswegs für das gebräuchliche Eichenholz volle <lb/>Geltung haben kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s4982" xml:space="preserve">Es ſpricht vielmehr eine große Wahr-<lb/>ſcheinlichkeit dafür, daß das auf den Holzplätzen käufliche <lb/>Eichenholz ganz andere Reſultate ergeben würde.</s>
  <s xml:id="echoid-s4983" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4984" xml:space="preserve">Man darf aber ſolche und ähnliche Umſtände, die in der <lb/>Praxis der Wirtſchaft eine große Rolle ſpielen, niemals außer <lb/>Augen laſſen, wo es eben der Wirtſchaft gilt.</s>
  <s xml:id="echoid-s4985" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4986" xml:space="preserve">Wir können uns ſehr wohl denken, daß es bei wiſſen-<lb/>ſchaftlichen Unterſuchungen nicht darauf ankommt, wie viel <lb/>Holz beim Kleinmachen einer Klafter verloren geht. </s>
  <s xml:id="echoid-s4987" xml:space="preserve">Knorrige <lb/>Kloben werden in der Praxis beim Kleinmachen ganz un-<lb/>barmherzig zugerichtet. </s>
  <s xml:id="echoid-s4988" xml:space="preserve">Was ſich nicht leicht ſpaltet, wird <lb/>entweder unzerkleinert bei ſeite geſchoben oder mit der Axt ſo <lb/>zerſplittert, daß ein Teil davon wertlos wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s4989" xml:space="preserve">Dies ſpielt in <lb/>der Wirtſchaft eine große Rolle, die bei wiſſenſchaftlichen <lb/>Unterſuchungen unberückſichtigt bleibt, und würde ſchon einen <lb/>Unterſchied zwiſchen den Wirtſchafts- und den wiſſenſchaftlichen <lb/>Reſultaten zeigen, ſelbſt wenn dasſelbe Eichenholz käuflich <lb/>wäre, das der Unterſuchung zur Verfügung geſtanden hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s4990" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4991" xml:space="preserve">Dies iſt aber nicht einmal der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s4992" xml:space="preserve">Geſundes Eichenholz</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4993" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s4994" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernftein</emph>. </s>
  <s xml:id="echoid-s4995" xml:space="preserve">Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s4996" xml:space="preserve">Bolksbücher XIV.</s>
  <s xml:id="echoid-s4997" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="98" file="0366" n="366"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s4998" xml:space="preserve">iſt als Nutzholz ſehr wertvoll. </s>
  <s xml:id="echoid-s4999" xml:space="preserve">Die großen Kniee, welche die <lb/>vom Zweig abgehenden Stämme bilden, werden auf den großen <lb/>Schiffswerften ſehr teuer bezahlt; </s>
  <s xml:id="echoid-s5000" xml:space="preserve">ſelbſt die kleinen Kniee, <lb/>ſobald ſie nur geſund ſind, ſtehen beim Schiffsbau in großem <lb/>Wert. </s>
  <s xml:id="echoid-s5001" xml:space="preserve">Da jedes Stück gerades Eichenholz nicht minder als <lb/>Nutzholz geſucht iſt, ſo bleibt für Brennholz gewöhnlich nur <lb/>ungeſundes, knüppliges, knorriges Gezweige zurück. </s>
  <s xml:id="echoid-s5002" xml:space="preserve">Zudem iſt <lb/>die Eichenborke für Gerberei ein geſuchter Artikel; </s>
  <s xml:id="echoid-s5003" xml:space="preserve">das Holz <lb/>wird demnach ſchon im Walde gehörig abgepellt, und bleibt <lb/>nackt dem Wetter ausgeſetzt, unter welchem es nicht wenig <lb/>leidet, bevor es als Brennholz verſchifft wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s5004" xml:space="preserve">Auf dem Holz-<lb/>platz angelangt, weiß der Händler noch jede halbgeſunde Klobe <lb/>beſſer zu verwerten, als auf den aufgeſchichteten Klaftern <lb/>oder Haufen, und ſo wird man denn auf Holzhöfen ſchwerlich <lb/>ein Eichenholz vorfinden, das auch nur entfernt an das heran-<lb/>reicht, welches zur Unterſuchung gedient hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s5005" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5006" xml:space="preserve">Beim Büchenholz kann man das nicht ſagen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5007" xml:space="preserve">Es giebt <lb/>jetzt bei weitem mehr Buchen- als Eichenwaldung in unſerem <lb/>ſonſt wegen ſeiner Eichen berühmten Vaterlande. </s>
  <s xml:id="echoid-s5008" xml:space="preserve">Man findet <lb/>auf Holzhöfen zwar teueres, aber geſundes Büchenholz in glatten, <lb/>leicht klein zu machenden Kloben, während das Eichenholz, <lb/>das als Brennholz käuflich zu haben iſt, höchſt ſelten dieſe <lb/>Eigenſchaften zeigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5009" xml:space="preserve">Wir dürfen uns alſo auch hier nicht <lb/>wundern, daß die Wiſſenſchaft und Wirtſchaft nicht in den <lb/>Reſultaten übereinſtimmen und der Preiscourant des Holzhofes <lb/>in großem Widerſpruch mit dem Brennwert ſteht, der den <lb/>beiden Holzarten, wenn ſie gleich gut ſind, gegeben werden muß.</s>
  <s xml:id="echoid-s5010" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div139" type="section" level="1" n="125">
<head xml:id="echoid-head138" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIX. Der Heiz- und der Geldwert.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5011" xml:space="preserve">Während Birkenholz ſeinem Gewichte nach zu den leichten <lb/>Holzarten zu zählen iſt, hat es gewiſſe Eigenſchaften mit dem
<pb o="99" file="0367" n="367"/>
harten Holz gemein, die es beliebt machen, wenn es gut aus-<lb/>getrocknet iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5012" xml:space="preserve">Allein käuflich iſt es ſelten in Gegenden gut <lb/>zu haben, wo es nicht wächſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5013" xml:space="preserve">Die junge Birke iſt zu ſaftig <lb/>und deshalb ſchwer trocknend, während älteres Holz dieſer <lb/>Gattung außerordentlich häufig ſtockig und wurmfraßig iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5014" xml:space="preserve">Da der geſunde Teil guter Stämme als Nutzholz für Möbel <lb/>ſehr gebräuchlich iſt, ſo gelangt es als Brennholz nur in den <lb/>minder guten Teilen auf den Markt, weshalb es denn auch <lb/>weniger Liebhaber findet als andere Sorten, die zuverläſſiger in <lb/>ihren Reſultaten ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s5015" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5016" xml:space="preserve">Dagegen iſt das Elſenholz beliebt, trotzdem die wiſſen-<lb/>ſchaftliche Unterſuchung ergeben hat, daß ſeine Heizkraft gering <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5017" xml:space="preserve">Ein Pfund Elſenholz vermag zwar mehrere Pfund eiskaltes <lb/>Waſſer in Dampf zu verwandeln; </s>
  <s xml:id="echoid-s5018" xml:space="preserve">allein das Holz iſt an ſich <lb/>leichter als alle andern genannten Holzarten; </s>
  <s xml:id="echoid-s5019" xml:space="preserve">eine Klafter Elſen-<lb/>holz wiegt etwa 2300 Pfund, zieht man hiervon noch den <lb/>Waſſergehalt ab, ſo beſitzt man davon nur das Material, um <lb/>circa 9000 Pfund Waſſer zu verdampfen, ſo daß es an Wirk-<lb/>ſamkeit den andern Holzgattungen nachſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s5020" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5021" xml:space="preserve">Wenn gleichwohl das Elſenholz beſſer bezahlt wird, als <lb/>das bei weitem heizkräftigere Kienholz (in Berlin iſt es faſt <lb/>um {1/3} teurer), ſo darf man dies auf Rechnung vieler Umſtände <lb/>ſetzen, die in der Wirtſchaft weſentlich ſind, während ſie in <lb/>wiſſenſchaftlichen Unterſuchungen unberückſichtigt bleiben müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5022" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5023" xml:space="preserve">Das Kienholz hat, wie bereits oft erwähnt, zu leicht-<lb/>flammige Eigenſchaften; </s>
  <s xml:id="echoid-s5024" xml:space="preserve">in unſern Öfen geht von dieſem Brenn-<lb/>material zu viel in Rauch und Ruß verloren. </s>
  <s xml:id="echoid-s5025" xml:space="preserve">Auf dem Herd <lb/>blakt es Gefäße und Speiſen an. </s>
  <s xml:id="echoid-s5026" xml:space="preserve">All’ dieſe Eigentümlichkeiten <lb/>fehlen dem Elſenholz. </s>
  <s xml:id="echoid-s5027" xml:space="preserve">Es brennt leicht und ziemlich rein; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5028" xml:space="preserve">wenn es feucht iſt, wird es auf einem luftigen Boden nach <lb/>kurzem Lagern ſchnell trocken. </s>
  <s xml:id="echoid-s5029" xml:space="preserve">Es teilt auch den Vorzug mit <lb/>dem Kienholz, daß es ſich gut ſpalten und brechen läßt, was <lb/>in der Wirtſchaft das Kleinmachen des Holzes erleichtert und
<pb o="100" file="0368" n="368"/>
ſomit der Sparſamkeit förderlich iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5030" xml:space="preserve">Ja, man darf bei unſerer <lb/>gewöhnlichen Einrichtung der Stubenöfen die Vermutung aus-<lb/>ſprechen, daß von der Heizkraft des Elſenholzes verhältnis-<lb/>mäßig weniger verloren geht, als von der des Kienholzes, und <lb/>ſomit iſt es möglicherweiſe ſein Geld für die Wirtſchaft wert, <lb/>wenngleich es nach den wiſſenſchaftlichen Verſuchen am niedrigſten <lb/>im Preiſe hätte ſtehen ſollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5031" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5032" xml:space="preserve">Wir wollen zwar nicht in Abrede ſtellen, daß, wie in <lb/>vielen Dingen im Leben, auch im Holzverbrauch mannigfache <lb/>Vorurteile herrſchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5033" xml:space="preserve">Dieſe Vorurteile mögen zu außer-<lb/>ordentlichen Verteuerungen des Büchenholzes und zum ge-<lb/>ſteigerten Preis des Elſenholzes das ihrige beitragen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5034" xml:space="preserve">allein wenn <lb/>wir den großen Unterſchied zwiſchen den Preiſen der Holzarten <lb/>auf unſern Holzplätzen und denjenigen erwägen, die ſie nach <lb/>ihrem wiſſenſchaftlich feſtgeſtellten Heizwert haben ſollten, ſo <lb/>können wir nicht umhin, bei aller Hochſchätzung ſo wertvoller, <lb/>wiſſenſchaftlicher Unterſuchungen, der Praxis unſerer Haus-<lb/>frauen einige Rechnung zu tragen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5035" xml:space="preserve">Vorurteile gehören zwar <lb/>zu der Gemütlichkeit des Frauenlebens; </s>
  <s xml:id="echoid-s5036" xml:space="preserve">allein in Geldſachen, <lb/>wo die Gemütlichkeit bekanntlich aufhört, pflegen die Vor-<lb/>urteile nicht gar zu ſtark fehl zu greifen, und man hat ein <lb/>Recht, die Gründe aufzuſuchen, die ſo tief wie hier den Wirt-<lb/>ſchaftsbeutel berühren.</s>
  <s xml:id="echoid-s5037" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5038" xml:space="preserve">In der That iſt der Abſtand zwiſchen Wiſſenſchaft und <lb/>Wirtſchaft etwas zu ſtark. </s>
  <s xml:id="echoid-s5039" xml:space="preserve">Nach wiſſenſchaftlicher Berechnung <lb/>ſollten ſich die Preiſe etwa folgendermaßen ſtellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5040" xml:space="preserve">Wenn <lb/>junges Kienholz wie gewöhnlich 90 Mark der Haufen koſtet, <lb/>ſo müßte ein Haufen vom beſten Büchenholz kaum mit <lb/>114 Mark bezahlt werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s5041" xml:space="preserve">ein Haufen Eichenholz müßte mit <lb/>105 Mark bezahlt ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s5042" xml:space="preserve">Birken würde 102 Mark koſten und <lb/>Elſen müßte auf 84 Mark der Haufen herabſinken. </s>
  <s xml:id="echoid-s5043" xml:space="preserve">Statt deſſen <lb/>ſtehen die Preiſe auf dem Holzhof ganz und gar anders. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5044" xml:space="preserve">Während Kienholz mit 90 Mark verkauft wird, geht Elſen-
<pb o="101" file="0369" n="369"/>
holz bis auf 126 Mark hinauf; </s>
  <s xml:id="echoid-s5045" xml:space="preserve">Birken koſten 141, Eichen <lb/>ſtehen auf 162 Mark, und Büchenholz wird gar mit 186 Mark <lb/>bezahlt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5046" xml:space="preserve">— Eine ſo ungeheure Abweichung der Praxis von <lb/>den Reſultaten der Wiſſenſchaft verdient eine gründlichere Be-<lb/>leuchtung; </s>
  <s xml:id="echoid-s5047" xml:space="preserve">ja, wir meinen, es wäre eine Unterſuchung der <lb/>Brennmaterialien in Bezug auf den Gebrauch für unſere ge-<lb/>wöhnlichen Stubenöfen und Kochherde eine ſchöne Aufgabe, <lb/>die dieſelbe Bedeutung für die häusliche Wirtſchaft gewinnen <lb/>könnte, wie ſie die Unterſuchungen von Brix für die Maſchinen-<lb/>und Fabrikheizung haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s5048" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5049" xml:space="preserve">Wir wollen nunmehr auf die Heizwerte des Torfes über-<lb/>gehen, dem wir deshalb eine beſondere Aufmerkſamkeit ſchenken <lb/>müſſen, weil man von ihm ſagen darf, er iſt weit beſſer als <lb/>ſein Ruf, und er verdient eine gründlichere Kenntnis ſeines <lb/>Wertes, als man im allgemeinen beſitzt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5050" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div140" type="section" level="1" n="126">
<head xml:id="echoid-head139" xml:space="preserve"><emph style="bf">XX. Der Torf.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5051" xml:space="preserve">In keinem Punkte ſcheinen uns die wiſſenſchaftlichen Ver-<lb/>ſuche von Brix für die Praxis des gewöhnlichen Lebens ſo <lb/>wichtig und belehrend als in dem, was ſie über den Wert und <lb/>die Heizkraft des Torfes ergeben haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s5052" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5053" xml:space="preserve">Der Torf iſt bekanntlich ein Brennmaterial, das gegraben <lb/>wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s5054" xml:space="preserve">Er beſteht aus den Reſten verweſter Sumpfpflanzen, <lb/>die mit der Länge der Zeit die Eigenſchaft der Steinkohle <lb/>annehmen würden, welche auch nur ein Überreſt ehemaliger <lb/>Pflanzen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5055" xml:space="preserve">Dieſe Überreſte ſind ihrer Natur nach verſchieden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5056" xml:space="preserve">Rühren ſie von Blättern her, die ſich angeſammelt haben, ſo <lb/>iſt er leichter und weniger brennſtoffhaltig. </s>
  <s xml:id="echoid-s5057" xml:space="preserve">Machen die Wurzeln <lb/>der verweſenden Pflanzen ſeinen Hauptteil aus, ſo kann er <lb/>ſchon beſſere Eigenſchaften zeigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5058" xml:space="preserve">Hat er ſich aber von
<pb o="102" file="0370" n="370"/>
Pflanzen gebildet, in welchen die Holzzelle vorherrſcht, ſo wird <lb/>er unter Umſtänden den reichhaltigſten Brennſtoff in ſich haben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5059" xml:space="preserve">Es verſteht ſich indeſſen von ſelbſt, daß er in allen Fällen <lb/>mehr oder weniger mit Erdteilen gemiſcht und beim friſchen <lb/>Ausſtechen ſehr waſſerhaltig iſt, was ſeinen Wert ganz außer-<lb/>ordentlich verſchieden macht.</s>
  <s xml:id="echoid-s5060" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5061" xml:space="preserve">Was nun den Reſultaten der Unterſuchungen des Torfes <lb/>beſonderen Wert für die gewöhnliche Praxis der Wirtſchaft <lb/>verleiht, iſt der Umſtand, daß beim Torf das nicht vorkommen <lb/>konnte, was beim unterſuchten Holz vermutet werden muß, daß <lb/>nämlich nur die beſten Sorten zu den Verſuchen verwandt <lb/>wurden, welche ſonſt nicht als Brennholz auf den Markt <lb/>kommen, ſondern beſſer als Nutzholz verwertet werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5062" xml:space="preserve">Der <lb/>Torf kann zu nichts als zum Verbrennen gebraucht werden, <lb/>und man iſt imſtande, ihn ſich in derſelben Güte zu verſchaffen, <lb/>in welcher er den Verſuchen unterworfen wurde.</s>
  <s xml:id="echoid-s5063" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5064" xml:space="preserve">Im Vergleich mit den ebenfalls der wiſſenſchaftlichen <lb/>Unterſuchung unterworfenen anderen Brennmaterialien, wie den <lb/>Koks-Arten, der Stein- und der Braunkohle hat die Unter-<lb/>ſuchung des Torfes einen anderen Vorzug, der für die häus-<lb/>liche Wirtſchaft von großer Bedeutung iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5065" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5066" xml:space="preserve">Koks, Braun- und Steinkohlen ſind Materialien, zu <lb/>deren vollſtändiger und völlig nutzbarer Verbrennung beſondere <lb/>Einrichtungen der Brennräume erforderlich ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s5067" xml:space="preserve">Fabrikanlagen <lb/>ſind imſtande, ihre Feuerungen ſo einzurichten, daß ſie denen <lb/>mehr oder weniger gleichen, wie ſie Brix angewendet hat, und <lb/>ſomit vermögen ſie ſich die Aufgabe zu ſtellen, ein gleiches oder <lb/>mindeſtens nahe günſtiges Reſultat der Verbrennung zu er-<lb/>reichen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5068" xml:space="preserve">In den Wirtſchaften des Hauſes iſt dergleichen gar <lb/>nicht voraus zu ſehen, weshalb denn die Reſultate der Unter-<lb/>ſuchungen des Koks, der Braun- und der Steinkohle von ge-<lb/>ringerem praktiſchen Erfolg für das Haus ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s5069" xml:space="preserve">Dies iſt aber <lb/>beim Torf nicht ſo.</s>
  <s xml:id="echoid-s5070" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="103" file="0371" n="371"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5071" xml:space="preserve">Der Torf brennt zwar allein ſchwierig; </s>
  <s xml:id="echoid-s5072" xml:space="preserve">da er jedoch in <lb/>Häuſern ſtets mit gleichzeitiger Verbrennung von leicht bren-<lb/>nenden Holzarten benutzt wird, ſo darf man unſere gewöhn-<lb/>lichen Stubenöfen als verhältnismäßig der Torfheizung günſtige <lb/>Anlagen bezeichnen, und ſomit erhalten die wiſſenſchaftlichen <lb/>Unterſuchungen ihren praktiſchen, häuslich-wirtſchaftlichen Wert.</s>
  <s xml:id="echoid-s5073" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5074" xml:space="preserve">Ja, wir vermuten, daß vielleicht mit Ausnahme des <lb/>Büchenholzes kein gewöhnlich übliches Brennmaterial eine ſo <lb/>entſprechende Feuerungsanlage in unſern Stuben-Öfen vor-<lb/>findet, als der Torf, wenn er zweckmäßig mit leichtflammigem <lb/>Kien- oder Elſenholz benutzt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s5075" xml:space="preserve">— Wir ſprechen alſo dem <lb/>Torf als ſparſames und vorteilhaftes Brennmaterial ſehr das <lb/>Wort, wenn wir gleich nicht verkennen, daß er manche Un-<lb/>annehmlichkeiten bereitet, die ihn im Hauſe unbeliebt machen, <lb/>und die wir im Verlauf unſeres Themas noch berühren <lb/>werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5076" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5077" xml:space="preserve">Bevor wir jedoch zu den fünf Torfſorten kommen, welche <lb/>Brix unterſucht hat, wollen wir einige Thatſachen hier an-<lb/>führen, die von größter Wichtigkeit für die Benutzung des <lb/>Torfes ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s5078" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5079" xml:space="preserve">Bei keinem Brennmaterial, mit Ausnahme der Braun-<lb/>kohlenſteine, ſpielt das Waſſer eine ſo böſe Rolle wie beim <lb/>Torf. </s>
  <s xml:id="echoid-s5080" xml:space="preserve">Daß naſſes Holz erſt ordentlich ſein Waſſer heraus-<lb/>kocht, bevor es zu brennen anfängt, das werden die Haus-<lb/>frauen ſchon oft bemerkt haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s5081" xml:space="preserve">dies verzögert nicht nur die <lb/>Verbrennung, ſondern nimmt einen tüchtigen, oft den beſten <lb/>Teil der Hitze in Anſpruch, und verteuert die Heizung ganz <lb/>entſetzlich. </s>
  <s xml:id="echoid-s5082" xml:space="preserve">Der Torf, wenn er naß iſt, wird nicht nur in <lb/>dieſer Beziehung widerwärtig, ſondern er quillt auch noch <lb/>tüchtig. </s>
  <s xml:id="echoid-s5083" xml:space="preserve">Kauft man daher eine Klafter naſſen Torf, ſo erhält <lb/>man eine ſehr beträchtliche Menge Torf-Soden, oder, wie die <lb/>Hausfrauen ſagen, Torf-Sohlen weniger, als wenn er gehörig <lb/>ausgetrocknet iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5084" xml:space="preserve">Der Unterſchied kann, wie Brix’ Unter-
<pb o="104" file="0372" n="372"/>
ſuchung zeigt, dahin führen, daß ein Torfmaß, welches <lb/>83 trockne Torf-Soden enthält, ſchon gefüllt werden kann mit <lb/>66 derſelben Torf-Soden, wenn ſie naß ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s5085" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5086" xml:space="preserve">Auf einen zweiten bedeutenden Übelſtand beim Torf-Ein-<lb/>kauf muß man gleichfalls ſein Augenmerk haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s5087" xml:space="preserve">Er betrifft <lb/>das Maß desſelben. </s>
  <s xml:id="echoid-s5088" xml:space="preserve">Die geübten Gehülfen der Torfkähne ver-<lb/>ſtehen das Hohlmeſſen ſo vorzüglich, daß ſie den geaichten <lb/>richtigen Wagen geſtrichen voll machen, obgleich noch ein viertel <lb/>Haufen fehlt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5089" xml:space="preserve">— Brix ließ einen genau ausgemeſſenen Wagen <lb/>von ſeinen Heizern mit Torf füllen und fand deſſen Gewicht <lb/>auf 4100 Pfund; </s>
  <s xml:id="echoid-s5090" xml:space="preserve">ſodann ließ er denſelben Wagen mit dem-<lb/>ſelben Torf durch zwei Leute füllen, welche den Sommer über <lb/>damit beſchäftigt ſind, den Torf aus den Kähnen in die Maß-<lb/>wagen zu tragen, und das Gewicht des vollen Wagens Torf <lb/>betrug nur 3080 Pfund. </s>
  <s xml:id="echoid-s5091" xml:space="preserve">— Sie hatten richtig 1020 Pfund <lb/>Torf weniger, alſo den vierten Teil — was man ſo nennt, <lb/>eingemeſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5092" xml:space="preserve">— Ein gefährliches Kunſtſtück, das den Torf nicht <lb/>wenig verteuert.</s>
  <s xml:id="echoid-s5093" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div141" type="section" level="1" n="127">
<head xml:id="echoid-head140" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXI. Der Heizwert des Torfes.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5094" xml:space="preserve">Vom Torf gilt im vollen Sinne das Sprüchwort: </s>
  <s xml:id="echoid-s5095" xml:space="preserve">“was <lb/>billig iſt, kommt teuer zu ſtehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5096" xml:space="preserve">” Billige Torfſorten ſind bei <lb/>weitem ſchlechter, als ſie ihrem Preiſe nach ſein dürften, wes-<lb/>halb wir beim Torf einen andern Grundſatz zur Regel machen <lb/>müſſen, als beim Holz. </s>
  <s xml:id="echoid-s5097" xml:space="preserve">Während wir den Gebrauch der teuren <lb/>Holzſorte, des Büchenholzes, höchſtens verteidigen dürfen, <lb/>müſſen wir den Gebrauch der teuren Torfſorten empfehlen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5098" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5099" xml:space="preserve">Erfahrene Hausfrauen verſtehen ſich ſchon auf gute Torf-<lb/>ſorten; </s>
  <s xml:id="echoid-s5100" xml:space="preserve">den weniger erfahrenen wollen wir die Merkzeichen hier <lb/>angeben.</s>
  <s xml:id="echoid-s5101" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="105" file="0373" n="373"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5102" xml:space="preserve">Ein guter Torf darf vor allem, wenn er trocken iſt, nicht <lb/>leicht ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s5103" xml:space="preserve">Ein Stück Torf guter Sorte muß 1 Pfund und <lb/>18 bis 24 Lot wiegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5104" xml:space="preserve">Ein guter Torf muß hart ſein, und <lb/>wenn er trocken iſt, muß jedes Stück eingefallene Backen haben, <lb/>ſo daß die Kanten und Ecken hervorragen, und die Flächen, <lb/>namentlich die breiten Flächen recht gehörig eingedörrt er-<lb/>ſcheinen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5105" xml:space="preserve">Sind die Stücke dadurch ein wenig krumm geworden, <lb/>ſo thut das der Zierlichkeit zwar Abbruch, aber es iſt ein <lb/>gutes Zeichen für die Trockenheit und den Brennwert.</s>
  <s xml:id="echoid-s5106" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5107" xml:space="preserve">Ein guter Torf darf auch nicht beim Bruch verraten, daß <lb/>er aus Pflanzen beſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s5108" xml:space="preserve">Wo ſich die Wurzeln und Faſern <lb/>leicht herausfinden laſſen, da verrät er, daß er nicht tief genug <lb/>in der Erde gelegen und nicht lange genug daſelbſt gelagert <lb/>hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s5109" xml:space="preserve">— Zwar zeigt auch der gute Torf Spuren und Reſte <lb/>von Pflanzen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5110" xml:space="preserve">allein in der Hauptmaſſe müſſen die Pflanzen-<lb/>reſte nicht mehr erkennbar ſein; </s>
  <s xml:id="echoid-s5111" xml:space="preserve">dieſe muß ſchwarz, dürr, wie <lb/>erdige Kohle ausſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5112" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5113" xml:space="preserve">Ein jedes Stück Torf hat bekanntlich zwei breite, zwei <lb/>ſchmale und zwei hohe Flächen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5114" xml:space="preserve">ein guter Torf zeigt nun <lb/>folgende Eigenſchaften in Bezug auf dieſe Flächen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5115" xml:space="preserve">Legt man <lb/>ihn auf die breite Fläche und verſucht ihn mit einem Handbeil <lb/>zu ſpalten, ſo muß er Widerſtand leiſten und eher in Stücke <lb/>zerbrechen, ehe er dem Beil den Durchgang geſtattet. </s>
  <s xml:id="echoid-s5116" xml:space="preserve">Stellt <lb/>man ihn auf die lange Fläche und verſucht die Kunſt des <lb/>Handbeils an ihm, ſo muß er, wenn der Schlag gut gezielt <lb/>iſt, nachgeben und ſich ſchichtartig ſpalten laſſen, zeigt er aber <lb/>gar auf der hohen Fläche ſchichtartige Riſſe, als ob er ſich <lb/>von ſelber ſpalten wollte, ſo iſt dies ein vortreffliches Zeichen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5117" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5118" xml:space="preserve">Damit man dieſe Merkzeichen nicht mißverſtehe, wollen wir <lb/>ſie durch die Darlegung der Gründe deutlicher zu machen <lb/>ſuchen, worauf ſie beruhen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5119" xml:space="preserve">Ein jedes Stück Torf iſt nämlich, <lb/>wie wir bereits wiſſen, der Überreſt eines Pflanzenlebens, das <lb/>einſt den Moorgrund bedeckte. </s>
  <s xml:id="echoid-s5120" xml:space="preserve">Aber nicht von einem und zwei
<pb o="106" file="0374" n="374"/>
Jahren rührt dieſer Reſt her, ſondern Schicht wuchs auf <lb/>Schicht, wo immer die untere der Boden wurde, auf dem die <lb/>obere wuchs. </s>
  <s xml:id="echoid-s5121" xml:space="preserve">Jedes Jahr hat nur eine verhältnismäßig dünne <lb/>Schicht zu dieſem Stück Torf geliefert. </s>
  <s xml:id="echoid-s5122" xml:space="preserve">Wenn die Pflanze <lb/>auch üppig war, ſie wurde nach ihrem Ableben ſehr dünn und <lb/>mit dem Lauf der Jahre immer gepreßter und dünner durch <lb/>die obern Schichten. </s>
  <s xml:id="echoid-s5123" xml:space="preserve">Ein Stück Torf iſt eine Art Buch, in <lb/>welchem Schicht auf Schicht wie die Blätter des Buches liegen, <lb/>von denen aber jedes Blatt einen vollen Jahrgang ausmacht. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5124" xml:space="preserve">— Will man nun das Stück von der breiten Fläche aus <lb/>ſpalten, ſo muß man ſämtliche Jahrgänge der Schichten durch-<lb/>ſchneiden, und da deren Zahl beim guten Torf ſehr groß iſt, <lb/>ſo geht das ſchwer; </s>
  <s xml:id="echoid-s5125" xml:space="preserve">verſucht man es jedoch von der Längen-<lb/>Fläche aus, ſo trennt man nur die Schichten zweier Jahr-<lb/>gänge von einander, und das gelingt dann meiſt ganz gut. </s>
  <s xml:id="echoid-s5126" xml:space="preserve">Zeigen <lb/>ſich aber gar Riſſe in dieſer Richtung auf der hohen Fläche, <lb/>ſo iſt dies ein Zeichen der ſcharfen Eintrocknung, wo Schicht <lb/>von Schicht ſich trennen will, was eben nur bei gutem, alten, <lb/>ſchichtenreichen Torf vorkommt, aber bei lockerm Torf nicht der <lb/>Fall iſt, wo ſich nur die Jahrgänge weniger Schichten mit ein-<lb/>ander verfilzt haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s5127" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5128" xml:space="preserve">Die Unterſuchungen von Brix über die Heizkraft des <lb/>Torfes umfaſſen fünf Sorten dieſes Materials und ſind in einigen <lb/>60 Verſuchen feſtgeſtellt worden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5129" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5130" xml:space="preserve">Die Hauptſorten ſind unter dem Namen Büchfeld- und <lb/>Neulangen-Torf und dem bekannten Linumer Torf aufge-<lb/>führt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5131" xml:space="preserve">Von dem erſtern kamen zwei Sorten, von dem letztern <lb/>drei zur Unterſuchung, und ſie ergaben folgende wichtige <lb/>Reſultate.</s>
  <s xml:id="echoid-s5132" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5133" xml:space="preserve">Eine Klafter vom beſten Büchfelder ſowohl wie vom <lb/>beſten Linumer Torf wiegt 33 Zentner. </s>
  <s xml:id="echoid-s5134" xml:space="preserve">Dieſer Torf iſt alſo <lb/>um 2 Zentner ſchwerer als Büchen- und Eichenholz. </s>
  <s xml:id="echoid-s5135" xml:space="preserve">Hiervon <lb/>ſind freilich zehn Prozent Aſche, alſo unbrennbare Teile im
<pb o="107" file="0375" n="375"/>
Torf enthalten, während im Holz nur 1 Prozent Aſche ent-<lb/>halten iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5136" xml:space="preserve">Ferner iſt Torf im mittlern Zuſtand naſſer als <lb/>Holz; </s>
  <s xml:id="echoid-s5137" xml:space="preserve">während in hundert Pfund Holz durchſchnittlich 15 Pfund <lb/>Waſſer enthalten ſind, enthalten hundert Pfund Torf 25 Pfund <lb/>Waſſer. </s>
  <s xml:id="echoid-s5138" xml:space="preserve">Rechnet man nun Aſche und Waſſer ab, ſo bleiben in <lb/>einer Klafter Torf nur 2250 Pfund trockne, brennbare Teile. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5139" xml:space="preserve">In jedem Pfunde dieſer Klafter aber ſteckt mehr Heizkraft als <lb/>in einem gleichen Pfund Holz, denn ein Pfund der Linumer <lb/>Sorte bringt 5 Pfund 6 Lot Waſſer zum Verdampfen, ein <lb/>Pfund Büchenfelder giebt etwas weniger Dampf.</s>
  <s xml:id="echoid-s5140" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5141" xml:space="preserve">Der Torf zweiter Sorte iſt bei den zwei genannten Torf-<lb/>Gattungen ſchon ſehr verſchieden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5142" xml:space="preserve">Linumer zweiter Sorte iſt <lb/>500 Pfund leichter als der erſter Sorte, während Büchfelder <lb/>zweiter Sorte an 700 Pfund leichter iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s5143" xml:space="preserve">ein Pfund dieſes <lb/>Linumer giebt nach Abzug des Waſſers und der Aſche 5 Pfd. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5144" xml:space="preserve">3 Lot Dampf, während Büchfelder nur 4 Pfund 21 Lot <lb/>Dampf liefert. </s>
  <s xml:id="echoid-s5145" xml:space="preserve">Ja, ſelbſt Linumer dritter Sorte ſteht dem <lb/>Büchfelder zweiter Sorte nicht viel nach.</s>
  <s xml:id="echoid-s5146" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5147" xml:space="preserve">Da nun der Preis des Torfes bedeutend billiger iſt als <lb/>der des Holzes, ſo iſt es keinem Zweifel unterworfen, daß Torf <lb/>ein ſehr ſparſames Heizmaterial iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5148" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div142" type="section" level="1" n="128">
<head xml:id="echoid-head141" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXII. Für und gegen den Torf.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5149" xml:space="preserve">Wir müſſen jetzt eine Reihe von Umſtänden anführen, <lb/>die ſür und gegen den Gebrauch des Torfes in der Wirtſchaft <lb/>ſprechen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5150" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5151" xml:space="preserve">Für den Torf ſpricht erſtens ſein Preis, zweitens ſeine <lb/>Heizkraft, drittens die Art ſeines Brennens.</s>
  <s xml:id="echoid-s5152" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5153" xml:space="preserve">Der Preis des Torfes iſt ſo mäßig, daß er das billigſte <lb/>Brennmaterial iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5154" xml:space="preserve">Ein Haufen Torf koſtet in Berlin kaum
<pb o="108" file="0376" n="376"/>
etwa ſo viel als ein Haufen Holz, und gewährt noch den Vor-<lb/>teil, daß man ihn nicht klein zu machen braucht.</s>
  <s xml:id="echoid-s5155" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5156" xml:space="preserve">Da nun die Heizkraft des Torfes die des beſten Holzes <lb/>übertrifft, ſo iſt es ganz unzweifelhaft, daß der Torf ſich ſehr <lb/>als Brennmaterial empfiehlt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5157" xml:space="preserve">Dieſe Eigenſchaften allein würden <lb/>indeſſen keineswegs den Ausſchlag für die Wirtſchaft geben, <lb/>denn in dieſer kommt es auf die Art an, wie ſein Heizmaterial <lb/>verbrennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5158" xml:space="preserve">Würde Torf z. </s>
  <s xml:id="echoid-s5159" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s5160" xml:space="preserve">ſo eigentümlich brennen, wie <lb/>etwa Steinkohle, ſo würde er ſelbſt bei noch größerer Billig-<lb/>keit keine rechte Anwendung in unſeren Öfen finden; </s>
  <s xml:id="echoid-s5161" xml:space="preserve">man <lb/>würde die ganze Einrichtung der Feuerung umändern müſſen, <lb/>und dies würde ihn für das Haus unpraktiſch machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5162" xml:space="preserve">Da <lb/>jedoch der Torf außer der Billigkeit und dem Reichtum an <lb/>Brennkraft noch die gute Eigenſchaft beſitzt, daß er ohne <lb/>Schwierigkeit in den Stubenöfen, wie ſie gewöhnlich ſind, ver-<lb/>brennt, ſo erfüllt er eigentlich alle Bedingungen eines guten <lb/>Brennmaterials und empfiehlt ſich ſomit ganz außerordentlich <lb/>für die Praxis.</s>
  <s xml:id="echoid-s5163" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5164" xml:space="preserve">Er hat aber wieder vieles gegen ſich, was man durchaus <lb/>nicht unbeachtet laſſen darf.</s>
  <s xml:id="echoid-s5165" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5166" xml:space="preserve">Vor allem iſt Torf allein ein ſchlechtes Brennmaterial. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5167" xml:space="preserve">Er brennt ſehr kurzflammig, ja er glüht eigentlich nur. </s>
  <s xml:id="echoid-s5168" xml:space="preserve">Die <lb/>Gaſe, die in ihm ſind, ſind nicht flüchtig und brennen nicht im <lb/>langen Strahl. </s>
  <s xml:id="echoid-s5169" xml:space="preserve">Brennt man nun Torf auf der einen Seite <lb/>des Ofens an, ſo ſchlägt die Flamme des brennenden Teils <lb/>nicht um den übrigen Torf, ſondern zieht ſich nur nach und <lb/>nach und ſehr langſam bis dahin. </s>
  <s xml:id="echoid-s5170" xml:space="preserve">Das verzögert die Heizung <lb/>viel zu ſehr, und wollte man bloß mit Torf heizen, ſo würde <lb/>der eine Teil immer dem Erlöſchen nahe ſein, ehe der andere <lb/>Teil abbrennt, oder mit anderen Worten: </s>
  <s xml:id="echoid-s5171" xml:space="preserve">der Ofen würde auf <lb/>der einen Seite erſt anfangen ſich zu erhitzen, wenn er auf der <lb/>andern Seite anfängt kalt zu werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5172" xml:space="preserve">Es weiß dies auch jede <lb/>Hausfrau, die ſich um die Heizung kümmert. </s>
  <s xml:id="echoid-s5173" xml:space="preserve">Man muß erſt
<pb o="109" file="0377" n="377"/>
ein tüchtiges, langflammiges Brennmaterial wie Kien- oder <lb/>Elſenholz im Ofen anzünden, und auf dieſes, wenn es ſo recht <lb/>ins Aufflammen geraten iſt, den Torf auflegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5174" xml:space="preserve">Der Torf <lb/>fängt dabei, von allen Seiten gut angeflammt, von allen Enden <lb/>zu brennen an, und leiſtet ſogar dem Holzfeuer den Dienſt, <lb/>daß er die Gaſe, die ſonſt unverbrannt geblieben wären, ent-<lb/>zündet.</s>
  <s xml:id="echoid-s5175" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5176" xml:space="preserve">Allein ſchon dieſer Umſtand, daß man es mit zwei Brenn-<lb/>materialien ſtatt des einen zu thun hat, macht ihn unbeliebt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5177" xml:space="preserve">— Hat man ſeinen Arm voll Kienholz in den Ofen gethan <lb/>und ſoll ihn noch nachträglich mit einer Portion Torf zum <lb/>Deſſert füttern, ſo wird zuweilen manche geduldige Hausfrau <lb/>unmutig, zumal, wenn’s nicht allzu kalt iſt, und man ſich zur <lb/>Not mit der Hitze des Holzes begnügen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s5178" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5179" xml:space="preserve">Der Torf verlängert aber auch das Heizgeſchäft. </s>
  <s xml:id="echoid-s5180" xml:space="preserve">Füttert <lb/>man den Ofen mit einem Male ab, ſo iſt es ein Pläſir; </s>
  <s xml:id="echoid-s5181" xml:space="preserve">muß <lb/>man aber abwarten, bis das Holz gerade in der rechten <lb/>Stimmung iſt, den Torf in flammigſter Umarmung zu em-<lb/>pfangen, ſo wird es ſchon langweilig. </s>
  <s xml:id="echoid-s5182" xml:space="preserve">— Rechnet man hierzu, <lb/>daß der Torf beim Heizen in der Stube weit mehr ſchmutzt <lb/>als Holz, daß man beim Einlegen des Torfes in das recht <lb/>flammige Feuer oft verunglückt mit der zweckmäßigen Lagerung <lb/>der Soden, daß man bald eine Sode zu tief in den Ofen <lb/>wirft, wo ſie erſt zu brennen anfängt, wenn man die Klappe <lb/>zumachen will, daß bald eine andere aus dem Ofen heraus-<lb/>fällt und Aſche, Kohlen und den durchdringenden, übeln Geruch <lb/>des Torfes in der Stube verbreitet, ſo muß man einen ge-<lb/>wiſſen Abſcheu vor dem Torf gerechtfertigt finden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5183" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5184" xml:space="preserve">Hierzu kommen noch einzelne Umſtände, die weſentlich <lb/>ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s5185" xml:space="preserve">Es giebt Tage, wo der Schornſtein ſeine üblen Launen <lb/>hat und Rauch und Dunſt ſtoßweiſe in den Ofen hinabdrückt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5186" xml:space="preserve">In ſolchen Fällen iſt Rauch ein Übel, das ſelbſt gute Öfen <lb/>heimſucht. </s>
  <s xml:id="echoid-s5187" xml:space="preserve">Der Torf aber verbreitet bei der Verbrennung ein
<pb o="110" file="0378" n="378"/>
beſonderes — wir glauben wiſſenſchaftlich noch nicht völlig be-<lb/>kanntes — Gas von durchdringendem Geruch, der ſich Tage <lb/>lang in der Stube aufhält, ja ſogar ſich den Kleidern mit-<lb/>teilt; </s>
  <s xml:id="echoid-s5188" xml:space="preserve">dringt dieſer Torfdunſt ins Zimmer, ſo verliert man oft <lb/>alle Luſt zur Sparſamkeit, und läßt ſich nötigenfalls eher ein <lb/>wenig Kälte, als ſolchen Umſtand gefallen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5189" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5190" xml:space="preserve">Der Torf hinterläßt auch zehn Prozent Aſche, und dieſe <lb/>iſt für die Wirtſchaft wertlos; </s>
  <s xml:id="echoid-s5191" xml:space="preserve">wenigſtens hat man ihre vor-<lb/>zügliche Eigenſchaft, die Wärme ſchwer zu leiten, noch nicht <lb/>im wirtſchaftlichen Gebrauch in Anwendung gebracht. </s>
  <s xml:id="echoid-s5192" xml:space="preserve">Sie <lb/>vermehrt alſo den Unrat des Hauſes und macht das Reinigen <lb/>des Ofens und der Züge öfter notwendig als ſonſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5193" xml:space="preserve">— Endlich <lb/>macht der Torf auch Arbeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s5194" xml:space="preserve">Will man ihn gut verwenden, <lb/>ſo muß man ihn ſpalten, wodurch er ſchneller brennt; </s>
  <s xml:id="echoid-s5195" xml:space="preserve">dies aber <lb/>iſt ſogar nicht leicht und häuft nach und nach ſo viele Torf-<lb/>krümel an, daß ein Teil des Materials verloren geht, wenn <lb/>man es nicht unter dem Waſchkeſſel verwenden kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s5196" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div143" type="section" level="1" n="129">
<head xml:id="echoid-head142" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXIII. Der Koks.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5197" xml:space="preserve">Erwägen wir Alles, was für und was gegen den Torf <lb/>ſpricht, ſo ergiebt ſich, daß er ſelber eigentlich nicht Schuld <lb/>hat an ſeinem Mißkredit. </s>
  <s xml:id="echoid-s5198" xml:space="preserve">Die guten Eigenſchaften des Torfes, <lb/>ſeine Billigkeit, ſeine bedeutende Heizkraft und ſeine angemeſſene <lb/>Verbrennlichkeit gehören ihm ſelber an. </s>
  <s xml:id="echoid-s5199" xml:space="preserve">Alle Übel ſeines Ge-<lb/>brauches aber haften nicht an ihm, ſondern an dem, was drum <lb/>und dran hängt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5200" xml:space="preserve">Bald iſt es die Achtloſigkeit, bald die Scheu <lb/>der Heizenden, bald iſt es der Ofen, bald der Schornſtein, <lb/>der den Torf unbequem macht, und dies verurſacht es, <lb/>daß man ihm Mängel aufbürdet, die in der That anderswo <lb/>liegen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5201" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="111" file="0379" n="379"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5202" xml:space="preserve">Erwägt man all dies, ſo ſtellt ſich ganz unzweifelhaft <lb/>heraus, daß es eine Wohlthat wäre, wenn man die Einrich-<lb/>tungen träfe, welche die Vorteile der Torfheizung gewähren, <lb/>ohne die Nachteile beſorgen zu laſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5203" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5204" xml:space="preserve">Wir werden nicht unterlaſſen, unſere Anſichten hierüber <lb/>unſern Leſern vorzuführen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5205" xml:space="preserve">für jetzt dürfen wir die Reihenfolge <lb/>unſerer Betrachtungen nicht unterbrechen und müſſen zu den <lb/>übrigen Brennmaterialien zurückkehren, von denen noch das <lb/>eine, der Koks, ſehr in Aufnahme gekommen und von Wich-<lb/>tigkeit geworden iſt, von denen aber auch die anderen, die <lb/>Braunkohle und namentlich die Steinkohle immer mehr <lb/>ſich Eingang verſchaffen und unſere volle Berückſichtigung ver-<lb/>dienen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5206" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5207" xml:space="preserve">Daß Koks ein billiges Brennmaterial und unter Um-<lb/>ſtänden gar nicht durch andere Materialien zu erſetzen iſt, das <lb/>iſt in großen Städten ſchon eine ganz bekannte Thatſache, <lb/>weshalb denn auch der Verbrauch desſelben von Jahr zu Jahr <lb/>zunimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5208" xml:space="preserve">— Obwohl nun mit der Zunahme des Verbrauchs <lb/>der Koks teurer geworden iſt, iſt der Preis doch nicht ſo ge-<lb/>ſtiegen, wie man hätte vermuten ſollen, und dies verdankt man <lb/>dem Umſtand, daß der Koks ein Material iſt, das ſchon meiſt <lb/>bei ſeiner Herſtellung einen Gewinn abgeworfen hat, alſo nur <lb/>den Wert eines Nebenproduktes beanſprucht.</s>
  <s xml:id="echoid-s5209" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5210" xml:space="preserve">Es hat nämlich mit dem Koks eine eigene Bewandtnis; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5211" xml:space="preserve">er iſt ein bereits halb verbranntes Brennmaterial, er iſt die <lb/>Kohle der Steinkohle. </s>
  <s xml:id="echoid-s5212" xml:space="preserve">Man ſollte nun glauben, es ſei Ver-<lb/>ſchwendung, den Koks als Brennmaterial herzuſtellen, weil <lb/>bei ſeiner Herſtellung ein Teil der Heizkraft der Steinkohle <lb/>verloren geht. </s>
  <s xml:id="echoid-s5213" xml:space="preserve">Allein es ſind beſondere Umſtände, welche einen <lb/>Erſatz dieſes Verluſtes bieten, und dies dürfen wir nicht un-<lb/>erwähnt laſſen, weil ſie auf den Koks und ſeinen Brennwert <lb/>von Einfluß ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s5214" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5215" xml:space="preserve">Die Steinkohle, wie ſie in der Erde gefunden wird, iſt
<pb o="112" file="0380" n="380"/>
ſchon je nach dem Harzreichtum der Pflanzenſtoffe, welche zu <lb/>ihrer Bildung gedient haben, verſchieden, und iſt es noch be-<lb/>ſonders dadurch, daß ſich metalliſche Teile, namentlich ſchwefel-<lb/>haltige, derſelben in verſchiedener Weiſe beimiſchen, je nach <lb/>der Beſchaffenheit des Bodens, in welchem die Steinkohle ge-<lb/>funden wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s5216" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5217" xml:space="preserve">Erhitzt man die Steinkohle, ſo geſchehen ſowohl chemiſche <lb/>Verbindungen wie Zerſetzungen all der Stoffe, die ſie enthält. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5218" xml:space="preserve">Alle Harzarten der Steinkohle verwandeln ſich in Gas und <lb/>blähen entweder die Steinkohle auf, oder laſſen ſie zuſammen-<lb/>ſickern. </s>
  <s xml:id="echoid-s5219" xml:space="preserve">In dem erſtern Falle wird die Steinkohle oft durch <lb/>die Hitze zuſammenbackend, ſo daß ſich die kleinen Stücke der <lb/>Kohle zu großen Stücken aneinanderfügen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5220" xml:space="preserve">Haben ſich nun <lb/>durch die Hitze die Gasarten aus der Kohle entfernt und die <lb/>fettigen, harzigen Beſtandteile als Teer abgeſchieden, ſo bleibt <lb/>der Kohlenſtoff der Steinkohle in aufgeblähten, ſchwammartig <lb/>durchlöcherten Stücken zurück, und löſcht man dieſe zur rechten Zeit <lb/>ab, ſo beſitzt man in denſelben den Koks, deſſen Eigenſchaften <lb/>wir noch kennen lernen werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5221" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5222" xml:space="preserve">Je nach der Beſchaffenheit der Steinkohle, namentlich nach <lb/>deren Reichtum an Harzarten und Schwefelkies, ſind die aus <lb/>der erhitzten Steinkohle ſich entfernenden Gaſe verſchieden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5223" xml:space="preserve">Steinkohlen, die viele harzige Teile enthalten, geben, wenn ſie <lb/>in ringsum abgeſchloſſenen Behältern geglüht worden, reich-<lb/>haltig das Kohlen-Waſſerſtoffgas von ſich, welches als Leucht-<lb/>gas bekannt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5224" xml:space="preserve">Dieſes Gas iſt freilich mit verſchiedenen <lb/>andern Gaſen, namentlich mit dem ſehr unangenehm nach <lb/>faulen Eiern riechenden Schwefelwaſſerſtoff gemiſcht; </s>
  <s xml:id="echoid-s5225" xml:space="preserve">allein <lb/>man hat in den Gasanſtalten Vorrichtungen, das Kohlen-<lb/>Waſſerſtoffgas gereinigt herzuſtellen, um es zur Beleuchtung zu <lb/>verwenden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5226" xml:space="preserve">In ſolchen Anſtalten bleibt die Kohle der Stein-<lb/>kohle als Koks zurück und iſt als ein Nebenprodukt verhält-<lb/>nismäßig billig zu haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s5227" xml:space="preserve">— Gegenwärtig, wo man auch den
<pb o="113" file="0381" n="381"/>
Teer der Steinkohle vielfach braucht und verwertet, ganz be-<lb/>ſonders zur Herſtellung zahlloſer Farbſtoffe, wirkt auch dies <lb/>auf die Billigkeit des Koks ein. </s>
  <s xml:id="echoid-s5228" xml:space="preserve">— Bei der Wichtigkeit des <lb/>Koks für den Hüttenbetrieb wird er aber ſehr viel als ein <lb/>Hauptprodukt bereitet.</s>
  <s xml:id="echoid-s5229" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div144" type="section" level="1" n="130">
<head xml:id="echoid-head143" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXIV. Tie Heizkraft des Koks.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5230" xml:space="preserve">Es kommt beim Koks, wenn er zur Heizung benutzt <lb/>werden ſoll, auf viele Umſtände an, welche ihn mehr oder <lb/>minder vorteilhaft machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5231" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5232" xml:space="preserve">Vor Allem iſt der Hauptbeſtandteil des Koks, die Kohle, <lb/>nicht in allen Koksarten gleich gut und reichhaltig. </s>
  <s xml:id="echoid-s5233" xml:space="preserve">Das <lb/>liegt an der Steinkohle, aus welcher mar den Koks gebrannt <lb/>hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s5234" xml:space="preserve">— Iſt die Steinkohle, oder richtiger iſt der Pflanzenſtoff, <lb/>aus welchem die Steinkohle entſtanden, reich an Kohle ge-<lb/>weſen, ſo wird auch der Koks reichhaltig an Kohle ſein, ſobald <lb/>er zur rechten Zeit gelöſcht worden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5235" xml:space="preserve">— Waren in der Stein-<lb/>kohle viele gasartige Beſtandteile, ſo kann ſie ſehr reich an <lb/>Kohle ſein; </s>
  <s xml:id="echoid-s5236" xml:space="preserve">aber bei der Verwandlung in Koks blähen die <lb/>Gaſe den Koks auf und bilden aus ihm große, ſehr ſchwam-<lb/>mige Stücke. </s>
  <s xml:id="echoid-s5237" xml:space="preserve">In ſolchem Falle wird der Koks leicht, und die <lb/>Tonne, die man kauft, wird weniger wiegen und auch weniger <lb/>Kohlenſtoff enthalten, als ſie ſoll. </s>
  <s xml:id="echoid-s5238" xml:space="preserve">— War die Steinkohle an <lb/>ſich ſchlecht, das heißt, enthielt ſie viele erdige Beſtandteile <lb/>metalliſcher Natur, ſo wird der aus ihr gebraunte Koks zwar <lb/>nicht ſo aufgebläht ſein und auch mäßiges Gewicht haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s5239" xml:space="preserve">aber <lb/>er wird zu ſtark an Aſche ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s5240" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5241" xml:space="preserve">Die Beſchaffenheit des Koks wird aber nicht bloß hiervon <lb/>abhängen, ſondern auch von dem Zweck, zu welchem er her-</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5242" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s5243" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s5244" xml:space="preserve">Volksbücher XIV.</s>
  <s xml:id="echoid-s5245" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="114" file="0382" n="382"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5246" xml:space="preserve">geſtellt worden iſt, und bis zu welchem Grad man die Ver-<lb/>treibung der Gaſe gebracht hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s5247" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5248" xml:space="preserve">Hat man die Steinkohle zur Bereitung von Leuchtg as <lb/>benutzt, ſo entzieht man ihr möglichſt viel Kohlen-Waſſerſtoff-<lb/>gas, und der zurückbleibende Koks hat nur wenig von dem-<lb/>ſelben in ſich. </s>
  <s xml:id="echoid-s5249" xml:space="preserve">Die ſtädtiſche Gasanſtalt in Berlin treibt nur in <lb/>Rückſicht auf den Verkauf des Koks die Entziehung des Leucht-<lb/>gaſes aus der Steinkohle nicht ſo weit, als ſie könnte, weshalb <lb/>denn der Koks, den ſie verkauft, beliebter war, als der der <lb/>engliſchen Gas-Geſellſchaft. </s>
  <s xml:id="echoid-s5250" xml:space="preserve">Bei Steinkohlen indeſſen, die man <lb/>nur zu dem Zweck verkokt, um Brennmaterial zu gewinnen, <lb/>wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s5251" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s5252" xml:space="preserve">viele Hüttenwerke thun, iſt der Brennwert durch-<lb/>ſchnittlich ſchon beſſer.</s>
  <s xml:id="echoid-s5253" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5254" xml:space="preserve">Daß indeſſen alle Koksſorten noch während des Bren-<lb/>nens andere Gaſe von ſich geben als Kohlenſäure, das hat <lb/>wohl ſchon jeder erfahren, der den Verſuch gemacht hat, bren-<lb/>nenden Koks mit Waſſer zu löſchen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5255" xml:space="preserve">der unangeneme Geruch <lb/>nach faulen Eiern entſteht aus dem Schwefelwaſſerſtoff, welcher <lb/>hierbei aus der Kohle ausgetrieben wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s5256" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5257" xml:space="preserve">Was nun die Heizkraft des Koks betrifft, ſo geben die <lb/>Unterſuchungen von Brix hierüber weniger Aufſchluß, als man <lb/>erwarten ſollte; </s>
  <s xml:id="echoid-s5258" xml:space="preserve">es rührt dieſes aber daher, daß die Unter-<lb/>ſuchungen nicht für gewöhnliche Stubenheizung unternommen <lb/>worden ſind, ſondern die Rückſicht auf den Bedarf der Maſchinen-<lb/>und Fabrikanlagen im großen dabei leitend war. </s>
  <s xml:id="echoid-s5259" xml:space="preserve">Für ſolche An-<lb/>ſtalten iſt die Steinkohle aber brauchbar und daher die Koks-<lb/>Verwendung unratſam, weil dieſer immer ſchon ein halbver-<lb/>branntes Material iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5260" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5261" xml:space="preserve">Die Verſuche von Brix erſtrecken ſich nur über zwei <lb/>preußiſche Koksſorten; </s>
  <s xml:id="echoid-s5262" xml:space="preserve">ſie ergeben ein nicht unweſentlich ab-<lb/>weichendes Reſultat. </s>
  <s xml:id="echoid-s5263" xml:space="preserve">Die eine Koksſorte enthält in der Tonne <lb/>230 Pfund, von denen jedes Pfund der brennbaren Teile <lb/>8 Pfund und 12 Lot Waſſer zu verdampfen imſtande iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5264" xml:space="preserve">Die
<pb o="115" file="0383" n="383"/>
andere Koksſorte wiegt 250 Pfund pro Tonne, iſt aber kohlen-<lb/>reicher, und jedes Pfund Koks dieſer Sorte hat 8 Pfund und <lb/>18 Lot Waſſer verdampft.</s>
  <s xml:id="echoid-s5265" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5266" xml:space="preserve">Nehmen wir dieſes Reſultat als durchſchnittlich für den <lb/>Koks geltend, ſo würde ſich ſein Heizwert im Vergleich mit <lb/>andern Materialien in folgender Weiſe herausſtellen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5267" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5268" xml:space="preserve">Rechnen wir den Preis einer leichten Holzſorte ſo, daß <lb/>der Haufen 25 bis 30 Thaler koſtet, ſo erhält man ungefähr <lb/>für einen Groſchen 14 bis 15 Pfund Brennmaterial. </s>
  <s xml:id="echoid-s5269" xml:space="preserve">Da <lb/>jedes Pfund dieſes Brennmaterials circa 4 {1/2} Pfund Waſſer <lb/>verdampft, ſo würde man etwa für einen Pfennig Brenn-<lb/>material drei Pfund Waſſer verdampfen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s5270" xml:space="preserve">— Rechnen <lb/>wir dagegen den Koks zu 30 Silbergroſchen die Tonne und <lb/>das Gewicht desſelben durchſchnittlich auf 240 Pfund, ſo würde <lb/>man für einen Silbergroſchen 8 Pfund Brennmaterial er-<lb/>halten, und da ein Pfund dieſes Materials an acht Pfund <lb/>Waſſer verdampft, ſo würde man für einen Silbergroſchen <lb/>64 Pfund, alſo für einen Pfennig an 5 {1/3} Pfund Waſſer ver-<lb/>dampfen können.</s>
  <s xml:id="echoid-s5271" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5272" xml:space="preserve">Vergleicht man den Koks mit dem Torf, ſo ergiebt ſich <lb/>der Unterſchied nicht zu groß; </s>
  <s xml:id="echoid-s5273" xml:space="preserve">ſie ſind beide faſt gleich an <lb/>Billigkeit im Verhältnis zu ihrer Heizkraft.</s>
  <s xml:id="echoid-s5274" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5275" xml:space="preserve">Wiederholt müſſen wir indeſſen bei dieſer Gelegenheit <lb/>darauf aufmerkſam machen, daß bei dieſen Berechnungen immer <lb/>vorausgeſetzt iſt, daß die ganze Heizkraft benutzt werden kann, <lb/>was bekanntlich nicht der Fall iſt, da ein Teil derſelben nicht <lb/>für das Waſſer, ſondern zur Erwärmung des Gefäßes, des <lb/>Feuerraumes und der Luft verwendet werden muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s5276" xml:space="preserve">Ferner <lb/>müſſen wir nicht vergeſſen, daß dieſe Berechnungen voraus-<lb/>ſetzen, es ſeien die Umſtände, unter welchen man die Ver-<lb/>brennung vornimmt, für jedes Brennmaterial anders und zwar <lb/>ſo vorteilhaft wie möglich; </s>
  <s xml:id="echoid-s5277" xml:space="preserve">ein Fall, der ſich eben auch nicht <lb/>leicht im gewöhnlichen Leben verwirklicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s5278" xml:space="preserve">Man darf ſich daher
<pb o="116" file="0384" n="384"/>
nicht wundern, wenn die obige Berechnung ergiebt, daß man <lb/>ſo viele Heizkraft in ſo wenigem Brennmaterial beſitzt und <lb/>dennoch über teueres Brennmaterial klagt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5279" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5280" xml:space="preserve">Um indeſſen zu zeigen, wie die Zuſtände bei verſchiedenen <lb/>Brennmaterialien verſchieden ſein müſſen, wollen wir den Blick <lb/>auf die Verwendung des Koks in der häuslichen Wirtſchaft <lb/>richten.</s>
  <s xml:id="echoid-s5281" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div145" type="section" level="1" n="131">
<head xml:id="echoid-head144" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXV. Der Koks wiſſenſchaftlich und wirt-</emph> <lb/><emph style="bf">ſchaftlich.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5282" xml:space="preserve">Bei der Koksheizung ſieht man es ſo recht, wie die <lb/>Praxis des Hauſes eine ganz andere Forderung an die Heizung <lb/>ſtellt als die Theorie, wie die Wirtſchaft anders iſt als die <lb/>Wiſſenſchaft.</s>
  <s xml:id="echoid-s5283" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5284" xml:space="preserve">Wiſſenſchaftlich ſteht es feſt, daß die Heizkraft des Koks <lb/>ſo bedeutend iſt, wie die des Torfes; </s>
  <s xml:id="echoid-s5285" xml:space="preserve">wirtſchaftlich wird dies <lb/>zwar keine Hausfrau in Abrede ſtellen, aber ſie wird den Ein-<lb/>wand erheben, daß die Kokshitze ihr zu jähe, und deshalb <lb/>nur für gewiſſe Fälle brauchbar iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5286" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5287" xml:space="preserve">Und die Hausfrau hat recht.</s>
  <s xml:id="echoid-s5288" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5289" xml:space="preserve">Käme es in der Wirtſchaft auf eine Wette an, wie man <lb/>am ſchnellſten einen Eimer Waſſer zum Kochen bringt, ſo <lb/>würde jede Hausfrau ein brennendes Koksfeuer unbedingt <lb/>einem Torffeuer vorziehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5290" xml:space="preserve">Will man eine große, luftige Stube <lb/>aufs ſchnellſte für einige Stunden durchwärmen, ſo iſt nichts <lb/>beſſer und zuverläſſiger, als ein Koksfeuer im eiſernen Ofen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5291" xml:space="preserve">— Will man aber ein Feuer haben, bei welchem nicht nur das <lb/>Eſſen kocht, ſondern auch ſtundenlang warm bleibt, gilt es <lb/>ein Zimmer in den Morgenſtunden zu heizen, um es bis
<pb o="117" file="0385" n="385"/>
in den Abend hinein warm zu haben, ſo wird man den Torf <lb/>unbedingt vorziehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5292" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5293" xml:space="preserve">Es ſind hier wiederum die Brenneigenſchaften, welche <lb/>dem Koks eine ganz andere Wirkſamkeit anweiſen, als dem <lb/>Torf.</s>
  <s xml:id="echoid-s5294" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5295" xml:space="preserve">Koks brennt nicht einzeln und nicht langſam und nicht <lb/>bei mäßigem Zug. </s>
  <s xml:id="echoid-s5296" xml:space="preserve">Man muß ein helles Holzfeuer bereits <lb/>angebrannt haben, um auf dasſelbe Koks ſchütten zu dürfen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5297" xml:space="preserve">Entzündet ſich an dieſem Feuer der Koks von allen Seiten, <lb/>und iſt hinreichender Luftzug da, um die Verbrennung zu <lb/>unterhalten, ſo brennt er fort; </s>
  <s xml:id="echoid-s5298" xml:space="preserve">iſt das nicht der Fall, ſo geht <lb/>der angebrannte Koks ſofort aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s5299" xml:space="preserve">Der Koks hat die keinem <lb/>der üblichen Heizmaterialien zukommende Eigenſchaft, die <lb/>Wärme ſtark zu leiten. </s>
  <s xml:id="echoid-s5300" xml:space="preserve">Brennt ein Stück Koks auf der einen <lb/>Seite, ſo geht eine ſo bedeutende Portion Wärme durch das <lb/>ganze Stück, daß man es kaum berühren kann; </s>
  <s xml:id="echoid-s5301" xml:space="preserve">bei Holz und <lb/>Torf iſt das nicht der Fall; </s>
  <s xml:id="echoid-s5302" xml:space="preserve">wenn dieſe an der einen Seite <lb/>brennen, können ſie am andern Ende ſehr wohl in der Hand <lb/>gehalten werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5303" xml:space="preserve">Durch dieſe Eigenſchaft des Koks entſteht an <lb/>der Brandſtelle ein Verluſt von Wärme, und wenn nicht der <lb/>Hitzegrad der ganzen Koksmaſſe von vornherein ein ſehr hoher <lb/>iſt, ſo kühlt ſich der Koks durch die Leitungsfähigkeit ſeiner <lb/>Wärme zu ſchnell ab, um fortbrennen zu können. </s>
  <s xml:id="echoid-s5304" xml:space="preserve">Daher rührt <lb/>es denn, daß man ein Koksfeuer nicht unter die Rotglüh-Hitze <lb/>ſinken laſſen darf, wenn man es nicht will ausgehen laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5305" xml:space="preserve"><lb/>Meiſt brennt es mit wahrer Weißglüh-Hitze, und in ſolcher <lb/>vermag es auch eine ungeheure Heizkraft in kurzer Zeit zu ent-<lb/>wickeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s5306" xml:space="preserve">Allein für die Wirtſchaft iſt dies in vielen Fällen <lb/>eher läſtig als angenehm, und man vergißt bei ihm jene <lb/>Mäßigung und Stetigkeit, welche einmal und mit Recht <lb/>den Hantierungen wie den Charakteren der Hausfrauen ent-<lb/>ſprechen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5307" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5308" xml:space="preserve">Die jetzt ſehr übliche Heizung mit Koks geſchieht auch in
<pb o="118" file="0386" n="386"/>
der That aus ganz anderem als wirtſchaftlichem Zweck. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5309" xml:space="preserve">Wenn man eine große Werkſtatt, in welcher die Thüren und <lb/>Fenſter nicht gut geſchloſſen bleiben können, erträglich warm <lb/>halten, wenn man einen Laden, der viel Ein- und Ausgänge <lb/>hat, durchheizen, wenn man in einem ſonſt ungeheizten Zimmer <lb/>für einen Abend eine wohnliche Wärme erzeugen, wenn man <lb/>einem Junggeſellen, der den Tag über nicht zu Hauſe, die <lb/>möblierte Stube für den Abend erträglich machen will, ſo iſt <lb/>ein Koksfeuer im eiſernen Ofen unübertrefflich. </s>
  <s xml:id="echoid-s5310" xml:space="preserve">In der Wirt-<lb/>ſchaft aber, wo es nicht auf ſo plötzliche und augenblickliche <lb/>Wirkungen abgeſehen iſt, und man das Wohnzimmer möglichſt <lb/>durch den ganzen Winter in gleichmäßiger erquicklicher Wärme <lb/>erhalten will, thut der Koks bald zu viel, bald zu wenig.</s>
  <s xml:id="echoid-s5311" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5312" xml:space="preserve">Man hat nun zwar die Koksheizung praktiſcher zu machen <lb/>geſucht durch die Einrichtung der gewöhnlichen Kachelöfen für <lb/>dieſe Feuerung, und es läßt ſich nicht in Abrede ſtellen, <lb/>daß dies zuweilen zweckentſprechend iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s5313" xml:space="preserve">allein es ſind dabei <lb/>beſondere Umſtände, welche die Heizung im allgemeinen er-<lb/>ſchweren.</s>
  <s xml:id="echoid-s5314" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5315" xml:space="preserve">Der Koks nämlich iſt verhältnismäßig das gasloſeſte <lb/>Brennmaterial, das es giebt: </s>
  <s xml:id="echoid-s5316" xml:space="preserve">er brennt alſo mit äußerſt kleiner <lb/>Flamme und glüht gewiſſermaßen nur fort, wenn er, gehörig <lb/>in Brand geſetzt, im engen Raum übereinander liegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5317" xml:space="preserve">Im <lb/>großen Raum erliſcht das Koksfeuer ſchnell. </s>
  <s xml:id="echoid-s5318" xml:space="preserve">Da nun der <lb/>Brenuraum unſerer gewöhnlichen Öfen viel zu groß iſt für <lb/>ſolch enges Feuer, ſo läßt man ſich meiſthin vom Töpfer <lb/>den Brennraum des Stubenofens zur Koksheizung einrichten. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5319" xml:space="preserve">Er verengt nun den Raum dadurch, daß er im Ofenraum eine <lb/>Art Häuschen baut, dem er nach hinten einen Thorweg offen <lb/>läßt, durch welchen die Luft durchſtrömen muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s5320" xml:space="preserve">Heizt man <lb/>dieſen Raum mit Holz vor und thut Koks darauf, ſo brennt <lb/>er an und erhält ſich auch im Brennen, und ſetzt man dies <lb/>durch Auflegen von friſchem Koks fort, ſo erhitzt ſich dabei
<pb o="119" file="0387" n="387"/>
der Kachelofen derart, daß er auch heiß bleibt, wenn der Koks <lb/>ausgegangen iſt, und ſomit hat man freilich eine dauernde <lb/>Ofenwärme.</s>
  <s xml:id="echoid-s5321" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5322" xml:space="preserve">So richtig dies aber auch iſt, ſo ſehr iſt man doch in der <lb/>Praxis davon abgekommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5323" xml:space="preserve">Unſere Öfen nämlich werden mit <lb/>ihren breiten Brennräumen viel zu dickwandig, wenn der <lb/>Töpfer ſein Kokshäuschen noch hineinſetzt; </s>
  <s xml:id="echoid-s5324" xml:space="preserve">es dauert demnach <lb/>äußerſt lange, ehe dieſer kleine Ofen im großen Ofen ſeine <lb/>Hitze durch die verdickten Ofenwände hindurchdringen läßt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5325" xml:space="preserve">Dabei iſt der außerordentlich ſtarke Zug, der erforderlich iſt, <lb/>um den Koks in Brand zu halten, eine Urſache, daß durch <lb/>alle Ritzen der Thüren und Fenſter kalte Luft zuſtrömt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5326" xml:space="preserve">Die <lb/>Hitze im Ofen iſt alſo groß, aber die Stube bekommt lange <lb/>Zeit nichts davon ab, und ehe die Wärme ſich durch die dicken <lb/>Lehm- und Thonwände des Ofens durcharbeitet, um der Stube <lb/>zu gute zu kommen, iſt der halbe Tag in empfindlicher Kälte <lb/>vergangen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5327" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5328" xml:space="preserve">Es ſind demnach, wie geſagt, nur Einzelumſtände, welche <lb/>die Koksheizung in der Wirtſchaft begünſtigen, obgleich er <lb/>wiſſenſchaftlich allen Reſpekt vor ſeiner Heizkraft beanſpruchen <lb/>darf.</s>
  <s xml:id="echoid-s5329" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div146" type="section" level="1" n="132">
<head xml:id="echoid-head145" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXVI. Die Steinkohle.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5330" xml:space="preserve">Wenn die Bedenken gegen die praktiſche Verwertung des <lb/>Koks ſo zahlreich ſind, daß man ihn jetzt nur ſeltener in An-<lb/>wendung ſieht und ſeine Benutzung als Heizmaterial in der <lb/>letzten Zeit eher ab- als zunimmt, ſo hat man dafür gelernt, <lb/>die Steinkohle ſelbſt in die Wirtſchaft einzuführen, und man <lb/>überzeugt ſich leicht, daß der Verbrauch von Steinkohlen für <lb/>den häuslichen Bedarf mit jedem Jahre an Umfang wächſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5331" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="120" file="0388" n="388"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5332" xml:space="preserve">In der That finden wir auch, daß die Übelſtände, welche <lb/>die Koksheizung begleiteten, bei der Steinkohle entweder gar <lb/>nicht oder nur in viel geringerem Grade vorhanden ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s5333" xml:space="preserve">da <lb/>gerade die Fehler des Koks in den Eigenſchaften begründet <lb/>ſind, welche dieſem Brennmaterial durch das Verkoken erteilt <lb/>werden, während alle Vorteile der Koksheizung bei der Be-<lb/>nutzung der Steinkohle dieſelben ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s5334" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5335" xml:space="preserve">Wir hatten erfahren, daß der Mangel an Gaſen ein großer <lb/>Nachteil beim Brennen des Koks iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5336" xml:space="preserve">Daher kam es nämlich, <lb/>daß der Koks nicht mit Flamme brennt, ſondern nur glüht <lb/>und die Erwärmung nur einem kleinen Raume der Ofenwände <lb/>mitteilen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s5337" xml:space="preserve">Die Steinkohle unterſcheidet ſich aber gerade <lb/>dadurch vom Koks, daß in ihr all’ jene Gaſe noch enthalten <lb/>ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s5338" xml:space="preserve">Die Steinkohle brennt daher mit mehr oder minder <lb/>langer Flamme und erhitzt einen größern Raum ganz gut, in <lb/>dem der Koks erlöſchen würde.</s>
  <s xml:id="echoid-s5339" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5340" xml:space="preserve">Ein fernerer Nachteil des Koks lag in ſeiner guten Wärme-<lb/>leitung. </s>
  <s xml:id="echoid-s5341" xml:space="preserve">Der Umſtand, daß ſich die Wärme durch ein Koks-<lb/>ſtück ſchnell verbreitet, hat zur Folge, daß ein ſtarkes Feuer <lb/>zum Entzünden des Koks notwendig und daß auch zum Er-<lb/>halten des Feuers eine ſtarke Glut erforderlich iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5342" xml:space="preserve">Die Stein-<lb/>kohle teilt dieſe Eigenſchaft nicht, ſie leitet die Wärme nicht <lb/>fort und brennt deshalb gut weiter, wenn ſie an einer Seite <lb/>entzündet iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5343" xml:space="preserve">Die Steinkohle brennt auch bei Rotglut weiter; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5344" xml:space="preserve">ja man kann ſogar nur ſchwach glimmende Steinkohlen durch <lb/>ſtarken Zug wieder zum Brennen anfachen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5345" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5346" xml:space="preserve">Die Heizkraft der Steinkohle iſt ferner nach den zahlreichen <lb/>Unterſuchungen von Brix eine ſehr große. </s>
  <s xml:id="echoid-s5347" xml:space="preserve">Freilich zeigten die <lb/>verſchiedenen Sorten der Steinkohlen bedeutende Unterſchiede. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5348" xml:space="preserve">Aber ſelbſt die ſchlechteſten Sorten können noch mit einem <lb/>Pfund 6 Pfund und 12 Lot Waſſer verdampfen und über-<lb/>treffen ſomit an Heizkraft alle Holz- und Torfarten. </s>
  <s xml:id="echoid-s5349" xml:space="preserve">Die <lb/>beſten Sorten von Steinkohle waren ſogar imſtande, pro Pfund
<pb o="121" file="0389" n="389"/>
Brennmaterial 8 Pfund und 27 Lot Waſſer in Dampf zu ver-<lb/>wandeln.</s>
  <s xml:id="echoid-s5350" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5351" xml:space="preserve">Gerade dieſe bedeutende Heizkraft der Steinkohle iſt jedoch, <lb/>wie bereits beim Koks angeführt, für den wirtſchaftlichen Be-<lb/>darf nicht immer ein Vorzug. </s>
  <s xml:id="echoid-s5352" xml:space="preserve">In der Haushaltung kommt <lb/>es nicht darauf an, eine ſehr große Hitze, ſondern eine mitt-<lb/>lere und lang andauernde zu erzielen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5353" xml:space="preserve">Es müſſen demnach <lb/>verſchiedene beſondere Einrichtungen an den Öfen, und Hilfs-<lb/>mittel herbeigezogen werden, um die ſtarke Wärme der brennen-<lb/>den Steinkohlen in eine mäßige und anhaltende zu verwandeln. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5354" xml:space="preserve">Und dies wird auf zwei Wegen erreicht, je nach der Beſchaffen-<lb/>heit des Ofens, in dem die Steinkohle verbrennen ſoll.</s>
  <s xml:id="echoid-s5355" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5356" xml:space="preserve">Bei eiſernen Öfen, auf deren Anwendung wir noch weiter <lb/>eingehen werden, kann man durch ſtarkes Anfeuchten der Kohlen, <lb/>die man friſch aufſchüttet, die Hitze etwas mildern und die <lb/>Verbrennung länger hinziehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5357" xml:space="preserve">Iſt nämlich die Verbrennung <lb/>der Steinkohlen ordentlich in Gang, ſo iſt die Hitze ſo groß <lb/>daß die neu aufgeſchütteten Kohlen bald gleichfalls in Weiß-<lb/>glut geraten, und nicht nur die bedeutende Wärme ſehr ſteigern, <lb/>ſondern auch ſchnell verbrennen würden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5358" xml:space="preserve">Hat man jedoch die <lb/>Steinkohlen vorher tüchtig mit Waſſer begoſſen, ſo wird die <lb/>herrſchende Hitze etwas gemildert, indem nun erſt das Waſſer <lb/>verdampfen muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s5359" xml:space="preserve">Außerdem aber werden die neuen Kohlen <lb/>nicht ſo ſchnell bis zu dem Grade erhitzt, daß ſie brennen, <lb/>vielmehr erfolgt ihre Erwärmung langſamer. </s>
  <s xml:id="echoid-s5360" xml:space="preserve">Die Hitze wird <lb/>alſo durch dieſes Begießen der Kohlen einerſeits gemildert, <lb/>andererſeits aber wird der Verbrennungsvorgang verlangſamt, <lb/>und die Erwärmung der Stubenluft iſt eine länger anhaltende. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5361" xml:space="preserve">Wohl geht hierbei eine Menge von Wärme ganz verloren, <lb/>denn die Wärme, welche das Waſſer verdampft, nützt uns <lb/>nichts, aber die Steinkohlen erzeugen eine ſo große Hitze, daß <lb/>dieſer Verluſt keine Rolle ſpielt gegen den Vorteil, eine gleich-<lb/>mäßigere und anhaltendere Wärme in der Stube zu erhalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s5362" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="122" file="0390" n="390"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5363" xml:space="preserve">Die zweite Art, die ſtarke Glut der Steinkohle in eine <lb/>anhaltende, behagliche Wärme zu verwandeln, beſteht in der <lb/>Anwendung luftdichter Ofenthüren.</s>
  <s xml:id="echoid-s5364" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5365" xml:space="preserve">Indem wir noch ſpäter auf die Bedeutung der luftdichten <lb/>Ofenthüre zurückkommen, wollen wir hier nur ihren Wert <lb/>für die Benutzung der Steinkohlen als Heizmaterial mit einigen <lb/>Worten erwähnen und darthun, wie dieſelbe die Wärme der <lb/>Steinkohlen mildert und aufſpart.</s>
  <s xml:id="echoid-s5366" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5367" xml:space="preserve">Wir wiſſen, daß die Wärme, die ein Brennmaterial er-<lb/>zeugt, herrührt von ſeiner chemiſchen Verbindung mit Sauer-<lb/>ſtoff, der durch den Zug in den Brennraum immer wieder <lb/>friſch zugeführt wird und ſo das Brennen und die Bildung <lb/>der Wärme erhält. </s>
  <s xml:id="echoid-s5368" xml:space="preserve">Wird die Luft abgeſperrt, ſo hört das <lb/>Brennen und die Wärmebildung auf, wenn nicht auf einem <lb/>anderen Wege noch Sauerſtoff zum Brennmaterial gelangen <lb/>kann, was unter Umſtänden wohl möglich iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5369" xml:space="preserve">Es kann näm-<lb/>lich noch Sauerſtoff aus dem Brennmaterial ſelbſt hinzu-<lb/>kommen, und die Verbrennung kann weiter ſtattfinden, wenn <lb/>der Sauerſtoff einen chemiſchen Beſtandteil des brennenden <lb/>Körpers ausmacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s5370" xml:space="preserve">— Dies iſt nun nicht nur beim Holze, <lb/>ſondern auch in den Steinkohlen der Fall, die ſich aus vor-<lb/>weltlichen Pflanzen gebildet haben und daher außer Kohlen-<lb/>ſtoff auch noch Waſſerſtoff und Sauerſtoff enthalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s5371" xml:space="preserve">Sie <lb/>können deshalb mit ihrem eigenen Sauerſtoff die Verbrennung <lb/>ihres Kohlenſtoffes unterhalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s5372" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5373" xml:space="preserve">Damit aber der Sauerſtoff aus der Steinkohle frei wird <lb/>und das Verbrennen des Kohlenſtoffs möglich mache, dazu iſt <lb/>eine ſehr ſtarke Hitze erforderlich. </s>
  <s xml:id="echoid-s5374" xml:space="preserve">Daher kommt es, daß <lb/>Brennmaterialien, die keine hohen Hitzegrade erzeugen, auch <lb/>ihren Sauerſtoff nicht frei und zum Weiterverbrennen ver-<lb/>wendbar machen können, ſie erlöſchen, ſo wie der Zutritt <lb/>friſcher Luft von ihnen abgeſperrt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5375" xml:space="preserve">Die Steinkohlen aber <lb/>erzeugen, wenn ſie ordentlich in Brand geraten, eine ſo ſtarke
<pb o="123" file="0391" n="391"/>
Hitze, daß dieſe ausreicht, den in ihnen enthaltenen Sauerſtoff <lb/>frei zu machen und das weitere Brennen zu unterhalten, <lb/>ſelbſt wenn kein neuer Sauerſtoff von außen zugeführt wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s5376" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5377" xml:space="preserve">Das Verfahren, ſich in Kachelöfen mit Steinkohlen eine <lb/>mäßige und lang anhaltende Wärme zu verſchaffen, iſt daher <lb/>Folgendes.</s>
  <s xml:id="echoid-s5378" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5379" xml:space="preserve">Mit etwas Holz wird ein leichtes Vorfeuer im Ofen an-<lb/>gemacht, durch welches, ähnlich wie der Torf und Koks, die <lb/>Steinkohlen entzündet werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5380" xml:space="preserve">Der Zug muß ein lebhafter <lb/>ſein und der Sauerſtoff in reichlicher Menge zuſtrömen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5381" xml:space="preserve">Bald <lb/>kommen die Steinkohlen in Brand und werden in kurzem <lb/>gleichmäßig weiß glühend. </s>
  <s xml:id="echoid-s5382" xml:space="preserve">Jetzt wird die luftdichte Ofenthür <lb/>geſchloſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5383" xml:space="preserve">Die Verbrennung der Steinkohlen geht nun weiter <lb/>vor ſich, aber nicht ſo lebhaft und nicht ſo ſchnell. </s>
  <s xml:id="echoid-s5384" xml:space="preserve">Die <lb/>Wärme, die erzeugt wird, iſt eine mäßige und wird ſehr lauge <lb/>durch die langſam fortglimmenden Steinkohlen unterhalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s5385" xml:space="preserve">— <lb/>Doch muß man darauf achten, daß man die luftdichte Ofen-<lb/>thür nicht zu früh ſchließe. </s>
  <s xml:id="echoid-s5386" xml:space="preserve">Denn wenn die Kohle noch nicht <lb/>den hohen Hitzegrad erreicht hat, der zum Freimachen des in <lb/>ihr enthaltenen Sauerſtoffes notwendig iſt, ſo kann ſie nicht <lb/>weiter brennen und erliſcht bald.</s>
  <s xml:id="echoid-s5387" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div147" type="section" level="1" n="133">
<head xml:id="echoid-head146" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXVII. Gegen die Steinkohlen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5388" xml:space="preserve">Die Steinkohle, welche nach den Unterſuchungen von Brix <lb/>die größte Heizkraft von allen geprüften Brennſtoffen beſitzt, <lb/>iſt auch ein ſehr billiges Brennmaterial.</s>
  <s xml:id="echoid-s5389" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5390" xml:space="preserve">Sie bietet vor allen andern Brennmaterialien den großen <lb/>Vorteil, daß ſie ſtets gleich trocken iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5391" xml:space="preserve">Während der Waſſer-<lb/>gehalt der Holzarten und des Torfes ſehr verſchieden iſt und <lb/>bald mehr, bald weniger des Gewichtes ausmacht, haben alle
<pb o="124" file="0392" n="392"/>
Steinkohlenſorten nur einen durchſchnittlichen Gehalt von drei <lb/>Prozent Waſſer. </s>
  <s xml:id="echoid-s5392" xml:space="preserve">Von dieſer Seite kann alſo dem Käufer kein <lb/>Nachteil erwachſen, er erhält ſtets reines Brennmaterial.</s>
  <s xml:id="echoid-s5393" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5394" xml:space="preserve">Anders verhalten ſich jedoch die Aſchenbeſtandteile. </s>
  <s xml:id="echoid-s5395" xml:space="preserve">Dieſe <lb/>ſind in den verſchiedenen Steinkohlen ſehr verſchieden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5396" xml:space="preserve">Wäh-<lb/>rend z. </s>
  <s xml:id="echoid-s5397" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s5398" xml:space="preserve">die Steinkohle aus der “Königin-Louiſen-Grube” <lb/>in Oberſchleſien nur 1 {1/2} Prozent Aſche enthält, betragen die <lb/>Aſchenbeſtandteile der Zeche “Glücksburg” bei Ibbenbüren <lb/>12 Prozent. </s>
  <s xml:id="echoid-s5399" xml:space="preserve">In derſelben Tonne der erſteren Kohle kauft <lb/>man ſomit viel mehr Brennmaterial, als in einer Tonne der <lb/>zweiten Sorte. </s>
  <s xml:id="echoid-s5400" xml:space="preserve">Im allgemeinen ſtellt ſich jedoch heraus, daß <lb/>die Steinkohlen, welche mehr Aſche enthalten, auch ſchwerer <lb/>ſind, und da man die Kohlen nicht nach dem Gewicht, ſondern <lb/>nach Tonnen kauft, ſo gleicht dies bedeutendere Gewicht den <lb/>Nachteil des größeren Gehalts an Aſche aus.</s>
  <s xml:id="echoid-s5401" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5402" xml:space="preserve">Berechnet man ferner die Koſten der Steinkohlenheizung <lb/>im Vergleich mit den andern Brennmaterialien, ſo ſtellt ſich <lb/>heraus, daß die Steinkohle gleichfalls zu den billigſten Brenn-<lb/>materialien gehört. </s>
  <s xml:id="echoid-s5403" xml:space="preserve">Wenn wir gleichwohl dieſelbe noch nicht <lb/>ſo allgemein eingeführt ſehen, als die bisher erwähnten Vor-<lb/>züge dieſes Brennſtoffes es erwarten laſſen, ſo hat dies in den <lb/>Nachteilen ſeinen Grund, welche auch an die Anwendung der <lb/>Steinkohlen geknüpft ſind, und die wir nun erwähnen wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5404" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5405" xml:space="preserve">Der Hauptnachteil bei der Benutzung der Steinkohlen be-<lb/>ſteht in dem bereits erwähnten Umſtande, daß man nur durch <lb/>beſondere Einrichtungen eine gleichmäßige, anhaltende Wärme <lb/>erzielen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s5406" xml:space="preserve">Wo der Ofen ſolche Vorrichtungen nicht beſitzt, <lb/>da kann man die Steinkohle nicht anwenden; </s>
  <s xml:id="echoid-s5407" xml:space="preserve">ſie erzeugt eine <lb/>zu ſtarke Hitze und erfordert zu viel Brennmaterial, wenn <lb/>man das Zimmer den ganzen Tag hindurch warm erhalten will.</s>
  <s xml:id="echoid-s5408" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5409" xml:space="preserve">Ein fernerer Übelſtand iſt die große Gefährlichkeit der <lb/>Gaſe, welche die Steinkohle bei der Verbrennung in großen <lb/>Mengen entwickelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5410" xml:space="preserve">Dieſe Gaſe ſind giftig und wirken ſchou
<pb o="125" file="0393" n="393"/>
ſchädlich, wenn ſie auch nur in geringen Mengen ſich der <lb/>Stubenluft beimiſchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5411" xml:space="preserve">Wo Steinkohlen zum Heizen benutzt <lb/>werden, da muß deshalb der Ofen einen ſehr kräftigen Zug haben, <lb/>der all’ die ſchädlichen Gaſe ſicher fortführt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5412" xml:space="preserve">Kann man nun <lb/>nicht durch eine luftdichte Ofenthür die Verbrennung der <lb/>Steinkohlen verlangſamen, ſo braucht man zu viel Kohlen, und <lb/>dies Brennmaterial wird dadurch ſehr verteuert.</s>
  <s xml:id="echoid-s5413" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5414" xml:space="preserve">Die große Hitze endlich, welche die brennenden Steinkohlen <lb/>erzeugen, und die man unter allen Umſtänden erhält, wenn <lb/>die Kohlen ordentlich in Brand geraten, greift auch die Kachel-<lb/>öfen ſehr ſtark an. </s>
  <s xml:id="echoid-s5415" xml:space="preserve">Die Kacheln bekommen leicht Sprünge und <lb/>Riſſe, aus denen dann die ſchädlichen Gaſe entweichen und ſich <lb/>der Stubenluft beimiſchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5416" xml:space="preserve">Man muß deshalb zum Schutze <lb/>der Kacheln im Ofen einen kleinen, von den Kacheln getrennten, <lb/>eiſernen Kaſten anbringen, in dem die Kohlen verbrennen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5417" xml:space="preserve">Die Kacheln erhalten dann nur die Wärme, welche von dieſem <lb/>Kaſten ausgeſtrahlt wird, und werden nicht beſchädigt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5418" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5419" xml:space="preserve">Wir lernen hieraus, daß die Benutzung der Steinkohlen <lb/>eine ganze Reihe eigener Vorrichtungen notwendig macht, die <lb/>man nur ſelten antrifft. </s>
  <s xml:id="echoid-s5420" xml:space="preserve">Und da ohne dieſe Vorrichtungen die <lb/>Steinkohlen teils ein teueres Brennmaterial, teils auch ſehr <lb/>ſchädlich ſind, ſo iſt es vollkommen begreiflich, daß ſie noch <lb/>nicht die andern Brennſtoffe verdrängt haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s5421" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div148" type="section" level="1" n="134">
<head xml:id="echoid-head147" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXVIII. Die Braunkohle.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5422" xml:space="preserve">Obwohl die rohe Braunkohle kein Heizmaterial für das <lb/>Haus geworden iſt, halten wir es doch nicht für überflüſſig, <lb/>hier derſelben zu erwähnen, weil die Braunkohle ein bei uns <lb/>heimiſch gewordenes Produkt iſt, das ja in der Form der <lb/>Briketts jetzt ein Hauptheizprodukt des Städters geworden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5423" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="126" file="0394" n="394"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5424" xml:space="preserve">Die Braunkohle beſteht aus Pflanzen-Überreſten einer vor-<lb/>weltlichen Zeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s5425" xml:space="preserve">Sie iſt jünger als die Steinkohle, und ver-<lb/>rät durch ihr zuweilen ſtellenweis holzartiges Gefüge bei <lb/>weitem mehr als dieſe mit bloßem Auge den Charakter ihres <lb/>Urſprunges. </s>
  <s xml:id="echoid-s5426" xml:space="preserve">Sie enthält aber weniger Kohlenſtoff und durch-<lb/>ſchnittlich bei weitem mehr erdige Teile metalliſcher Natur, <lb/>welche als Aſche zurückbleiben. </s>
  <s xml:id="echoid-s5427" xml:space="preserve">Die chemiſche Unterſuchung er-<lb/>gab bei einigen Sorten, daß der vierte Teil des Gewichts <lb/>Aſche iſt, während bei anderen wiederum ein ſehr günſtiges <lb/>Verhältnis ſtattfindet.</s>
  <s xml:id="echoid-s5428" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5429" xml:space="preserve">Die Braunkohle kommt in größeren und kleineren Stücken <lb/>in den Handel und iſt in dieſer Form leicht verbrennlich. </s>
  <s xml:id="echoid-s5430" xml:space="preserve">Sie <lb/>hat meiſt harzige Beſtandteile in ſich, die es verurſachen, daß <lb/>ſie langflammiger brennt als die Steinkohle und der Torf. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5431" xml:space="preserve">Was indeſſen den Gebrauch der rohen, einheimiſchen Braun-<lb/>kohle ſehr behindert, ſind folgende Umſtände.</s>
  <s xml:id="echoid-s5432" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5433" xml:space="preserve">Vor allem iſt ihr Gefüge loſe, und deshalb entweichen <lb/>aus dem noch nicht brennenden Teil Gaſe, die, wenn ſie ins <lb/>Zimmer dringen, einen höchſt unangenehmen Geruch verbreiten. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5434" xml:space="preserve">Sie bedarf deshalb, wenn ſie erträglich werden ſoll, eines <lb/>ſtarken Luftzuges, um das Rückſtrömen der Gaſe ins Zimmer <lb/>zu verhindern. </s>
  <s xml:id="echoid-s5435" xml:space="preserve">Dieſer Zug iſt nun nicht ſchwierig herzu-<lb/>ſtellen, weit ſchwieriger indeſſen gelingt es, ihn gut zu unter-<lb/>halten. </s>
  <s xml:id="echoid-s5436" xml:space="preserve">Es treffen bei dieſem Brennmaterial eine ganze Reihe <lb/>von Thatſachen zuſammen, welche die Regulierung des Zuges <lb/>hindern.</s>
  <s xml:id="echoid-s5437" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5438" xml:space="preserve">Erſtens iſt die reiche Aſche ſehr ſtörend für den Zug. </s>
  <s xml:id="echoid-s5439" xml:space="preserve">An <lb/>ſich iſt ein ſtark aſchendes Brennmaterial unangenehm; </s>
  <s xml:id="echoid-s5440" xml:space="preserve">wo <lb/>aber die Aſche wie die der Braunkohle nicht gar leicht iſt, <lb/>und alſo nicht mit dem Zuge davongeführt wird, fällt ſie auf <lb/>die Roſte nieder und verſtopft den Zug. </s>
  <s xml:id="echoid-s5441" xml:space="preserve">Dazu kommt zweitens, <lb/>daß die Braunkohle viel Waſſer enthält. </s>
  <s xml:id="echoid-s5442" xml:space="preserve">Die Rauenſche ent-<lb/>hält, wenn ſie noch grubenfeucht iſt, an fünfzig Prozent; </s>
  <s xml:id="echoid-s5443" xml:space="preserve">aber
<pb o="127" file="0395" n="395"/>
ſelbſt wenn ſie abgelagert iſt, ſind in ihr noch an 24 Prozent <lb/>Waſſer enthalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s5444" xml:space="preserve">Dies macht es nun im Verein mit dem <lb/>loſen Gefüge, daß ſie im Erhitzen und Eintrocknen bröckelt und <lb/>leicht in kleine Stücke zerfällt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5445" xml:space="preserve">Dieſe Stücke bleiben zwiſchen <lb/>den Roſtſtäben ſtecken oder fallen brennend in den Aſchenraum. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5446" xml:space="preserve">Im erſteren Falle helfen ſie die Roſte verſtopfen, im letzteren <lb/>tragen ſie zu dem üblen Geruch im Zimmer bei. </s>
  <s xml:id="echoid-s5447" xml:space="preserve">— Rechnet <lb/>man hierzu noch den Umſtand, daß ſie leicht zerreiblich ſind, <lb/>und deshalb beim Abladen wie im Keller ſtark ſtauben, ſo <lb/>läßt ſichs erklären, daß trotz der Wohlfeilheit dieſes Brenn-<lb/>materials deſſen Benutzung für das Haus nicht Eingang findet.</s>
  <s xml:id="echoid-s5448" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5449" xml:space="preserve">Das ſtarke Stauben dieſer Kohle hat vor Jahrzehnten <lb/>auf den Gedanken geführt, ein künſtliches Verbinden dieſer <lb/>Staubteile herzuſtellen, und ſomit dieſelben in Form von Torf <lb/>zu preſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5450" xml:space="preserve">Dieſes Verbinden iſt gelungen, und man er-<lb/>hält jetzt gut geformte Staubkohle, die in großen geräumigen <lb/>Öfen wohl mit Vorteil verbraucht werden kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s5451" xml:space="preserve">Indeſſen <lb/>iſt trotz der Billigkeit derſelben auch dies Material noch <lb/>nicht gebräuchlich, und unſeres Erachtens deshalb, weil die <lb/>üblichen Stubenöfen für dieſe Heizung nicht eingerichtet ſind, <lb/>zumal ſie für die Heizung von der Stube aus manche Unan-<lb/>nehmlichkeiten bieten, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s5452" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s5453" xml:space="preserve">das Stauben und den leicht <lb/>zurückſchlagenden Geruch.</s>
  <s xml:id="echoid-s5454" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5455" xml:space="preserve">Rechnet man Aſche und Waſſergehalt der Braunkohle ab, <lb/>ſo ergiebt ein Pfund der brennbaren Teile eine Heizkraft, <lb/>welche die des Torfes noch übertrifft, denn es vermag dasſelbe <lb/>ſechs Pfund Waſſer zu verdampfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5456" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5457" xml:space="preserve">Heutzutage wird die Braunkohle bei uns in Norddeutſch-<lb/>land in beſonders zubereiteter Form, nämlich in derjenigen des <lb/>jetzt allbekannten Briketts ganz allgemein fürs Haus in Ver-<lb/>wendung gebracht.</s>
  <s xml:id="echoid-s5458" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5459" xml:space="preserve">Der hohe Waſſergehalt iſt ein Haupthindernis für die <lb/>direkte Verwertung der Braunkohle, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s5460" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s5461" xml:space="preserve">des Senftenberger
<pb o="128" file="0396" n="396"/>
Reviers, das Berlin reichlich mit Briketts verſorgt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5462" xml:space="preserve">Die <lb/>Kohle wird daher in Pulverform getrocknet und dann unter <lb/>hohem Druck in beſtimmte Formen gepreßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5463" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5464" xml:space="preserve">Im erwähnten Senftenberger Revier z. </s>
  <s xml:id="echoid-s5465" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s5466" xml:space="preserve">iſt das Ver-<lb/>fahren das Folgende.</s>
  <s xml:id="echoid-s5467" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5468" xml:space="preserve">Die Braunkohle, welche in der Grube ſtückweiſe abgehauen <lb/>und in Förderwagen geladen wird, wird mittelſt einer Förder-<lb/>kette in die Brikettfabrik transportiert, dort kommt die Kohle <lb/>zunächſt in das Sortierhaus, wo dieſelbe zerkleinert und geſiebt <lb/>wird, alle Kohlenholzteile (die für die Brikettierung nämlich <lb/>unverwertbar ſind) werden durch die Schüttelſiebe ſoviel als <lb/>möglich ausgeſchieden und nach den Keſſelfeuerungen als <lb/>Heizmaterial transportiert, während die ſortierte Kohle, welche <lb/>auf eine Korngröße von 12 bis 15 mm gebracht worden iſt, <lb/>mittelſt Elevator auf den Kohlenboden, welcher oberhalb der <lb/>Trockenöfen liegt, transportiert wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s5469" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5470" xml:space="preserve">Vom Kohlenboden aus wird die Kohle den Trockenöfen <lb/>durch eine mechaniſche Vorrichtung zugeführt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5471" xml:space="preserve">Die Trocken-<lb/>öfen, ſogenannte Dampftelleröfen, beſtehen aus ſchmiedeeiſernen, <lb/>hohlen Tellern, welche auf der oberen Tellerfläche ein Rühr-<lb/>werk tragen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5472" xml:space="preserve">Dem Hohlraum der Teller wird durch ver-<lb/>ſchiedene Rohrſyſteme der Auspuffdampf ſämtlicher Maſchinen <lb/>zugeführt, welcher hier beide Tellerplatten erwärmt und die <lb/>auf den oberen Tellerplatten durch das Rührwerk bewegten <lb/>Kohlen trocknet. </s>
  <s xml:id="echoid-s5473" xml:space="preserve">Außerdem beſitzt der Tellerofen eine Vor-<lb/>richtung, auf welcher die halbtrockene Kohle geſiebt, gewalzt <lb/>und von allem Unrat befreit wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s5474" xml:space="preserve">Die Kohle beſitzt im <lb/>grubenfeuchten Zuſtande einen Waſſergehalt von nicht weniger <lb/>als 58 bis 62 Prozent, mit dieſem Waſſergehalt kommt die <lb/>Kohle in die Öfen und wird hier bis zu einem Waſſergehalt <lb/>von 14 bis 16 Prozent getrocknet. </s>
  <s xml:id="echoid-s5475" xml:space="preserve">Nachdem die Kohle den <lb/>unterſten Teller der Trockenöfen paſſiert hat, wird dieſelbe <lb/>mittelſt “Schnecke” nach einem Miſchraum, genannt Sammel-
<pb o="129" file="0397" n="397"/>
raum, transportiert, von da aus gelangt ſie in die Preſſen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5476" xml:space="preserve">Hier wird die Kohle durch eine Verteilungswalze der Preſſe <lb/>gleichzeitig zugeführt, ſodaß ein beſtimmtes Quantum trockene <lb/>Kohle bei der Rückwärtsbewegung des Preſſenſtempels vor <lb/>dieſen fällt und bei der Vorwärtsbewegung in eine Form ge-<lb/>drückt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s5477" xml:space="preserve">Da die Brikettpreſſe eine offene Form beſitzt, in <lb/>welcher die Reibung zwiſchen den in der Form befindlichen <lb/>fertigen Briketts und den Wandlungen der Form den Wider-<lb/>ſtand für den zur Preſſung nötigen Druck bildet, kann die <lb/>Preſſe kontinuierlich arbeiten, ſodaß auf jede Umdrehung der <lb/>die Preſſe treibenden Dampfmaſchinenwelle, deren Rotation <lb/>durch direkte Verbindung die hin- und hergehende Bewegung <lb/>des Preſſenſtempels hervorbringt, ein Brikett fertig wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s5478" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5479" xml:space="preserve">Die hierdurch aus der Preſſenform hinter einander heraus-<lb/>kommenden Briketts werden in eiſernen Rinnen von der Preſſe <lb/>ſelbſt bis nach der Verladeſtelle gedrückt und dort in Eiſen-<lb/>bahnwaggons verladen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5480" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5481" xml:space="preserve">Das Preſſen der Briketts geſchieht mit einem Druck von <lb/>ca. </s>
  <s xml:id="echoid-s5482" xml:space="preserve">1600 bis 1800 Atmoſphären. </s>
  <s xml:id="echoid-s5483" xml:space="preserve">Die Preſſenform, welche <lb/>durch die große Reibung ſtark erwärmt wird, muß durch Zu-<lb/>führung von kaltem Waſſer gekühlt werden, damit die Tem-<lb/>peratur der Form 90°C. </s>
  <s xml:id="echoid-s5484" xml:space="preserve">nicht überſteigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5485" xml:space="preserve">Die Temperatur <lb/>der Kohle vor dem Eintritt in die Preſſe beträgt 36°C.</s>
  <s xml:id="echoid-s5486" xml:space="preserve">, die <lb/>innere Wärme der fertigen Briketts am Ausgang der Form <lb/>56°C. </s>
  <s xml:id="echoid-s5487" xml:space="preserve">Die das Preſſenmundſtück mit der Verladeſtelle ver-<lb/>bindenden, eiſernen Rinnen bezwecken eine ſchnelle Abkühlung <lb/>der Briketts, da bei ſehr heiß verladenen Briketts leicht Ent-<lb/>zündungen eintreten.</s>
  <s xml:id="echoid-s5488" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5489" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s5490" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s5491" xml:space="preserve">Volksbücher XIV.</s>
  <s xml:id="echoid-s5492" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="130" file="0398" n="398"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div149" type="section" level="1" n="135">
<head xml:id="echoid-head148" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXIX. Die Heizung und die Geſundheit.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5493" xml:space="preserve">Nachdem wir nunmehr die üblichen Brennmaterialien in <lb/>ihrem Heizwert kennen gelernt haben, wollen wir einige Ver-<lb/>ſchiedenheiten näher erwägen, welche bei dem Gebrauch der-<lb/>ſelben beſtimmend einwirken; </s>
  <s xml:id="echoid-s5494" xml:space="preserve">hierbei aber wollen wir vor <lb/>allem den weſentlichen Zweck der Heizung mit ein paar <lb/>Worten beleuchten, um dann auf die verſchiedenen Arten, wie <lb/>man dieſen Zweck billig und angemeſſen erreichen kann, näher <lb/>eingehen zu können.</s>
  <s xml:id="echoid-s5495" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5496" xml:space="preserve">Der weſentlichſte Zweck des Heizens iſt die Erhaltung <lb/>unſerer Geſundheit; </s>
  <s xml:id="echoid-s5497" xml:space="preserve">in dieſem Punkte aber herrſchen dennoch <lb/>Verſchiedenheiten, die wir nicht unerwähnt laſſen dürfen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5498" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5499" xml:space="preserve">Der Hauptzweck iſt zwar ſtets ein und derſelbe, nämlich <lb/>der: </s>
  <s xml:id="echoid-s5500" xml:space="preserve">die Leibeswärme nicht in ſtärkerem Maße fortſtrömen zu <lb/>laſſen, als ſie ſich naturgemäß erzeugt; </s>
  <s xml:id="echoid-s5501" xml:space="preserve">aber obwohl alle <lb/>Menſchen innerlich eine ſtets gleiche Leibeswärme haben und <lb/>im Winter in ganz gleichem Maße empfindlich dagegen ſind, <lb/>wenn ſie frieren, das heißt, wenn die umgebende Luft ſo kalt <lb/>iſt, daß ſich ihr von der Leibeswärme zu viel mitteilt, ſo ſind <lb/>die Umſtände, unter welchen ſie dieſem Übelſtand abzuhelfen <lb/>haben, doch ſehr verſchieden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5502" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5503" xml:space="preserve">Unſer Blut iſt ſiebenunddreißig Grad warm und verträgt <lb/>weder einen höheren noch einen niedrigeren Grad der Er-<lb/>wärmung. </s>
  <s xml:id="echoid-s5504" xml:space="preserve">Man ſollte nun meinen, daß man in einem Zimmer <lb/>von 37 Grad Wärme ſich ſo recht behaglich fühlen müßte; </s>
  <s xml:id="echoid-s5505" xml:space="preserve">dem <lb/>iſt jedoch nicht ſo. </s>
  <s xml:id="echoid-s5506" xml:space="preserve">Wir ſind einmal ſo eingerichtet, daß wir <lb/>eine tüchtige Portion Wärme verlieren müſſen, wenn wir uns <lb/>behaglich fühlen ſollen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5507" xml:space="preserve">In einem Zimmer, wo 37 Grad <lb/>Wärme herrſchen, würden wir gewiſſermaßen in der eigenen <lb/>Wärme umkommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5508" xml:space="preserve">Die durch Stoffumſatz und Bewegung <lb/>ſich ſtets erzeugende innere Wärme würde uns vernichten,
<pb o="131" file="0399" n="399"/>
wenn unſer Leib nicht die merkwürdige Einrichtung hätte, daß <lb/>er alle übrige Wärme zur Abſonderung des Schweißes ver-<lb/>wendet und ſich dadurch wieder abkühlt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5509" xml:space="preserve">— Wir fühlen uns <lb/>in der That nur in ſolchem Zimmer behaglich, wo die Luft <lb/>bedeutend kälter iſt als unſer Leib, und wo wir alſo derſelben <lb/>eine Portion Wärme abgeben.</s>
  <s xml:id="echoid-s5510" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5511" xml:space="preserve">Durch Erfahrung hat man gelernt, daß ein geſunder Menſch <lb/>ſich am wohlſten fühlt bei einer Luftwärme von 18—20 Grad <lb/>Celſius, und hieraus hat man das Recht zu ſchließen, daß <lb/>unter gewöhnlichen Verhältniſſen im geſunden Körper gerade <lb/>in jeder Minute ſo viel Wärme erzeugt wird, als er der Luft <lb/>von neunzehn Grad in jeder Minute abgiebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5512" xml:space="preserve">— Wer in einem <lb/>Zimmer von neunzehn Grad Wärme fröſtelt, der iſt entweder <lb/>krank, oder er verſetzt ſich augenblicklich durch Unthätigkeit und <lb/>Trägheit in einen krankhaften Zuſtand; </s>
  <s xml:id="echoid-s5513" xml:space="preserve">im letzteren Falle be-<lb/>darf es nur einiger Leibesbewegung, einer leichten Thätigkeit, <lb/>um das richtige Gleichgewicht herzuſtellen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5514" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5515" xml:space="preserve">Familienväter haben daher die Pflicht, darauf zu achten, <lb/>daß die Zimmer und namentlich die der Kinder, nie wärmer <lb/>ſind als neunzehn Grad Celſius; </s>
  <s xml:id="echoid-s5516" xml:space="preserve">wer den Kindern wohl zu thun <lb/>glaubt, wenn er es ihnen recht warm macht, ſtimmt nur dadurch <lb/>ihre natürliche, innere Thätigkeit herab und macht ſie träge und <lb/>ſchläfrig. </s>
  <s xml:id="echoid-s5517" xml:space="preserve">Ein paar Grad weniger Wärme im Zimmer erhält <lb/>ſie dagegen rege und munter und fördert ſomit ihre geiſtige und <lb/>körperliche Geſundheit.</s>
  <s xml:id="echoid-s5518" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5519" xml:space="preserve">Anders ſchon iſt es bei bejahrten Menſchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5520" xml:space="preserve">Im Alter <lb/>produziert man naturgemäß nicht ſo viel Wärme als man bei <lb/>neunzehn Grad Luftwärme verliert. </s>
  <s xml:id="echoid-s5521" xml:space="preserve">Alte Menſchen fröſteln <lb/>daher bei ſolcher Wärme des Zimmers und fühlen ſich nur in <lb/>ſtärkerer Kleidung behaglich, welche die Leibeswärme nicht <lb/>fortſtrömen läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5522" xml:space="preserve">Aber auch dieſe ſollten niemals ein wärmeres <lb/>Zimmer wünſchen als von ein- oder zweiundzwanzig Grad; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5523" xml:space="preserve">denn eine höhere Luftwärme erzeugt eine zu hohe Trockenheit
<pb o="132" file="0400" n="400"/>
der Luft und entzieht dem Blute beim Ausatmen zu viel <lb/>Feuchtigkeit, weshalb wir auch im heißen Zimmer ſtärkeren <lb/>Durſt als im kühlen haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s5524" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5525" xml:space="preserve">Ein Gleiches gilt von ſolchen Perſonen, welche ein leichtes <lb/>Lungenleiden haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s5526" xml:space="preserve">Sie empfinden in mäßiger Wärme ein <lb/>Fröſteln, weil ſie infolge ihres Leidens nicht die volle Portion <lb/>Wärme erzeugen können, welche ſie bei neunzehn Grad Luft-<lb/>wärme verlieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s5527" xml:space="preserve">Sie glauben ſich Wohlbehagen zu bereiten, <lb/>wenn ſie ihr Zimmer zu höherem Grade erwärmen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5528" xml:space="preserve">allein die <lb/>Trockenheit der Luft, die ſie dadurch hervorrufen, iſt ihnen <lb/>ſchädlich; </s>
  <s xml:id="echoid-s5529" xml:space="preserve">ihre Lunge wird dadurch beim Ausatmen, woſelbſt die <lb/>Luft ſich mit Feuchtigkeit aus dem Blut ſättigt, beſonders an-<lb/>gegriffen, und kann weſentliche Übel zur Folge haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s5530" xml:space="preserve">Ein <lb/>wärmeres Kleidungsſtück iſt ihnen zuträglicher als ein wärmeres <lb/>Zimmer.</s>
  <s xml:id="echoid-s5531" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5532" xml:space="preserve">Junge Mädchen erzeugen, auch wenn ſie ſich mit Hand-<lb/>arbeiten beſchäftigen, die ihnen wenig Leibesbewegung ge-<lb/>währen, mehr Wärme, als ſie bei neunzehn Grad im Zimmer <lb/>verlieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s5533" xml:space="preserve">Man darf es ihnen deshalb nicht als Sonderbarkeit, <lb/>Eitelkeit oder Laune auslegen, wenn es ihnen zu heiß iſt, wo <lb/>ältere Perſonen ein Fröſteln emfinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5534" xml:space="preserve">Sie befinden ſich <lb/>wohler in einem weit mäßigeren Grad der äußeren Wärme, <lb/>und man erzeugt ihnen mehr Wohlbehagen, wenn man ſie zur <lb/>Leibesbewegung anregt, als wenn man ihnen ein zu warmes <lb/>Zimmer bereitet.</s>
  <s xml:id="echoid-s5535" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5536" xml:space="preserve">Im mittleren Lebensalter richtet ſich das Wohlbehagen <lb/>der Zimmerwärme außerordentlich nach der Beſchäftigung. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5537" xml:space="preserve">Wer am Schreibtiſch ſitzen muß, dem brennt bei neunzehn Grad <lb/>Zimmerwärme oft der Kopf, während ihm die Füße frieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s5538" xml:space="preserve"><lb/>Wer dagegen ſeinen Körper rüſtig bei der Arbeit regt und be-<lb/>wegt, kann ein bei weitem kälteres Zimmer vertragen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5539" xml:space="preserve">Daher <lb/>muß ein Beamtenzimmer ſtärker geheizt ſein als eine Werkſtatt, <lb/>und unter den Werkſtätten diejenige an meiſten, welche am
<pb o="133" file="0401" n="401"/>
wenigſten Leibesbewegung geſtattet. </s>
  <s xml:id="echoid-s5540" xml:space="preserve">In der That würde der <lb/>Schmied noch ſtärker frieren als der Schneider, wenn er wie <lb/>dieſer genötigt wäre, in gekrümmter Stellung, die den Atem <lb/>beengt, und mit untergeſchlagenen Beinen, wodurch der Blut-<lb/>lauf behindert wird, ſeine Arbeit zu verrichten.</s>
  <s xml:id="echoid-s5541" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5542" xml:space="preserve">Durchſchnittlich alſo ſoll man die Heizung nicht viel über <lb/>neunzehn Grad Zimmerwärme treiben; </s>
  <s xml:id="echoid-s5543" xml:space="preserve">in Rückſicht jedoch auf <lb/>die verſchiedenen Beſchäftigungen können wir die Grenzen der <lb/>Heizungswärme zwiſchen 15 und 22 Grad Celſius als die ange-<lb/>meſſenſten bezeichnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5544" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div150" type="section" level="1" n="136">
<head xml:id="echoid-head149" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXX. Die Nebenumſtände der Erwärmung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5545" xml:space="preserve">Iſt im allgemeinen eine nur mäßige Zimmerwärme rat-<lb/>ſam, ſo iſt es am beſten, dieſe nicht vom Ofen allein ab-<lb/>hängig zn machen, ſondern auch die Nebenbedingungen zu er-<lb/>füllen, die zur Erhaltung der Zimmerwärme notwendig ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s5546" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5547" xml:space="preserve">Leider ſind gerade die Wohnungen unſerer ärmeren <lb/>Klaſſen nicht nur in Bezug auf die Heizung unvorteilhaft, <lb/>ſondern auch in Bezug auf die Nebenumſtände, welche die <lb/>Zimmerwärme bedingen, außerordentlich ſchlecht verſorgt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5548" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5549" xml:space="preserve">Die Öfen der kleineren Wohnungen ſind meiſt viel weniger <lb/>ſparſam eingerichtet, als die der beſſeren Etagen des Hauſes. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5550" xml:space="preserve">Wenn in dieſen teueren Wohnungen gute, weiße Porzellan-<lb/>Öfen ſtehen, die mit vorteilhaften Zügen verſehen ſind, ſo findet <lb/>man nicht ſelten im dritten Stock den grauen oder ſchwarzen <lb/>Kachelofen von äußerſt ſchlechtem Bau, der der Heizung un-<lb/>vorteilhaft iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5551" xml:space="preserve">Bedenkt man, daß der dritte Stock dem obern <lb/>Ausgang der Schornſteine nahe liegt, daß demnach für einen <lb/>Ofen in dieſem Stockwerk die vorteilhafte Höhe des Schorn-<lb/>ſteins gar nicht mehr exiſtiert, ſo iſt ſchon dieſer gar nicht ab-
<pb o="134" file="0402" n="402"/>
zuwendende Übelſtand ſehr zu beklagen, da er gerade die Klaſſe <lb/>unſerer Mitbürger trifft, die hauptſächlich auf Sparſamkeit an-<lb/>gewieſen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5552" xml:space="preserve">Kommt hierzu noch die Vernachläſſigung dieſer <lb/>Wohnungen ſeitens der Wirte, ſo ſteigern ſich die Übelſtände <lb/>in ſehr bedeutendem und beklagenswertem Maße.</s>
  <s xml:id="echoid-s5553" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5554" xml:space="preserve">Es gehört zu den ſehr gewöhnlichen Einrichtungen, daß <lb/>die untern Stockwerke mit Doppelfenſtern verſehen ſind, daß die <lb/>Haupteingänge vom kalten Flur her Doppelthüren haben, und <lb/>gerade die Wohnungen der ärmeren Klaſſen, die am ſpar-<lb/>ſamſten und vorteilhafteſten hergerichtet ſein ſollten, müſſen <lb/>dieſe Vorteile entbehren! Ja, die Wände, die Stubendecken <lb/>der oberen Stockwerke werden bei weitem leichter gebaut, als <lb/>die der untern und tragen im Winter außerordentlich viel zur <lb/>ſchnellen Abkühlung der Zimmer bei. </s>
  <s xml:id="echoid-s5555" xml:space="preserve">Hat noch gar der Wind <lb/>zu den Dachluken freien Zutritt, ſo haben die Wohnungen, <lb/>die dem Hausboden nahe ſind, noch vom Zuge ſo viel zu <lb/>leiden, daß eine billige Erwärmung derſelben zu den unaus-<lb/>führbarſten Dingen gehört.</s>
  <s xml:id="echoid-s5556" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5557" xml:space="preserve">Wenn wir nun in den folgenden Abſchnitten gerade die <lb/>kleineren Wohnungen und deren vorteilhafte Erwärmung zum <lb/>Gegenſtand unſerer Betrachtung machen wollen, ſo müſſen wir <lb/>vor allem auf dieſe Nebenumſtände, welche die Erwärmung er-<lb/>ſchweren, vorerſt unſern Blick richten, und hier, ſo weit es <lb/>geht, mit praktiſchen Vorſchlägen zur Hand ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s5558" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5559" xml:space="preserve">Wer an der Heizung ſparen will, darf einige Ausgaben <lb/>und häusliche Arbeiten beim Herannahen des Winters nicht <lb/>ſcheuen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5560" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5561" xml:space="preserve">Kann jemand durch einen kleinen Zuſchlag zur Jahres-<lb/>miete den Wirt zur Herſtellung von Doppelfenſtern und Doppel-<lb/>thüren bewegen, ſo wird er ſehr wohl daran thun. </s>
  <s xml:id="echoid-s5562" xml:space="preserve">Es iſt <lb/>keine Verſchwendung, wenn man dem Wirt etwas mehr <lb/>Miete für jedes herzuſtellende Doppelfenſter und jede Doppel-<lb/>thür giebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5563" xml:space="preserve">Man erſpart dies ganz gut am Ofen und bringt
<pb o="135" file="0403" n="403"/>
nur damit ſeinem Wohlbehagen und ſeiner Geſundheit ein <lb/>leichtes Opfer. </s>
  <s xml:id="echoid-s5564" xml:space="preserve">— Auch der Hauswirt fährt dabei nicht ſchlecht <lb/>und erhält für ſeine Kapital-Auslage einen Zuſchlag als Zins, <lb/>der durchaus beträchtlich iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5565" xml:space="preserve">Er erfüllt, wenn er hierauf ein-<lb/>geht, nicht nur eine Pflicht gegen den ärmern Mieter, die er dem <lb/>reichen nicht verſagt, ſondern er verbeſſert dadurch ſein Grund-<lb/>ſtück; </s>
  <s xml:id="echoid-s5566" xml:space="preserve">denn es iſt eine bekannte Thatſache, daß ein Doppel-<lb/>fenſter weniger Reparaturen erfordert, als zwei einfache Fenſter.</s>
  <s xml:id="echoid-s5567" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5568" xml:space="preserve">Ein Doppelfenſter hat nämlich, wenn es gut gebaut iſt, <lb/>den für Mieter und Wirt ſehr hoch anzuſchlagenden Vorzug, <lb/>daß die Fenſter im Winter nicht zufrieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s5569" xml:space="preserve">Denn wenn die <lb/>Innenfenſter feſt zu ſind, dringt die Feuchtigkeit der Stube <lb/>nicht hinaus zu den Außenfenſtern. </s>
  <s xml:id="echoid-s5570" xml:space="preserve">Sie belaufen nicht und <lb/>frieren alſo nicht zu. </s>
  <s xml:id="echoid-s5571" xml:space="preserve">— Schließen hierzu noch die Außenfenſter <lb/>gut, ſo bleiben die feuchten Innenfenſter vor zu ſtarker Ab-<lb/>kühlung durch die Straßenluft geſchützt und frieren gleichfalls <lb/>nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s5572" xml:space="preserve">Ein zugefrorenes Fenſter iſt aber für Mieter und Wirt <lb/>eine Plage. </s>
  <s xml:id="echoid-s5573" xml:space="preserve">Der Mieter verliert nicht nur eine ſtarke Portion <lb/>von Stubenwärme während des Frierens, ſondern auch alltäg-<lb/>lich während des Auftauens der Fenſter. </s>
  <s xml:id="echoid-s5574" xml:space="preserve">Es iſt für den-<lb/>jenigen, der nicht die wiſſenſchaftliche Unterſuchung hierüber <lb/>kennt, rein unglaublich, was ein einziges gefrorenes Fenſter für <lb/>Wärme verſchluckt, wenn es auftaut. </s>
  <s xml:id="echoid-s5575" xml:space="preserve">Wer ſich hiervon einen un-<lb/>gefähren Begriff machen will, der braucht nur ein Glas mit <lb/>Schnee und Eis und ein zweites Glas mit eiskaltem Waſſer <lb/>in die Ofenröhre zu ſetzen, und er wird ſehen, daß das eis-<lb/>kalte Waſſer brühend heiß geworden iſt, bevor Eis und Schnee <lb/>im anderen Glaſe geſchmolzen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s5576" xml:space="preserve">Dies wird ihn belehren, <lb/>wie gefrorenes Waſſer, wenn es ſchmilzt, ſo viel Wärme ver-<lb/>ſchluckt, daß man damit eine gleiche Maſſe eiskaltes Waſſer <lb/>brühend heiß machen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s5577" xml:space="preserve">Das Schmelzen der gefrorenen <lb/>Fenſter nimmt eine gewaltige Portion Wärme täglich in An-<lb/>ſpruch und koſtet den Winter über manchen Thaler an Heizung.</s>
  <s xml:id="echoid-s5578" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="136" file="0404" n="404"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5579" xml:space="preserve">Aber auch der Wirt gewinnt am Doppelfenſter. </s>
  <s xml:id="echoid-s5580" xml:space="preserve">Am ein-<lb/>fachen Fenſter richten auf der einen Seite die Stubenwärme <lb/>und Feuchtigkeit und auf der andern Seite die Winterkälte <lb/>und Trockenheit des Froſtes ganz entgegengeſetzte, zerſtörende <lb/>Wirkungen aus und verurſachen eine ſehr ſchnelle Verwitterung <lb/>desſelben, die bald eine gründliche Reparatur nötig machen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5581" xml:space="preserve">Ein Doppelfenſter iſt ſolchem Übel nicht ausgeſetzt; </s>
  <s xml:id="echoid-s5582" xml:space="preserve">es iſt jedes <lb/>der Fenſter mehr einer gleichmäßigen Witterung unterworfen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5583" xml:space="preserve"><lb/>bei Doppelfenſtern ſchützt eines das andere, und jedes von <lb/>ihnen hält länger vor. </s>
  <s xml:id="echoid-s5584" xml:space="preserve">Rechnet man hierzu aber noch die <lb/>Feuchtigkeit der tauenden Fenſter, welche Fenſterrahmen, <lb/>Fenſterbretter, Mauerwerk und Fußboden mit der Zeit ruiniert, <lb/>ſo handelt der Wirt gegen ſich ſelber, wenn er ein ſo gutes <lb/>Anerbieten ſeines Mieters, wie wir es vorgeſchlagen, zurückweiſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5585" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div151" type="section" level="1" n="137">
<head xml:id="echoid-head150" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXI. Wände, Stubendecke und Schornſtein-</emph> <lb/><emph style="bf">Öffnung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5586" xml:space="preserve">Ein außerordentlich ſtarker Verluſt an Wärme findet in <lb/>den Wohnungen der Ärmeren ſtets durch Wände und Stuben-<lb/>decke ſtatt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5587" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5588" xml:space="preserve">Ziegel und Lehm ſind zwar an ſich ſchlechte Leiter der <lb/>Wärme, und ſomit würden ſelbſt die dünnen Wände, wie ſie <lb/>jetzt meiſt in dem dritten Stock gebaut werden, hinreichend die <lb/>Zimmerwärme zuſammenhalten; </s>
  <s xml:id="echoid-s5589" xml:space="preserve">allein hierzu iſt eine Haupt-<lb/>bedingung nötig, nämlich daß die Wände vollkommen trocken <lb/>ſind, was eben bei ihnen weder von innen noch von außen der <lb/>Fall iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5590" xml:space="preserve">Lehm ſowohl wie Ziegelſteine ſchlechter Sorte ziehen <lb/>Waſſer aus der Luft an, ſelbſt wenn ſie gut ausgetrocknet ſind. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5591" xml:space="preserve">Dies geſchieht bei dünnen Wänden ſowohl von innen wie von <lb/>außen, und dieſe Feuchtigkeit, auf die man ſonſt wenig Rück-
<pb o="137" file="0405" n="405"/>
ſicht nimmt, iſt der Grund, daß ſich die Wärme ſchneller durch <lb/>Wände mitteilt, als es ſein darf.</s>
  <s xml:id="echoid-s5592" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5593" xml:space="preserve">Den ſchwerſten Verluſt erleidet aber eine hoch unter dem <lb/>Boden gelegene Wohnung an Wärme dadurch, daß die heiße <lb/>Luft jedes Zimmers ſtets in die Höhe nach der Decke ſteigt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5594" xml:space="preserve">Iſt nun die Stubendecke leicht gebaut, ſo zieht ein ſehr be-<lb/>trächtlicher Teil der Wärme hindurch nach dem unter dem <lb/>Stein- oder Zinkdach liegenden Bodenraum, der um ein be-<lb/>deutendes kälter iſt als jeder ſonſt ungeheizte Raum.</s>
  <s xml:id="echoid-s5595" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5596" xml:space="preserve">Zwar kommt aus gleichem Grunde den höher gelegenen <lb/>Wohnungen etwas von der Wärme zu gute, die in den Zimmern <lb/>der unter ihnen liegenden Wohnungen herrſcht; </s>
  <s xml:id="echoid-s5597" xml:space="preserve">denn auch hier <lb/>durchheizt ſich die Stubendecke und dringt Wärme durch den <lb/>Fußboden; </s>
  <s xml:id="echoid-s5598" xml:space="preserve">allein der Gewinn iſt nur gering, weil man ſchon <lb/>des Schallens halben die Stubendecke der untern Stockwerke <lb/>feſter baut, damit die dortigen Mieter nicht jeden Schritt und <lb/>Tritt des über ihnen Wohnenden hören. </s>
  <s xml:id="echoid-s5599" xml:space="preserve">Unter dem Boden-<lb/>raum aber, der unbewohnt iſt, läßt man dieſe Rückſicht auf <lb/>das Schallen anßer acht, und ſomit hat man in hochgelegenen <lb/>Wohnungen eine viel ſchlechtere Stubendecke über ſich als <lb/>unter ſich.</s>
  <s xml:id="echoid-s5600" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5601" xml:space="preserve">Übelſtänden dieſer Art läßt ſich nicht ganz ſo leicht ab-<lb/>helfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5602" xml:space="preserve">An ſich iſt es zwar eine Ungerechtigkeit der Hauswirte, <lb/>wenn ſie gerade auf die Wohnung des ärmeren weniger Rückſicht <lb/>nehmen als auf die des reicheren Mieters. </s>
  <s xml:id="echoid-s5603" xml:space="preserve">In Berlin wenigſtens <lb/>iſt es eine bekannte Thatſache, daß die kleinen Wohnungen <lb/>beſſer rentieren als die großen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5604" xml:space="preserve">dabei iſt das Kapital, welches <lb/>der Bau des dritten Stockwerks koſtet, beträchtlich geringer als <lb/>das für die unteren Stockwerke. </s>
  <s xml:id="echoid-s5605" xml:space="preserve">Wer ſtatt eines zweiſtöckigen <lb/>Hauſes ein dreiſtöckiges baut, der hat nur eine geringe Zulage <lb/>von Kapital für dieſen letzten Stock zu machen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5606" xml:space="preserve">denn die <lb/>Wände dieſes Stockwerks ſind nicht ſo hoch, und an Fundament <lb/>und Dach braucht das Haus deshalb nichts Weſentliches mehr.</s>
  <s xml:id="echoid-s5607" xml:space="preserve">
<pb o="138" file="0406" n="406"/>
Die Hauseigentümer haben indeſſen einen öfteren Ausfall der <lb/>Miete im dritten Stock als in dem unteren zu gewärtigen <lb/>und rechnen auf den öfteren Umzug und auf das ſchnellere <lb/>Ruinieren der kleineren Wohnungen etwas, weil hier meiſt <lb/>mehr im engen Raum bei einander leben.</s>
  <s xml:id="echoid-s5608" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5609" xml:space="preserve">Man wird daher die Hauswirte ſelten willig finden, für <lb/>die Wärmung der kleinen Wohnungen etwas zu thun, und es <lb/>bleibt dies meiſt den Mietern ſelbſt überlaſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5610" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5611" xml:space="preserve">Was nun die Wände betrifft, ſo giebt es ein vortreffliches <lb/>Mittel, die Leitungsfähigkeit der Wärme zu beſchränken, und <lb/>das ſind Tapeten ſtatt des Anſtrichs. </s>
  <s xml:id="echoid-s5612" xml:space="preserve">— Wer eine Ausgabe <lb/>für eine ſchlichte Tapete nicht ſcheut und ſonſt ein wenig Zeit <lb/>und Handgeſchicklichkeit beſitzt, kann billig und vorteilhaft <lb/>die Tapezierung ſeiner kleinen Wohnung ſelber vornehmen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5613" xml:space="preserve">Je ſtärker er eine Lage alten, gedruckten Papiers auf die <lb/>Wände ankleiſtert, um die Tapete darüber zu kleben, deſto <lb/>mehr wird er von dem beträchtlichen Schutz überraſcht werden, <lb/>den dieſe Lage von Papier der Wärme des Zimmers gewährt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5614" xml:space="preserve"><lb/>Denn hierbei ſpielt nicht ſowohl die Dicke des Papiers, als <lb/>vielmehr der Umſtand die Rolle, daß Papier eine Maſſe iſt, <lb/>welche die Wärme außerordentlich ſchlecht fortleitet.</s>
  <s xml:id="echoid-s5615" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5616" xml:space="preserve">Was bei kleinen Wohnungen noch beſonders dringend zu <lb/>empfehlen iſt, das iſt der Verſchluß des Schornſteins. </s>
  <s xml:id="echoid-s5617" xml:space="preserve">Die <lb/>höher gelegene Wohnung iſt dem durch den Schornſtein oft <lb/>toſend eindringenden Wind zumeiſt und aus erſter Hand aus-<lb/>geſetzt, und dafür geht jede Spur von Wärme aus der Küche <lb/>flugs hinauf und zum Schornſtein hinaus. </s>
  <s xml:id="echoid-s5618" xml:space="preserve">Mährend die <lb/>unteren Stockwerke meiſt mit Kochherden verſehen ſind, die <lb/>auf die Erwärmung der Küche bedeutenden Einfluß haben, <lb/>findet man in höher gelegenen Wohnungen dieſe Einrichtung <lb/>nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s5619" xml:space="preserve">Sie iſt auch für kleinere Wirtſchaften nicht recht praktiſch. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5620" xml:space="preserve">Wenn eine Kochmaſchine nicht ſtundenlang in Brand gehalten <lb/>werden kann, wenn es ſich darum handelt, das Mittagbrot
<pb o="139" file="0407" n="407"/>
nicht nur ſo ſchnell wie möglich, ſondern auch das Feuer nur <lb/>kurze Zeit vor der Mittagsſtunde anzumachen, dann iſt eine <lb/>ſolche Maſchine nicht vorteilhaft. </s>
  <s xml:id="echoid-s5621" xml:space="preserve">Daher aber ſollte kein Wirt <lb/>unterlaſſen, dafür zu ſorgen, daß in ſeinen kleinen Wohnungen <lb/>die Öffnung zwiſchen Rauchfang und Schornſtein mit einer <lb/>Klappe verſehen iſt, die bekanntlich wenig koſtet, und die einen <lb/>vortrefflichen Schutz gegen die Kälte gewährt, ſo lange auf <lb/>dem Herd kein Feuer brennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5622" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div152" type="section" level="1" n="138">
<head xml:id="echoid-head151" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXII. Die einmalige Heizung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5623" xml:space="preserve">Die Nebenumſtände, welche dazu beitragen, daß ein Zimmer <lb/>nicht ſchnell erkaltet, alſo von der erzeugten Wärme nicht viel <lb/>verloren geht, ſind oft von ſolcher Bedeutung, daß ſie in der <lb/>Praxis wichtiger werden als der Bau des Ofens und die <lb/>Wahl des Brennmaterials. </s>
  <s xml:id="echoid-s5624" xml:space="preserve">Wir können deshalb nur wieder-<lb/>holt darauf hinweiſen, daß eine Vernachläſſigung der Wohnung <lb/>in dieſer Beziehung ein Übelſtand iſt, der nicht wenig zur <lb/>Unbehaglichkeit des Winters beiträgt, und daß eine vorſorgliche <lb/>Einrichtung desſelben zur herannahenden kalten Jahreszeit eine <lb/>Hauptaufgabe jeder ſoliden Wirtſchaft iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5625" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5626" xml:space="preserve">Wenden wir uns nun zur praktiſchen Heizung, das heißt <lb/>zur Behandlung des Ofens ſelber, ſo ſollte man meinen, daß <lb/>alles geſagt ſei, wenn man das billigſte und heizkräftigſte <lb/>Brennmaterial angiebt und die Verwendung desſelben empfiehlt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5627" xml:space="preserve">Dem iſt aber keineswegs ſo. </s>
  <s xml:id="echoid-s5628" xml:space="preserve">Ja, die Umſtände und die Zwecke <lb/>der praktiſchen Heizung ſind in verſchiedenen Wirtſchaften ſo <lb/>verſchieden, daß man durch bloß allgemeine Grundſätze eher die <lb/>Urteile verwirrt als berichtigt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5629" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5630" xml:space="preserve">Wir wollen uns deshalb nach den bisherigen, nur all-<lb/>gemeinen Grundſätzen der Heizung zu den beſonderen Um-
<pb o="140" file="0408" n="408"/>
ſtänden wenden, wie ſie gewöhnlich in den Familien und ihren <lb/>Wohnungen ſind, und die Rückſicht auf Vermögen, Gewerbe, <lb/>Stand und Einrichtung des Familienlebens nach Möglichkeit <lb/>obwalten laſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5631" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5632" xml:space="preserve">Wir haben, wie ſich’s von ſelbſt verſteht, hierbei nicht den <lb/>Reichen im Auge, der auch mit der Heizung ein wenig Luxus <lb/>treiben kann, oder den Armen, der ſich den Winter über durch-<lb/>ſtümpern muß, wie er eben kann, ſondern jenen Mittelſtand, <lb/>dem der Winter ein Opfer koſtet, und der dies möglichſt ſparſam <lb/>verwenden muß und verwenden will, und der vorſorglich genug <lb/>iſt, ſeine Öfen und ſeine Zimmer nach ſeinen Bedürfniſſen, ſo <lb/>weit es geht, herzurichten.</s>
  <s xml:id="echoid-s5633" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5634" xml:space="preserve">Es giebt Familien, die mindeſtens ein Zimmer ihrer <lb/>Wohnung durch den ganzen Winter in gleicher, behaglicher <lb/>Wärme zu haben wünſchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5635" xml:space="preserve">Für ſolche gilt die Regel, daß <lb/>ſie Zimmer und Öfen ſo herrichten müſſen, daß eine einmalige <lb/>ſtarke Heizung am Tage ausreiche, ihren Zweck zu erfüllen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5636" xml:space="preserve">denn wie auch geheizt werden mag, es geht immer während <lb/>des Heizens ſoviel Wärme durch den Schornſtein fort, daß <lb/>zweimal leichtes Heizen unpraktiſcher iſt, als eine einmalige <lb/>tüchtige Heizung. </s>
  <s xml:id="echoid-s5637" xml:space="preserve">— Da aber mit dem Fortſtrömen der heißen <lb/>Luft durch den Ofen zugleich ein Zuſtrömen kalter Luft durch <lb/>Thür- und Fenſterritzen verbunden iſt, ſo entſteht ein Verluſt <lb/>an Stubenwärme bei jedesmaliger Heizung, den man durch <lb/>Brennmaterial erſetzen muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s5638" xml:space="preserve">— Im allgemeinen iſt das Be-<lb/>dürfnis in den Feierſtunden des Winterabends, die gemütlich <lb/>warme Stube zu genießen, vorwaltend, und da mit ſeltener <lb/>Ausnahme die Morgenſtunden dem Geſchäft, der Schule und <lb/>der häuslichen Wirtſchaft gewidmet ſind, ſo iſt es praktiſch, die <lb/>Heizung des Zimmers gegen Mittag vorzunehmen, um den <lb/>vollen Genuß der Wärme am Abend zu haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s5639" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5640" xml:space="preserve">In ſolchem Falle iſt die Heizung von Kien- oder Elſen-<lb/>holz, dem man, wenn es im guten Brennen iſt, Torf zuſchüttet,
<pb o="141" file="0409" n="409"/>
ſehr zu empfehlen, und ein einmaliges, tüchtiges Einlegen wird <lb/>ſich, wenn der Ofen nicht gar zu eng iſt, vom beſten Erfolge <lb/>zeigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5641" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5642" xml:space="preserve">Wo der Kachelofen mit einer luftdicht ſchließenden Thür <lb/>verſehen iſt, da iſt es noch praktiſcher, ſtatt des Torfes Stein-<lb/>kohlen aufzuſchütten, und wenn dieſe tüchtig in Brand ſind, die <lb/>luftdichte Ofenthür zu ſchließen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5643" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5644" xml:space="preserve">Bei Heizung dieſer Art gilt folgende Regel: </s>
  <s xml:id="echoid-s5645" xml:space="preserve">Ein Ofen, <lb/>der ſchnell heiß wird, kühlt auch ſchnell wieder ab. </s>
  <s xml:id="echoid-s5646" xml:space="preserve">Deshalb <lb/>iſt für ſolche Heizung nur ein ziemlich dicker, langſam ſich er-<lb/>wärmender Ofen vorteilhaft. </s>
  <s xml:id="echoid-s5647" xml:space="preserve">Alle Vorſchläge und Modelle von <lb/>Verbindung des Kachelofens mit dem eiſernen Ofen ſind für <lb/>dieſe Heizungsart nicht praktiſch. </s>
  <s xml:id="echoid-s5648" xml:space="preserve">In Gegenden, wo man <lb/>billige Braunkohle heizt, hat man die Öfen entweder unten aus <lb/>Eiſen und oben aus Kacheln oder auch umgekehrt unten aus <lb/>Kacheln und oben aus Eiſen hergeſtellt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5649" xml:space="preserve">Der Vorteil, den <lb/>dieſe Verbindung bietet, beſteht darin, daß durch einen eiſernen <lb/>Teil des Ofens die Erhitzung der Luft ſchnell das Zimmer <lb/>durchwärmt, während die Kacheln noch eine Nachwärme er-<lb/>zeugen, wenn das Feuer ſchon erloſchen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5650" xml:space="preserve">Allein für den <lb/>genannten Zweck iſt dieſe Verbindung des Ofens nicht an-<lb/>wendbar; </s>
  <s xml:id="echoid-s5651" xml:space="preserve">denn die Luftheizung, wie ſie eiſerne Öfen bewirken, <lb/>iſt, wie wir noch weiter ausführen werden, eine ſehr flüchtige <lb/>und vorübergehende. </s>
  <s xml:id="echoid-s5652" xml:space="preserve">Ein guter, feſter Kachelofen thut für die <lb/>angegebenen Fälle die beſten Dienſte.</s>
  <s xml:id="echoid-s5653" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5654" xml:space="preserve">Wer einmal eine Prüfung ſeines Ofens und Zimmers in <lb/>dieſem Punkte vornehmen will, der muß ſich zwei Thermometer <lb/>verſchaffen, und das eine unmittelbar an den Ofen, das andere <lb/>womöglich an das Fenſter, wo es freilich nicht ziehen darf, <lb/>hängen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5655" xml:space="preserve">Durch das Thermometer am Ofen wird man beob-<lb/>achten können, wie lange es nach dem Heizen dauert, bevor der <lb/>Ofen am heißeſten wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s5656" xml:space="preserve">Findet man, daß dies erſt drei Stunden <lb/>nach dem Einheizen der Fall iſt, ſo kann man mit dem Ofen
<pb o="142" file="0410" n="410"/>
zufrieden ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s5657" xml:space="preserve">— Nun aber gebe man acht, wie lange es <lb/>dauert, ehe die Stube vollkommen durchwärmt iſt, und zu <lb/>dieſem Zweck beobachte man das Thermometer am Fenſter. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5658" xml:space="preserve">Findet ſich’s, daß drei Stunden nach der höchſten Hitze am Ofen <lb/>die Stube am heißeſten iſt, dann darf man auch mit dieſer ſich <lb/>zufrieden geben. </s>
  <s xml:id="echoid-s5659" xml:space="preserve">— Wirkt das Feuer auf den Ofen und dieſer <lb/>auf die Stube viel ſchneller, ſo iſt das ein ſchlimmes Zeichen, <lb/>und der Ofen muß anders behandelt werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5660" xml:space="preserve">Dauert aber <lb/>beides länger, iſt erſt vier Stunden nach dem Einheizen <lb/>des Ofens dieſer am heißeſten, und ſteigt dann wieder die <lb/>Heizung der Stube in gleicher Zeit, ſo gehört dies ſchon zu <lb/>den außerordentlich günſtigen Fällen, und iſt ein Zeugnis, daß <lb/>nicht nur Ofen und Stube gut ſind, ſondern auch die Art des <lb/>Heizens am richtigſten iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5661" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div153" type="section" level="1" n="139">
<head xml:id="echoid-head152" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXIII. Der zu ſchnell heizende Ofen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5662" xml:space="preserve">Durch die zwei Thermometer, die wir zur Probe des Ofens <lb/>und der Stube benutzt haben, erfahren wir freilich nur, wie <lb/>lange es dauert, bis der Ofen am heißeſten, die Stube am <lb/>wärmſten geworden; </s>
  <s xml:id="echoid-s5663" xml:space="preserve">und dies giebt an ſich noch keinen Maß-<lb/>ſtab zur ſichern Beurteilung der angewandten Heizart. </s>
  <s xml:id="echoid-s5664" xml:space="preserve">Wollte <lb/>man die Unterſuchung gründlich führen, ſo müßte man noch <lb/>zwei Thermometer anwenden, das eine, ein Metallthermometer, <lb/>müßte man in dem Ofen, das andere draußen auf der Straße <lb/>anbringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5665" xml:space="preserve">— Man würde dann ſehen, wann die Hitze im <lb/>Innern des Ofens am größten, und wie hoch ſie dann war; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5666" xml:space="preserve">man würde ferner wahrnehmen, wie viel von dieſer Hitze dem <lb/>Ofen mitgeteilt wurde und wie viel davon verloren ging, ohne <lb/>der Stube zu gute zu kommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5667" xml:space="preserve">Würde man hierzu noch den <lb/>Wärmegrad der Stube mit dem, der draußen auf der Straße
<pb o="143" file="0411" n="411"/>
herrſcht, vergleichen, ſo würde man klarer den ganzen Verlauf <lb/>überſehen, und köunte ſich genauere Rechenſchaft ablegen vom <lb/>Verbleib der entwickelten Wärme, und von dem, was zu thun <lb/>iſt, um mit der Wärme möglichſt ſparſam umzugehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5668" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5669" xml:space="preserve">Indeſſen iſt dies für die Praxis nicht notwendig; </s>
  <s xml:id="echoid-s5670" xml:space="preserve">es reichen <lb/>vielmehr die Erfahrungen, die jede Hausfrau macht, ſo weit <lb/>hin, daß ſie wohl anzugeben weiß, wie lange es dauert, bis <lb/>der Ofen nach dem Heizen am wärmſten iſt, und wie lange <lb/>Zeit darauf es währt, bis die Stube am gemütlichſten wird; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5671" xml:space="preserve">und dieſe Erfahrungen genügen zur Not, um über das klar <lb/>zu werden, was man zur möglichſt billigen Erwärmung des <lb/>Zimmers zu thun hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s5672" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5673" xml:space="preserve">Als Anleitung hierfür können wir folgende Regeln geben.</s>
  <s xml:id="echoid-s5674" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5675" xml:space="preserve">Ein Ofen, der eine Stunde, nachdem die Flamme inwendig <lb/>am lebhafteſten war, ſchon ſeine höchſte Hitze auf der Ober-<lb/>fläche erreicht hat und abzukühlen anfängt, verlangt eine andere <lb/>Behandlung als einer, der erſt nach drei, vier Stunden dieſen <lb/>Grad der Hitze entwickelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5676" xml:space="preserve">Der ſchnell erwärmte Ofen wird <lb/>die Hitze eben ſo ſchnell abgeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s5677" xml:space="preserve">Das Zimmer mag nun noch <lb/>ſo gut gegen Abkühlung verwahrt ſein, es wird immer nur <lb/>eine kurze Zeit die nötige Wärme haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s5678" xml:space="preserve">Unter gewiſſen Um-<lb/>ſtänden kann ſolch ein Ofen recht willkommen ſein, denn er <lb/>braucht eben nur ſehr leicht geheizt zu werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5679" xml:space="preserve">Ein Arm voll <lb/>Holz am Morgen und eine kleinere Portion Holz gegen Abend <lb/>thut bei ſolchem Ofen oft ſeine ganz gute Wirkung. </s>
  <s xml:id="echoid-s5680" xml:space="preserve">Für Öfen <lb/>dieſer Art iſt hartes Holz, deſſen Kohle ſich lange in Glut <lb/>erhält, während die Klappe ſchon geſchloſſen iſt, ſehr anwendbar. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5681" xml:space="preserve">Wenn man für ſolchen Ofen gutes Eichenholz bekommen kann, <lb/>ſo wird man hierbei am billigſten fortkommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5682" xml:space="preserve">Wäre Büchen-<lb/>holz nicht ſo übermäßig teuer, ſo würde dieſes freilich allen <lb/>Holzarten in ſolchem Falle vorzuziehen ſein, weil dieſe Holz-<lb/>ſorte am längſten Kohlenglut im geſchloſſenen Ofen hält und <lb/>noch nachheizt, wenn der Ofen bereits von der Hauptheizung
<pb o="144" file="0412" n="412"/>
her die Hitze verliert. </s>
  <s xml:id="echoid-s5683" xml:space="preserve">Sind nun die Verhältniſſe des Hauſes <lb/>der Art, daß man den Tag hindurch wenig von der Wärme <lb/>des Zimmers ſpürt und ſie etwa nur die Abendſtunden zu <lb/>genießen imſtande iſt, ſo wird man bei ſolchem Ofen ſich zu-<lb/>frieden ſtellen können.</s>
  <s xml:id="echoid-s5684" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5685" xml:space="preserve">Verlangt man jedoch eine dauernde Wärme, ſo wird man <lb/>an ſolchem Ofen Vorrichtungen treffen müſſen, die ihn zur <lb/>Heizung von Koks und Steinkohlen tauglich machen und die <lb/>zugleich den hohen Hitzegrad, der in demſelben erzeugt wird, <lb/>nicht ſo ſchnell an die Oberfläche desſelben leiten und ſomit <lb/>anch die ſchnelle Abkühlung verhindern.</s>
  <s xml:id="echoid-s5686" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5687" xml:space="preserve">Dieſe Vorrichtungen, dieſe Herſtellung eines gewöhnlichen <lb/>Ofens zur Koks- und Steinkohlenheizung ſind den Töpfern all-<lb/>bekannt und werden von ihnen in wenigen Stunden und für einen <lb/>geringen Lohn beſorgt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5688" xml:space="preserve">Sie bauen im vorderen Feuerraum <lb/>des Ofens ein kleines Häuschen aus Dachſteinen und Lehm, <lb/>das ſie oben leicht überwölben und an deſſen Hinterwand ſie <lb/>eine Öffnung laſſen, welche in den hinteren Feuerraum des <lb/>Ofens führt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5689" xml:space="preserve">Zündet man nun ein wenig kleines Holz in <lb/>dieſem Häuschen an, ſo veranlaßt der enge Brennraum und <lb/>die durch das Brennmaterial hindurchziehende Luft von der <lb/>Thürklappe bis zur hinteren Öffnung einen ſehr hohen Hitze-<lb/>grad, bei welchem eine Portion Koks oder Steinkohle leicht <lb/>anbrennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5690" xml:space="preserve">Klopft man nun den Koks ſo klein, daß die Stücke <lb/>etwa die Größe von Hühnereiern haben, ſo werden ſie ſchnell <lb/>genug in Glut kommen, und da ſie ſparſam brennen, auch <lb/>lange genug in Glut bleiben; </s>
  <s xml:id="echoid-s5691" xml:space="preserve">— wirft man von Zeit zu Zeit etwas <lb/>Koks nach, ſo durchheizt der Koks mit der Zeit nicht nur das <lb/>Häuschen, ſondern auch die durch dasſelbe bedeutend verdickte <lb/>Ofenwand, während der hintere und obere Teil des Ofens <lb/>durch die heiße Luft erwärmt wird, welche durch die hintere <lb/>Öffnung des Häuschens, durch die Gänge des Ofens und <lb/>endlich zum Schornſtein hinauszieht.</s>
  <s xml:id="echoid-s5692" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="145" file="0413" n="413"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5693" xml:space="preserve">Die nunmehr bedeutend dicker gewordenen Ofenwände <lb/>halten aber auch die Wärme beſſer, wenn das Feuer erloſchen <lb/>iſt, und hierdurch iſt man imſtande, einen Ofen derart ſelbſt <lb/>unter Umſtänden erträglich zu machen, wo man anhaltend im <lb/>Zimmer eine gewiſſe Hitze haben will.</s>
  <s xml:id="echoid-s5694" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5695" xml:space="preserve">Hierbei hat man jedoch noch auf einen Umſtand zu achten, <lb/>durch welchen man viel am Brennmaterial zu ſparen imſtande <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5696" xml:space="preserve">— Koks freilich iſt nicht reich an flüchtigen Gaſen und <lb/>entwickelt dieſelben während des Brennens nur langſam. </s>
  <s xml:id="echoid-s5697" xml:space="preserve">Läßt <lb/>man nun die Klappe, die zum Schornſtein führt, ganz offen, <lb/>ſo ſtreift eine große Maſſe ſehr erhitzter Luft in denſelben <lb/>hinein, ohne den Ofen zu erwärmen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5698" xml:space="preserve">man thut daher gut, <lb/>wenn man nur zur Zeit, wo man neuen Koks aufgeworfen <lb/>hat, die Klappe vollſtändig offen läßt; </s>
  <s xml:id="echoid-s5699" xml:space="preserve">ſobald jedoch der Koks <lb/>ſo recht in weißer Flamme glüht, kann man die Klappe halb <lb/>zudrehen, wodurch der Zug vermindert und der Verluſt an <lb/>Wärme geringer wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s5700" xml:space="preserve">— Es gehört freilich hierzu einige <lb/>Übung und Aufmerkſamkeit, denn das zu frühe, völlige <lb/>Schließen der Klappe kann lebensgefährlich werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s5701" xml:space="preserve">will man <lb/>daher ganz ſicher gehen, ſo zünde man, nachdem man die <lb/>Klappe halb zugedreht hat, einen Fidibus an und halte ihn <lb/>vor die Zugklappe der Ofenthür; </s>
  <s xml:id="echoid-s5702" xml:space="preserve">ſobald die Flamme des <lb/>Fidibus ſtark in den Ofen hineinweht, ſo hat es keine Gefahr, <lb/>ſobald dies nicht der Fall iſt, muß die Klappe ſofort wieder <lb/>geöffnet werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5703" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5704" xml:space="preserve">Bei Anwendung der Steinkohle darf die Klappe gar nicht <lb/>geſchloſſen werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5705" xml:space="preserve">Man erreicht jedoch hier denſelben Zweck, <lb/>nicht zu viel Wärme zu verlieren, wenn man die Ofenthür <lb/>luftdicht ſchließt, wie wir dies noch näher erörtern werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5706" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5707" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s5708" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s5709" xml:space="preserve">Volksbücher XIV.</s>
  <s xml:id="echoid-s5710" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="146" file="0414" n="414"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div154" type="section" level="1" n="140">
<head xml:id="echoid-head153" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXIV. Der eiſerne Ofen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5711" xml:space="preserve">Während man in Räumlichkeiten, in welchen kein ſchneller <lb/>Luftwechſel ſtattfindet, mit dem Kachelofen am beſten fortkommt, <lb/>giebt es außerordentlich viele Fälle, wo ein ſteter Luftwechſel <lb/>vorhanden iſt, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s5712" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s5713" xml:space="preserve">in Werkſtätten, in öffentlichen Läden, <lb/>in welchen es eben darauf ankommt, einen fortdauernden Erſatz <lb/>für den ſteten Verluſt an Wärme zu haben, und hier iſt der <lb/>eiſerne Ofen ganz und gar an ſeiner Stelle.</s>
  <s xml:id="echoid-s5714" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5715" xml:space="preserve">Außerdem giebt es einzelne Fälle, wo entweder große <lb/>Räumlichkeiten ſchnell zu durchwärmen ſind, oder wo es ſelbſt <lb/>in Wohnſtuben darauf ankommt, auf ſehr kurze Zeit eine <lb/>tüchtige Hitze hervorzurufen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5716" xml:space="preserve">auch hier nimmt man zum eiſernen <lb/>Ofen ſeine Zuflucht, obwohl er im allgemeinen Nachteile mit <lb/>ſich bringt, die ſeine Vorzüge weit überragen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5717" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5718" xml:space="preserve">Der eiſerne Ofen heizt in ganz anderer Weiſe wie der <lb/>Kachelofen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5719" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5720" xml:space="preserve">Die Eiſenmaſſe des Ofens gerät durch den Brand der <lb/>Brennmaterialien ſelber in Glut. </s>
  <s xml:id="echoid-s5721" xml:space="preserve">Die Luft, die ihn umgiebt, <lb/>wird daher in hohem Grade heiß und ausgedehnt und bewegt <lb/>ſich, leichter geworden, nach der Höhe. </s>
  <s xml:id="echoid-s5722" xml:space="preserve">Es ſtrömt ſomit neue <lb/>Luft hinzu, die gleichfalls nach oben ſtrömt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5723" xml:space="preserve">Die in den <lb/>höheren Schichten des Zimmers ſich ſtets anſammelnde heiße <lb/>Luft dringt endlich wieder nach unten, ſo daß eigentlich nur <lb/>der Ofen die Veranlaſſung iſt, daß eine Zirkulation von er-<lb/>hitzter Luft im Zimmer ſtattfindet, eine Zirkulation, die <lb/>unausgeſetzt ſolange fortdauert, ſolange die Eiſenmaſſe des <lb/>Ofens im Glühen verbleibt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5724" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5725" xml:space="preserve">Wenn man die ſehr eindringliche, ſchnelle Wirkung eines <lb/>eiſernen Ofens in recht kalten Tagen empfindet, ſo kann man <lb/>ſich oft der Gefühle eines Wohlbehagens nicht entſchlagen, <lb/>weshalb denn in der That der eiſerne Ofen für viele etwas
<pb o="147" file="0415" n="415"/>
Verlockendes hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s5726" xml:space="preserve">Man braucht aber nur dieſes Wohlbehagen <lb/>längere Zeit zu genießen, um bald eines beſſern belehrt zu <lb/>werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5727" xml:space="preserve">— Man mache es, wie man will, man wird immer <lb/>die Mängel desſelben empfinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5728" xml:space="preserve">Heizt man den Ofen fort, <lb/>ſo entſteht bald eine ſolche Hitze im Zimmer, daß man es kaum <lb/>aushalten kann; </s>
  <s xml:id="echoid-s5729" xml:space="preserve">läßt man ihn ausgehen, ſo wird nach ſehr <lb/>kurzer Zeit eine Abkühlung ſtattfinden, die man um ſo empfind-<lb/>licher ſpürt, je behaglicher man ſich dem Genuß der Hitze über-<lb/>laſſen hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s5730" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5731" xml:space="preserve">Der eiſerne Ofen heizt eigentlich nur die Luft, weshalb <lb/>man in der That dieſe Heizungsart die Luftheizung nennt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5732" xml:space="preserve">Nun iſt aber die Luft ein Ding, das ſich einerſeits ganz eigen-<lb/>tümlich zur Wärme verhält und dem andererſeits von der Wärme <lb/>derart mitgeſpielt wird, daß ſie dieſelbe in ganz eigentümlicher <lb/>Weiſe verbreitet.</s>
  <s xml:id="echoid-s5733" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5734" xml:space="preserve">Luft iſt, wie wir bereits öfter erwähnt haben, ein ſchlechter <lb/>Wärmeleiter. </s>
  <s xml:id="echoid-s5735" xml:space="preserve">Luft nimmt die Wärme ſchwer auf und giebt <lb/>ſie auch wieder ſehr ſchwer ab. </s>
  <s xml:id="echoid-s5736" xml:space="preserve">Wenn im Sommer auf der <lb/>Sonnenſeite der Straße die Luft zu glühen ſcheint, braucht <lb/>man nur wenige Schritte davon in den Schatten zu treten, <lb/>um eine bedeutende Abkühlung zu empfinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5737" xml:space="preserve">Würde Luft die <lb/>Wärme beſſer aufnehmen und von Teilchen zu Teilchen fort-<lb/>leiten, ſo würde es im Schatten nicht kühler ſein, als im <lb/>Sonnenbrand. </s>
  <s xml:id="echoid-s5738" xml:space="preserve">Unſer Körper, der 37 Grad Wärme braucht, <lb/>findet ſich in Luft, welche nur 19 Grad warm iſt, ganz <lb/>behaglich; </s>
  <s xml:id="echoid-s5739" xml:space="preserve">dagegen klappern uns die Zähne vor Froſt, wenn <lb/>man in Waſſer von 19 Grad Wärme länger als eine <lb/>Viertelſtunde verweilt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5740" xml:space="preserve">Luft nimmt ſchwer die Wärme auf <lb/>und giebt ſie auch ſchwer andern Körpern ab. </s>
  <s xml:id="echoid-s5741" xml:space="preserve">— Zu dieſer <lb/>einen Eigenſchaft der Luft kommt noch die zweite, daß ſie ſehr <lb/>leicht beweglich und miſchbar iſt, und deshalb nicht am Orte <lb/>verbleibt, wo ſie ſich befindet; </s>
  <s xml:id="echoid-s5742" xml:space="preserve">und endlich noch eine dritte, <lb/>nämlich die, daß ſie von der Wärme, welche alle Dinge aus-
<pb o="148" file="0416" n="416"/>
dehnt, ganz beſonders ſtark ausgedehnt wird, und ſomit wiederum <lb/>eine Bewegung und Luftmiſchung erzeugt wird, deren Wirkung <lb/>ganz eigentümlich iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5743" xml:space="preserve">Man wird ſich ſchnell hiervon über-<lb/>zeugen, wenn man ſich erinnert, daß alle Winde und Stürme <lb/>in der Natur eben herrühren von dieſen Eigenſchaften der <lb/>Luft und der Einwirkung der Sonnenwärme auf dieſelbe.</s>
  <s xml:id="echoid-s5744" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5745" xml:space="preserve">Wendet man dies nun auf die Luft im Zimmer an, ſo <lb/>wird man leicht den großen Unterſchied zwiſchen der Wirkung <lb/>eines Kachelofens und eines eiſernen Ofens einſehen können.</s>
  <s xml:id="echoid-s5746" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5747" xml:space="preserve">Der Kachelofen wirkt auch zunächſt auf die feine Luft-<lb/>ſchicht, die ihn berührt; </s>
  <s xml:id="echoid-s5748" xml:space="preserve">allein da Kacheln ſchlechte Wärme-<lb/>leiter ſind, alſo die Wärme ſchwer abgeben, und Luft ein noch <lb/>ſchlechterer Leiter iſt und alſo die Wärme ſchwer aufnimmt, <lb/>ſo iſt die Einwirkung ſehr gering. </s>
  <s xml:id="echoid-s5749" xml:space="preserve">— Die Wärme, die der <lb/>Ofen ausſtrahlt, begiebt ſich nun zwar auch mit der Luft etwas <lb/>zur Höhe, aber nur in ſehr ſpärlichem Maße, ſie erreicht viel-<lb/>mehr alle Gegenſtände des Zimmers und durchwärmt ſie langſam <lb/>und nachhaltig. </s>
  <s xml:id="echoid-s5750" xml:space="preserve">Daher bleibt das Zimmer ſtets noch warm, <lb/>wenn ſich auch der Ofen ſchon abkühlt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5751" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5752" xml:space="preserve">Ganz anders iſt es mit dem eiſernen Ofen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5753" xml:space="preserve">Die Luft-<lb/>ſchicht nimmt zwar auch die Wärme ſchwer auf; </s>
  <s xml:id="echoid-s5754" xml:space="preserve">allein die <lb/>Glut des Eiſens und die Eigenſchaft, die Wärme mit Schnel-<lb/>ligkeit abzugeben, überwindet die Trägheit der Luft in der <lb/>Aufnahme der Wärme. </s>
  <s xml:id="echoid-s5755" xml:space="preserve">Ja, die Luft, die dicht am Ofen iſt, <lb/>gerät ſelbſt in Glut, und da ſie leichter wird, ſteigt ſie wie im <lb/>Springbrunnen nach oben, während von allen Seiten die <lb/>kältere Luft heranſtrömt, um ebenſo nach oben befördert zu <lb/>werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5756" xml:space="preserve">Hierbei erhält der Ofen ſtets neue Luftſchichten, denen <lb/>er ſeine Hitze abgiebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5757" xml:space="preserve">Könnte man nun dieſe erhitzte Luft im <lb/>Zimmer abſchließen, ſo ginge es noch an; </s>
  <s xml:id="echoid-s5758" xml:space="preserve">denn wie ſchlecht <lb/>auch die Luft ihre Wärme andern Körpern abgiebt, ſie wird <lb/>es endlich doch thun, und die Gegenſtände des Zimmers würden <lb/>demnach doch durchwärmt werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s5759" xml:space="preserve">allein die leichte Beweg-
<pb o="149" file="0417" n="417"/>
lichkeit der Luft und ihre Ausdehnungskraft bringen es hervor, <lb/>daß mit jedem Male, wo eine Thür geöffnet wird, eine große <lb/>Portion heißer, geſpannter Luft oben hinausſtrömt und kalte <lb/>Luft unten eindringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5760" xml:space="preserve">Dadurch erhalten die Gegenſtände des <lb/>Zimmers ſo gut wie gar nichts von der heißen Luft, und geht <lb/>dann der Ofen aus, ſo genügt ein mehrmaliges Betreten und <lb/>Verlaſſen des Zimmers, um nach der Lufthitze eine recht <lb/>empfindliche Kühle ſpürbar zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5761" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div155" type="section" level="1" n="141">
<head xml:id="echoid-head154" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXV. Schädlichkeit des eiſernen Ofens.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5762" xml:space="preserve">So ſehr nun der eiſerne Ofen in den meiſten Fällen zu <lb/>widerraten iſt, ſo oft treten beſondere Fälle ein, wo faſt kein <lb/>anderer Ausweg bleibt als die Zuflucht zu ihm.</s>
  <s xml:id="echoid-s5763" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5764" xml:space="preserve">Als Regel kann man folgendes hierüber feſthalten: </s>
  <s xml:id="echoid-s5765" xml:space="preserve">Der <lb/>eiſerne Ofen bewirkt eine Heizung und Zirkulation der Luft; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5766" xml:space="preserve">er wird alſo dort am Orte ſein, wo gerade die kalte Luft am <lb/>leichteſten Zutritt und man alle Unannehmlichkeiten der ſchnellen <lb/>Luftzirkulation ohnehin zu tragen hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s5767" xml:space="preserve">— Öffentliche Läden, <lb/>große Werkſtätten, wo durch die wiederholt geöffneten Thüren <lb/>der Zuſtrom kalter Luft nicht gehindert wird, kann man nur <lb/>durch eine fortdauernde Luftheizung, durch ein ſtetes Erzeugen <lb/>ſehr erhitzter Luft und ein ununterbrochenes Miſchen derſelben <lb/>mit der einſtrömenden, erträglich machen, und man wird auch <lb/>in ſolchen Lokalen die Nachteile nicht ſpüren, die mit dieſer <lb/>Art Heizung verbunden ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s5768" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5769" xml:space="preserve">Dieſe Nachteile ſind nicht ſowohl in wirtſchaftlicher, wie <lb/>hauptſächlich in geſundheitlicher Rückſicht als ſehr weſentlich <lb/>hervorzuheben; </s>
  <s xml:id="echoid-s5770" xml:space="preserve">denn es giebt nicht wenige Fälle, wo die <lb/>Beſeitigung des eiſernen Ofens eine Reihe von Übeln oder <lb/>mindeſtens die andauernde Urſache derſelben beſeitigt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5771" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="150" file="0418" n="418"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5772" xml:space="preserve">Das Hauptübel dieſer Heizung beſteht darin, daß erhitzte <lb/>Luft in hohem Grade verdünnt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5773" xml:space="preserve">Die Atmung wird be-<lb/>trächtlich dadurch erſchwert, denn man erhält in jedem Atem-<lb/>zug nicht die volle, nötige Portion Sauerſtoff, wie ſie die Lunge <lb/>und das Blut erfordert. </s>
  <s xml:id="echoid-s5774" xml:space="preserve">Man iſt in ſolcher Luft genötigt, <lb/>etwas ſchneller und tiefer zu atmen, als man es im gewöhn-<lb/>lichen Zuſtand thut, und dadurch allein ſchon bürdet man den <lb/>Atmungswerkzeugen eine Arbeit auf, die ſie nicht wenig ab-<lb/>ſpannen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5775" xml:space="preserve">Findet dies noch gar in Werkſtätten ſtatt, wo ohne-<lb/>hin die Arbeit oder die Lage, welche der Körper dabei ein-<lb/>nimmt, die Atmung beeinträchtigt, ſo iſt dies um ſo ſchäd-<lb/>licher.</s>
  <s xml:id="echoid-s5776" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5777" xml:space="preserve">Ein Handwerker, der ſtarke Leibesbewegungen bei der <lb/>Arbeit hat, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s5778" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s5779" xml:space="preserve">der Klempner beim Klopfen, der Tiſchler <lb/>beim Hobeln u. </s>
  <s xml:id="echoid-s5780" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s5781" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s5782" xml:space="preserve">, muß ohnehin die Atmung ſehr erhöhen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5783" xml:space="preserve">zwingt ihn nun gar die verdünnte Luft der Werkſtatt noch zu <lb/>regerem Atmen, ſo iſt eine Überreizung der Muskeln, die zur <lb/>Atmung dienen, die ganz natürliche Folge. </s>
  <s xml:id="echoid-s5784" xml:space="preserve">Der Schuhmacher, <lb/>der Schneider hat zwar nicht ſo kräftige Bewegungen des <lb/>Leibes auszuführen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5785" xml:space="preserve">allein die gebückte Stellung, welche ihr <lb/>Körper bei der Arbeit einnimmt, beengt die Atmung ohnehin; </s>
  <s xml:id="echoid-s5786" xml:space="preserve"><lb/>die verſchränkten Beine des Schneiders behindern noch dazu <lb/>den freien Blutumlauf. </s>
  <s xml:id="echoid-s5787" xml:space="preserve">All’ das bewirkt, daß der ganze <lb/>Atmungs-Apparat leidend wird, woher denn das meiſt bleiche <lb/>Anſehen dieſer Handwerker rührt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5788" xml:space="preserve">Kommt noch dazu, daß ſie <lb/>in verdünnter Luft die Atmung vollziehen, ſo benehmen ſie ſich <lb/>dadurch ſelber den vollen Atem und ſetzen ſich den böſen An-<lb/>fällen aus, welche ſtets auf ſolche Beſchränkung des Atmens <lb/>folgen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5789" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5790" xml:space="preserve">Dazu kommt noch ein zweiter Umſtand, der mit den Übeln <lb/>des erſten Hand in Hand geht, und deſſen wir ſchon vorüber-<lb/>gehend hier erwähnt haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s5791" xml:space="preserve">Heiße Luft iſt zugleich trocken. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5792" xml:space="preserve">Nun aber iſt es eine ausgemachte Thatſache, daß wir beim
<pb o="151" file="0419" n="419"/>
jedesmaligen Ausatmen ſtets in unſerem Körper die ausgeatmete <lb/>Luft mit Waſſer ſättigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5793" xml:space="preserve">Dieſes Waſſer tritt aus den Blut-<lb/>kanälen der Lunge in deren Luftwege und ſtrömt ſo reichlich <lb/>mit dem Atem aus, daß wir bekanntlich eine kalte Scheibe <lb/>durch unſeren Atem behauchen oder naß machen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s5794" xml:space="preserve">Ent-<lb/>hält nun die Stubenluft an ſich ihre naturgemäße Feuchtigkeit, <lb/>ſo atmen wir ſie ſchon angefeuchtet ein und brauchen ihr in <lb/>jedem Atemzuge nur wenig Waſſer aus dem Blute zu geben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5795" xml:space="preserve">Das Austreten des Waſſers aus den Blutadern der Lunge in <lb/>die Luftwege iſt dann mäßig. </s>
  <s xml:id="echoid-s5796" xml:space="preserve">Hat man es aber mit heißer, <lb/>trockner Luft zu thun, ſo tritt das Waſſer ſehr energiſch durch <lb/>die feinen Wände der Blutwege und greift dieſe derart an, <lb/>daß nicht nur eine große Trockenheit der Lunge, ſondern auch <lb/>bei fortdauerndem Zuſtand ein Zerreißen dieſer feinen Gewebe <lb/>der Blutwege erfolgt, wodurch Blut in die Luftwege eintritt <lb/>und ein Huſten und Blutſpeien erzeugt wird, das meiſt der <lb/>Vorläufer größerer Übel iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5797" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5798" xml:space="preserve">Dem geſellt ſich noch ein dritter Übelſtand bei, der bisher <lb/>wenig beachtet worden iſt, und der eine gründliche Unterſuchung <lb/>verdient.</s>
  <s xml:id="echoid-s5799" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5800" xml:space="preserve">Es hat wohl ſchon jeder die Bemerkung gemacht, daß <lb/>eiſerne Öfen einen gewiſſen Geruch veranlaſſen, der ſehr charak-<lb/>teriſtiſch iſt, obwohl es ſchwer hält, ihn genau zu bezeichnen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5801" xml:space="preserve">Dieſer Geruch hat für die Dauer etwas Reizendes für die <lb/>Nerven und verurſacht Kopfſchmerz ganz eigener Art. </s>
  <s xml:id="echoid-s5802" xml:space="preserve">— Über <lb/>die Quelle dieſes Geruchs iſt man wiſſenſchaftlich im Zweifel. </s>
  <s xml:id="echoid-s5803" xml:space="preserve"><lb/>Teils behauptet man, daß glühendes Gußeiſen einen Teil der <lb/>Kohle verliert, die in ihm enthalten iſt, und dieſe als Kohlen-<lb/>dunſt im Zimmer verbreitet. </s>
  <s xml:id="echoid-s5804" xml:space="preserve">Teils meint man, es rühre dieſer <lb/>Geruch und deſſen Einwirkung von dem Waſſerblei her, mit <lb/>welchem die eiſernen Öfen geputzt ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s5805" xml:space="preserve">In der That wird <lb/>ein blankgeputzter, eiſerner Ofen an der Stelle, wo er geglüht <lb/>hat, rötlich, ſo daß das Waſſerblei nicht mehr darauf iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5806" xml:space="preserve">—
<pb o="152" file="0420" n="420"/>
Teils endlich ſchreibt man dieſen Geruch den organiſchen <lb/>Teilchen zu, welche der Luft ſtets beigemiſcht ſind, und die an <lb/>dem glühenden Eiſen verbrennen und durch die Luftzirkulation <lb/>durchs Zimmer getrieben werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5807" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5808" xml:space="preserve">Durch genau angeſtellte Verſuche iſt es gegenwärtig feſt-<lb/>geſtellt, daß durch die glühenden Wände des eiſernen Ofens <lb/>Verbrennungsgaſe, ſowohl das giftige Kohlenoxyd wie andere <lb/>Gaſe hindurchdringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5809" xml:space="preserve">Der ſo eigentümliche Geruch hat ſomit <lb/>höchſt wahrſcheinlich in dieſen Gaſen ſeinen Grund.</s>
  <s xml:id="echoid-s5810" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5811" xml:space="preserve">Es iſt daher Grund genug vorhanden, von dem Gebrauch <lb/>der eiſernen Öfen in abgeſchloſſenen Wohnräumen dringend <lb/>abzuraten.</s>
  <s xml:id="echoid-s5812" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div156" type="section" level="1" n="142">
<head xml:id="echoid-head155" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXVI. Anwendbarkeit und Unanwendbarkeit</emph> <lb/><emph style="bf">des eiſernen Ofens.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5813" xml:space="preserve">Faſſen wir all’ das Geſagte zuſammen, ſo wird es ſich <lb/>für jeden Denkenden leicht ergeben, unter welchen Umſtänden <lb/>der eiſerne Ofen ratſam, unter welchen anwendbar, unter <lb/>welchen unratſam, unter welchen entſchieden zu verwerfen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5814" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5815" xml:space="preserve">In Lokalen, wo ohnehin die Luft in ſtetem Wechſel iſt, <lb/>da iſt der eiſerne Ofen oft in wirtſchaftlicher Beziehung rat-<lb/>ſam; </s>
  <s xml:id="echoid-s5816" xml:space="preserve">man kann durch ihn Räumlichkeiten erträglich und an-<lb/>genehm machen, die ohne ihn gar nicht für den Winter zu ver-<lb/>wenden ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s5817" xml:space="preserve">In ſolchem Falle läßt ſich auch wegen der Ge-<lb/>ſundheit kein Einwand erheben; </s>
  <s xml:id="echoid-s5818" xml:space="preserve">denn der Wechſel der Luft <lb/>vermindert die Luftverdünnung, verhindert die Trockenheit der <lb/>Luft und thut auch den ſchädlichen Einflüſſen des Geruchs, <lb/>deſſen Urſache die hindurchdringenden Verbrennungsgaſe ſind, <lb/>jedenfalls Abbruch. </s>
  <s xml:id="echoid-s5819" xml:space="preserve">Der eiſerne Ofen iſt alſo hier einerſeits <lb/>ratſam und andererſeits anwendbar.</s>
  <s xml:id="echoid-s5820" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="153" file="0421" n="421"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5821" xml:space="preserve">In andern Fällen kann er ratſam ſein; </s>
  <s xml:id="echoid-s5822" xml:space="preserve">aber er iſt wenig-<lb/>ſtens nicht ohne beſondere Vorſicht anwendbar.</s>
  <s xml:id="echoid-s5823" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5824" xml:space="preserve">In großen Werkſtätten z. </s>
  <s xml:id="echoid-s5825" xml:space="preserve">B.</s>
  <s xml:id="echoid-s5826" xml:space="preserve">, wo die Thüren nicht allzu-<lb/>häufig geöffnet werden, alſo das Einſtrömen friſcher Luft nicht <lb/>ſtattfindet, da muß man zwar zum eiſernen Ofen ſeine Zuflucht <lb/>nehmen, um das Lokal zu durchheizen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5827" xml:space="preserve">allein die Beſitzer <lb/>ſolcher Werkſtätten haben die dringende Pflicht, durch Vor-<lb/>richtungen dafür zu ſorgen, daß ihre Sparſamkeit nicht auf <lb/>Koſten der Geſundheit ihrer Arbeiter einen Vorteil ziehe. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5828" xml:space="preserve">Solche Lokale müſſen mindeſtens zweimal täglich gelüftet <lb/>werden, wenn nicht eine fortwährende Ventilation, das heißt <lb/>ein regelmäßiges Einſtrömen friſcher und Ausſtrömen heißer <lb/>Luft direkt eingerichtet iſt, was freilich das allerbeſte in ſolchem <lb/>Falle ſein dürfte.</s>
  <s xml:id="echoid-s5829" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5830" xml:space="preserve">Außerdem iſt das Verdampfen von Waſſer auf den eiſernen <lb/>Öfen ein Hilfsmittel, um das Austrocknen der Luft zu ver-<lb/>meiden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5831" xml:space="preserve">Ein Gefäß mit Waſſer auf den Ofen geſtellt, iſt <lb/>überhaupt in allen Fällen ratſam, wo Trockenheit der Luft <lb/>herrſcht. </s>
  <s xml:id="echoid-s5832" xml:space="preserve">— Dahingegen wiſſen wir kein Mittel ſicher anzugeben, <lb/>wodurch man den der Geſundheit nachteiligen Geruch beſeitigt, <lb/>der mit eiſernen Öfen verbunden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5833" xml:space="preserve">Wir wiſſen nur das <lb/>eine, daß ein mäßiges Heizen, wobei der Ofen nicht in Glut <lb/>gerät, das Übel im Allgemeinen milder auftreten läßt, da nicht <lb/>glühendes Eiſen kein Gas durch ſich hindurch läßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5834" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5835" xml:space="preserve">Wenn trotz all den Übeln, die wir angeführt haben, der <lb/>eiſerne Ofen in vielen Gegenden Deutſchlands Eingang ge-<lb/>funden, ſo hat das ſeinen Grund in dem Brennmaterial, <lb/>welches in jenen Gegenden vorherrſchend iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5836" xml:space="preserve">— Allenthalben, <lb/>wo die den weiten Transport nicht lohnende Braunkohle <lb/>heimatlich iſt, findet man entweder einen eiſernen Aufſatz über <lb/>einem viereckigen Brennraum aus Kacheln, oder einen Kachel-<lb/>aufſatz über einem eiſernen Brennraum. </s>
  <s xml:id="echoid-s5837" xml:space="preserve">Dieſe Einrichtung <lb/>geſtattet den Gebrauch der billigen Kohle auch in den Wohn-
<pb o="154" file="0422" n="422"/>
zimmern, weil die ſchnell erhitzten, eiſernen Teile des Ofens den <lb/>Luftzug in demſelben befördern und die Gaſe der Kohle ab-<lb/>leiten. </s>
  <s xml:id="echoid-s5838" xml:space="preserve">Zudem bietet der aus Kacheln beſtehende Teil des <lb/>Ofens den Vorteil, daß dieſer, einmal erhitzt, nicht ſo leicht <lb/>abkühlt und gut nachwirkt, wenn man das Feuer hat aus-<lb/>gehen laſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5839" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5840" xml:space="preserve">Die Billigkeit der Kohle in ſolchen Gegenden iſt alſo die <lb/>Urſache, daß man auf die Unannehmlichkeiten des eiſernen <lb/>Ofens nicht all zu ſehr achtet. </s>
  <s xml:id="echoid-s5841" xml:space="preserve">— Wo man jedoch im eiſernen <lb/>Ofen nur Koks verwendet — wie das im allgemeinen in <lb/>Berlin der Fall iſt — da überwiegen die Nachteile und machen <lb/>den Gebrauch des eiſernen Ofens nur in ganz beſonderen <lb/>Fällen ratſam.</s>
  <s xml:id="echoid-s5842" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5843" xml:space="preserve">In großen Städten hat ſich indeſſen derſelbe dennoch ſtark <lb/>in den Wohnhäuſern eingebürgert. </s>
  <s xml:id="echoid-s5844" xml:space="preserve">Es rührt dies daher, daß <lb/>es hier gar zu häufig Fälle giebt, wo der Beſitzer eines <lb/>möblierten Zimmers, und ſelbſt einer eigenen Wohnung, durch <lb/>den Tag außer dem Hauſe beſchäftigt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5845" xml:space="preserve">Es bedarf alſo ein <lb/>ſolcher nur eine flüchtige, ſchnell erregte und auch bald wieder <lb/>verwehende Wärme für die wenigen Stunden, die er in ſeinen <lb/>vier Pfählen zubringt, und dergleichen iſt in der That nur <lb/>durch den eiſernen Ofen zu bewerkſtelligen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5846" xml:space="preserve">Da es ſich hier <lb/>nicht um einen dauernden Aufenthalt in den geheizten Räumen <lb/>handelt, ſo treten in der That die Nachteile nicht ſo ſehr in <lb/>den Vordergrund. </s>
  <s xml:id="echoid-s5847" xml:space="preserve">Zumeiſt ſind es auch nur junge Leute, die <lb/>ſich dieſer Heizung bedienen, welche nicht allzu empfindlich in <lb/>Bezug auf ihre Geſundheit ſind, und wenn in ſolchen Fällen <lb/>nicht gar zu heftig geheizt wird, ſo ſchwinden auch die Nach-<lb/>teile bedeutend. </s>
  <s xml:id="echoid-s5848" xml:space="preserve">— Wenn wir trotzdem dieſe Heizung nicht <lb/>ratſam finden, ſo iſt ſie doch in ſolchen Fällen mit nötiger <lb/>Vorſicht mindeſtens anwendbar.</s>
  <s xml:id="echoid-s5849" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5850" xml:space="preserve">Dahingegen müſſen wir den dauernden Gebrauch des <lb/>eiſernen Ofens in Familien-Zimmern ganz entſchieden ver-
<pb o="155" file="0423" n="423"/>
werfen und ihn namentlich für junge Kinder und Perſonen in <lb/>höherem Alter als ſchädlich bezeichnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5851" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div157" type="section" level="1" n="143">
<head xml:id="echoid-head156" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXVII. Wie man den Torf praktiſcher macht.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5852" xml:space="preserve">Ein Hindernis für die Benutzung des Torfs in den Woh-<lb/>nungen liegt zumeiſt ſchon in unſeren Witterungsverhältniſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5853" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5854" xml:space="preserve">Im ganzen heizt man durchſchnittlich kaum durch fünf <lb/>Monate des Jahres, in dieſen herrſcht bei gewöhnlichen Wintern <lb/>höchſtens dreißig Tage über zehn Grad Kälte; </s>
  <s xml:id="echoid-s5855" xml:space="preserve">höhere Kältegrade <lb/>zählen ſchon zu den Ausnahmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5856" xml:space="preserve">Hierzu kommt noch, daß oft die <lb/>kälteſten Tage nicht aufeinander folgen, ſondern oft durch Thau-<lb/>wetter unterbrochen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s5857" xml:space="preserve">— Nun aber iſt die Torfheizung eine <lb/>ſtarke und nachhaltige, die in wirklich kalten Tagen ſehr vor-<lb/>teilhaft iſt, die jedoch bei mildem Wetter nicht ſelten läſtig wird. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5858" xml:space="preserve">Da man nun durch den ganzen Winter weit mehr milde als <lb/>wirklich ſtarke Froſttage hat, ſo entſchließen ſich viele Wirt-<lb/>ſchaften nicht recht zur Torfheizung, die ihnen doch eigentlich <lb/>nur in verhältnismäßig wenigen Tagen den vollen Nutzen ge-<lb/>währt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5859" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5860" xml:space="preserve">Ja, der Umſtand, daß man bei Torf doch ſtets etwas <lb/>Holz zum Vorheizen nötig und alſo auch eine doppelte Heizung, <lb/>das heißt eine doppelte Mühe und eine zwiefache Ausgabe hat, <lb/>dieſer Umſtand bringt es zu Wege, daß Torf auch in der Zeit, <lb/>bevor die Braunkohlenbriketts den weiten Eingang gefunden <lb/>hatten, wie heute, dennoch unbeliebt war.</s>
  <s xml:id="echoid-s5861" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5862" xml:space="preserve">Dazu kommt noch, daß man mit Holz-Heizung ſchneller <lb/>fertig iſt, daß der Torf weniger reinlich im Zimmer iſt und <lb/>im Ofen zuviel Aſche hinterläßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5863" xml:space="preserve">Rechnet man hierzu noch <lb/>die in der That ſchlimme Eigenſchaft vieler Torfſorten, bei <lb/>drückendem, windigen Tauwetter einen durchdringenden, eignen
<pb o="156" file="0424" n="424"/>
Geruch im Zimmer zu verbreiten, ſo erklärt ſich’s, daß man <lb/>den Torf auch früher weit weniger in Gebrauch ſah, als er es <lb/>verdiente.</s>
  <s xml:id="echoid-s5864" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5865" xml:space="preserve">Gleichwohl müſſen wir dem Torf das Wort reden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5866" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5867" xml:space="preserve">Man ſpart in milden Wintertagen freilich nicht viel bei <lb/>ſeiner Benutzung; </s>
  <s xml:id="echoid-s5868" xml:space="preserve">aber das eben iſt das Weſen der wahren <lb/>Sparſamkeit, daß ſie in geringem Grade wahrgenommen wird. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5869" xml:space="preserve">Die Erſparnis mag durch den Tag gering ſein, durch den <lb/>ganzen Winter iſt ſie nicht unbedeutend.</s>
  <s xml:id="echoid-s5870" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5871" xml:space="preserve">Der Umſtand, daß man ohnehin zum Torf noch Holz <lb/>braucht, iſt freilich läſtig und oft ſchon in Bezug auf die Räum-<lb/>lichkeit ſtörend. </s>
  <s xml:id="echoid-s5872" xml:space="preserve">Wenn man indeſſen guten Torf zeitig im <lb/>Hochſommer ankauft und dafür ſorgt, daß er recht gut aus-<lb/>getrocknet in den Keller oder Bodenraum gelangt, ſo iſt der <lb/>Holzverbrauch zum Anbrennen ſehr mäßig und rechtfertigt <lb/>keineswegs die Klage gegen den Torf. </s>
  <s xml:id="echoid-s5873" xml:space="preserve">Hat man ſich in den Beſitz <lb/>eines guten, trockenen Torfes geſetzt, und ſorgt man dafür, daß <lb/>das Holz zum Anfeuern gut kleingemacht iſt, wie ferner, daß <lb/>die Torfſoden nicht ganz, ſondern in der Länge geſpalten und <lb/>möglichſt hohl geſchichtet in den Ofen kommen, ſo wird das <lb/>Anbrennen, wie überhaupt das Brennen des Torfes ſchnell <lb/>genug vor ſich gehen und vielen Unannehmlichkeiten vorbeugen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5874" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5875" xml:space="preserve">Was das Krümeln und Aſchen des Torfes betrifft, ſo <lb/>werden wirtliche Hausfrauen hierin nicht um Rat verlegen <lb/>ſein und leichtere Aushilfe finden, als wir ſie zu geben ver-<lb/>mögen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5876" xml:space="preserve">nur darauf wollen wir aufmerkſam machen, daß ſehr <lb/>guter Torf — und ſolchen können wir nur empfehlen — eher <lb/>bröckelt als krümelt, und weit weniger Aſche hinterläßt, als <lb/>ſchlechter, daß alſo auch dieſe Übel ſich mäßigen, je umſichtiger <lb/>man beim Einkauf des Materials iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5877" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5878" xml:space="preserve">Der durchdringende Geruch des Torfes iſt freilich ein <lb/>Übelſtand von Bedeutung und verdient eine ernſtliche Erwägung. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5879" xml:space="preserve">Es kann ſich nur darum handeln, ihn zu vermeiden und durch
<pb o="157" file="0425" n="425"/>
Vorrichtungen ſein Eindringen in die Zimmer zu verhindern. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5880" xml:space="preserve">— Vermieden wird er, wenn der Zug im Ofen recht lebhaft <lb/>unterhalten wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s5881" xml:space="preserve">Ferner muß man ſich hüten, die Ofenthür <lb/>zu öffnen, wenn brennender Torf dagegen liegt; </s>
  <s xml:id="echoid-s5882" xml:space="preserve">denn fällt ein <lb/>Stückchen davon ins Zimmer, ſo hält es ſchwer, den Geruch <lb/>loszuwerden. </s>
  <s xml:id="echoid-s5883" xml:space="preserve">— Will man aber hierin am ſicherſten gehen, <lb/>ſo thut man am beſten, ſich der Ofeneinrichtung mit luftdichter <lb/>Thür zu bedienen, die überhaupt ſehr vieles für ſich hat, und <lb/>die wir als eine weſentliche Verbeſſerung der praktiſchen <lb/>Heizung nunmehr etwas näher betrachten müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5884" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div158" type="section" level="1" n="144">
<head xml:id="echoid-head157" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXVIII. Die luftdicht verſchloſſenen Ofenthüren.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5885" xml:space="preserve">Die Heizung mit luftdicht verſchloſſenen Ofenthüren iſt im <lb/>vollen Sinne des Wortes ein Thema der Praxis, denn es iſt <lb/>eine unbeſtreitbare Thatſache, daß nur dieſe dieſen Fortſchritt <lb/>errungen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5886" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5887" xml:space="preserve">Der Stubenofen ſelbſt braucht zu dieſer Heizungsart nicht <lb/>beſonders hergerichtet zu werden, wenn nur die Feuerungsſtelle <lb/>geräumig und der Zug gut iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5888" xml:space="preserve">Die ganze Einrichtung beſteht <lb/>darin, daß man einen recht dichten Verſchluß an der Ofen-<lb/>thüre anbringt, ſo daß, wenn die Thür geſchloſſen iſt, die Luft <lb/>des Zimmers nicht mit der des Ofens in Verbindung ſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s5889" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5890" xml:space="preserve">Wie gewöhnlich befinden ſich an ſolchem Ofen zwei Thüren. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5891" xml:space="preserve">Die eine, die Feuerthür, meiſt aus Eiſen, hat die Zugklappe <lb/>oder eine ſonſtige Öffnung, durch welche die Luft beim Brennen <lb/>des Feuers in den Ofen einſtrömt; </s>
  <s xml:id="echoid-s5892" xml:space="preserve">die zweite iſt dick und be-<lb/>ſitzt eine Vorrichtung, durch welche man ſie ſehr feſt an den <lb/>am Ofen befeſtigten, metallenen Thürrahmen anſchrauben kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s5893" xml:space="preserve"><lb/>Hat man dies gethan, ſo iſt freilich keineswegs ein völlig luft-<lb/>dichter Verſchluß des Ofens entſtanden, aber es bewirkt dies
<pb o="158" file="0426" n="426"/>
eine Abſperrung des Ofens und eine andere Art der Ver-<lb/>brennung des Brennmaterials als die früher übliche.</s>
  <s xml:id="echoid-s5894" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5895" xml:space="preserve">Man heizt nämlich einen ſolchen Ofen wie gewöhnlich mit <lb/>kleinem, recht trockenen Holz und einer Portion Torf, oder noch <lb/>zweckmäßiger mit Braunkohlenbriketts oder auch Steinkohle, <lb/>und wartet ungefähr die Zeit ab, in der die Flamme die größte <lb/>Ausdehnung gewonnen und das Aubrennen in allen Teilen <lb/>begonnen hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s5896" xml:space="preserve">Bis dahin unterhält man den Zug wie ge-<lb/>wöhnlich dadurch, daß man die eiſerne Heizthür ſchließt und <lb/>die daran befindliche Zugklappe offen läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5897" xml:space="preserve">Sobald aber das <lb/>Brennen ſo recht im Zuge iſt, ſchließt man nicht nur die Zug-<lb/>klappe der Heizthür, ſondern auch die zweite Thür vermittelſt <lb/>der angebrachten Vorrichtung, und zwar ſo feſt wie möglich, <lb/>und überläßt das Brennmaterial und den Ofen nun ſich ſelber. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5898" xml:space="preserve">Man ſollte meinen, daß durch dieſe Unterbrechung des bis-<lb/>herigen Luftzuges das Feuer ausgehen müſſe; </s>
  <s xml:id="echoid-s5899" xml:space="preserve">dies iſt aber <lb/>keineswegs der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s5900" xml:space="preserve">Das Feuer brennt fort, der Ofen nimmt <lb/>in ſehr ſtarkem Grade an Wärme zu und heizt das Zimmer <lb/>beträchtlich beſſer als bei offener Thür. </s>
  <s xml:id="echoid-s5901" xml:space="preserve">Es verſteht ſich von <lb/>ſelbſt, daß man eine eventuell noch vorhandene Ofenklappe, <lb/>die zum Schornſtein führt, nicht ſchließt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5902" xml:space="preserve">Heutzutage wird ja <lb/>die Ofenklappe überhaupt allermeiſt ganz weggelaſſen, da ſie <lb/>die Veranlaſſung iſt, daß bei ihrem Verſchluß, während die <lb/>Feuerung noch brennt, ſehr giftige Gaſe ins Zimmer gelangen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5903" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5904" xml:space="preserve">Daß dieſe Heizungsart vorteilhaft iſt, das weiß jetzt jeder, <lb/>der ſie praktiſch verſucht hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s5905" xml:space="preserve">daß das Feuer fortbrennt trotz <lb/>der luftdicht verſchloſſenen Thür, iſt eine Thatſache, von welcher <lb/>ſich jedermann überzeugen kann, wenn er die Materialien, wie <lb/>man ſie am andern Morgen vorfindet, mit dem Zuſtand vergleicht, <lb/>in welchem ſie beim Schließen der Thür geweſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5906" xml:space="preserve">daß aber <lb/>die Verbrennung von dem Augenblicke des Schließens der Thür <lb/>ab eine andere iſt als die vorherige, iſt an ſich klar, und läßt <lb/>ſich auch erkennen am Anblick der Überreſte des Brennmaterials,
<pb o="159" file="0427" n="427"/>
denn man findet oft, daß die Schichtung und Lagerung des <lb/>Brennmaterials ſich gehalten hat, ſo daß man die Form der <lb/>Holzſtücke in der zurückbleibenden Kohle, die Form der Torf-<lb/>ſoden in der zurückbleibenden Aſche ſogar noch erkennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5907" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5908" xml:space="preserve">Iſt man erſt von der Richtigkeit dieſer Thatſachen durch <lb/>eigene Erfahrung überzeugt worden, ſo muß man eingeſtehen, <lb/>daß eine wiſſenſchaftliche Erklärung dieſer Erſcheinung äußerſt <lb/>wichtig iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5909" xml:space="preserve">So weit wir ſie zu geben imſtande ſind, ſoll es <lb/>im nächſten Abſchnitt geſchehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s5910" xml:space="preserve">hier wollen wir nur noch das <lb/>eine hinzufügen, daß mit dieſer Heizungsart viele Unannehm-<lb/>lichkeiten ſchwinden, die ſonſt den Torf, und wie wir bereits <lb/>angedeutet, auch die Steinkohle unbeliebt machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5911" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5912" xml:space="preserve">Vor allem nimmt dieſe Heizung nicht viel Zeit in An-<lb/>ſpruch; </s>
  <s xml:id="echoid-s5913" xml:space="preserve">man braucht ſich um das Abbrennen und das Schließen <lb/>der Klappe nicht zu kümmern. </s>
  <s xml:id="echoid-s5914" xml:space="preserve">Iſt die Thür dicht, ſo hat <lb/>man keinen üblen Torfgeruch und keinen gefährlichen Kohlen-<lb/>dunſt zu befürchten, und endlich dürfen wir verſichern, daß <lb/>man bei trockenem Torf nur wenig Holz zum Anfeuern braucht <lb/>ja, wir glauben ſogar, daß, wenn man den richtigen Moment <lb/>zum Schließen der Thür durch Erfahrung kennen gelernt hat, <lb/>der Holzverbrauch noch geringer ſein kann, als beim Heizen <lb/>mit offener Zugklappe.</s>
  <s xml:id="echoid-s5915" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div159" type="section" level="1" n="145">
<head xml:id="echoid-head158" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXIX. Eine Erklärung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5916" xml:space="preserve">Was wir naturwiſſenſchaftlich von der Heizung bei luft-<lb/>dicht verſchloſſener Ofenthür zu ſagen haben, iſt Folgendes. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5917" xml:space="preserve">Es iſt eine bekannte und von uns auch in den vorhergehenden <lb/>Abſchnitten öfter ausgeſprochene Thatſache, daß alle Ver-<lb/>brennungen im gewöhnlichen Sinne nur geſchehen können <lb/>wenn der Sauerſtoff der Luft zum Brennmaterial zuſtrömen
<pb o="160" file="0428" n="428"/>
kann, wie endlich, daß jedes Feuer erliſcht, ſobald man den <lb/>Zutritt der Luft verhindert.</s>
  <s xml:id="echoid-s5918" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5919" xml:space="preserve">Es giebt indeſſen bei der Verbrennung Momente, wo die <lb/>Umſtände ſich weſentlich anders geſtalten als in gewöhnlichen <lb/>Fällen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5920" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5921" xml:space="preserve">Vor allem erinnern wir an die Selbſtentzündungen von <lb/>Pflanzenſtoffen, die oft gerade dort entſtehen, wo der Zutritt <lb/>der freien Luft verhindert wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s5922" xml:space="preserve">Es iſt bekannt, daß friſch <lb/>eingeſtampftes Heu in verſchloſſenen Schobern eine chemiſche <lb/>Selbſtentzündung erzeugt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5923" xml:space="preserve">Auch hier kann dieſe Entzündung <lb/>ſelbſtverſtändlich nur bei Anweſenheit von Sauerſtoff ſtatt-<lb/>haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s5924" xml:space="preserve">allein der Sauerſtoff kommt hier nicht aus der Luft, <lb/>ſondern er wird durch die chemiſche Zerſetzung frei, welche <lb/>inmitten des feuchten Materials vor ſich geht.</s>
  <s xml:id="echoid-s5925" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5926" xml:space="preserve">Es giebt ferner noch andere Verbrennungsvorgänge, <lb/>welche man abſichtlich bei abgeſchloſſenem oder mindeſtens ſehr <lb/>ſpärlichem Luftzutritt vornimmt, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s5927" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s5928" xml:space="preserve">die Kohlen-<lb/>brennerei, wo man gerade durch Verhinderung des freien Luft-<lb/>zutritts eine Verbrennung der Gaſe des Holzes bewirkt, ohne <lb/>daß der Kohlenſtoff desſelben verbrannt wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s5929" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5930" xml:space="preserve">Endlich müſſen wir daran erinnern, daß zwar bei der <lb/>Heizung mit luftdicht verſchloſſenen Ofenthüren der Luftzutritt <lb/>durch die Zugklappe ſehr behindert iſt, daß aber die Klappe zum <lb/>Schornſtein offen bleibt und ſomit der Zutritt der Luft nur <lb/>ſehr vermindert, aber nicht ganz aufgehoben iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5931" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5932" xml:space="preserve">In Anbetracht all’ dieſer Umſtände müſſen wir annehmen, <lb/>daß wirklich im Moment, wo man die Ofenthür luftdicht ver-<lb/>ſchließt, eine bedeutende Veränderung in dem Verbrennungs-<lb/>vorgang eintritt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5933" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5934" xml:space="preserve">Man muß nämlich nicht außer acht laſſen, daß in dem <lb/>Ofen bei dem hohen Grad der Hitze eine bedeutende Luft-<lb/>verdünnung ſtattfindet, und daß, ſelbſt wenn die verbrannten <lb/>Gaſe aus dem Ofen in den Schornſtein ſtrömen, dennoch
<pb o="161" file="0429" n="429"/>
neben dieſen ein geringer Strom von Luft in den Ofen hinein-<lb/>ziehen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s5935" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5936" xml:space="preserve">Es iſt leicht, durch Verſuche nachzuweiſen, daß bei unſeren <lb/>gewöhnlichen Cylinderlampen etwas Ähnliches ſtattfindet, wenn <lb/>man die Einſtrömung der Luft von unten verhindert. </s>
  <s xml:id="echoid-s5937" xml:space="preserve">Es ver-<lb/>liſcht die Lampe dann keineswegs, ſondern ſie blakt langſam <lb/>fort, und zwar geſpeiſt vom Sauerſtoff der Luft, der an der <lb/>einen Seite des Cylinders abwärts zur Flamme ſinkt, während <lb/>auf der andern Seite der Ruß in die Höhe ſteigt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5938" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5939" xml:space="preserve">Dieſe Anſicht wird noch durch den Umſtand beſtätigt, daß <lb/>ſich oft bei engen Ofenröhren Waſſer abſetzt und durch die <lb/>Röhren an den Wänden entlang herabtröpfelt; </s>
  <s xml:id="echoid-s5940" xml:space="preserve">denn dieſes <lb/>Waſſer entſteht von der Abkühlung des ausſtrömenden Waſſer-<lb/>dampfes durch die einſtrömende, kalte Luft. </s>
  <s xml:id="echoid-s5941" xml:space="preserve">In engen Röhren <lb/>begegnen Waſſerdampf vom Ofen und kalte Luft vom Schorn-<lb/>ſtein herſtrömend einander, und bilden zuſammen den Nieder-<lb/>ſchlag des Waſſers, das dann durch die Fugen der Röhren <lb/>ſickert.</s>
  <s xml:id="echoid-s5942" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5943" xml:space="preserve">Iſt dieſe Erklärung begründet, ſo ergeben ſich die Vor-<lb/>teile der Heizung mit luftdichten Ofenthüren von ſelber.</s>
  <s xml:id="echoid-s5944" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5945" xml:space="preserve">Vor allem entzieht der Ofen nicht dem Zimmer ſo viel <lb/>Luft und nötigt dieſes nicht, friſche, kalte Luft durch Thür- und <lb/>Fenſterſpalten einzulaſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5946" xml:space="preserve">Ferner ſtrömt weniger heiße Luft <lb/>zum Schornſtein hin, die jedenfalls eine bedeutende Portion <lb/>Wärme dem Ofen entzieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s5947" xml:space="preserve">Endlich findet eine langſamere <lb/>Verbrennung ſtatt, die zwar nicht mit ſo hohem Hitzegrad vor <lb/>ſich geht, wie eine ſchnelle, aber dafür weit angemeſſener iſt, <lb/>die ſchlecht leitenden Kacheln des Ofens durch die andauernde <lb/>Erhitzung zu erwärmen, was namentlich für die Benutzung der <lb/>Steinkohlen von größter Wichtigkeit iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s5948" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5949" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s5950" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s5951" xml:space="preserve">Volksbücher XIV.</s>
  <s xml:id="echoid-s5952" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="162" file="0430" n="430"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div160" type="section" level="1" n="146">
<head xml:id="echoid-head159" xml:space="preserve"><emph style="bf">XL. Das Kochen im Ofen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5953" xml:space="preserve">Bei Gelegenheit der praktiſchen Heizung haben wir noch <lb/>eine Frage zu berühren, welche mancher nachdenkenden Haus-<lb/>frau ſchon viel Kopfzerbrechen gemacht hat, nämlich die <lb/>Frage: </s>
  <s xml:id="echoid-s5954" xml:space="preserve">ob es praktiſch vorteilhaft iſt, im Ofen zu kochen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5955" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5956" xml:space="preserve">Zwar hat dieſe Frage für diejenigen kein Intereſſe, für <lb/>welche das Kochen überhaupt oder doch das Kochen im Ofen <lb/>zu unbequem iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5957" xml:space="preserve">Es giebt aber nicht wenig kleine Wirt-<lb/>ſchaften, wo der Wunſch des Sparens dieſe Frage ſehr ernſtlich <lb/>erwägen läßt, und nicht wenige Frauen, die trotz mannigfacher <lb/>Erfahrungen über dieſe Frage nicht ordentlich mit ſich ins <lb/>Reine kommen können.</s>
  <s xml:id="echoid-s5958" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5959" xml:space="preserve">Was wir zur Erklärung und Belehrung hierüber zu ſagen <lb/>haben, iſt Folgendes.</s>
  <s xml:id="echoid-s5960" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5961" xml:space="preserve">So eigentlich liegt beim Kochen im Ofen keine Erſparnis <lb/>im Brennmaterial. </s>
  <s xml:id="echoid-s5962" xml:space="preserve">Es iſt nämlich eine Thatſache, die un-<lb/>zweifelhaft feſt daſteht, daß dieſelbe Summe von Wärme, welche <lb/>das Kochgeſchirr und die darin befindliche Speiſe erhitzt, dem <lb/>Ofen entzogen wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s5963" xml:space="preserve">Der Ofen verliert alſo dieſelbe Hitze, <lb/>welche dem Eſſen zu gute kommt, und ſomit macht das Kochen <lb/>im Ofen die Stube kälter. </s>
  <s xml:id="echoid-s5964" xml:space="preserve">Allein wenn man hieraus ſchließen <lb/>ſollte, daß das Kochen im Ofen keine Erſparnis an Brenn-<lb/>material zu Wege bringt, ſo würde man irren. </s>
  <s xml:id="echoid-s5965" xml:space="preserve">Ja, in gewiſſen <lb/>Fällen iſt die Erſparnis recht bedeutend.</s>
  <s xml:id="echoid-s5966" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5967" xml:space="preserve">Die Erſparnis liegt darin, daß man durch das Kochen <lb/>im Ofen imſtande iſt, wit außerordentlich wenigem Brenn-<lb/>material ſeine Speiſe ins Kochen zu bringen, während auf dem <lb/>Herde eine beträchtliche Summe des Brennmaterials nebenher <lb/>verloren geht.</s>
  <s xml:id="echoid-s5968" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5969" xml:space="preserve">Bringt man einen Topf Waſſer im Ofen zum Kochen, ſo <lb/>entzieht zwar jedes Pfund Waſſer dem Ofen eine beſtimmte
<pb o="163" file="0431" n="431"/>
Portion Wärme; </s>
  <s xml:id="echoid-s5970" xml:space="preserve">allein jede Spur von Überſchuß an Wärme, <lb/>die das Waſſer nicht aufnimmt, verbleibt dem Ofen. </s>
  <s xml:id="echoid-s5971" xml:space="preserve">Man <lb/>kocht zwar auf Koſten des Ofens; </s>
  <s xml:id="echoid-s5972" xml:space="preserve">aber es geht hierbei nichts von <lb/>Wärme verloren. </s>
  <s xml:id="echoid-s5973" xml:space="preserve">— Kocht man aber denſelben Topf Waſſer <lb/>auf dem Herd, ſo muß man ſoviel Feuer anmachen, daß ſo-<lb/>wohl die Heizſtelle des Herdes, wie die Wände und die Luft <lb/>mit erwärmt werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s5974" xml:space="preserve">denn das Waſſer wird erſt ins Kochen <lb/>geraten, wenn die ganze Umgebung des Feuers tüchtig erhitzt <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5975" xml:space="preserve">Auf dem Herde alſo braucht man mehr Wärme, um das <lb/>Waſſer ins Kochen zu bringen, als das Waſſer ſelber verſchluckt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5976" xml:space="preserve">Auf dem Herd wird alſo Wärme verſchwendet; </s>
  <s xml:id="echoid-s5977" xml:space="preserve">es geht eine <lb/>Portion derſelben im Material des Feuerherdes und in der <lb/>Luft verloren, die zu nichts nützt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5978" xml:space="preserve">Dieſe auf dem Herd ver-<lb/>ſchwendete Wärme iſt es, die im Ofen dieſem zu gute kommt, <lb/>und deshalb iſt es wirklich ſparſam, im Ofen zu kochen.</s>
  <s xml:id="echoid-s5979" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5980" xml:space="preserve">Wer dies Verhältnis richtig auffaßt, der wird leicht ein-<lb/>ſehen, wie es wohl ganz wahr iſt, daß durch das Kochen im <lb/>Ofen der Ofen ſelber etwas Wärme einbüßt; </s>
  <s xml:id="echoid-s5981" xml:space="preserve">aber wenn man <lb/>bedenkt, daß man ſonſt genötigt wäre, auf dem Herd zu kochen, <lb/>und auf dieſem viel Wärme hätte verſchwenden müſſen, um <lb/>das Waſſer im gewünſchten Maße zu erhitzen, ſo liegt im <lb/>Verluſt, den der Ofen an Wärme erleidet, verglichen mit dem <lb/>Verluſt an Wärme, die auf dem Herde hätte geopfert werden <lb/>müſſen, dennoch eine Erſparnis.</s>
  <s xml:id="echoid-s5982" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5983" xml:space="preserve">Dies ſpüren auch wirtſchaftliche Hausfrauen ſehr wohl; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s5984" xml:space="preserve">was ſie aber dennoch in dieſer Wahrnehmung ſtutzig macht, iſt <lb/>der Umſtand, daß zuweilen, und namentlich gerade bei ſtrenger <lb/>Kälte, der Ofen nicht recht warm werden will, ſolange man <lb/>in demſelben kocht, und dadurch gerät man auf den Gedanken, <lb/>daß das Kochen im Ofen dennoch ſeinen Haken haben mag.</s>
  <s xml:id="echoid-s5985" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5986" xml:space="preserve">Und auch dies hat ſeine Richtigkeit, wenigſtens unter ge-<lb/>wiſſen Umſtänden; </s>
  <s xml:id="echoid-s5987" xml:space="preserve">es kommt nämlich darauf an, was man im <lb/>Ofen kocht.</s>
  <s xml:id="echoid-s5988" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="164" file="0432" n="432"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s5989" xml:space="preserve">Es giebt Speiſen, die fertig ſind, ſobald ſie nur einmal <lb/>aufgekocht haben, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s5990" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s5991" xml:space="preserve">Gries-, Gier- oder Mehlſpeiſen, die <lb/>man in Waſſer aufquellen läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s5992" xml:space="preserve">Es giebt aber auch Speiſen, <lb/>die lange und fortdauernd im Kochen erhalten werden müſſen, <lb/>wenn ſie genießbar werden ſollen, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s5993" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s5994" xml:space="preserve">Reis, Erbſen, Bohnen <lb/>oder gar Fleiſch. </s>
  <s xml:id="echoid-s5995" xml:space="preserve">— Nun iſt es mit dem Kochen von Waſſer ein <lb/>ganz eigen Ding. </s>
  <s xml:id="echoid-s5996" xml:space="preserve">Bis zu dem Moment nämlich, wo Waſſer <lb/>zu kochen anfängt, geht dies mit der Wärme ſehr haushälteriſch <lb/>um und nimmt ſie nur in dem Maße auf, wie es dieſelbe <lb/>braucht; </s>
  <s xml:id="echoid-s5997" xml:space="preserve">ſobald jedoch das Waſſer einmal kocht, wird es nicht <lb/>heißer als achtzig Grad, und wenn man ganze Haufen darunter <lb/>anzünden wollte. </s>
  <s xml:id="echoid-s5998" xml:space="preserve">Alle Wärme, die ihm jetzt noch zugeführt <lb/>wird, verwendet es, um Dampf zu bilden.</s>
  <s xml:id="echoid-s5999" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6000" xml:space="preserve">Wenden wir nun dieſes einmal auf das Kochen im Ofen <lb/>an, ſo iſt es klar, daß das heftige Feuer im Ofen bis zu dem <lb/>Moment, wo das Waſſer kocht, ſehr gut verwendet iſt, denn <lb/>es erhitzt das Waſſer ſchnell; </s>
  <s xml:id="echoid-s6001" xml:space="preserve">iſt das Waſſer aber im Kochen, <lb/>ſo fängt es an Dampf zu entwickeln, und je heftiger das <lb/>Feuer brennt, deſto ſtärker iſt die Dampfbildung. </s>
  <s xml:id="echoid-s6002" xml:space="preserve">Da aber <lb/>dieſe Dampfbildung zu nichts nütze iſt und bedeutend viel <lb/>Wärme verſchluckt, ſo iſt das Fortkochen im Ofen wirklich eine <lb/>Verſchwendung, weil eine große Portion Hitze verwendet wird <lb/>zur Bildung von Dampf, der durch den Schornſtein abzieht. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6003" xml:space="preserve">Muß man noch gar wegen des Kochens den Ofen länger offen <lb/>halten, als man ſonſt thäte, ſo iſt der Verluſt an Wärme <lb/>ſehr groß.</s>
  <s xml:id="echoid-s6004" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6005" xml:space="preserve">Aus all’ dem ergiebt ſich als Regel folgendes:</s>
  <s xml:id="echoid-s6006" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6007" xml:space="preserve">Speiſen, die gar ſind, ſobald ſie einmal aufgekocht haben, <lb/>ſind vorteilhaft im Ofen zum Kochen zu bringen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6008" xml:space="preserve">Speiſen <lb/>jedoch, die lange kochen müſſen, ſind unter Umſtänden un-<lb/>vorteilhaft, wenn man ſie im Ofen kocht, weil durch ſie eine <lb/>ganz unnütze, ſtarke Dampfbildung im Ofen befördert wird, die <lb/>außerordentlich viel Wärme dem Ofen entzieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6009" xml:space="preserve">Man thut bei
<pb o="165" file="0433" n="433"/>
ſolchen Speiſen am beſten, wenn man ſie nach dem erſten <lb/>Aufkochen aus dem Ofen nimmt, und auf dem Herd bei mäßigem <lb/>Feuer fertig kochen läßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6010" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div161" type="section" level="1" n="147">
<head xml:id="echoid-head160" xml:space="preserve"><emph style="bf">XLI. Heizgas, ein Ausblick in die Zukunft.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6011" xml:space="preserve">Wenn man bedenkt, daß eigentlich in jedem Ofen nichts <lb/>anderes heizt als das Gas des Brennmaterials, wenn man <lb/>erwägt, daß jede Flamme nur aus der Gasart beſteht, welche <lb/>das Brennmaterial in der Hitze von ſich giebt; </s>
  <s xml:id="echoid-s6012" xml:space="preserve">wenn man es <lb/>alſo für ausgemacht betrachten darf, daß jeder gewöhnliche <lb/>Stubenofen ſchon oft eine Gasanſtalt im Kleinen iſt, ſo ſollte <lb/>man freilich meinen, daß die Einrichtung von großen Gas-<lb/>anſtalten, wo man das brennbare Gas in außerordentlichem <lb/>Maße für ganze Stadtteile erzeugt, ſehr leicht herzuſtellen ſein <lb/>müßte, und daß es höchſt vorteilhaft wäre, wenn jeder zur <lb/>Heizung ſeines Zimmers dieſes Heizgas eben ſo von der Anſtalt <lb/>beziehen wollte, wie es mit dem Leuchtgas jetzt allgemein <lb/>geſchieht, das für Heizzwecke ſich nicht hinreichend nach allen <lb/>Richtungen hin bewährt hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s6013" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6014" xml:space="preserve">Sollte es aber einmal dahin kommen, daß man auf billigem <lb/>Wege z. </s>
  <s xml:id="echoid-s6015" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s6016" xml:space="preserve">Waſſerſtoffgas gewinnen lernte — und die Mög-<lb/>lichkeit läßt ſich durchaus nicht in Abrede ſtellen — ſo wird <lb/>dies eine große Umwandlung hervorrufen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6017" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6018" xml:space="preserve">Ein billiges Heizmaterial, zumal wenn man es in reiner <lb/>Gasform erhält, iſt ſchon an ſich eine Erfindung, welche die <lb/>häuslichen Verhältniſſe weſentlich umgeſtaltet. </s>
  <s xml:id="echoid-s6019" xml:space="preserve">Wenn man ſein <lb/>Brennmaterial durch ein Rohr beziehen kann, das von einer <lb/>Gasanſtalt hergeleitet wird, ſo werden Herd und Ofen eine <lb/>ganz andere neue Einrichtung erhalten, die wir jetzt kaum an-<lb/>zugeben wiſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6020" xml:space="preserve">Da Waſſerſtoff ein Gas iſt, welches beim
<pb o="166" file="0434" n="434"/>
Brennen keinen Rauch oder Dunſt hinterläßt, und nur reines <lb/>Waſſer bildet, das ſich bei der Hitze der Verbrennung in <lb/>Dampfform verbreitet, ſo bedarf man keines Rauchfangs, keines <lb/>Schornſteins und keines Zuges. </s>
  <s xml:id="echoid-s6021" xml:space="preserve">In geſchloſſenen Räumen wie <lb/>in der Küche würde dann aber freilich die Luft leicht über-<lb/>mäßig feucht werden und das gebildete Waſſer leicht alles be-<lb/>ſchlagen und an den Wänden herabrieſeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s6022" xml:space="preserve">Deshalb iſt eine <lb/>Vorrichtung, die das Waſſer nach außen führt, unerläßlich. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6023" xml:space="preserve">Welche Umgeſtaltung durch ausſchließliche Heizgasbenutzung <lb/>allein ſchon die Häuſer annehmen würden, läßt ſich leicht <lb/>denken. </s>
  <s xml:id="echoid-s6024" xml:space="preserve">Jedenfalls werden große Räumlichkeiten des Hauſes <lb/>ohnehin zu andern Zwecken als jetzt gebraucht und zur Be-<lb/>quemlichkeit der Bewohner verwendet werden können. </s>
  <s xml:id="echoid-s6025" xml:space="preserve">Am <lb/>weſentlichſten aber iſt die Zeiterſparnis, welche hierdurch er-<lb/>wachſen würde. </s>
  <s xml:id="echoid-s6026" xml:space="preserve">Nicht das Feueranmachen, das Heizen allein, <lb/>ſondern mehr noch die Zubereitung des Brennmaterials, das <lb/>Kaufen, Kleinmachen, Packen und Zurichten desſelben würde <lb/>ſchwinden und Zeit gewähren, die Menſchenkräfte zu anderen, <lb/>lohnenderen Beſchäftigungen zu verwenden.</s>
  <s xml:id="echoid-s6027" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6028" xml:space="preserve">Welche Umwandlung aber würde dies in den gewerblichen <lb/>Verhältniſſen hervorrufen? </s>
  <s xml:id="echoid-s6029" xml:space="preserve">— Es läßt ſich dieſe Frage kaum <lb/>zum kleinſten Teil überſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6030" xml:space="preserve">— Die Feuerung zu gewerblichen <lb/>Zwecken hat ſchon durch die Ausbreitung des Steinkohlenabbaues <lb/>eine ſolche Umwälzung erlitten, wie ſie kaum überſichtlich ge-<lb/>macht werden kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s6031" xml:space="preserve">Die Billigkeit des Eiſens und ſomit aller <lb/>andern Metalle ſteht in genauem Zuſammenhang mit dem <lb/>Kohlenbau, der mit der Eiſeninduſtrie aufs engſte verknüpft <lb/>werden muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s6032" xml:space="preserve">Eiſenbergwerke liegen unbebaut, und Schätze <lb/>bleiben unter der Erde vergraben, wenn es in der Nähe dieſer <lb/>Orte an Brennmaterialien fehlt, die zu ihrem Betriebe nötig <lb/>ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s6033" xml:space="preserve">Wie im Großen, ſo iſt es faſt in jeder kleinen Werkſtatt <lb/>und Fabrik, woſelbſt das Feuern eine Hauptbedingung der <lb/>Thätigkeit iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6034" xml:space="preserve">Nicht nur die Herde und Schmelzöfen nehmen
<pb o="167" file="0435" n="435"/>
Koſten und Raum in hohem Grade in Anſpruch, ſondern die <lb/>Hitze muß durch Züge und Gebläſe geſteigert werden, die in <lb/>Anlagen und Arbeit große Opfer erfordern. </s>
  <s xml:id="echoid-s6035" xml:space="preserve">Bedenkt man nun, <lb/>daß Waſſerſtoffgas nicht nur eine beliebig zu regulierende, auf <lb/>kleine Räume zu beſchränkende Flamme geben würde, ſondern <lb/>auch eine von ſo hohem Hitzegrad, wie ſie kein ſonſtiger Brenn-<lb/>ſtoff liefert, ſo läßt ſich der Aufſchwung, der hierdurch in die <lb/>Gewerbe käme, mindeſtens ahnen, wenn auch nicht vorausſagen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6036" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6037" xml:space="preserve">Aber auch im ganzen geſellſchaftlichen Zuſtand, in der <lb/>Landwirtſchaft, wie im ſtädtiſchen Leben würde eine Erfindung <lb/>dieſer Art eine Umwälzung hervorbringen, die weit über das <lb/>berechenbare Maß hinausgeht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6038" xml:space="preserve">Wenn ſich auch nicht annehmen <lb/>läßt, daß die Folgen einer ſolchen Erfindung ſich ſchnell und <lb/>die Verhältniſſe ſichtbar erſchütternd erzeugen werden — was <lb/>freilich mannigfache Übel mit ſich bringen würde — ſo iſt doch <lb/>vorauszuſehen, daß eine Entwertung des Brennholzes hieraus <lb/>hervorginge und eine neue Verwendung desſelben die natürliche <lb/>Folge wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s6039" xml:space="preserve">Bedenkt man, daß es jetzt gelungen iſt, aus Holz <lb/>ganz in ähnlicher Weiſe, wie man ſeither Eſſig machte, Zucker <lb/>und Spiritus zu fabrizieren und ſich’s zur Verwirklichung dieſer <lb/>Fabrikation im großen nur um billige Feuerung handelt, ſo <lb/>iſt es leicht möglich, daß wenige Jahre nach Erfindung eines <lb/>ſehr billigen Waſſerſtoffgaſes die Holzfaſer als Material zur <lb/>Herſtellung von Zucker und Alkohol verwendet wird, und der <lb/>bisherige großartige Kartoffelbau, der nur zum Zweck der <lb/>Branntweinbrennereien exiſtiert, weſentlich beſchränkt und das <lb/>Land zum Bau notwendigerer menſchlicher Nahrungsmittel ver-<lb/>wendet werden wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s6040" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6041" xml:space="preserve">Und doch iſt dies nur eine Seite der Veränderungen, die <lb/>ſolch eine Erfindung hervorrufen würde; </s>
  <s xml:id="echoid-s6042" xml:space="preserve">tauſendfältige andere <lb/>Einwirkungen, die viel weſentlicher ſein mögen, laſſen ſich für <lb/>jetzt noch garnicht berechnen und werden erſt auftreten, wenn <lb/>die Verwirklichung ſich ſelber gezeigt haben wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s6043" xml:space="preserve">Wie alle
<pb o="168" file="0436" n="436"/>
großen Erfindungen wird auch dieſe den Blick der Menſchen, <lb/>ihre Unternehmungsgabe ſteigern, und ſomit werden auch die <lb/>größeren geſellſchaftlichen Inſtitute, die Staaten, von dem <lb/>Fortſchritt ergriffen und auf neue Stufen ihrer Entwickelung <lb/>geführt werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s6044" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6045" xml:space="preserve">Können wir nun mit Recht ſagen, daß mit dieſer Er-<lb/>findung, deren Verwirklichung durchaus nicht zu den unwahr-<lb/>ſcheinlichen Dingen gehört, eine neue Epoche für die Menſchheit <lb/>entſtehen wird, ſo müſſen wir überhaupt nicht überſehen, daß <lb/>eine ganze Reihe anderer großer Erfindungen zugleich mit dieſer <lb/>wird verwirklicht werden können. </s>
  <s xml:id="echoid-s6046" xml:space="preserve">Billige Feuerung iſt etwas, <lb/>wodurch faſt in jedem Zweig der Induſtrie, des Handwerks, <lb/>des Maſchinenweſens und der Gewerke unendliche Verbeſſe-<lb/>rungen möglich werden, und ſomit wird der direkte Fortſchritt <lb/>dieſer Erfindung indirekt unberechenbare Fortſchritte anderer <lb/>Art wecken und der Welt einen für jetzt noch ganz unbe-<lb/>rechenbaren und unüberſehbaren Aufſchwung verleihen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6047" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6048" xml:space="preserve">Darum eben konnten wir auch von dieſem Thema der <lb/>“praktiſchen Heizung” nicht ſcheiden, ohne auf das, was mög-<lb/>licherweiſe noch einmal in unſeren Zeiten praktiſch werden <lb/>wird, den Blick zu richten, und deshalb ſchließen wir auch <lb/>dieſe, den Ausſichten der Zukunft gewidmete Schlußbetrachtung <lb/>mit dem Wahlſpruch: </s>
  <s xml:id="echoid-s6049" xml:space="preserve">“Vorwärts!”, dem ermunternden Zuruf, <lb/>dem die Welt in Wahrheit auch Folge leiſtet, trotz des Strebens <lb/>nach Verfinſterung und Verdumpfung des Geiſtes, welche geiſtige <lb/>Zwerge unſererer Zeit zumuten.</s>
  <s xml:id="echoid-s6050" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb file="0437" n="437"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div162" type="section" level="1" n="148">
<head xml:id="echoid-head161" xml:space="preserve"><emph style="bf">Die Heisung im Großen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6051" xml:space="preserve">Obwohl wir eigentlich nur diejenige Heizungsart im <lb/>Auge haben, welche ein jeder unter den gewöhnlichen Um-<lb/>ſtänden auszuführen imſtande iſt, ſo darf doch die Central-<lb/>heizung — das iſt die Beheizung einer größeren Anzahl von <lb/>Räumen von einer Stelle aus — nicht ganz mit Stillſchweigen <lb/>übergangen werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6052" xml:space="preserve">Denn es iſt nicht abzuleugnen, daß in <lb/>der Neuzeit die Centralheizungen ſehr in Aufnahme gekommen <lb/>ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s6053" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6054" xml:space="preserve">Hauptſächlich haben zwei Arten der Centralheizung als <lb/>wirklich brauchbar ſich Bahn gebrochen, nämlich die Warm-<lb/>waſſerheizung und die Niederdruckdampfheizung. </s>
  <s xml:id="echoid-s6055" xml:space="preserve">Um nicht <lb/>zu weit abzuſchweifen, ſollen deshalb im nachfolgenden nur <lb/>dieſe beiden Heizſyſteme näher erläutert werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s6056" xml:space="preserve"><anchor type="note" xlink:href="" symbol="*)"/></s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div163" type="section" level="1" n="149">
<head xml:id="echoid-head162" xml:space="preserve"><emph style="bf">XLII. Die Warm-Waſſerheizung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6057" xml:space="preserve">Der Plan, nach welchem die Warmwaſſerheizung z. </s>
  <s xml:id="echoid-s6058" xml:space="preserve">B. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6059" xml:space="preserve">der Firma E. </s>
  <s xml:id="echoid-s6060" xml:space="preserve">Angrick in Berlin durchgebildet wird, iſt in Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6061" xml:space="preserve">9 <lb/>
<anchor type="note" xlink:label="note-0437-01a" xlink:href="note-0437-01"/>
<pb o="170" file="0438" n="438"/>
veranſchaulicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6062" xml:space="preserve">— Jeder der zu erwärmenden Räume erhält <lb/>einen Ofen von entſprechender Heizkraft. </s>
  <s xml:id="echoid-s6063" xml:space="preserve">Im Keller ſteht der <lb/>gemeinſame Keſſel mit der Feuerung. </s>
  <s xml:id="echoid-s6064" xml:space="preserve">Die Verbindung des <lb/>Keſſels mit den einzelnen Öfen ſtellen je zwei Rohre, die “Zu-<lb/>leitung” und die “Rückleitung” her. </s>
  <s xml:id="echoid-s6065" xml:space="preserve">Das ganze Heizſyſtem <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0438-01a" xlink:href="fig-0438-01"/>
wird mit Waſſer gefüllt, wobei die Luft durch die hierfür vor-<lb/>geſehene “Luftleitung” ſelbſtthätig nach dem Expanſionsgefäß <lb/>aufſteigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6066" xml:space="preserve">Das Expanſionsgefäß hat den Zweck, Raum für <lb/>die mit der Erwärmung ſich ausdehnende Waſſermaſſe zu <lb/>ſchaffen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6067" xml:space="preserve">Das einmal aufgefüllte Waſſer bleibt ſtändig in der <lb/>Heizung und man hat nur den, erſt nach längerem Betriebe <lb/>hervortretenden, ſehr geringen Waſſerverluſt zu erſetzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6068" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div163" type="float" level="2" n="1">
<note symbol="*)" position="foot" xlink:label="note-0437-01" xlink:href="note-0437-01a" xml:space="preserve">Die folgenden Angaben über Centralheizungen verdanken wir <lb/>dem Heizingenieur Herrn E. Angrick in Berlin, der uns in liebenswürdigſter <lb/>Weiſe mit ſeinem Rat zur Seite geſtanden hat.</note>
<figure xlink:label="fig-0438-01" xlink:href="fig-0438-01a">
<caption xml:id="echoid-caption19" xml:space="preserve">Fig. 9.</caption>
<description xml:id="echoid-description1" xml:space="preserve">EXPANSIONS-GEFÄSS<lb/>LUFTLEITUNG<lb/>ZULEITUNG<lb/>RÜCKLEITUNG<lb/>REGULATOR<lb/>KESSEL</description>
</figure>
</div>
<pb o="171" file="0439" n="439"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6069" xml:space="preserve">Bewegung in die Waſſerfüllung des Heizſyſtems wird un-<lb/>mittelbar durch das Feuern des Keſſels gebracht, gemäß der <lb/>bekannten Thatſache, daß erwärmtes, mithin leichteres Waſſer <lb/>ſtets nach oben ſteigt, während kälteres Waſſer an ſeine Stelle <lb/>tritt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6070" xml:space="preserve">Dieſem Cirkulationsbeſtreben des Heizwaſſers entſprechend <lb/>wird alſo in Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6071" xml:space="preserve">9 die am höchſten Punkt des Keſſels ab-<lb/>zweigende Zuleitung das erwärmte Waſſer nach den Heizkörpern <lb/>führen, während die Rückleitung das im Heizkörper abgekühlte <lb/>Waſſer wieder zum Keſſel herabſinken läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6072" xml:space="preserve">Klar iſt auch, daß <lb/>man den Kreislauf des Heizwaſſers durch jeden einzelnen Heiz-<lb/>körper vermittelſt eines Abſperrventils behindern, die Wärme-<lb/>entwickelung desſelben alſo “regulieren” kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s6073" xml:space="preserve">Jedoch erweiſt <lb/>ſich dieſe von der Aufmerkſamkeit der verſchiedenen Rauminhaber <lb/>abhängige Regulierung in der Praxis als nahezu entbehrlich, <lb/>da in der richtigen Temperierung des Heizwaſſers ein noch be-<lb/>quemeres Mittel vorliegt, mit welchem man vom Keſſel her <lb/>alle Räume gleichzeitig regelrecht zu erwärmen vermag. </s>
  <s xml:id="echoid-s6074" xml:space="preserve">Soll <lb/>nun aber dieſer der Waſſerheizung eigentümliche Vorzug der <lb/>“centralen Regulierbarkeit” wirklich zur Geltung kommen, ſo <lb/>muß man zur “Selbſtregulierung” übergehen, das heißt, es <lb/>wird die ſtändige Überwachung der Feuerung einem direkt <lb/>von der Temperatur des Heizwaſſers abhängigen, verläßlichen <lb/>Automaten zugewieſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6075" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6076" xml:space="preserve">Die normale Ausführung einer ſolchen Feuerungsanlage <lb/>wird durch Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6077" xml:space="preserve">10 veranſchaulicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6078" xml:space="preserve">— Der Keſſel iſt ein <lb/>ſtehender Cylinder, von einem weiten und einem Bündel enger <lb/>Rohre durchſetzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6079" xml:space="preserve">Das weite Rohr hat den Zweck, einen großen <lb/>Koksvorrat aufzunehmen, durch die engen Rohre ſtreichen die <lb/>Feuergaſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s6080" xml:space="preserve">Auch der Keſſelmantel wird noch als Heizfläche <lb/>ausgenutzt, bevor die Gaſe zum Schornſtein gelangen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6081" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6082" xml:space="preserve">Das von oben her durch den Füllſchacht aufgegebene <lb/>Brennmaterial kommt unterhalb des Keſſels in dem Maße zur <lb/>Entzündung, als ihm durch den Roſt Verbrennungsluft zugeführt
<pb o="172" file="0440" n="440"/>
wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s6083" xml:space="preserve">Da alle Verſchlüſſe des Keſſels luftdicht bearbeitet ſind, <lb/>ſo kann die Verbrennungsluft nur durch das hierfür vorgeſehene <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0440-01a" xlink:href="fig-0440-01"/>
Luftventil zum Feuer gelangen, wobei die eingeführte Luftmenge <lb/>ſich nach der Eröffnung des Ventils richtet. </s>
  <s xml:id="echoid-s6084" xml:space="preserve">Dieſe Eröffnung
<pb o="173" file="0441" n="441"/>
bewirkt aber wieder der durch die Temperatur des Heizwaſſers <lb/>beeinflußte Regulator — es iſt alſo die Wärmeentwickelung des <lb/>Feuers abhängig gemacht von dem gewünſchten, an der Regulator-<lb/>ſkala eingeſtellten Wärmegrad des Heizwaſſers.</s>
  <s xml:id="echoid-s6085" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div164" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-0440-01" xlink:href="fig-0440-01a">
<caption xml:id="echoid-caption20" xml:space="preserve">Fig. 10.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6086" xml:space="preserve">Der Angrick’ſche Feuerungsregulator wird deutlicher veran-<lb/>ſchaulicht durch Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6087" xml:space="preserve">11. </s>
  <s xml:id="echoid-s6088" xml:space="preserve">— Ein vom Heizwaſſer durchfloſſenes <lb/>Rohr iſt durch Querhäupter mit zwei Eiſenſtangen verbunden, <lb/>deren eine mittelſt Stahlſchneide den Hebel trägt, an welchem <lb/>der Teller des Regulierventils hängt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6089" xml:space="preserve">Während nun die Länge <lb/>der beiden Eiſenſtäbe unverändert bleibt, wechſelt dieſelbe bei <lb/>dem Rohr mit der Temperatur des hindurchfließenden Waſſers. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6090" xml:space="preserve">Steigt letztere, ſo entfernen ſich mit der Verlängerung des <lb/>Rohres die beiden Querhäupter von einander, der Hebel ſinkt <lb/>und die Luftzufuhr zum Feuer wird beſchränkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6091" xml:space="preserve">Umgekehrt <lb/>hebt ſich der Ventilteller, ſobald die Waſſertemperatur ſich ver-<lb/>mindert. </s>
  <s xml:id="echoid-s6092" xml:space="preserve">Der Regulator läßt demnach eine beſtimmte Waſſer-<lb/>temperatur weder über- noch unterſchreiten, erhält dieſelbe alſo <lb/>“normal”, ſolange nicht durch Verlängerung oder Verkürzung <lb/>der Skala eine andere Temperatur eingeſtellt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s6093" xml:space="preserve">Dabei iſt <lb/>die Empfindlichkeit, mit welcher der Regulator arbeitet, der-<lb/>artig, daß im regelmäßigen Betriebe die eingeſtellte Temperatur <lb/>kaum merkbaren Schwankungen unterworfen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6094" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6095" xml:space="preserve">Erklärlich wird dieſe überraſchende Wirkung, ſobald man <lb/>neben den Abmeſſungen des Regulators auch die Hebelwirkung <lb/>des oberen Querhauptes in Rechnung zieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6096" xml:space="preserve">Es kommen ſo <lb/>bei 2 mm, um welche ſich das 1,6 m lange Rohr infolge Er-<lb/>wärmung von 0° bis 100° Celſius ausdehnt, an der Schneide <lb/>bereits 4 mm zur Geltung, die dann noch, durch ein Hebel-<lb/>verhältnis von 1 : </s>
  <s xml:id="echoid-s6097" xml:space="preserve">40 überſetzt, als Hub des Ventiltellers mit <lb/>160 mm zu Tage treten. </s>
  <s xml:id="echoid-s6098" xml:space="preserve">Dieſen Hub vermag nun der Regulator <lb/>noch mit einem Gewicht von 10 kg anſtandslos zu vollführen, <lb/>er verfügt alſo neben ſeiner großen Empfindlichkeit über eine <lb/>für den vorliegenden Zweck mehr wie ausreichende Kraft und
<pb o="174" file="0442" n="442"/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0442-01a" xlink:href="fig-0442-01"/>
<pb o="175" file="0443" n="443"/>
es dürfte klar ſein, daß der Regulator zuverläſſiger als der <lb/>beſte Wärter die Feuerung überwacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6099" xml:space="preserve">Hierbei fällt aber noch <lb/>der Umſtand ins Gewicht, daß der Regulator auch während <lb/>der Nacht ſeine Schuldigkeit thut, wodurch wiederum, abgeſehen <lb/>von der Annehmlichkeit der Dauerheizung, die Wärmeentwicke-<lb/>lung der einzelnen Heizkörper ſehr erheblich geſteigert bezw. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6100" xml:space="preserve">der Anlagepreis der geſamten Heizung weſentlich vermindert <lb/>wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s6101" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div165" type="float" level="2" n="3">
<figure xlink:label="fig-0442-01" xlink:href="fig-0442-01a">
<caption xml:id="echoid-caption21" xml:space="preserve">Fig. 11.</caption>
<description xml:id="echoid-description2" xml:space="preserve">Warmwasser Zuleitung<lb/>Thermometer<lb/>Skala<lb/>Luft<lb/>Zum Feuer<lb/>Bückleitung</description>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6102" xml:space="preserve">Wie leicht verſtändlich, hängt die Wärmeabgabe eines Heiz-<lb/>körpers in erſter Linie von der Größe ſeiner Oberfläche ab, <lb/>bauliche Verhältniſſe bedingen aber wieder das Zuſammen-<lb/>drängen der ſich ergebenden, großen Flächen zu kompakten <lb/>Ofenkonſtruktionen, dann ſind weiter die Ofenformen mit der <lb/>Umgebung in Einklang zu bringen, den ſanitären Rückſichten <lb/>iſt Rechnung zu tragen a. </s>
  <s xml:id="echoid-s6103" xml:space="preserve">Dieſen verſchiedenen Anforderungen <lb/>wäre mit einer einzigen Heizkörperkonſtruktion nicht gut zu <lb/>genügen, weshalb hier mehrere Formen zur Verwendung <lb/>kommen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6104" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6105" xml:space="preserve">Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6106" xml:space="preserve">12 veranſchaulicht einen in Amerika ſehr gebräuch-<lb/>lichen Heizkörper, der ſich unter dem Namen “Radiator” auch <lb/>in Deutſchland größere Verbreitung verſchafft hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s6107" xml:space="preserve">Aus Guß-<lb/>eiſen hergeſtellt und entſprechend der Eigenart der Gußtechnik, <lb/>beſteht der Radiator aus einer Reihe gleichartiger Glieder, die <lb/>durch gedeckte Verſchraubungen zu einem Ganzen feſt vereinigt <lb/>ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s6108" xml:space="preserve">Alle Teile des Ofens werden innerlich vom warmen <lb/>Waſſer direkt umſpült, was gleichbedeutend mit einem hohen <lb/>Heizeffekt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6109" xml:space="preserve">Verſtärkt wird dieſer Effekt noch dadurch, daß <lb/>infolge ſeiner zwar einfachen, aber nicht uneleganten Formen <lb/>der Radiator meiſtens ohne Ummantelung verwandt werden <lb/>kann und ſomit die Wärmeſtrahlung nicht behindert erſcheint. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6110" xml:space="preserve">Auch vom ſanitären Standpunkt iſt der vorliegende Heizkörper <lb/>einwandfrei, da die faſt ausſchließlich vertikalen Flächen einmal <lb/>für Staubablagerungen keine Gelegenheit bieten, dann aber
<pb o="176" file="0444" n="444"/>
auch einer gründlichen Reinigung keine Schwierigkeiten ent-<lb/>gegenſtellen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6111" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6112" xml:space="preserve">Der in Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6113" xml:space="preserve">13 dargeſtellte Angrick’ſche Kachelofen vereinigt <lb/>die Vorzüge des Radiators mit einer deutſchen Verhältniſſen <lb/>beſſer entſprechenden Form. </s>
  <s xml:id="echoid-s6114" xml:space="preserve">Letzteres iſt dadurch erreicht, daß <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0444-01a" xlink:href="fig-0444-01"/>
die für die Wärmeſtrahlung wertvollen Außenflächen als direkte <lb/>Heizflächen arbeiten, daß dagegen die dem Auge unzugänglichen <lb/>Innenflächen des Ofens noch mit einer großen Zahl vertikal <lb/>geſtellter Rippen ausgerüſtet ſind, welche von dem das Innere <lb/>des Ofens durchziehenden Luftſtrom ſehr energiſch gekühlt <lb/>werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6115" xml:space="preserve">Das Material des Kachelofens iſt, wie beim Radiator,
<pb o="177" file="0445" n="445"/>
Gußeiſen, die einzelnen Glieder ſind jedoch hier nicht neben-<lb/>einander gereiht, ſondern werden in einer mehr natürlichen <lb/>Form übereinander gebaut, wobei durch Sockel und Bekrönung <lb/>auch der gewohnten Gliederung eines Ofens Rechnung ge-<lb/>tragen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6116" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div166" type="float" level="2" n="4">
<figure xlink:label="fig-0444-01" xlink:href="fig-0444-01a">
<caption xml:id="echoid-caption22" xml:space="preserve">Fig. 12.</caption>
</figure>
</div>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption23" xml:space="preserve">Fig. 13.</caption>
</figure>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6117" xml:space="preserve">Sind die Anforderungen an die äußere Erſcheinung des <lb/>Heizkörpers derartig weitgehend, daß ſie durch die vorgeführten <lb/>Ofenformen nicht befriedigt werden, ſo behandelt man am beſten <lb/>die Ausſtattungsfrage geſondert, indem der allein für Heiz-<lb/>zwecke praktiſch konſtruierte Ofen hinter einer dekorativen Ver-</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6118" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s6119" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s6120" xml:space="preserve">Volksbücher XIV.</s>
  <s xml:id="echoid-s6121" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="178" file="0446" n="446"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6122" xml:space="preserve">kleidung untergebracht wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s6123" xml:space="preserve">Ein ſolcher Heizkörper iſt der <lb/>durch Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6124" xml:space="preserve">14 veranſchaulichte “Elementofen”. </s>
  <s xml:id="echoid-s6125" xml:space="preserve">Hier baut ſich <lb/>der Heizkörper aus S-förmigen, durch Schrauben und Dich-<lb/>tungen zuſammengehaltenen Rohrelementen auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s6126" xml:space="preserve">Durch eine <lb/>Reihe von aufgegoſſenen, runden Scheiben (Rippen) wird die <lb/>Oberfläche der Rohrelemente derartig vergrößert, daß der <lb/>Elementofen die kompakteſte und zugleich billigſte aller Heiz-<lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0446-01a" xlink:href="fig-0446-01"/>
flächen darſtellt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6127" xml:space="preserve">Allerdings iſt dieſe Heizfläche — weil ſehr <lb/>zuſammengedrängt und faſt ausſchließlich indirekt erwärmt — <lb/>nicht ſo wirkſam, wie die der vorgenannten Heizkörper, immer-<lb/>hin iſt der Elementofen vielfach durch eine zweckmäßigere Form <lb/>kaum zu erſetzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6128" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div167" type="float" level="2" n="5">
<figure xlink:label="fig-0446-01" xlink:href="fig-0446-01a">
<caption xml:id="echoid-caption24" xml:space="preserve">Fig. 14.</caption>
<description xml:id="echoid-description3" xml:space="preserve">Zuleitung<lb/>Rückleitung</description>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6129" xml:space="preserve">Wie ſchon oben angedeutet, ſpielt das Heizkörper-Regulier-<lb/>ventil bei der Warm-Waſſerheizung eine mehr untergeordnete <lb/>Rolle inſofern, als ſchon durch den Regulator am Keſſel die <lb/>Normaltemperatur für alle Räume feſtgelegt wird, trotzdem
<pb o="179" file="0447" n="447"/>
muß die Ventilkonſtruktion doch <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0447-01a" xlink:href="fig-0447-01"/>
einer Reihe von beſonderen An-<lb/>forderungen genügen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6130" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div168" type="float" level="2" n="6">
<figure xlink:label="fig-0447-01" xlink:href="fig-0447-01a">
<caption xml:id="echoid-caption25" xml:space="preserve">Fig. 50.</caption>
<description xml:id="echoid-description4" xml:space="preserve">Handrad mil abgehobener Skala</description>
<variables xml:id="echoid-variables11" xml:space="preserve">A B C</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6131" xml:space="preserve">Das Angrick’ſche Regulier-<lb/>ventil für Waſſerheizungen iſt <lb/>durch Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6132" xml:space="preserve">15 dargeſtellt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6133" xml:space="preserve">— <lb/>Die Grundform iſt das be-<lb/>währte Durchgangsventil, wie <lb/>es im Maſchinenbau allgemein <lb/>üblich iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6134" xml:space="preserve">Abweichend hiervon <lb/>iſt zunächſt die Gewindeſteigung <lb/>der Ventilſpindel derartig ſteil, <lb/>daß eine einmalige Umdrehung <lb/>des Handrades das Ventil voll-<lb/>ſtändig öffnet. </s>
  <s xml:id="echoid-s6135" xml:space="preserve">Das Maß der <lb/>Eröffnung des Ventilquerſchnitts <lb/>wird durch Skala und Zeiger <lb/>dem Auge vhne weiteres über-<lb/>mittelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6136" xml:space="preserve">Eine weitere Eigen-<lb/>tümlichkeit der Ventilkonſtruktion <lb/>iſt die Leichtigkeit, mit welcher <lb/>das Ventil für einen beliebig <lb/>größten oder kleinſten Eröff-<lb/>nungsquerſchuitt adjuſtiert wer-<lb/>den kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s6137" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6138" xml:space="preserve">Wie aus Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6139" xml:space="preserve">15 erſichtlich, <lb/>beſteht das Ventilhandrad aus <lb/>drei Teilen, von denen die <lb/>Scheibe mittelſt Vierkant auf <lb/>der Ventilſpindel ſitzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6140" xml:space="preserve">In die <lb/>Randverzahnung der Scheibe A <lb/>legt ſich die entſprechende Ver-<lb/>zahnung des Hartgummiringes B,
<pb o="180" file="0448" n="448"/>
während durch Anziehen der beiden Schrauben in der Scheibe C <lb/>der Zahneingriff unverrückbar feſtgehalten wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s6141" xml:space="preserve">Da nun der <lb/>Anſatz des Ringes B — je nach der Einſtellung des Zahneingriffs <lb/>— früher oder ſpäter an die Naſe des Ventilkörpers anſtößt, <lb/>ſo iſt es klar, daß die Genauigkeit der Ventileinſtellung von <lb/>der beliebig zu geſtaltenden Feinheit der Zahnteilung unmittelbar <lb/>abhängig gemacht iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6142" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6143" xml:space="preserve">Dieſe Adjuſtierbarkeit des Ventils kommt bei der Warm-<lb/>waſſerheizung hauptſächlich inſofern zur Geltung, als durch <lb/>Feſtlegen einer beſtimmten kleinſten Ventileröffnung die Froſt-<lb/>gefahr vermieden wird, welche ſonſt bei gänzlich geſchloſſenem <lb/>Ventil unter Umſtänden eintritt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6144" xml:space="preserve">Eine Eisbildung im Innern <lb/>der Heizkörper und Rohre zu verhindern, iſt aber eine der <lb/>Hauptforderungen bei jeder Waſſerheizung, da das Eis be-<lb/>kanntlich einen ſehr viel größeren Rauminhalt als das Waſſer <lb/>beanſprucht und bei ſeinem Ausdehnungsbeſtreben auch die <lb/>ſtärkſten Eiſenrohre zerſprengt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6145" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6146" xml:space="preserve">Als Material für die Rohrleitungen wird bei der Warm-<lb/>waſſerheizung durchweg ſtarkwandiges, ſchmiedeeiſernes Rohr <lb/>verwandt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6147" xml:space="preserve">Die Rohrverbindungen ſind, wenn irgend an-<lb/>gängig, Verſchraubungen, wodurch ein außerordentlich ſolides <lb/>Rohrſyſtem entſteht, das im Laufe der Jahre ſogar noch halt-<lb/>barer wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s6148" xml:space="preserve">Da hierzu auch noch die Eigentümlichkeit kommt, <lb/>daß die ſtändige Waſſerfüllung des Syſtems die Rohrwandungen <lb/>vor innerem Roſten ſchützt, ein äußeres Roſten aber leicht durch <lb/>Anſtrich a. </s>
  <s xml:id="echoid-s6149" xml:space="preserve">zu verhindern iſt, ſo muß der Warmwaſſerheizung <lb/>eine nahezu unbegrenzte Haltbarkeit zugeſprochen werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s6150" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="181" file="0449" n="449"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div170" type="section" level="1" n="150">
<head xml:id="echoid-head163" xml:space="preserve"><emph style="bf">XLIII. Die Niederdruck-Dampfheizung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6151" xml:space="preserve">Der Plan einer Angrick’ſchen Niederdruckdampfheizung iſt <lb/>durch Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6152" xml:space="preserve">16 veranſchaulicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6153" xml:space="preserve">Wie erſichtlich, weicht derſelbe faſt <lb/>garnicht von dem Schema der Warmwaſſerheizung, Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6154" xml:space="preserve">9, ab. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6155" xml:space="preserve">
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0449-01a" xlink:href="fig-0449-01"/>
Auch hier ſteht im Keller als Wärmeerzeuger ein Keſſel, der <lb/>durch zwei Rohrleitungen mit den einzelnen Heizkörpern in <lb/>Verbindung gebracht iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6156" xml:space="preserve">Als Heizmittel fließt jedoch hier <lb/>nicht Waſſer durch die Öfen, ſondern der im Keſſel aus dem <lb/>kochenden Waſſer entſtandene Dampf. </s>
  <s xml:id="echoid-s6157" xml:space="preserve">Am oberen Ende des
<pb o="182" file="0450" n="450"/>
Heizkörpers durch die Dampfleitung eintretend, drängt der <lb/>Dampf die das Ofeninnere ausfüllende, ſchwerere Luft durch <lb/>das untere Verbindungsrohr, die Kondensleitung, abwärts <lb/>nach dem frei ausmündenden Standrohr, zugleich ſich an den <lb/>Wänden des Heizkörpers als Waſſer niederſchlagend. </s>
  <s xml:id="echoid-s6158" xml:space="preserve">Dieſes <lb/>Kondenswaſſer fließt, ſeiner Schwere folgend, ebenfalls durch <lb/>die Kondensleitung nach dem Standrohr, um durch deſſen <lb/>unteres, in dem Waſſerraum des Keſſels mündendes Ende <lb/>wieder zum Keſſel zurückzukehren und als Dampf den Kreis-<lb/>lauf von neuem zu beginnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6159" xml:space="preserve">Damit nicht etwa auch der <lb/>Dampf — dem Wege der Luft folgend — durch die Kondens-<lb/>leitung und das Standrohr ins Freie auszutreten vermag, <lb/>ſind ſämtliche Heizkörperregulierventile ſo eingeſtellt, daß durch <lb/>die größtmögliche Ventilöffnung immer nur ſoviel Dampf nach <lb/>dem zugehörigen Ofen gelangt, als dieſer bei voller Erwärmung <lb/>niederſchlagen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s6160" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div170" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0449-01" xlink:href="fig-0449-01a">
<caption xml:id="echoid-caption26" xml:space="preserve">Fig. 16.</caption>
<description xml:id="echoid-description5" xml:space="preserve">STANDROHR<lb/>DAMPFLEITUNG<lb/>CONDENSLEITUNG<lb/>KESSEL</description>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6161" xml:space="preserve">Die Vorausſetzung, daß durch einen beſtimmten Ventil-<lb/>querſchnitt immer auch eine beſtimmte Dampfmenge hindurch-<lb/>fließt, trifft natürlich nur dann zu, wenn die Dampfſpannung <lb/>im Keſſel eine ſtets genau gleichbleibende iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6162" xml:space="preserve">Das ſetzt aber <lb/>weiter voraus, daß die Feuerung des Keſſels unter den Einfluß <lb/>eines für die Schwankungen des Dampfes äußerſt empfindlichen <lb/>Regulator geſtellt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s6163" xml:space="preserve">Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6164" xml:space="preserve">17 veranſchaulicht den Angrick’ſchen <lb/>Regulator für Dampfheizungen, welcher mit Druckdifferenzen <lb/>von etwa {1/200} Atmoſphäre (1 Atm. </s>
  <s xml:id="echoid-s6165" xml:space="preserve">= 10 m Waſſerſäulen-<lb/>druck!) arbeitet.</s>
  <s xml:id="echoid-s6166" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6167" xml:space="preserve">Wie bei dem Regulator der Warmwaſſerheizung iſt auch <lb/>hier die Luftzufuhr zum Feuer abhängig von der Eröffnung des <lb/>Feuerventils, deſſen Teller J vermittelſt eines Geſtänges an dem <lb/>einen Ende eines doppelarmigen Hebels aufgehängt iſt, während <lb/>das andere Ende von einem hohlen, bleibeſchwerten Kupfer-<lb/>ſchwimmer herabgezogen wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s6168" xml:space="preserve">Denkt man ſich nun das Gehäuſe <lb/>des Schwimmers einerſeits durch das Rohr G mit dem Waſſer-
<pb o="183" file="0451" n="451"/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0451-01a" xlink:href="fig-0451-01"/>
<pb o="184" file="0452" n="452"/>
raum des Keſſels, anderſeits durch das Rohr C mit der freien <lb/>Luft in Verbindung gebracht, ſo wird bei einem beſtimmten <lb/>Dampfdruck durch das aufſteigende Keſſelwaſſer der Schwimmer <lb/>gehoben, das Feuerventil geſchloſſen werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6169" xml:space="preserve">Es kann alſo <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0452-01a" xlink:href="fig-0452-01"/>
der Dampfdruck ſeine nor-<lb/>male Grenze nur um wenige <lb/>Centimeter Waſſerſäulen-<lb/>druck überſchreiten, beſon-<lb/>ders da ein Übermaß von <lb/>Druck nicht nur den Teller J <lb/>ſchließt, dem Feuer alſo <lb/>die Verbrennungslufl ent-<lb/>zieht, ſondern weiter auch <lb/>noch die Klappe H öffnet, <lb/>wodurch die Einwirkung <lb/>des Schornſteins auf die <lb/>Feuerung gänzlich aufge-<lb/>hoben und der Keſſel ſogar <lb/>noch gekühlt wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s6170" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div171" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-0451-01" xlink:href="fig-0451-01a">
<caption xml:id="echoid-caption27" xml:space="preserve">Fig. 17.</caption>
<description xml:id="echoid-description6" xml:space="preserve">zu den Zügen zum Feuer</description>
<variables xml:id="echoid-variables12" xml:space="preserve">C W F S G H J</variables>
</figure>
<figure xlink:label="fig-0452-01" xlink:href="fig-0452-01a">
<caption xml:id="echoid-caption28" xml:space="preserve">Fig. 18.</caption>
<description xml:id="echoid-description7" xml:space="preserve">Quecksilber</description>
<variables xml:id="echoid-variables13" xml:space="preserve">F E A B C D</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6171" xml:space="preserve">Obwohl die Einfachheit <lb/>des vorſtehenden Feuer-<lb/>regulators eine Betriebs-<lb/>ſtörung nahezu ausſchließt, <lb/>ſo wird der größeren Sicher-<lb/>heit wegen jede Dampf-<lb/>heizung noch mit dem ſog. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6172" xml:space="preserve">Lärmapparat ausgerüſtet. </s>
  <s xml:id="echoid-s6173" xml:space="preserve"><lb/>Es iſt dies eine Dampf-<lb/>pfeife, die bei einem beſtimmten Übermaß von Dampfdruck unter <lb/>allen Umſtänden zu ertönen beginnt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6174" xml:space="preserve">Bei dem durch Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6175" xml:space="preserve">18 <lb/>näher veranſchaulichten Angrick’ſchen Lärmapparat tritt durch <lb/>den Stutzen A der Dampf ein, drückt die Queckſilberfüllung <lb/>in B herunter, in C hinauf. </s>
  <s xml:id="echoid-s6176" xml:space="preserve">Steigt bei beſtimmtem Überdruck
<pb o="185" file="0453" n="453"/>
(gewöhnlich mit {1/4} Atm. </s>
  <s xml:id="echoid-s6177" xml:space="preserve">feſtgeſetzt!) der Queckſilberſpiegel in C <lb/>bis zu dem ſeitlichen Auslaß, ſo ſchleudert der Dampf den <lb/>geſamten Queckſilberinhalt nach dem ſackartigen Rohr D hinüber. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6178" xml:space="preserve">Der Weg zur Dampfpfeife E wird alſo frei und letztere ertönt <lb/>ſolange, als Dampfdruck im Keſſel vorhanden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6179" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6180" xml:space="preserve">Sollte jedoch auch dieſes Signal unbeachtet bleiben, ſo <lb/>iſt an einen gefahrdrohenden Dampfdruck, der etwa eine <lb/>Exploſion im Gefolge haben könnte, immer noch nicht zu <lb/>denken, da als letztes und unbedingt zuverläſſiges Sicherungs-<lb/>mittel das ſchon in Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6181" xml:space="preserve">17 bezeichnete Standrohr von 8 cm <lb/>Durchmeſſer und höchſtens 5 m Höhe (geſetzliche Vorſchrift für <lb/>konzeſſionsfreie Dampfkeſſel!) den Dampf bei {1/2} Atm. </s>
  <s xml:id="echoid-s6182" xml:space="preserve">Überdruck <lb/>ins Freie entläßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6183" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6184" xml:space="preserve">So ſehr die Keſſelausrüſtung bei der Niederdruck-Dampf-<lb/>heizung von der der Warmwaſſerheizung abweicht, ſo gering <lb/>ſind die Verſchiedenheiten der beiden Syſteme bezüglich ihrer <lb/>übrigen Beſtandteile. </s>
  <s xml:id="echoid-s6185" xml:space="preserve">Sämtliche Heizkörperarten, wie ſie bei <lb/>der Waſſerheizung erläutert wurden, ſind auch bei der Dampf-<lb/>heizung ohne weiteres zuläſſig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6186" xml:space="preserve">Desgleichen iſt die Konſtruktion <lb/>des Regulierventils für die Heizkörper die ſchon früher in <lb/>Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6187" xml:space="preserve">15 dargeſtellte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6188" xml:space="preserve">Allerdings kommt hier die Adjuſtier-<lb/>vorrichtung des Ventils nicht für Einſtellung eines beſtimmten <lb/>kleinſten, ſondern eines durch die Größe und Lage des <lb/>Heizkörpers beſtimmten größten Querſchnitts zur Geltung, <lb/>der — wie weiter oben erläutert — gerade groß genug iſt, um <lb/>die volle Erwärmung des zugehörigen Ofens zu erreichen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6189" xml:space="preserve">Daß dann jede andere, kleinere Ventileinſtellung auch eine <lb/>entſprechende geringere Erwärmung des Heizkörpers nach ſich <lb/>zieht, daß alſo die Regulierbarkeit eines Dampfofens eine <lb/>äußerſt feine und zuverläſſige iſt, bedarf ſomit wohl kaum <lb/>noch einer Erklärung.</s>
  <s xml:id="echoid-s6190" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6191" xml:space="preserve">Wie bei der Waſſerheizung werden auch für die Rohr-<lb/>leitungen der Dampfheizung ausſchließlich ſtarkwandige, ſchmiede-</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6192" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s6193" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s6194" xml:space="preserve">Volksbücher XIV.</s>
  <s xml:id="echoid-s6195" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="186" file="0454" n="454"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6196" xml:space="preserve">eiſerne Rohre verwandt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6197" xml:space="preserve">Allerdings iſt der innere Roſtſchutz <lb/>in dem Maß, wie bei der Waſſerheizung, hier nicht vor-<lb/>handen, da von dem Sauerſtoff nicht abgebenden Dampf <lb/>nur ein Teil der Rohre, die Dampfleitung, geſchützt wird. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6198" xml:space="preserve">Um eine gleichmäßige Haltbarkeit des Rohrſyſtems zu erreichen, <lb/>giebt man deshalb der Kondensleitung vielfach einen ſchützenden <lb/>Zinküberzug.</s>
  <s xml:id="echoid-s6199" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div173" type="section" level="1" n="151">
<head xml:id="echoid-head164" xml:space="preserve">* * *</head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6200" xml:space="preserve">Fragt man nun nach dieſem Überblick über die Einrichtung <lb/>von Centralheizungen nach deren Verwendungsgebiet, ſo darf <lb/>man dasſelbe als nahezu unbeſchränkt bezeichnen, wenn es ſich <lb/>nicht um Fälle handelt, in denen die Zahl der zu heizenden <lb/>Räume oder aber die Anſprüche an die Heizung ſelbſt gar <lb/>zu geringe ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s6201" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6202" xml:space="preserve">Daß bei öffentlichen Gebäuden die Centralheizung alle <lb/>anderen Heizungsarten faſt verdrängt hat, iſt eine bekannte <lb/>Thatſache. </s>
  <s xml:id="echoid-s6203" xml:space="preserve">Auch beim Neubau von Fabriken, Geſchäftshäuſern, <lb/>Hotels a. </s>
  <s xml:id="echoid-s6204" xml:space="preserve">iſt man über die Wahl der Centralheizung als <lb/>paſſendſte Heizungsart heute kaum mehr im Zweifel, wenig <lb/>beachtet aber dürfte die Erſcheinung ſein, daß die Central-<lb/>heizung auch in Wohnhäuſern ſich mehr und mehr Bahn bricht.</s>
  <s xml:id="echoid-s6205" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6206" xml:space="preserve">Begünſtigt wird dieſe Strömung durch die geſteigerten <lb/>Anforderungen an die modernen Wohnungseinrichtungen, ſowie <lb/>durch die wachſende Schwierigkeit der Dienſtbotenfrage. </s>
  <s xml:id="echoid-s6207" xml:space="preserve">Die <lb/>Haupturſache der wachſenden Beliebtheit der Centralheizung <lb/>liegt aber wohl in dem Umſtand, daß dieſelbe jeder anderen <lb/>Heizungsart entſchieden überlegen iſt, wenn man von den An-<lb/>lagekoſten abſieht, obwohl auch in dieſem Punkt die Koſten <lb/>guter Kachelöfen kaum überſchritten werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6208" xml:space="preserve">Dafür aber hat
<pb o="187" file="0455" n="455"/>
man bei der Centralheizung — ohne weitere Mühe als das <lb/>einmalige, tägliche Abſchlacken und Aufſchütten von Brenn-<lb/>material — eine Heizung, die Tag und Nacht zur Verfügung <lb/>ſteht, die eine gleichmäßige, behagliche, auch bei ſtrengſter Kälte <lb/>ausreichende Wärme entwickelt, die ſich nach Belieben und in <lb/>kürzeſter Zeit regulieren läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6209" xml:space="preserve">Beläſtigungen durch Rauch und <lb/>Ruß, Feuers- und Erſtickungsgefahr fallen fort, der Transport <lb/>von Brennmaterial und Aſche berührt die Wohnung nicht <lb/>mehr, es vermindern ſich die Koſten für Bedienung, Unter-<lb/>haltung und beſonders auch für den Betrieb der Heizanlage.</s>
  <s xml:id="echoid-s6210" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6211" xml:space="preserve">Druck von G. </s>
  <s xml:id="echoid-s6212" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph> in Berlin.</s>
  <s xml:id="echoid-s6213" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb file="0456" n="456"/>
<pb file="0457" n="457"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div174" type="section" level="1" n="152">
<head xml:id="echoid-head165" xml:space="preserve"><emph style="bf">Naturwiſſenſchaftliche Volkshücher</emph> <lb/>von <lb/><emph style="bf">A. Bernſtein.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head166" xml:space="preserve"><emph style="sp">Iünfte, reich iſſuſtrierte Auflage</emph>.</head>
<head xml:id="echoid-head167" xml:space="preserve">Durchgeſehen und verbeſſert <lb/>von <lb/><emph style="bf">H. @otonié</emph> und <emph style="bf">R. Hennig.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head168" xml:space="preserve">fünfzehnter Teil.</head>
  <figure>
    <image file="0457-01" xlink:href="http://echo.mpiwg-berlin.mpg.de/zogilib?fn=/permanent/library/xxxxxxxx/figures/0457-01"/>
  </figure>
</div>
<div xml:id="echoid-div175" type="section" level="1" n="153">
<head xml:id="echoid-head169" xml:space="preserve"><emph style="bf">Berlin.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head170" xml:space="preserve">Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.</head>
<pb file="0458" n="458"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div176" type="section" level="1" n="154">
<head xml:id="echoid-head171" xml:space="preserve">Das Necht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.</head>
<pb file="0459" n="459"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div177" type="section" level="1" n="155">
<head xml:id="echoid-head172" xml:space="preserve"><emph style="bf">Inhaltsoerzeichnis.</emph></head>
<note position="right" xml:space="preserve"> <lb/>## Seite <lb/>## <emph style="bf">Etwas ans der Volkswirtſchaft.</emph> <lb/>I. # Verlorene Nähnädeln # 1 <lb/>II. # Verſchwendung von Streichhölzern # 4 <lb/>III. # Der Wert von Verſchwendungen # 7 <lb/>IV. # Die Verallgemeinerung der Bedürfniſſe # 11 <lb/>V. # Etwas vom Schreibe-, Kunſt- und Leſebedürfuis # 15 <lb/>## <emph style="bf">Naturkraft und Geiſteswalten.</emph> <lb/>I. # Die Legung des erſten transatlantiſchen Kabels # 24 <lb/>II. # Ein alltägliches Geſpräch # 42 <lb/>III. # Die Entzifferung der aſſyriſch-babyloniſchen Keilſchrift # 63 <lb/>IV. # Einige Geheimniſſe der Zahlen # 108 <lb/>## <emph style="bf">Vom Spiritismus.</emph> <lb/>I. Einleitende Betrachtungen # 118 <lb/>II. # Das Tiſchrücken # 121 <lb/>III. # Das Tiſchklopfen # 128 <lb/>IV. # Die Klopſgeiſter und der eigentliche Spiritismus # 133 <lb/>V. # Die Schreibmedien # 139 <lb/>VI. # Sonſtige Geiſterkundgebungen # 141 <lb/>VII. # Von den ſpiritiſtiſchen Medien # 145 <lb/>VIII. # Die Geiſtererſcheinungen und Geiſterphotographieen # 149 <lb/>IX. # Zur Vermeidung von Mißverſtändniſſen # 153 <lb/>X. # Die Urſachen der ſpiritiſtiſchen Bewegung # 157 <lb/></note>
<pb file="0460" n="460"/>
<pb file="0461" n="461"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div178" type="section" level="1" n="156">
<head xml:id="echoid-head173" xml:space="preserve"><emph style="bf">Etwas aus der Volkswirtſchaft.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head174" xml:space="preserve"><emph style="bf">I. Verlorene Nähuadeln.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6214" xml:space="preserve">“Wie viel Nähnadeln werden wohl tagtäglich fabriziert?</s>
  <s xml:id="echoid-s6215" xml:space="preserve">”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6216" xml:space="preserve">— Die Zahl derſelben überſteigt ganz unzweifelhaft viele <lb/>Millionen! —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6217" xml:space="preserve">“Wo bleiben alle die Nadeln?</s>
  <s xml:id="echoid-s6218" xml:space="preserve">”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6219" xml:space="preserve">— Abgebraucht wird höchſt ſelten eine: </s>
  <s xml:id="echoid-s6220" xml:space="preserve">Die Nadeln gehen <lb/>mitten in ihrer vollen Dienſtfähigkeit <emph style="sp">verloren</emph>! —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6221" xml:space="preserve">“Wie viel Nadeln mögen aber wohl tagtäglich verloren <lb/>gehen?</s>
  <s xml:id="echoid-s6222" xml:space="preserve">”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6223" xml:space="preserve">— Mangel an Nadeln iſt gewiß noch niemand gewahr <lb/>geworden, und für den Überfluß würden ſich auch die Nadel-<lb/>macher hüten, ſie zu fabrizieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s6224" xml:space="preserve">— Hieraus aber folgt mit <lb/>ſtrengſter Konſequenz, daß ſo viel tagtäglich verloren gehen <lb/>müſſen, wie tagtäglich neue gemacht werden! —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6225" xml:space="preserve">“Wenn aber wirklich tagtäglich viele Millionen Nadeln <lb/>verloren gehen, warum findet man ſie nicht, wohin man nur <lb/>greift? </s>
  <s xml:id="echoid-s6226" xml:space="preserve">— Sollte man nicht meinen, wenn dies jahraus, jahr-<lb/>ein ſo fortgcht, ſo müßte man endlich bis über die Knöchel in <lb/>lauter verlorenen Nadeln herumwaten?</s>
  <s xml:id="echoid-s6227" xml:space="preserve">”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6228" xml:space="preserve">Die richtige Antwort auf dieſe Frage iſt folgende: </s>
  <s xml:id="echoid-s6229" xml:space="preserve">Es <lb/>gehen tagtäglich ſo viele Millionen andere Dinge in der Welt <lb/>verloren, daß all die verlorenen Nadeln ſich wiederum verlieren <lb/>in den Millionen verlorener Dinge! —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6230" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s6231" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s6232" xml:space="preserve">Volksbücher XV.</s>
  <s xml:id="echoid-s6233" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="2" file="0462" n="462"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6234" xml:space="preserve">Alle Menſchen in der Welt ſchaffen oder machen oder <lb/>fabrizieren oder fördern tagtäglich, jahraus, jahrein immer <lb/>fort lauter neue Dinge. </s>
  <s xml:id="echoid-s6235" xml:space="preserve">Keiner von ihnen iſt ſo thöricht, etwas <lb/>zu produzieren, das Niemand braucht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6236" xml:space="preserve">— Die neuen Dinge <lb/>werden alſo nur deshalb täglich produziert, weil täglich eben <lb/>ſo viel alte Dinge verbraucht werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6237" xml:space="preserve">Die verbrauchten Dinge <lb/>aber gehen, ſo zu ſagen, verloren. </s>
  <s xml:id="echoid-s6238" xml:space="preserve">Was Wunder, wenn es <lb/>ſchwer hält, unter ſolcher Maſſe der verlorenen Dinge eine <lb/>verlorene Nadel herauszufinden! —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6239" xml:space="preserve">Zwar gehen die verſchiedenen Dinge unter ſehr verſchiedener <lb/>Firma verloren. </s>
  <s xml:id="echoid-s6240" xml:space="preserve">Taſſen und Töpfe und Schüſſeln, Teller, <lb/>Flaſchen und Gläſer “gehen entzwei”, natürlich ohne Ver-<lb/>ſchulden aller Köchinnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6241" xml:space="preserve">— In Fenſterſcheiben “kommt ein <lb/>Sprung”; </s>
  <s xml:id="echoid-s6242" xml:space="preserve">Eimer “fallen auseinander”; </s>
  <s xml:id="echoid-s6243" xml:space="preserve">Meſſer und Gabel <lb/>“kommen weg”; </s>
  <s xml:id="echoid-s6244" xml:space="preserve">in das Kleid “fällt ein Loch hinein”; </s>
  <s xml:id="echoid-s6245" xml:space="preserve">in <lb/>Schürzen “iſt ein Riß gekommen”; </s>
  <s xml:id="echoid-s6246" xml:space="preserve">Knöpfe “fallen ab”; </s>
  <s xml:id="echoid-s6247" xml:space="preserve">Bänder <lb/>“verſchwinden”; </s>
  <s xml:id="echoid-s6248" xml:space="preserve">Federmeſſer “ſind nicht da”; </s>
  <s xml:id="echoid-s6249" xml:space="preserve">— kurz: </s>
  <s xml:id="echoid-s6250" xml:space="preserve">der <lb/>Titel fürs “Verloren-Gehen” klingt ſehr verſchieden, beſcheiden <lb/>und verſteckt, je nach dem Charakter der verlorenen Dinge. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6251" xml:space="preserve">Thatſächlich jedoch hat Mephiſtopheles ſchon ganz recht, wenn <lb/>er meint, daß alles, was entſteht, wert iſt, daß es untergeht; </s>
  <s xml:id="echoid-s6252" xml:space="preserve"><lb/>aber “herzlich ſchlecht” iſt darum die Welt doch nicht; </s>
  <s xml:id="echoid-s6253" xml:space="preserve">im <lb/>Gegenteil, es erginge <emph style="sp">uns</emph> herzlich ſchlecht, wenn alle gemachten <lb/>Dinge gar nicht untergehen wollten; </s>
  <s xml:id="echoid-s6254" xml:space="preserve">denn dieſer unausgeſetzte <lb/>Untergang der alten Dinge iſt die Grundquelle der Arbeit <lb/>aller neuen Dinge, und all die Arbeit der neuen Dinge iſt die <lb/>Grundſäule unſeres Kulturlebens. </s>
  <s xml:id="echoid-s6255" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6256" xml:space="preserve">Gar vielen möchte es vielleicht ſcheinen, daß in dem <lb/>Verloren – Gehen der Dinge eigentlich eine ungeheuere Ver-<lb/>ſchwendung von Zeit und Arbeitskraft liege. </s>
  <s xml:id="echoid-s6257" xml:space="preserve">— Wäre es nicht <lb/>ſchon ein großer Gewinn für die Menſchheit, wenn z. </s>
  <s xml:id="echoid-s6258" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s6259" xml:space="preserve">die <lb/>Nadeln <emph style="sp">nicht</emph> millionenweiſe täglich verloren gingen? </s>
  <s xml:id="echoid-s6260" xml:space="preserve">In <lb/>ſolchem Falle würden ſich freilich die Nadelmacher nach einer
<pb o="3" file="0463" n="463"/>
andern Beſchäftigung umſehen müſſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6261" xml:space="preserve">aber an nützlicher und <lb/>lohnender Arbeit würde es ihnen gewiß nicht fehlen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6262" xml:space="preserve">dagegen <lb/>würde die ganze übrige Menſchheit eine Ausgabe, die ſich <lb/>täglich erneuert, ſparen, und ſelbſt derjenige Teil der Damen-<lb/>welt, bei dem Nadelgelder eine ſehr beliebte Steuer der <lb/>Schwäche des ſtarken Geſchlechts ausmachen, würde ſicherlich <lb/>nicht in Verlegenheit geraten, dieſe Schönheitsſteuer unter <lb/>anderem Titel auf den Jahreshaushalt zu bringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6263" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6264" xml:space="preserve">Allein die Berechnung iſt falſch. </s>
  <s xml:id="echoid-s6265" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6266" xml:space="preserve">Gingen nämlich nicht ſo viele Millionen Nadeln täglich <lb/>verloren, ſo würden nicht ſo viele Millionen Nadeln täglich <lb/>fabriziert werden, und würden nicht ſo viel Nadeln fabriziert, <lb/>ſo würden ſie nimmermehr ſo ſpottbillig ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s6267" xml:space="preserve">Das Reſultat <lb/>unſeres Sparſamkeits – Planes wäre alſo, daß wir für die <lb/>wenigen Nadeln, die wir kaufen und die wir noch gar ſorgſam <lb/>bewahren müßten, damit ſie ja nicht verloren gehen, mehr <lb/>Geld ausgeben würden als für die vielen, die wir ſo billig <lb/>kaufen, daß es uns nicht lohnt, ſie zu bewahren und ſie darunt <lb/>ihrem Schickſal des Verloren – Gehens nicht weiter entziehen <lb/>mögen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6268" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6269" xml:space="preserve">Für die Menſchheit würden die überwachten Nadeln teurer <lb/>werden als die verloren gehenden.</s>
  <s xml:id="echoid-s6270" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6271" xml:space="preserve">Wer dies für eine Übertreibung hält, der mache nur ein-<lb/>mal den Verſuch, ſich eine Nadel direkt zu beſtellen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6272" xml:space="preserve">er wird <lb/>vom Schmied zum Schloſſer, vom Schloſſer zum Mechanikus <lb/>gewieſen werden, und jeder wird ihm ſagen, daß eine regel-<lb/>rechte Nadel, blank und rein von Stahl, mit harter und ſcharfer <lb/>Spitze und feſtem, glatten Öhr nicht gut für weniger als <lb/>fünfzig Pfennige zu machen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6273" xml:space="preserve">— Nur weil man ſie in ſolchen <lb/>Maſſen fabriziert, hat man Maſchinen dazu einrichten und <lb/>alle Vorrichtung ſo treffen können, daß ſie ſo ſpottwohlfeil <lb/>ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s6274" xml:space="preserve">Kann man ſie aber nur darum in Maſſen fabrizieren, <lb/>weil ſie in Maſſen verloren gehen, ſo iſt jeder Plan, ſie <emph style="sp">nicht</emph>
<pb o="4" file="0464" n="464"/>
zu verlieren, gleich dem Plan, ſie <emph style="sp">nicht</emph> zu fabrizieren oder, <lb/>was ganz dasſelbe iſt, unſere Ausgaben für jede einzelne Nadel <lb/>ſehr hoch zu ſtellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6275" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6276" xml:space="preserve">Darum iſt es in der That beſſer und ſogar <emph style="sp">ſparſamer</emph>, <lb/>wenn man ſie immerfort verliert und immerfort fabriziert.</s>
  <s xml:id="echoid-s6277" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6278" xml:space="preserve">Und wie mit den verlorenen Nadeln, ſo verhält es ſich <lb/>mit all den Dingen in der Welt, in deren Trümmern und <lb/>Überreſten all die verlorenen Nadeln ſich verlieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s6279" xml:space="preserve">— Das <lb/>tägliche Entſtehen in Maſſe iſt bedingt durch das Vergehen <lb/>in Maſſe, und das Reſultat iſt die außerordentliche Wohlfeil-<lb/>heit alles deſſen, was unſere Arbeit hervorzubringen vermag. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6280" xml:space="preserve">— Ginge weniger verloren, ſo würde durch die Arbeit weniger <lb/>geboren, und in demſelben Maße würden die Erzeugniſſe koſt-<lb/>barer werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6281" xml:space="preserve">Alle zerbrochenen Gläſer und Taſſen und Teller, <lb/>Töpfe u. </s>
  <s xml:id="echoid-s6282" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s6283" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s6284" xml:space="preserve">machen die neuen billiger; </s>
  <s xml:id="echoid-s6285" xml:space="preserve">je mehr Kleider zer-<lb/>riſſen werden, deſto lebhafter findet die Ausgleichung durch die <lb/>Fabrikation ſtatt, und in demſelben Maße werden die Stoffe <lb/>und deren Herſtellung wohlfeiler. </s>
  <s xml:id="echoid-s6286" xml:space="preserve">Es exiſtiert alſo — und <lb/>das wollen wir uns merken — zwiſchen <emph style="sp">Preis, Gebrauch</emph> <lb/>und <emph style="sp">Verbrauch</emph> eine Harmonie, durch welche Verhältniſſe zur <lb/>Ausgleichung gebracht werden, die ſcheinbar im Gegenſatze zu <lb/>einander ſtehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6287" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div179" type="section" level="1" n="157">
<head xml:id="echoid-head175" xml:space="preserve"><emph style="bf">II. Verſchwendung von Streichhölzern.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6288" xml:space="preserve">“Iſt es denn aber auch wirklich wahr, daß das unausge-<lb/>ſetzte Verbrauchen von Dingen, die gearbeitet werden müſſen, <lb/>die Menſchheit nicht ärmer macht?</s>
  <s xml:id="echoid-s6289" xml:space="preserve">” —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6290" xml:space="preserve">Die richtige Antwort auf dieſe Frage kann mit wenig <lb/>Worten gegeben werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s6291" xml:space="preserve">allein dieſe wenigen Worte weichen <lb/>ſo ſehr von der gewöhnlichen, hergebrachten Anſchauung der
<pb o="5" file="0465" n="465"/>
Welt ab, daß wir einen kleinen Umweg der Gedanken nicht <lb/>ſcheuen dürfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6292" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6293" xml:space="preserve">Gewiß iſt es ſchon Jedem einmal durch den Sinn ge-<lb/>gangen, daß unſere Zündhölzchen in der Männerwelt ungefähr <lb/>dieſelbe Stelle einnehmen wie die Nadeln in der Frauenwelt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6294" xml:space="preserve">Was von den Männern an Zündhölzern verſchwendet wird, <lb/>das iſt ganz unglaublich. </s>
  <s xml:id="echoid-s6295" xml:space="preserve">Wenn unſere Vorväter es mit an-<lb/>ſehen müßten, wie unzählige Male des Tages wir Feuer an-<lb/>machen und ein ſo ſauber gearbeitetes Hölzchen gedankenlos <lb/>anzünden und fortwerfen, ſie würden Zeter über unſere Ver-<lb/>ſchwendung ſchreien. </s>
  <s xml:id="echoid-s6296" xml:space="preserve">Ja, ſie würden der Gegenwart alle Ge-<lb/>mütlichkeit abſprechen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6297" xml:space="preserve">denn wie gemütlich war es nicht, <lb/>wenn die ſelige Urgroßmutter ſich mit Stahl und Stein und <lb/>Zunder vergeblich abplagte und der ſelige Urgroßvater ſie lächelnd <lb/>beiſeite ſchob, um in galanter Virtuoſität mit etwa zwanzig <lb/>Schlägen den zunder — falls er nicht etwas feucht geworden <lb/>war, — anbrennen zu laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6298" xml:space="preserve">Wie gemütlich wurde nicht von <lb/>unſeren Großeltern oft der Frieden am häuslichen Feuerherd <lb/>geſtiftet, wenn der Papa nach einigem Brummen zu der Mama <lb/>nach einigem Schmollen in die Küche trat, um ſich dort in der <lb/>bequemſten Manier von der Welt die Pfeife an einem Feuer-<lb/>brande anzuzünden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6299" xml:space="preserve">— Jetzt iſt die Gemütlichkeit hin und die <lb/>Verſchwendung zur Herrſchaft gelangt! Wo giebt es eine <lb/>Wirtſchaft, in der nicht tagtäglich ein Bündelchen Zündhölzer <lb/>verbraucht wird? </s>
  <s xml:id="echoid-s6300" xml:space="preserve">— Hundertmal, ſage: </s>
  <s xml:id="echoid-s6301" xml:space="preserve">hundertmal des Tages <lb/>wird Feuer angemacht und ein ſo ſorgſam zubereitetes Hölzchen, <lb/>kaum zur Hälfte verbraucht, fortgeworfen, ohne alle Poeſie <lb/>der häuslichen Gemütlichkeit und ohne zu bedenken, was das <lb/>für Geld koſtet! — Gewiß, unſere Vorväter würden darin <lb/>den ſonnenklaren Beweis erblicken, daß die Welt ſehr ver-<lb/>dorben iſt! —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6302" xml:space="preserve">Wie aber iſt es in Wirklichkeit? </s>
  <s xml:id="echoid-s6303" xml:space="preserve">Geht nicht in der That <lb/>durch dieſen ganz unglaublich geſtiegenen Verbrauch von Zünd-
<pb o="6" file="0466" n="466"/>
hölzern ſammt Phosphor und Schwefel ein außerordentlich <lb/>großes Kapital an Geld und Arbeitskraft verloren? </s>
  <s xml:id="echoid-s6304" xml:space="preserve">und muß <lb/>nicht durch dieſen Verluſt die Welt immer ärmer werden? </s>
  <s xml:id="echoid-s6305" xml:space="preserve">— <lb/>Wäre es nicht eine Wohlthat, wenn der Staat, dieſe Vor-<lb/>ſehung in Beamten- und Akten-Geſtalt, die Zündhölzer ver-<lb/>bieten, den Gebrauch von Stahl und Stein und Zunder an-<lb/>befehlen und der Verſchwendung und der daraus folgenden <lb/>Verarmung Einhalt thun wollte?</s>
  <s xml:id="echoid-s6306" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6307" xml:space="preserve">An Staatsmännern, die noch heutigen Tages ähnliche <lb/>Gedanken hegen, dürfte es in der Welt keineswegs fehlen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6308" xml:space="preserve">— <lb/>Waren doch im Königreich Sachſen die Zündhölzchen wirklich <lb/>ein halbes Jahrzehnt lang verboten, nachdem ſie ſich bereits <lb/>allenthalben im Gebrauch bewährt hatten! Und nicht bloß <lb/>die ſogenannte Feuergefährlichkeit, ſondern auch die volks-<lb/>wirtſchaſtliche Vorſorge gegen verſchwenderiſchen Verbrauch der <lb/>Hölzchen machte ſich hierbei geltend. </s>
  <s xml:id="echoid-s6309" xml:space="preserve">— Jetzt, wo die Zünd-<lb/>hölzchen allenthalben geſtattet ſind, iſt nicht bloß Sachſen nicht <lb/>ärmer, ſondern in Wahrheit iſt Sachſen und die ganze übrige <lb/>Welt durch den Aufwand der Zündhölzchen <emph style="sp">reicher</emph> geworden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6310" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6311" xml:space="preserve">Reichtum beſteht nämlich nicht im Beſitz, ſondern in der <lb/>nutzbaren <emph style="sp">Verwendung</emph> deſſen, was man beſitzt, denn Beſitz, <lb/>der nicht nutzbar verwendet wird, iſt <emph style="sp">kein Reichtum</emph>, ſondern <lb/>eine Laſt!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6312" xml:space="preserve">Iſt aber ſelbſt der teuerſte und ſchönſte Beſitz unter ſolchen <lb/>Umſtänden kein Reichtum, ſo wird jedermann geſtehen, daß <lb/>der Beſitz eines wenig wertvollen Dinges gewiß kein ſolcher <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6313" xml:space="preserve">— Wer z. </s>
  <s xml:id="echoid-s6314" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s6315" xml:space="preserve">ein Pfund Eiſen beſitzt, hat gewiß ſehr wenig <lb/>daran. </s>
  <s xml:id="echoid-s6316" xml:space="preserve">Ganz anders jedoch geſtaltet ſich’s, wenn der Beſitzer <lb/>im ſtande iſt, aus dem Pfund Eiſen lauter Nadeln zu machen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6317" xml:space="preserve">Dadurch iſt das Pfund Eiſen zehnmal ſo viel wert geworden <lb/>als früher; </s>
  <s xml:id="echoid-s6318" xml:space="preserve">und man wird zugeben: </s>
  <s xml:id="echoid-s6319" xml:space="preserve">wenn dies an vielen, <lb/>vielen Pfunden Eiſen geſchieht, ſo kann ſchon ein Reichtum <lb/>daraus werden! —</s>
</p>
<pb o="7" file="0467" n="467"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6320" xml:space="preserve">Die Verwandlung des Eiſens in Nadeln geſchieht aber <lb/>eben durch die <emph style="sp">Arbeit</emph>; </s>
  <s xml:id="echoid-s6321" xml:space="preserve">daher iſt es ganz unzweifelhaft in <lb/>dieſem Falle, daß der Reichtum in der <emph style="sp">Arbeit</emph> ſteckt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6322" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6323" xml:space="preserve">Das Gleiche findet nun aber in <emph style="sp">allen</emph> Dingen in der <lb/>Welt ſtatt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6324" xml:space="preserve">Selbſt das koſtbarſte und wertvollſte Metall, das <lb/>Gold, iſt wertloſer als das billigſte, das Eiſen, ſobald letzteres <lb/>durch die Arbeit veredelt worden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6325" xml:space="preserve">Die kleine Spiralfeder <lb/>in unſern Taſchenuhren, die unter der ſogenannten Spindel, <lb/>der Unruhe, liegt, iſt bloß aus verarbeitetem Eiſen, aus Stahl; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6326" xml:space="preserve">da aber aus einem Pfund Eiſen über ſiebentauſend ſolcher <lb/>Federchen gemacht werden, ſo iſt der Wert dieſes Pfundes <lb/>Eiſen durch die Arbeit viel größer geworden als der eines <lb/>Pſundes Gold.</s>
  <s xml:id="echoid-s6327" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6328" xml:space="preserve">Hieraus folgt, daß ein Menſch, der Eiſen ſo fein ver-<lb/>arbeiten kann, reicher iſt als ein anderer, der die vielbeneidete <lb/>Kunſt der Alchymiſten zu verſtehen vorgiebt, Eiſen in Gold zu <lb/>verwandeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s6329" xml:space="preserve">Der Reichtum liegt alſo nicht im Beſitz koſtbarer <lb/>Dinge, ſondern in der Verarbeitung, die aus wenig wertvollen <lb/>Dingen wertvolle ſchafft, und es folgt hieraus, daß eine Zeit, <lb/>wo man einen Holzklotz nur zum Verbrennen braucht, ärmer <lb/>iſt als eine Zeit, wo man durch geſchickte Arbeit aus jedem <lb/>Klotz, der kaum den Ofen wärmt, hunderttauſend Zündhölzchen <lb/>macht! —</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div180" type="section" level="1" n="158">
<head xml:id="echoid-head176" xml:space="preserve"><emph style="bf">III. Der Wert von Verſchwendungen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6330" xml:space="preserve">“Aber” — ſo hören wir die Zweifler rufen, — “Ihr ſprechet <lb/>immer rühmend von der Zeit, von ihrer geſchickten Arbeit <lb/>und den Reichtümern, die ſie neu ſchafft; </s>
  <s xml:id="echoid-s6331" xml:space="preserve">was jedoch hilft <lb/>das uns, uns Menſchen, die wir nicht Nadeln und Zünd-<lb/>hölzchen und ſogenannte Reichtümer machen, ſondern ſie mit
<pb o="8" file="0468" n="468"/>
unſerm Geld <emph style="sp">bezahlen</emph> müſſen? </s>
  <s xml:id="echoid-s6332" xml:space="preserve">Sagt uns doch: </s>
  <s xml:id="echoid-s6333" xml:space="preserve">Iſt das <lb/>nicht dennoch hinausgeworfenes Geld, Verſchwendung von <lb/>Material, — von Zeit und Menſchenkraft, die, wenn das <lb/>immer ſo weiter geht, die Welt ruiniert?</s>
  <s xml:id="echoid-s6334" xml:space="preserve">” —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6335" xml:space="preserve">Es thut uns leid, wenn wir zur richtigen Beantwortung <lb/>dieſer Frage wiederum zu einem Ausſpruch greifen müſſen, der <lb/>den Frager wahrſcheinlich ſtutzig macht, und den Zweifel in <lb/>ihm aufkommen läßt, ob wir nicht reine Sophis nen treiben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6336" xml:space="preserve">— Das aber iſt wahrhaftig nicht der Fall! Unſere Antwort <lb/>iſt ernſt gemeint und auch richtig. </s>
  <s xml:id="echoid-s6337" xml:space="preserve">Sie lautet, wie folgt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6338" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6339" xml:space="preserve">Eben dieſe ſogenannten “Verſchwendungen” ſind nicht eine <lb/>Quelle der Verarmung, ſondern im Gegenteil eine Quelle des <lb/>Reichtums und des Wohlergehens für alle, alle Menſchen, <lb/>ſobald ſich nur die Menſchen ſamt und ſonders auf die <lb/>“Verſchwendung” recht ordentlich legen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6340" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6341" xml:space="preserve">Wenn man in der Weltgeſchichte lieſt, daß Rom unter-<lb/>gehen mußte, weil die Römer Gaſtmähler gaben, bei welchen <lb/>die Verſchwendung herrſchte, ſich die Speiſen und Getränke <lb/>aus den fernſten Ländern der Welt herbeizuſchaffen, ſo hat <lb/>das ſeine vollkommene Richtigkeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s6342" xml:space="preserve">— Was aber würde der <lb/>große römiſche Verſchwender <emph style="sp">Lucullus</emph> ſagen, wenn wir ihm <lb/>zeigen könnten, wie bei uns die Frau des armen Fabrikarbeiters <lb/>ſich jeden Morgen beeilt, nicht zu einem Gaſtmahl, ſondern zu <lb/>einem alltäglichen, häuslichen Getränk ein Material aus Bra-<lb/>ſilien zu beſchaffen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6343" xml:space="preserve">denn ihr Mann iſt ſparſam, er trinkt nicht <lb/>Mokka-Kaffee, ſondern begnügt ſich mit dem ſchlechteren Kaffee <lb/>aus Braſilien. </s>
  <s xml:id="echoid-s6344" xml:space="preserve">— Was würde dieſer Lucullus ſagen, wenn <lb/>man ihm zudem noch die Verſicherung gäbe, daß jetzt alle Welt <lb/>dieſe Verſchwendung treibe, daß der Kaffee nicht einmal zur <lb/>Sättigung diene, ſondern nur eine von unſern beſten Natur-<lb/>forſchern noch nicht völlig erklärte Wirkung auf den Genießenden <lb/>ausübe? </s>
  <s xml:id="echoid-s6345" xml:space="preserve">Wie würde er ſich wundern, daß bloß zur Be-<lb/>friedigung dieſes Genuſſes alljährlich in Dentſchland viele
<pb o="9" file="0469" n="469"/>
hundert Millionen Mark ausgegeben, und jahraus, jahrein ein <lb/>halbes Tauſend große Schiffe übers Weltmeer ausgeſendet <lb/>werden, um den Kaffee herbeizuſchaffen? </s>
  <s xml:id="echoid-s6346" xml:space="preserve">— Gewiß, Lucullus <lb/>würde ausrufen: </s>
  <s xml:id="echoid-s6347" xml:space="preserve">“All’ meine weltgeſchichtlichen Verſchwendungen <lb/>ſind Kindereien gegen die Eurigen!”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6348" xml:space="preserve">Gleichwohl würde Jeder die richtige Antwort geben: </s>
  <s xml:id="echoid-s6349" xml:space="preserve">“Mein <lb/>lieber Lucullus, nimm’s nicht übel, Du ſiehſt die Sache von <lb/>einer ganz falſchen Seite an! Wenn zu Deiner Zeit das ame-<lb/>rikaniſche Feſtland jenſeits der Welt ſchon entdeckt geweſen wäre <lb/>und Du Schiffe ausgeſandt hätteſt, um ein Pfund Kaffee für <lb/>Dich und die Genoſſen Deiner Tafelfreuden herbeizuholen, dann <lb/>hätteſt Du ſamt Deinen Nachahmern freilich ſehr ſchnell Rom <lb/>ruiniert; </s>
  <s xml:id="echoid-s6350" xml:space="preserve">wir aber machen es anders, wir treiben es im <emph style="sp">Großen</emph>, <lb/>wir machen die ſogenannte Verſchwendung zum <emph style="sp">gemeinſamen</emph> <lb/>Genuß, und da haben wir es durch ein Kunſtſtück, an das Du <lb/>gar nie gedacht haſt, dahin gebracht, daß wir uns dabei ganz <lb/>wohl ſtehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6351" xml:space="preserve">denn wiſſe: </s>
  <s xml:id="echoid-s6352" xml:space="preserve">der Mann dieſer Frau, die eben ſolch <lb/>ein verſchwenderiſches Getränk zubereitet, arbeitet jahraus, jahr-<lb/>ein in einer Fabrik, die immerfort Nähnadeln macht, und ein <lb/>Teil dieſer Nadeln geht eben auſ ſolchen Schiffen, die Kaffee <lb/>herbringen, nach Braſilien. </s>
  <s xml:id="echoid-s6353" xml:space="preserve">Die Braſilianer aber ſind auch <lb/>ſchon von der Verſchwendung angeſteckt, daß für ſie die <lb/>Nadeln eben ein ſolch Bedürfnis ſind wie für uns der Kaffee, <lb/>und ſie pflegen deshalb eifrig die Kaffeebäume und ſenden <lb/>uns deren Früchte ſehr gern für Nadeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s6354" xml:space="preserve">— Und das eben iſt <lb/><emph style="sp">Induſtrie</emph>!”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6355" xml:space="preserve">Ob Lucullus dieſe Antwort ganz begreifen würde, das <lb/>wollen wir dahingeſtellt ſein laſſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6356" xml:space="preserve">aber unſerer Zeit ziemt <lb/>es, daß Jeder, der in ihr lebt und genießt, ſich den Gedanken <lb/>klar macht, bis zu welcher Höhe jene Harmonie der Menſchen-<lb/>thätigkeit, die man <emph style="sp">Induſtrie</emph> nennt, es gebracht hat, daß die <lb/>Verallgemeinerung des Genuſſes die höchſte Verſchwendung <lb/>in die höchſte Sparſamkeit verwandelt! — Und dieſen Gedanken
<pb o="10" file="0470" n="470"/>
wollten wir durch die vorſtehenden Betrachtungen nur einleiten <lb/>und im Nachſtehenden nur noch deutlicher ausſprechen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6357" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6358" xml:space="preserve">Es giebt Genüſſe in der Welt, die wenn ſie ein Einzelner <lb/>allein für ſich und ſeinen auserleſenen Kreis beſchafft, ihn und <lb/>die Menſchen, über welche er zu verfügen hat, zu Grunde richten, <lb/>— und dies nennt man Verſchwendung. </s>
  <s xml:id="echoid-s6359" xml:space="preserve">Trifft man aber die <lb/>Einrichtung, daß alle Welt dieſe Genüſſe teilt, ſo wird aus der <lb/>Verſchwendung eine Quelle des Wohlergehens und des Reich-<lb/>tums, — und das nennt man Induſtrie.</s>
  <s xml:id="echoid-s6360" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6361" xml:space="preserve">Wenn vor zwei Jahrhunderten der reichſte Monarch Eu-<lb/>ropa’s, Ludwig der Vierzehnte, ſich hätte einen Genuß verſchaffen <lb/>wollen, den ſich heute der ärmſte Handwerksburſche gönnen kann: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6362" xml:space="preserve">wenn ihm der kühne Gedanke in den Sinn gekommen wäre, für <lb/>ſich einen eigenen Fahrweg aus Eiſen zu bauen, um auf dieſem <lb/>durch irgend welche Triebkraft mit größerer Schnelligkeit von <lb/>einem Ende ſeines Reiches zum andern eilen zu können, ſo <lb/>würde er damit halb Frankreich ruiniert haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s6363" xml:space="preserve">Auch wenn all <lb/>die hierzu nötigen Erfindungen bereits damals verhanden ge-<lb/>weſen wären, würde dennoch der Gedanke der Ausführung ein <lb/>ſo verderblicher geweſen ſein, daß man ihn nur als Wahnwitz <lb/>betrachtet haben würde; </s>
  <s xml:id="echoid-s6364" xml:space="preserve">denn das Ergebnis des Genuſſes, die <lb/>Befriedigung eines perſönlichen Wunſches oder Bedürfniſſes <lb/>jenes Monarchen wäre für Frankreich nicht entſernt den Auſ-<lb/>wand von Material und Arbeit wert geweſen, den eine Eiſen-<lb/>bahn erfordert. </s>
  <s xml:id="echoid-s6365" xml:space="preserve">Selbſt wenn Ludwig der Vierzehnte, ſo zu ſagen, <lb/>die Eiſenbahn für ſich aus ſeiner Taſche hätte bauen, ſelbſt <lb/>wenn er das Geld dazu aus den eroberten Provinzen hätte <lb/>erpreſſen laſſen, ſo wäre doch der Plan ein heilloſer Wahnwitz <lb/>geweſen, der Frankreich ruiniert hätte; </s>
  <s xml:id="echoid-s6366" xml:space="preserve">denn die Eroberung und <lb/>das Kontribuieren der eroberten Länder geſchah doch immer <lb/>durch Aufwand franzöſiſcher Kräfte, und der Genuß, den ſich <lb/>der Monarch dafür verſchaffte, wäre dieſen ſchweren Aufwand <lb/>nicht wert geweſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6367" xml:space="preserve">— Es wäre Verſchwendung im aller-
<pb o="11" file="0471" n="471"/>
höchſten Maße, und Frankreich hätte ſich dieſe ganz gewiß <lb/>nicht gefallen laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6368" xml:space="preserve">Dahingegen iſt heutigen Tages der ärmſte <lb/>Handwerksburſche im ſtande, ſich dieſen Genuß zu verſchaffen, <lb/>und es iſt keine Verſchwendung, im Gegenteil, es iſt <emph style="sp">Spar-<lb/>ſamkeit</emph>, wenn er nicht zu Fuß durch Frankreich läuft und <lb/>Zeit und Kräfte vergeudet, die ihm teurer zu ſtehen kommen <lb/>als der Fahrpreis auf der Eiſenbahn. </s>
  <s xml:id="echoid-s6369" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6370" xml:space="preserve">Woher aber rührt dieſer merkwürdige Umſtand?</s>
  <s xml:id="echoid-s6371" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6372" xml:space="preserve">Einzig und allein daher, daß die <emph style="sp">Verallgemeinerung</emph> <lb/>des Genuſſes der Eiſenbahn den Auſwand von Kraft und <lb/>Arbeit, die ſie erfordert, wert iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s6373" xml:space="preserve">denn wenn <emph style="sp">Alle</emph> genießen, <lb/>wird die ſogenannte <emph style="sp">Verſchwendung</emph> zur <emph style="sp">Sparſamkeit</emph>!</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div181" type="section" level="1" n="159">
<head xml:id="echoid-head177" xml:space="preserve"><emph style="bf">IV. Die Verallgemeinerung der Bedürfuiſſe.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6374" xml:space="preserve">In wie hohem Grade das, was wir ſagen, wahr iſt, das <lb/>ergiebt ſich aus ganzen Reihen von Betrachtungen, gleichviel <lb/>ob man dieſe an die kleinlichſten Dinge des alltäglichen Haus-<lb/>bedarfs anknüpft oder ſie aus den größten Unternehmungen der <lb/>umfangreichſten Staats-Inſtitute herleitet. </s>
  <s xml:id="echoid-s6375" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6376" xml:space="preserve">Wenn Lucullus die Hände über dem Kopf zuſammenſchlüge, <lb/>daß unſere Fabrikarbeiter ſich ihren Morgentrank aus Braſilien <lb/>verſchaffen können, und Ludwig der Vierzehnte den Glauben <lb/>an all ſeine Macht verlieren würde in der Wahrnehmung, daß <lb/>unſere Handwerksburſchen ſich Genüſſe erlauben dürfen, die er <lb/>für ſich allein nie hätte haben können, ſo wiſſen wir, daß dies <lb/>nicht etwa daran liegt, weil zu Lucullus’ Zeiten der Kaffee un-<lb/>bekannt, Braſilien unentdeckt und zu Ludwig des Vierzehnten <lb/>Zeiten die Eiſenbahnen und die Dampſmaſchine noch nicht er-<lb/>funden waren, ſondern in dem Umſtand, daß ſie als <emph style="sp">Einzelne</emph> <lb/>nach bevorzugten Genüſſen ſtrebten und die jetzige Zeit ſie eben
<pb o="12" file="0472" n="472"/>
nur als <emph style="sp">gemeinſame</emph> Genüſſe Aller bieten kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s6377" xml:space="preserve">— Iſt es <lb/>aber wahr, daß der Vorzug des Reichtums vor der Armut <lb/>darin beſteht, daß man ſich im Reichtum Lebensgenüſſe ver-<lb/>ſchaffen kann, die man ſich in der Armut verſagen muß, ſo <lb/>iſt es auch ganz entſchieden wahr, daß ſich der Arme in jetziger <lb/>Zeit durch die Verallgemeinerung der Genüſſe in eine genuß-<lb/>reichere Lage verſetzt ſieht als der Reiche von ehedem. </s>
  <s xml:id="echoid-s6378" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6379" xml:space="preserve">Freilich kannte der Reiche von ehedem gar nicht die Be-<lb/>dürfniſſe, die jetzt ſchon der Arme gedankenlos befriedigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6380" xml:space="preserve">— Es <lb/>kam ehedem ſelbſt dem allermächtigſten der Gebieter nicht in den <lb/>Sinn, ſechs Meilen in der Stunde reiſen zu wollen, während <lb/>jetzt der Ärmſte ſchon ungeduldig wird, wenn ſich bei Reiſen <lb/>durch ganze Länderſtrecken der Zug um fünf Minuten mit der <lb/>Ankunft verſpätet. </s>
  <s xml:id="echoid-s6381" xml:space="preserve">— Mit der wachſenden Beſriedigung wachſen <lb/>in der That auch die Bedürfniſſe, und je mehr man in einer <lb/>Stunde zu leiſten und zu durchleben vermag, deſto unerträg-<lb/>licher wird Jedem der Verzug weniger Minuten. </s>
  <s xml:id="echoid-s6382" xml:space="preserve">Muß man <lb/>nun auch geſtehen, daß der erleichterte Lebensgenuß den Anſpruch <lb/>an dieſen geſteigert und in demſelben Verhältniſſe dem Wohl-<lb/>gefühl der Menſchen Eintrag thut, ſo iſt und bleibt das doch <lb/>immer das bedeutſamſte Merkmal unſerer Zeit und ihres Fort-<lb/>ſchrittes, daß ſie die Lebensgenüſſe in gerade entgegengeſetzter <lb/>Art darbietet als ehedem. </s>
  <s xml:id="echoid-s6383" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6384" xml:space="preserve">Ehedem lag die beſondere Lebensbequemlichkeit und der <lb/>erhöhtere Lebensgenuß darin, daß ſich der Einzelne ſie verſchaffte <lb/>und zu dieſem Zwecke genötigt war, ſie den anderen und <lb/>namentlich den großen Maſſen zu entziehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6385" xml:space="preserve">gegenwärtig ge-<lb/>ſtaltet es ſich umgekehrt: </s>
  <s xml:id="echoid-s6386" xml:space="preserve">es wird im Kleinen wie im Großen <lb/>die Lebensbequemlichkeit und der Lebensgenuß erſt dann in <lb/>höherem Grade möglich, wenn man ſie <emph style="sp">verallgemeinert</emph> und <lb/>Millionen zur Teilnahme daran gewöhnt und veranlaßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6387" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6388" xml:space="preserve">Mögen wir die Betrachtung anheben, wo wir wollen und <lb/>wie wir wollen — es ſtellt ſich im Kleinen wie im Großen
<pb o="13" file="0473" n="473"/>
die Wahrheit heraus, daß die Verallgemeinerung der Lebens-<lb/>genüſſe eine Hauptaufgabe unſerer Zeit iſt, die ſich ohne be-<lb/>wußte Tendenz erhält. </s>
  <s xml:id="echoid-s6389" xml:space="preserve">Alles, was unſere Maſchinen, unſere <lb/>Fabriken ſchaffen, all’ die Millionen von Pferdekräften, die der <lb/>Dampf für uns hergiebt, all’ die Maſſen von Gütern, welche <lb/>die Eiſenbahnen tagtäglich hin und her durch das Land führen, <lb/>ſind nicht zur Befriedigung der Bedürfniſſe Einzelner ins Leben <lb/>gerufen, die im Sinne der früheren Zeit über Reichtümer ge-<lb/>bieten und den großen Aufwand zu machen imſtande ſind, den <lb/>man Verſchwendung nennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6390" xml:space="preserve">Das maſſenhafte Schaffen und <lb/>das eilige Verbreiten des Geſchaffenen durch alle Länder iſt <lb/>erſt dadurch möglich geworden, daß ſie den <emph style="sp">Maſſen</emph> der <lb/>Menſchen eine Befriedigung gewähren. </s>
  <s xml:id="echoid-s6391" xml:space="preserve">Alles, was für die <lb/>Maſſen der Menſchen geſchaffen wird, nimmt einen Anſtrich <lb/>der Großartigkeit an, die all das Große, was im Altertum <lb/>jemals geſchaffen wurde, weit, weit überragt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6392" xml:space="preserve">— Die Pyramiden <lb/>Ägyptens, die Paläſte von Ninive ſind ein Kinderſpiel gegen <lb/>den Gotthardtunnel. </s>
  <s xml:id="echoid-s6393" xml:space="preserve">Wenn erſt den Maſſen der Menſchen <lb/>damit ein Bedürfnis wird befriedigt werden, ſo wird eine <lb/>Aktiengeſellſchaft in jeder Woche mehr Menſchen über die Alpen <lb/>transportieren, als ſich Hannibal jemals in ſeinem unſterb-<lb/>lichen Zuge vorſtellen konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6394" xml:space="preserve">— Die Brücke über den Niagara <lb/>läßt uns lächeln über den Gedanken, daß Xerxes einen wahn-<lb/>witzigen Frevel hegte, als er an die Möglichkeit einer Brücke <lb/>über den Helleſpont dachte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6395" xml:space="preserve">Die Viadukte ſehr gewöhnlicher <lb/>Eiſenbahnen überragen an Großartigkeit die Bauten der Perſer <lb/>und Römer. </s>
  <s xml:id="echoid-s6396" xml:space="preserve">Der Kryſtallpalaſt ſtellt die Zauberträume der <lb/>Semiramis in Schatten. </s>
  <s xml:id="echoid-s6397" xml:space="preserve">— Woher all dies? </s>
  <s xml:id="echoid-s6398" xml:space="preserve">Wo liegt der be-<lb/>deutſame Grund des Unterſchieds der alten und der neuen Zeit? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6399" xml:space="preserve">Nur darin, daß in alten Zeiten der einzelne, der unumſchränkte <lb/>Herrſcher über Millionen, dieſe Millionen zwang, <emph style="sp">ſeine</emph> Be-<lb/>dürfuiſſe und <emph style="sp">ſeine</emph> perſönlichen Wünſche zu befriedigen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6400" xml:space="preserve">wo-<lb/>hingegen jetzt das Umgekehrte der Fall iſt: </s>
  <s xml:id="echoid-s6401" xml:space="preserve">alles, was Groß-
<pb o="14" file="0474" n="474"/>
artiges geſchaffen wird, wird für die Millionen und Millionen <lb/>der Menſchen und deren gemeinſame Teilnahme am Genuß <lb/>geſchaffen!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6402" xml:space="preserve">Dies aber iſt wiederum nur dadurch möglich, daß ein Zu-<lb/>ſammenhang zwiſchen allem beſteht, was die Menſchen leiſten. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6403" xml:space="preserve">Man kann nur einen gemeinſamen Genuß für Millionen von <lb/>Menſchen ſchaffen, wenn jeder Einzelne auch in dem, was er <lb/>ſchafft, für die Bedürfniſſe der Andern Sorge trägt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6404" xml:space="preserve">— Wer <lb/>Nadeln oder Zündhölzchen in ſolcher Maſſe macht, daß die <lb/>Menſchen ſie in Unachtſamkeit verlieren und abnutzen können, <lb/>der hat ein Anrecht auf ſeine Taſſe Kaffee aus <emph style="sp">Braſilien</emph>, <lb/>auf ein kattunen Kleid für ſeine Frau und Kinder aus Baum-<lb/>wolle, die in Amerika wächſt, auf eine Eiſenbahnfahrt, um <lb/>die ihn die Mächtigſten der Vorzeit beneiden würden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6405" xml:space="preserve">— <lb/>Er arbeitet für Millionen und nimmt dafür auch mit Recht <lb/>Teil am Genuß all der Dinge für Millionen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6406" xml:space="preserve">— In dieſem <lb/>Falle iſt die Arbeit eine das Wohlbehagen der Menſchen för-<lb/>dernde Leiſtung, für welche andere Menſchen wiederum für den <lb/>Arbeitenden und deſſen Wohlbehagen etwas leiſten, und der <lb/>Austauſch der Leiſtungen iſt der Austauſch des Wohlbehagens, <lb/>der Alle berührt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6407" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6408" xml:space="preserve">Der Zuſammenhang in der Gegenſeitigkeit der Leiſtungen <lb/>iſt eine ſo feſte Regel, daß man ohne tiefe Unterſuchungen über <lb/>ganze Länder ein Urteil fällen kann, ob ſie für die großen <lb/>Lebensgenüſſe der Gemeinſamkeit reif find oder nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6409" xml:space="preserve">— Wenn <lb/>man jemanden durch einen Zauber in die Fabrikſtäl<unsure/>ten Eng-<lb/>lands verſetzt, ohne ihm zu ſagen, wo er ſich befinde, und ihn <lb/>ſehen ließe, was dort alles an Federmeſſerchen, Nähnadeln, <lb/>Pfropfenziehern, Maſchinenwerken, Schiffsbauten, Baumwoll-<lb/>geweben u. </s>
  <s xml:id="echoid-s6410" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s6411" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s6412" xml:space="preserve">zuſammengearbeitet wird, ſo wird er ſofort <lb/>ſagen können: </s>
  <s xml:id="echoid-s6413" xml:space="preserve">Ihr arbeitet ſo maſſenhaft dieſe Dinge, die Ihr <lb/>ſelber nicht verbrauchen könnt; </s>
  <s xml:id="echoid-s6414" xml:space="preserve">Ihr arbeitet alſo ſicherlich für <lb/>Millionen anderer Menſchen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6415" xml:space="preserve">nun, ſo werdet Ihr auch gewiß die
<pb o="15" file="0475" n="475"/>
Leiſtungen von Millionen zu genießen bekommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6416" xml:space="preserve">— Verſetzte <lb/>man denſelben Beurteiler nach China und zeigte ihm, wie <lb/>da die Maſſenleiſtung noch gar nicht begonnen hat, ſo wird er <lb/>ſofort ſagen können: </s>
  <s xml:id="echoid-s6417" xml:space="preserve">Hier kann zwar eine Regierung eine <lb/>Eiſenbahn auf ihre Koſten bauen und ein reicher Eigentümer <lb/>ſich zu ſeinem Vergnügen ſehr viel ziviliſierte Genüſſe ver-<lb/>ſchaffen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6418" xml:space="preserve">aber die Maſſe iſt in ihren Leiſtungen noch nicht reif <lb/>für die Lebensgenüſſe der Gemeinſamkeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s6419" xml:space="preserve">Hier arbeitet man <lb/>noch nicht für Millionen Andere, hier wird auch der Genuß <lb/>der Leiſtungen von Millionen noch nicht möglich. </s>
  <s xml:id="echoid-s6420" xml:space="preserve">Dies Land <lb/>kann an Naturprodukten ſehr reich ſein; </s>
  <s xml:id="echoid-s6421" xml:space="preserve">aber ſo lange es nicht <lb/>im Sinne unſerer Zeit arbeitet, wird es auch nicht im Sinne <lb/>unſerer Zeit in Wohlbehagen leben!</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div182" type="section" level="1" n="160">
<head xml:id="echoid-head178" xml:space="preserve"><emph style="bf">V. Etwas vom Schreibe-, Kunſt- und Leſebedürfnis.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6422" xml:space="preserve">Liegt denn aber in der That in dem Gemeinſamkeitsgenuß <lb/>unſerer Zeit ein ſo hoher Vorzug derſelben, daß wir dieſen zu <lb/>dem Kulturmaßſtab der Völker machen dürfen? </s>
  <s xml:id="echoid-s6423" xml:space="preserve">Iſt denn jenes <lb/>materielle Wohlbehagen, das aus der Arbeit für Millionen <lb/>entſpringt, auch wirklich ein richtiges Merkzeichen für den <lb/>höheren Geiſtesauſſchwung, der in Kunſt und Wiſſenſchaft doch <lb/>den eigentlichen Bildungsſtand der Nationen bezeugt? </s>
  <s xml:id="echoid-s6424" xml:space="preserve">— Ja, <lb/>iſt nicht das Weſen der Kunſt und der Wiſſenſchaft, dieſer <lb/>Hauptfrüchte des Kulturlebens, unter allen Umſtänden nur das <lb/>Ureigentum der hervorragenden Geiſter, das Beſitztum einer <lb/>Ariſtokratie der Begabung, und liegt nicht gerade in dem Ge-<lb/>meinſamkeitsgenuß ein Merkzeichen der <emph style="sp">Verflachung</emph> unſerer <lb/>Zeit? </s>
  <s xml:id="echoid-s6425" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6426" xml:space="preserve">Wir dürfen zur Beantwortung dieſer Frage, oder richtiger
<pb o="16" file="0476" n="476"/>
dieſer Auklagen, die man gegen unſere ſogenannte materielle <lb/>induſtrielle Zeit erhebt, wiederum nur auf die Welt der Wirk-<lb/>lichkeit in ihren kleinen und großen Erſcheinungen verweiſen, <lb/>um darzuthun, wie gerade mit dem ſogenannten materiellen <lb/>Fortſchritt auch das intellektuelle Leben in ſeiner Gemeinſam-<lb/>keit in hohem Grade gewonnen hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s6427" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6428" xml:space="preserve">Wir wollen auch hier wieder wit ſcheinbar geringfügigen <lb/>Thatſachen auftreten, die wohlerwogen gar mächtige Zeugniſſe <lb/>des rein intellektuellen Aufſchwunges abgeben.</s>
  <s xml:id="echoid-s6429" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6430" xml:space="preserve">Von allen neueren Fabrikationszweigen dürfte keiner dem <lb/>unſerer Nadeln näher ſtehen als die Fabrikation unſerer Stahl-<lb/>federn. </s>
  <s xml:id="echoid-s6431" xml:space="preserve">— Wie viel wohl täglich fabriziert werden mögen? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6432" xml:space="preserve">Auch das geht gewiß weit in die Millionen! Die Stahlfeder <lb/>geht aber nicht wie die Nadel inmitten ihrer Leiſtungsfähigkeit <lb/>verloren, ſondern ſie wird wirklich abgebraucht und erſt dann <lb/>fortgeworſen, nachdem ſie einen oft gar nicht unbeträchtlichen <lb/>Dienſt verrichtet. </s>
  <s xml:id="echoid-s6433" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6434" xml:space="preserve">Nun aber wiſſen wir, wie es noch keine hundert Jahre <lb/>her iſt, daß man auf den Gedanken kam, den Gänſekiel durch <lb/>die Stahlfeder zu erſetzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6435" xml:space="preserve">— Ja, zu Anfang der Fabrikation <lb/>wurde ſie ſogar wiſſenſchaftlich vom volkswirtſchaftlichen Stand-<lb/>punkt aus ſehr energiſch bekämpft. </s>
  <s xml:id="echoid-s6436" xml:space="preserve">Man ſagte ſcheinbar mit <lb/>Recht, es ſei unwirtſchaftlich, durch direkte Menſchenarbeit ein <lb/>Produkt ſchaffen zu wollen, das die Gänſe ohne alle Mühe <lb/>als bloßes <emph style="sp">Nebengeſchäft</emph> zur hinreichenden Befriedigung <lb/>aller Schreibenden betreiben. </s>
  <s xml:id="echoid-s6437" xml:space="preserve">Man nannte dieſe Unternehmung <lb/>eine “unvernünftige Konkurrenz einer teuer zu bezahlenden <lb/>Arbeit gegen eine von der Natur gratis geleiſtete”; </s>
  <s xml:id="echoid-s6438" xml:space="preserve">man fügte <lb/>hinzu, daß nicht einmal der ſcheinbare Gewinn an Beſchäftigung <lb/>von Menſchenhänden vorliege, denn offenbar müſſe die Fabri-<lb/>kation der Federmeſſer in demſelben Maße verlieren, als das <lb/>Schneiden der Gänſekiele aufhöre! —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6439" xml:space="preserve">Es iſt wiſſenſchaftlich außerordentlich lehrreich, die wirt-
<pb o="17" file="0477" n="477"/>
ſchaftlichen Gründe zu verfolgen, welche der Stahlfeder trotz <lb/>der an ſich ganz richtigen Einwände ſo mächtig Bahn gebrochen <lb/>haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s6440" xml:space="preserve">Ja, die Stahlfeder überwand noch ganz andere Hinder-<lb/>niſſe, wie zum Beiſpiel die zur Zeit ihres Auftretens allgemein <lb/>gebräuchliche Gallus-Eiſen-Tinte und das für die Stahlſpitze <lb/>der Feder damals noch viel zu faſerige, unſatinierte Schreib-<lb/>papier. </s>
  <s xml:id="echoid-s6441" xml:space="preserve">— Auch die Federmeſſer-Fabrikation hat nicht ab-<lb/>genommen, ſondern ſehr ſtark zugenommen, obwohl unſere <lb/>Kinder gar keinen Begriff mehr davon haben, warum die <lb/>Federmeſſer “Federmeſſer” heißen, und es einer weitläufigen <lb/>Erklärung bedarf, um es ihnen begreiflich zu machen, daß <lb/>man es früher keineswegs nötig hatte, erſt auf die Gänſejagd <lb/>zu gehen, wenn man einen Brief ſchreiben wollte.</s>
  <s xml:id="echoid-s6442" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6443" xml:space="preserve">Für unſer Thema hat jedoch der Sieg der Fabrikation <lb/>nicht nur in volkswirtſchaftlicher, ſondern auch in rein in-<lb/>tellektueller Beziehung eine unendlich hohe Bedeutung.</s>
  <s xml:id="echoid-s6444" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6445" xml:space="preserve">Wir wiſſen: </s>
  <s xml:id="echoid-s6446" xml:space="preserve">die Gänſe haben ihr Nebengeſchäft keineswegs <lb/>aus Mangel an Abſatz aufgegeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s6447" xml:space="preserve">Den Gänſefedern, deren <lb/>man ſich ſonſt zum Schreiben bediente, vermochte man bisher <lb/>noch keine andere Beſchäftigung nachzuweiſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6448" xml:space="preserve">gleichwohl hat <lb/>die Stahlfeder eine Verbreitung gewonnen, welche derjenigen <lb/>der Nadeln nicht allzu viel nachgiebt! —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6449" xml:space="preserve">Was aber bedeutet das für uns? </s>
  <s xml:id="echoid-s6450" xml:space="preserve">— Es bedeutet, daß in <lb/>unſerem Zeitalter unvergleichlich viel mehr geſchrieben wird <lb/>als früher. </s>
  <s xml:id="echoid-s6451" xml:space="preserve">Gleichviel <emph style="sp">worüber</emph> geſchrieben wird, gleichviel <lb/>wie groß, gemeſſen nach dem Grade unſerer höheren Bildung, <lb/>der intellektuelle Wert deſſen ſein mag, was geſchrieben wird; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6452" xml:space="preserve">es ſteht jedenfalls ſo viel feſt, daß jedes geſchriebene Wort den <lb/>Inhalt der Gedanken, die ein Menſch dem <emph style="sp">anderen</emph> mitteilt, <lb/>in viel konzentrierterer Form wiedergiebt als das von ihm <lb/>geſprochene. </s>
  <s xml:id="echoid-s6453" xml:space="preserve">Es ſchreibt jeder nicht nur kürzer, als er ſpricht, <lb/>ſondern auch mit viel größerer Beſtimmtheit und Sammlung <lb/>ſeines Geiſtes. </s>
  <s xml:id="echoid-s6454" xml:space="preserve">In Zeiten, wo viel geſchrieben wird, wird</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6455" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s6456" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s6457" xml:space="preserve">Volksbücher XV.</s>
  <s xml:id="echoid-s6458" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="18" file="0478" n="478"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6459" xml:space="preserve">unendlich viel mehr gedacht als in Zeiten, wo wenig geſchrieben <lb/>wird, und in gleichem Maße, wie die Summe der Denkthätig-<lb/>keit in dem Schreibenden wächſt, ſteigert ſich die Summe der <lb/>Denkthätigkeit in allen denen, an welche das Geſchriebene ge-<lb/>richtet iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6460" xml:space="preserve">Mögen nun unter den vielen Millionen Briefen, <lb/>die die Poſt allein jetzt alljährlich befördert, nur wenige ſein, <lb/>die allein für ſich einen weſentlichen Fortſchritt auf dem Ge-<lb/>biete des Geiſteslebens dokumentieren, — es iſt ihr geſamter <lb/>Geiſtesinhalt ein viel, viel größerer als z. </s>
  <s xml:id="echoid-s6461" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s6462" xml:space="preserve">im erſten Jahre <lb/>der Einrichtung der Berliner Stadtpoſt, wo die Zahl der <lb/>Briefe ſich nur auf einige dreißigtauſend belief.</s>
  <s xml:id="echoid-s6463" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6464" xml:space="preserve">Steht es aber feſt, daß der große, gewaltige Strom von <lb/>geiſtigem Verkehr, der bloß im Briefſchreiben durch das jetzige <lb/>Geſchlecht dahinzieht, unmöglich wäre, wenn wir wieder unſere <lb/>Zuflucht zum Gänſekiel nehmen müßten, ſo iſt es ganz zweifel-<lb/>los, daß die millionenfach fabrizierte Stahlfeder ein ſehr ge-<lb/>hobenes Daſein in der intellektuellen Welt erzeugt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s6465" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6466" xml:space="preserve">Wer aber weiß, wie die Stahlfeder-Fabrikation allein gar <lb/>nicht zur Blüte gelangen kann, wenn nicht anderweitig auch <lb/>die fernſtliegenden Fabrikationszweige ſich emporſchwingen, wer <lb/>es begreift, wie die Vervollkommnung des Maſchinenbauweſens <lb/>der Fabrikation der Stahlfeder vorangehen mußte, wie der <lb/>geſteigerte Gebrauch der Stahlfeder mit dem geſteigerten Ge-<lb/>brauch des Papiers Hand in Hand geht, wie die geſteigerte <lb/>Papierfabrikation unmöglich wäre ohne die vorzüglichen Ma-<lb/>ſchinen, die das “Papier ohne Ende” liefern, wie zu dieſer <lb/>Maſchine, um nur einen kleinen, gar nicht bedeutſamen Teil <lb/>zu nennen, das feine Meſſing-Drahtnetz, das man Müller-<lb/>Beuteltuch nennt, unumgänglich nötig iſt, wie die Draht-<lb/>ſpinnerei und das Drahtweben wiederum in die Verfeinerung <lb/>des Maſchinenweſens hineingreifen, durch deſſen Hilfe es erſt <lb/>möglich iſt, es herzuſtellen, — wer die tauſendſachen Fäden <lb/>verfolgt, die auf den verſchiedenſten und ſcheinbar fernſtliegenden
<pb o="19" file="0479" n="479"/>
Zweigen der Arbeit durcheinandergehen müſſen, um nur die <lb/>Möglichkeit der Stahlfeder-Fabrikation zu gewähren, der wird <lb/>erkennen, wie die Stahlfeder, wenn ſie die Repräſentantin der <lb/>ſehr geſteigerten Intelligenz iſt, in ihrem Denkthätigkeitsgeſchäft <lb/>eine Unmaſſe ſtiller Teilnehmer hat, die ſcheinbar gar nichts <lb/>mit der Schreiberei, dieſem Geiſtesverkehr der Menſchen unter <lb/>einander, zu thun haben, die aber gleichwohl an dem großen <lb/>Verdienſte teilnehmen, mit der Steigerung und Verallgemeine-<lb/>rung der ſogenannten <emph style="sp">materiellen</emph> Arbeitserzengniſſe zugleich <lb/>auch <emph style="sp">intellektuell</emph> der Welt zu dienen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6467" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6468" xml:space="preserve">Aber auch tief in das Weſen der höheren Kunſt und der <lb/>höheren Wiſſenſchaft greift dasienige hinein, was wir als das <lb/>bedeutſamſte Ergebnis der neueren Kultur und die ſie charakteri-<lb/>ſierende <emph style="sp">Verallgemeinerung ihres Genuſſes</emph> bezeichnet <lb/>haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s6469" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6470" xml:space="preserve">Wohl iſt es wahr, daß die höchſten Erzeugniſſe des Genies <lb/>immer nur von den gewählteſten und ſeltenſten Geiſtern be-<lb/>günſtigter Zeitalter geſchaffen worden ſind und geſchaffen <lb/>werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6471" xml:space="preserve">— Aber könnten wir die Unſterblichen der Kunſt, <lb/>könnten wir Rafael und Correggio, Rubens und Rembrandt, <lb/>Dürer und Holbein in die Wohnung unſeres in Dürftigkeit <lb/>lebenden Fabrikarbeiters führen, deſſen täglicher Kaffeegenuß <lb/>den Lucullus irre macht, ſie würden in den naturgetreueſten <lb/>photographiſchen Familienporträts, die ſie an den Wänden <lb/>finden, Gegenſtände ihrer erhabenſten Bewunderung erblicken. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6472" xml:space="preserve">— Sie würden, ließe man ſie in einer unſerer größten Städte <lb/>herumwandern, über unſer Zeitalter ſtaunen, wo faſt an jeder <lb/>Straßenecke ein Photograph zu finden iſt, der eine Sammlung <lb/>von kleinen Meiſterwerken zur Schau ausſtellt, von deren Fein-<lb/>heit und Naturwahrheit die Kunſt der Vorzeit gar keinen Be-<lb/>griff halte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6473" xml:space="preserve">— Sie würden die unglaublich große Verbreitung <lb/>ihrer eigenen Meiſterwerke in photographiſchen Abdrücken und <lb/>in viel größerer Treue, als ſie ſelber je imſtande geweſen
<pb o="20" file="0480" n="480"/>
wären, ſie zu kopieren, als ein Merkzeichen des höchſt geſteigerten <lb/>und verfeinerten Kunſtſinnes betrachten. </s>
  <s xml:id="echoid-s6474" xml:space="preserve">Wenn ſie aber gar <lb/>erführen, daß all dieſe Erzeugniſſe nicht von Künſtlern, ſondern <lb/>von techniſchen <emph style="sp">Arbeitern</emph> geleiſtet werden, die auch nicht <lb/>eben von dem freigebigen Kunſtſinn reicher Liebhaber exiſtieren, <lb/>ſondern ihr Gewerbe auf das <emph style="sp">vollkommen gewöhulich <lb/>gewordene Bedürfnis des allgemeinen Volks grün-<lb/>den</emph>, ſie würden wahrlich dieſer Erſcheinung unſerer Zeit eine <lb/>tiefere Bedeutung beilegen, als wir es vermuten, die wir das <lb/>eigentliche Ergebnis vor unſeren Augen haben entſtehen ſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6475" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6476" xml:space="preserve">Durch die Lichtbilder iſt der Kunſtſinn und das Kunſt-<lb/>bedürfnis ſo tief ins Volk hineingewachſen, daß wir gar nicht <lb/>mehr imſtande ſind, uns in die Zeit zurückzuverſetzen, wo ſie <lb/>aus Mangel an Befriedigung nicht exiſtierten. </s>
  <s xml:id="echoid-s6477" xml:space="preserve">Einen un-<lb/>gefähren Maßſtab für dieſes Bedürfnis möchte der Umſtand <lb/>abgeben, daß ein einziges chemiſches Laboratorium in Berlin <lb/>alljährlich für eine Million Mark ſalpeterſaures Silber fabri-<lb/>zierte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6478" xml:space="preserve">Wenn wir auch annehmen, daß nur der zehnte Teil davon <lb/>in Berlin zu Photographie verbraucht wurde, ſo ergiebt doch ein <lb/>ungefährer Überſchlag, daß in Berlin allein für fertige Bilder <lb/>ſamt Rahmen mehr als hunderttauſend Mark im Jahre ver-<lb/>ausgabt wurden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6479" xml:space="preserve">Das Bedürfnis iſt aber noch immerfort im <lb/>Steigen, und wenn das Geld, das dafür ausgegeben wird, ein <lb/>Maßſtab des vorhandenen Intereſſes iſt, ſo dürfte man bald <lb/>auf ein wunderbares Reſultat kommen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6480" xml:space="preserve">denn thatſächlich wird <lb/>eine viel größere Summe in Berlin allein für die Photographie <lb/>ausgegeben, als die Regierung imſtande iſt, für die Königliche <lb/>Akademie der Künſte zu verwenden, die für den <emph style="sp">ganzen <lb/>Staat</emph> exiſtiert!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6481" xml:space="preserve">Was beweiſt uns aber dieſer Umſtand? </s>
  <s xml:id="echoid-s6482" xml:space="preserve">Nichts anderes <lb/>als <emph style="sp">das ungeheuere Wachstum des Kunſtſinns und <lb/>die Verallgemeinerung des Kunſtbedürfniſſes</emph> ſeit <lb/>der Zeit, daß eine Erfindung aufgetreten, welche für die Be-
<pb o="21" file="0481" n="481"/>
friedigung dieſes Bedürfniſſes in der Weiſe der <emph style="sp">Induſtrie</emph> <lb/>zu ſorgen imſtande iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6483" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6484" xml:space="preserve">Und wie ſteht es denn um die Litteratur? </s>
  <s xml:id="echoid-s6485" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6486" xml:space="preserve">Wer lieſt es nicht mit Wehmut, wie eine einſtige Zeit-<lb/>ſchriſt, die “Horen”, an mangelnder Teilnahme in der deutſchen <lb/>Leſewelt eingehen mußte, trotzdem Goethe und Schiller, Wieland, <lb/>Herder, die beiden Humboldts und ihre bedeutendſten Zeit-<lb/>genoſſen ſich an der Mitarbeiterſchaft beteiligten! — Ver-<lb/>gleicht man die außerordentlich beſcheidenen Anſprüche, die die <lb/>Litteratur vor einem halben Jahrhundert an die Leſewelt <lb/>machte, mit dem ungeheuern Kapital, das jetzt jahraus, jahrein <lb/>für die Erzeugniſſe der Buchdruckerpreſſe verausgabt wird, ſo <lb/>wird man ſich eine ungefähre Vorſtellung machen können, in <lb/>welch hohem Grade das Bedürfnis nach Geiſtesnahrung in der <lb/>Welt ſich geſteigert hat, und man wird erkennen, daß dem <lb/>Wachstum der ſogenannten materiellen Welt das Wachstum <lb/>der Leiſtungen zur Befriedigung der intellektuellen Bedürfniſſe <lb/>mindeſtens ganz gleich gekommen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6487" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6488" xml:space="preserve">Wir haben im Beginn unſerer Betrachtung von den Na-<lb/>deln geſprochen, die alltäglich maſſenhaft geſchaffen werden, um <lb/>alltäglich maſſenhaft verloren zu gehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6489" xml:space="preserve">Sollen wir aus dem <lb/>Gebiet der geiſtigen Produktionen ein Seitenſtück vorführen, <lb/>nun, ſo liegt wohl nichts ſo nahe wie die Zeitungsblätter, die <lb/>maſſenhaft alltäglich entſtehen, um maſſenhaft nach kurzem <lb/>Geiſſesgenuß als Makulatur zu vergehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6490" xml:space="preserve">Der Jahrespreis <lb/>der in Berlin allein erſcheinenden Tageszeitungen beträgt <lb/>mehrere Millionen Mark, eine Summe, die die Leſer ganz <lb/>freiwillig kontribuieren, um ein geiſtiges Tagesbedürſnis zu <lb/>befriedigen, das unter der ungeheuer geſteigerten Fülle aller <lb/>anderen Tagesbedürfniſſe wiederum ſo verſchwindet wie die <lb/>Nadeln unter den Trümmern des täglich maſſenhaft Verloren-<lb/>gehenden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6491" xml:space="preserve">— Wenn man will, kann man auch dies eine Geiſtes-<lb/>verſchwendung nennen: </s>
  <s xml:id="echoid-s6492" xml:space="preserve">aber ſo wenig die Menſchheit ärmer
<pb o="22" file="0482" n="482"/>
wird durch das Verbrauchen des Geſchaffenen, und im Gegen-<lb/>teil der Reichtum und deſſen Wohlbehagen ſich weit über alle <lb/>Maſſen verbreitet, je mehr die <emph style="sp">Verallgemeinerung</emph> der <lb/>Leiſtungen eine <emph style="sp">Steigerung</emph> derſelben möglich machte, ebenſo <lb/>iſt es mit den geiſtigen Tageserzeugniſſen der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s6493" xml:space="preserve">Einzeln <lb/>gehalten gegen das, was die Heroen des Geiſtes Unſterbliches <lb/>leiſten, verſchwindet es wohl als bedeutungslos; </s>
  <s xml:id="echoid-s6494" xml:space="preserve">aber in der <lb/>Verallgemeinerung der Leiſtung, in der Verbreitung des kleinen <lb/>Genuſſes über die großen und immer größer werdenden Maſſen, <lb/>bekundet es den großen geiſtigen Fortſchritt, der unſere Zeit <lb/>nicht minder charakteriſiert wie der materielle Fortſchritt, den <lb/>man unſerer Zeit nicht abſprechen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s6495" xml:space="preserve">— — —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6496" xml:space="preserve">Und ſo mag denn auch dieſe unſere Betrachtung ihren <lb/>Weg hinaus in die Leſewelt nehmen, um auch wieder verloren <lb/>zu gehen in dem großen, unüberſehbar gewordenen Strome der <lb/>Betrachtungen, die der Zeitenlauf unſerem ſehr reichen Zeitalter <lb/>vorüberführt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6497" xml:space="preserve">— Auch eine verloren gegangene Nähnadel geht <lb/>nicht ganz verloren. </s>
  <s xml:id="echoid-s6498" xml:space="preserve">Wer ihr Schickſal zu verfolgen imſtande <lb/>wäre, der würde gar ſehr erſtaunen in der Wahruehmung, wie <lb/>das kleine, unbeachtete, eiſerne Kunſtwerk unſerer Induſtrie in <lb/>irgend einer Weiſe unter Müll und Schutt hinausgerät aufs <lb/>Feld, wo der allverzehrende Sauerſtoff der Luft ſich ſeiner be-<lb/>mächtigt und es oxydiert; </s>
  <s xml:id="echoid-s6499" xml:space="preserve">wie es dann, von den Säuren des <lb/>Regenwaſſers aufgelöſt, zur Pflanzenſpeiſe wird, und wie es <lb/>nach Jahr und Tag, gar wunderbar verwandelt, als Eiſen-<lb/>gehalt eines Gemüſes, eines Spinats, eines Salats wiederum <lb/>auf den Tiſch der ehemaligen Eigentümerin gelangt, um gar <lb/>mit Wohlgeſchmack und zur Stärkung der Geſundheit verzehrt <lb/>zu werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6500" xml:space="preserve">— Geht es in der Gedankenwelt nicht oft ebenſo? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6501" xml:space="preserve">— Der Geiſtesſtrom unſerer Zeit führt außerordentlich viele <lb/>Gedanken an uns vorüber, die kaum geboren, ſchon verloren <lb/>zu gehen ſcheinen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6502" xml:space="preserve">Es haftet wenig von dem, was unſere <lb/>Voltslitteratur bringt, feſt im Gedächtnis der Empfänger, und
<pb o="23" file="0483" n="483"/>
es thut darum not, daß man viel darbietet und von Zeit zu <lb/>Zeit die Gabe erneuert. </s>
  <s xml:id="echoid-s6503" xml:space="preserve">Aber auch dies iſt nichts Verlorenes <lb/>und Verſchwendetes für immer; </s>
  <s xml:id="echoid-s6504" xml:space="preserve">denn in verwandelter Form und <lb/>in ganz anderer Verbindung und Geſtaltung tritt ſehr oft ein <lb/>Gedanke bei uns zu Gaſte ein, der unerkannt ſchon einmal <lb/>dageweſen, und wir nehmen ihn zuweilen in anderer Weiſe <lb/>auf, in beſſerem geiſtigen Wohlgeſchmack und zur Stärkung <lb/>unſerer geiſtigen Geſundheit! — —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6505" xml:space="preserve">Möge es nur einigen Gedanken unſerer Betrachtung ebenſ@ <lb/>ergehen!</s>
</p>
<pb file="0484" n="484"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div183" type="section" level="1" n="161">
<head xml:id="echoid-head179" xml:space="preserve"><emph style="bf">Naturkraft und Geiſteswalten.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head180" xml:space="preserve"><emph style="bf">I. Die Legung des erſten transatlantiſchen Kabels.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6506" xml:space="preserve">Die unterſeeiſche Leitung, welche England mit Amerika, <lb/>die alte Welt mit der neuen verbindet, iſt ein Wunder un-<lb/>ſerer Zeit, wie es in den alten Zeiten der Wunder nie ein <lb/>Philoſoph erdacht, nie ein Dichter erſonnen, nie ein Prophet <lb/>erſchaut hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s6507" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6508" xml:space="preserve">Schon der Gedanke an die Vorarbeiten zu dieſem Rieſen-<lb/>werk mußte einer Zeit, die weniger erfindungsreich iſt als <lb/>die unſrige, wie eine ſträfliche Vermeſſenheit erſcheinen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6509" xml:space="preserve">Die <lb/>Erforſchung der Tiefe des Meeres auf einer Strecke von 400 <lb/>Meilen, die Unterſuchung der Bodenbeſchaffenheit in dieſer <lb/>Tiefe, die Anfertigung eines viele Meilen langen Kabels, <lb/>welches beſonderer Vorrichtungen bedurfte, um nur auf Schiffe <lb/>gebracht zu werden, und endlich all die neuen Apparate, <lb/>welche ſolch ein Rieſenkabel unbeſchädigt in das oft über <lb/>eine halbe Meile tiefe Meer verſenken ſollten, — all das <lb/>waren Arbeiten, deren Bewältigung vor allem des hohen <lb/>Aufſſchwunges der Jetztzeit in den mechaniſchen Wiſſenſchaften <lb/>und im Maſchinenweſen bedurfte, an welche zu denken den <lb/>Menſchen in früheren Zeiten gar nicht in den Sinn kommen <lb/>konnte.</s>
  <s xml:id="echoid-s6510" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6511" xml:space="preserve">Und von dieſem hohen Aufſchwung legte denn auch das <lb/>endliche Gelingen des großen Werkes ein glänzendes Zeugnis
<pb o="25" file="0485" n="485"/>
ab, das wir ſpäteren Jahrhunderten zur Wertſchätzung des <lb/>unſrigen überliefern können.</s>
  <s xml:id="echoid-s6512" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6513" xml:space="preserve">Wenn wir die Vorarbeiten zur Legung kurz berühren <lb/>wollen, ſo haben wir zunächſt die Unterſuchung des Meeres-<lb/>bodens, ſeiner Tiefe und ſeiner Beſchaffenheit ins Auge zu faſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6514" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6515" xml:space="preserve">In den Jahren 1853 — 57 wurden auf Schiffen, welche <lb/>die engliſche und die amerikaniſche Regierung dem Unter-<lb/>nehmen zur Verfügung ſtellten, Unterſuchungen des Meeres-<lb/>bodens in folgender Art vorgenommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6516" xml:space="preserve">Eine an einer Leine <lb/>befeſtigte hohle Spindel wurde nebſt einem an derſelben Leine <lb/>befindlichen Senkblei ins Meer hinabgelaſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6517" xml:space="preserve">Die Befeſtigung <lb/>des Senkbleies war nun ſo eingerichtet, daß dies ſich los-<lb/>hakte, ſobald es den Meeresboden berührte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6518" xml:space="preserve">Sodann wurde <lb/>die Leine wieder aufgewunden und die Spindel heraufgeholt, <lb/>die in ihrem hohlen Raum vom Grund des Meeres feſte Be-<lb/>ſtandteile mit ans Tageslicht brachte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6519" xml:space="preserve">Aus der Länge der <lb/>hinabgelaſſenen Leine konnte man die Tiefe des Meeres von <lb/>Strecke zu Strecke kennen lernen, und aus dem Inhalt der <lb/>Spindel vermochte man auf die Beſchaffenheit des Meeres-<lb/>grundes zu ſchließen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6520" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6521" xml:space="preserve">In ſolcher Weiſe war man imſtande, nach einer Arbeit <lb/>von drei Jahren eine Karte des Meeresbodens von der Strecke <lb/>zwiſchen Amerika und England anzufertigen, wie man bis da-<lb/>hin Landkarten hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6522" xml:space="preserve">Der amerikaniſche Kapitän und Phyſiker <lb/><emph style="sp">Maury</emph>, der dieſe Unterſuchung leitete und nach ihrer Be-<lb/>endigung die Karte zeichnete, nannte dieſe unterſuchte Strecke <lb/>das “Telegraphen-Plateau”, weil er richtig erkannte, daß auf <lb/>ſolchem Grund und Boden ein telegraphiſches Kabel ſicher vor <lb/>jeder Beſchädigung liegen würde.</s>
  <s xml:id="echoid-s6523" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6524" xml:space="preserve">Was nun die Tiefen des Meeres auf dieſer Strecke be-<lb/>trifft, ſo ergab die Unterſuchung, daß ſie nicht aus plötzlichen <lb/>Schluchten beſtehen, vielmehr einen gleichmäßig ſanften Ver-<lb/>lauf nehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6525" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="26" file="0486" n="486"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6526" xml:space="preserve">Etwa 15 Meilen weſtlich von der iriſchen Küſte exiſtiert <lb/>wohl ein ſteiler Abfall; </s>
  <s xml:id="echoid-s6527" xml:space="preserve">nach deſſen Verlauf ſtellt ſich jedoch <lb/>der tiefſte Teil des Meeresbodens in allmählichen Abdachungen <lb/>von {1/3} — {1/2} Meile dar, der nur um die Mitte des Plateau <lb/>einige ſteilere Neigungen zeigte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6528" xml:space="preserve">Gegen das Ende der Strecke <lb/>tritt bis nach der Küſte von Newfoundland ein allmähliches <lb/>Aufſteigen des Bodens ohne ſchroffe Übergänge ein.</s>
  <s xml:id="echoid-s6529" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6530" xml:space="preserve">Was nun die Beſchaffenheit des Bodens anbetrifft, ſo <lb/>ergab die mikroſkopiſche Unterſuchung, daß der Grund bedeckt <lb/>ſei mit einer mehligen Subſtanz, beſtehend aus ſehr feinen <lb/>Schalen lebender und ausgeſtorbener Infuſorien und aus <lb/>Pflanzenreſten.</s>
  <s xml:id="echoid-s6531" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6532" xml:space="preserve">Da man nun unter dieſen Maſſen niemals Sand und <lb/>Grus fand, ſo ſchloß man, daß dieſe Tiere dort wirklich ge-<lb/>lebt haben und nicht erſt im Laufe der Zeit hier abgelagert <lb/>worden ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s6533" xml:space="preserve">Es ergab ſich daraus, daß der Meeresboden in <lb/>dieſer Tiefe frei ſein müſſe von Strömungen und Wellenſchlag, <lb/>und daß alſo ein Kabel, eingebettet in dieſen Schlamm, vor <lb/>allen Störungen durch Schiffsanker, Eis und Geſteinablage-<lb/>rungen geſichert ſein würde.</s>
  <s xml:id="echoid-s6534" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6535" xml:space="preserve">So bot denn das Weltmeer ſelbſt dem Unternehmen keine <lb/>beſonderen Hinderniſſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s6536" xml:space="preserve">Wenn trotzdem das begonnene Werk <lb/>mehrere Male ſcheiterte, ſo lag dies vor allem an der Schwierig-<lb/>keit der Legung.</s>
  <s xml:id="echoid-s6537" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6538" xml:space="preserve">Ein Kabel von vielen hundert Meilen Länge unbeſchädigt <lb/>auf Schiffe zu laden und es von dort aus eine halbe Meile <lb/>tief ins Meer zu ſenken, das erfordert, wie leicht erſichtlich, <lb/>ganz beſondere Vorrichtungen, die durch Erfahrungen erſt er-<lb/>probt werden mußten.</s>
  <s xml:id="echoid-s6539" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6540" xml:space="preserve">Bevor man nun an die Legung eines Kabels zwiſchen <lb/>England und Amerika denken konnte, mußte zunächſt New-<lb/>foundland, die öſtlichſte Spitze von Nord-Amerika, mit dem <lb/>Feſtlande Amerikas verbunden werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s6541" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="27" file="0487" n="487"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6542" xml:space="preserve">Eine Geſellſchaft, die ſich früher hierzu gebildet hatte, <lb/>endete mit einem Bankerott, nachdem das Unternehmen kaum <lb/>zur Hälfte vollendet war. </s>
  <s xml:id="echoid-s6543" xml:space="preserve">Der Ingenieur dieſer Geſellſchaft, <lb/>Frederick <emph style="sp">Gisborne</emph>, wußte indeſſen einen amerikaniſchen <lb/>Kapitaliſten, den Kaufmann <emph style="sp">Cyrus Field</emph> (geb. </s>
  <s xml:id="echoid-s6544" xml:space="preserve">1819), für <lb/>das Unternehmen zu intereſſieren, der auch ſofort den kühnen <lb/>Gedanken einer transatlantiſchen Telegraphenverbindung zwiſchen <lb/>Europa und Amerika zu verwirklichen ſtrebte und dem der un-<lb/>ſterbliche Ruhm gebührt, der eigentliche Gründer eines Unter-<lb/>nehmens zu ſein, das an Thätigkeit, an Energie, an Geld und <lb/>Zeit nicht bloß ganz außerordentliche Opfer in Anſpruch nahm, <lb/>ſondern auch einen feſten Glauben und ein tiefes Vertrauen <lb/>zu den Fortſchritten unſerer Zeit erforderte, wie dies nur in <lb/>großen Geiſtern lebt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6545" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6546" xml:space="preserve">Im Hinblick auf das großartige Unternehmen, welches <lb/>Field vor Augen hatte, wurde im Sommer 1855 zunächſt die <lb/>Legung eines Kabels zwiſchen Newfoundland und dem Feſt-<lb/>lande von Amerika verſucht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6547" xml:space="preserve">Dies mißlang indeſſen, weil ein <lb/>Sturm das für die Laſt des Kabels zu kleine Segelſchiff er-<lb/>faßte und die Mannſchaft nötigte, das Kabel abzuſchneiden, <lb/>um das Schiff zu erhalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s6548" xml:space="preserve">Jedoch gelang es im nächſten <lb/>Jahre, wo man ſich eines Dampfers bediente, das Kabel hier <lb/>zu legen, womit dieſe Einleitungs-Aufgabe gelöſt war.</s>
  <s xml:id="echoid-s6549" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6550" xml:space="preserve">Im Sommer des Jahres 1856 reiſte nun Cyrus Field <lb/>nach England, um Männer der Wiſſenſchaft ſowohl als auch <lb/>Kapitaliſten, um geiſtige und materielle Hilfe für das große <lb/>Unternehmen zu gewinnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6551" xml:space="preserve">Nachdem dann auch die engliſche <lb/>Regierung ſich zur Unterſtützung des Unternehmens bereit er-<lb/>klärt und im Falle des Gelingens eine bedeutende Summe <lb/>(14 000 Pfund Sterling) jährlich für Beförderung ihrer De-<lb/>peſchen garantiert hatte, ein Gleiches auch von der amerika-<lb/>niſchen Geſetzgebung in Ausſicht ſtand, konſtituierte ſich im <lb/>Dezember die “Atlantic Telegraph Company” mit einem
<pb o="28" file="0488" n="488"/>
Kapital von über 2 Millionen Thalern und nahm die Vor-<lb/>bereitungen zur Legung nun ſofort in Angriff.</s>
  <s xml:id="echoid-s6552" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6553" xml:space="preserve">Die Anfertigung des Kabels wurde zwei engliſchen Fa-<lb/>brikanten übergeben, wie denn eine Teilung der ganzen Arbeit <lb/>einmal der Laſt des Kabels wegen notwendig, welche ein <lb/>Schiff nicht bewältigen konnte, und dann auch für die Legung <lb/>ſelbſt ratſam erſchien, damit beim Verunglücken eines Schiffes <lb/>nicht das ganze Kabel verloren ſei. </s>
  <s xml:id="echoid-s6554" xml:space="preserve">Anfangs Juni 1857 <lb/>waren die Kabelhälften vollendet, deren Transport und Auf-<lb/>wickelung auf die von der engliſchen und der amerikaniſchen <lb/>Regierung zur Verfügung geſtellten Schiffe “Niagara” und <lb/>“Agamemnon” einen Zeitraum von faſt 2 Monaten in An-<lb/>ſpruch nahm. </s>
  <s xml:id="echoid-s6555" xml:space="preserve">Der “Niagara” ſollte nun von der iriſchen <lb/>Küſte aus ſeine Hälfte bis in die Mitte des Oceans legen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6556" xml:space="preserve">Dort wollte man dann eine Verbindung der Kabel-Enden vor-<lb/>nehmen und dem “Agamemnon” die Legung bis Newſound-<lb/>land überlaſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6557" xml:space="preserve">Anfangs ging Alles ganz gut. </s>
  <s xml:id="echoid-s6558" xml:space="preserve">Unter der <lb/>feierlichen Teilnahme hochgeſtellter Staats- und Privatmänner <lb/>begann am 6. </s>
  <s xml:id="echoid-s6559" xml:space="preserve">Auguſt 1857 die Legung von der Bucht der <lb/>kleinen iriſchen Inſel Valencia aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s6560" xml:space="preserve">Als man jedoch etwa <lb/>80 Meilen gelegt hatte, trat am 11. </s>
  <s xml:id="echoid-s6561" xml:space="preserve">Auguſt eine Störung ſehr <lb/>bedenklicher Art ein. </s>
  <s xml:id="echoid-s6562" xml:space="preserve">Man nahm ein ſchnelles Laufen des <lb/>Kabels über den Stern des Schiffes wahr, das von einer <lb/>unterſeeiſchen Strömung herzurühren ſchien. </s>
  <s xml:id="echoid-s6563" xml:space="preserve">Eiſerne Klemmer, <lb/>durch die man das Laufen des Kabels hemmen wollte, ſpannten <lb/>es ſtraff an, und als hierzu noch Schwankungen des Schiffes <lb/>kamen, konnte das Kabel der gewaltſamen Spannung nicht mehr <lb/>Widerſtand leiſten und riß entzwei.</s>
  <s xml:id="echoid-s6564" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6565" xml:space="preserve">Über dieſes Mißglücken des erſten Verſuchs wußte man <lb/>ſich bei der Großartigkeit eines Unternehmens, dem kein zweites <lb/>in unſerem Jahrhundert gleich ſtand, leicht zu tröſten. </s>
  <s xml:id="echoid-s6566" xml:space="preserve">Man <lb/>ging auch ſofort auf einen neuen, im nächſten Jahre zu unter-<lb/>nehmenden Verſuch ein, beſtellte die nötige Anzahl Meilen
<pb o="29" file="0489" n="489"/>
Kabel und benutzte die gemachten Erfahrungen zur Verbeſſerung <lb/>des Apparats, der das Kabel ins Meer zu ſenken beſtimmt <lb/>war. </s>
  <s xml:id="echoid-s6567" xml:space="preserve">Dieſer neue Apparat war hinſichtlich des Raumes und <lb/>der Laſt kleiner als der vorige; </s>
  <s xml:id="echoid-s6568" xml:space="preserve">außerdem waren die Räder <lb/>mit einer Vorrichtung verſehen, durch die bei einer gewiſſen <lb/>Spannung des Kabels die Hemmung der Räder reguliert <lb/>werden konnte.</s>
  <s xml:id="echoid-s6569" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6570" xml:space="preserve">Auch über dieſen Verſuch — denn das iſt er leider nur <lb/>geblieben — können wir uns kurz faſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6571" xml:space="preserve">Nachdem eine an-<lb/>geſtellte Probe die gute Beſchaffenheit des Kabels und des <lb/>neuen Verſenkungsapparats ergeben hatte, ſteuerten die Schiffe <lb/>am 10. </s>
  <s xml:id="echoid-s6572" xml:space="preserve">Juni 1858 ins Meer. </s>
  <s xml:id="echoid-s6573" xml:space="preserve">Eine Modifikation der Legung fand <lb/>darin ſtatt, daß man diesmal in der Mitte des Oceans die Ver-<lb/>bindung der Kabelhälften vornahm und dann von hier aus <lb/>den “Agamemnon” bis Irland, den “Niagara” bis nach New-<lb/>foundland legen ließ. </s>
  <s xml:id="echoid-s6574" xml:space="preserve">Trotzdem anfangs das ſchönſte Wetter <lb/>herrſchte und man im Juni, dem ſturmfreieſten Monat, war, <lb/>hatten die Schiffe einen Sturm zu beſtehen, der alles wieder <lb/>vereiteln konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6575" xml:space="preserve">Bald aber hatte ſich dieſer gelegt, und am <lb/>26. </s>
  <s xml:id="echoid-s6576" xml:space="preserve">Juni 1858 konnte die Verbindung der beiden Hälften voll-<lb/>zogen werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s6577" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6578" xml:space="preserve">Kaum begann man mit der Legung des Kabels, als ſich <lb/>ein Unfall einſtellte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6579" xml:space="preserve">Das Kabel an Bord des “Niagara” <lb/>war nämlich in der Maſchinerie in Verwirrung gekommen <lb/>und gebrochen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6580" xml:space="preserve">Die Schiffe kamen alſo wieder zuſammen, <lb/>und man vollzog nochmals die Verbindung der beiden Enden, <lb/>ohne ſich durch den kleinen Unfall verſtimmen zu laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6581" xml:space="preserve">Em-<lb/>pfindlicher war indeſſen ſchon eine zweite Störung, die ein-<lb/>trat, als man etwa 10 Meilen vom Ausgangspunkte entfernt <lb/>war. </s>
  <s xml:id="echoid-s6582" xml:space="preserve">Es blieben nämlich um 3 Uhr morgens die elektriſchen <lb/>Signale aus, durch welche die beiden Schiffe vermittelſt des <lb/>Kabels ſich gegenſeitig Nachricht gaben, und als man, um die <lb/>Urſache der Störungen zu ermitteln, ſich wieder am Aus-
<pb o="30" file="0490" n="490"/>
gangspunkt traf, erſah man, daß das Kabel am Meeresgrund <lb/>irgendwo verletzt ſein müſſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s6583" xml:space="preserve">Zum dritten Mal mußte eine <lb/>neue Verbindung vorgenommen werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s6584" xml:space="preserve">aber gleichſam, als <lb/>ob Methode in den Schickſalsſchlägen ſei, zerriß das Kabel <lb/>diesmal am Bord des “Agamemnon”, nachdem man ſchon eine <lb/>noch weitere Strecke als das vorige Mal, etwa 25 Meilen, <lb/>zurückgelegt hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6585" xml:space="preserve">Nunmehr ſchwand die Ausſicht, mit den <lb/>bisherigen Mitteln ein glückliches Ziel zu erreichen, und ſo <lb/>mußten die Schiffe unverrichteter Sache nach Irland zurück-<lb/>kehren.</s>
  <s xml:id="echoid-s6586" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6587" xml:space="preserve">Dieſe Fülle von geſcheiterten Verſuchen konnte nicht ohne <lb/>erheblichen Einfluß ſchädlicher Natur auf das intereſſierte <lb/>und nicht intereſſierte Publikum bleiben, für welches der Er-<lb/>folg einmal der einzige Maßſtab alles Großen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6588" xml:space="preserve">Wenn <lb/>wir trotzdem die Geſellſchaft unverweilt einen neuen Verſuch <lb/>machen ſehen, liegt darin nur ein Beweis der Energie des <lb/>Hauptunternehmers Cyrus Field, der ſich durch nichts ent-<lb/>mutigen ließ.</s>
  <s xml:id="echoid-s6589" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6590" xml:space="preserve">Für einen kurzen Moment ſchien auch ein herrlicher Lohn <lb/>dieſe Energie zu krönen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6591" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6592" xml:space="preserve">Schon im Laufe des nächſten Monats begann man mit <lb/>dem alten Kabel einen neuen Verſuch, der ohne weſentliche <lb/>Störung auch richtig vollendet ward. </s>
  <s xml:id="echoid-s6593" xml:space="preserve">In etwa acht Tagen, <lb/>von der Verbindung der Hälften in der Mitte des Oceans <lb/>an gerechnet, waren beide Enden glücklich auf Newfoundland <lb/>und Irland angelangt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6594" xml:space="preserve"><emph style="sp">Im Auguſt</emph> 1858 <emph style="sp">empfing der <lb/>damalige Präſident der Vereinigten Staaten, <lb/>James Buchanan, die erſte engliſche unterſeeiſche <lb/>Depeſche, den Glückwunſch der Königin Victoria zu <lb/>dem herrlich vollendeten Werk</emph>.</s>
  <s xml:id="echoid-s6595" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6596" xml:space="preserve">Leider aber ſollte dieſer Triumph nur von kurzer Dauer <lb/>ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s6597" xml:space="preserve">Es ſtellte ſich bald heraus, daß die Umhüllung des <lb/>Kabels durch die vielen Strapazen, denen es beim Transport,
<pb o="31" file="0491" n="491"/>
bei der Verladung und der Legung ausgeſetzt war, lädiert <lb/>ſein müſſe, da es ſehr unregelmäßig arbeitete und nur ganz <lb/>ſchwache Zeichen gab. </s>
  <s xml:id="echoid-s6598" xml:space="preserve">Nach kurzer Zeit hörten auch dieſe <lb/>ſchwachen Zeichen auf, und mit dieſem Verſtummen ſchien jede <lb/>Hoffnung auf einen neuen, glücklichen Verſuch zu ſchwinden.</s>
  <s xml:id="echoid-s6599" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6600" xml:space="preserve">In der That ſchien dieſes Mißgeſchick nach einem mit <lb/>hellem Jubel begrüßten Gelingen ein Todesſtoß des ganzen <lb/>Unternehmens zu ſein, von welchem es ſich nicht mehr würde <lb/>erholen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s6601" xml:space="preserve">Die Umſtände äußerlicher Natur waren ſehr <lb/>mißlich. </s>
  <s xml:id="echoid-s6602" xml:space="preserve">Die engliſche Regierung verlor den Mut, ein Unter-<lb/>nehmen von ſo zweifelhaftem Erfolge durch Zinsgarantie zu <lb/>unterſtützen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6603" xml:space="preserve">In Amerika brach der Bürgerkrieg aus, der <lb/>das Geſchick der Vereinigten Staaten höchſt zweifelhaft machte. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6604" xml:space="preserve">Die Kapitaliſten weigerten ſich, ihr Geld wiederum aufs <lb/>Spiel zu ſetzen, und die ideellen Verehrer und Förderer des <lb/>großen Werkes waren — wie bei jedem Mißlingen eines <lb/>ſolchen — dem Geſpötte Derer ausgeſetzt, die beim Gelingen <lb/>den Ruhm ihres Zeitalters auch für ſich in Anſpruch zu nehmen <lb/>pflegen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6605" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6606" xml:space="preserve">Nur <emph style="sp">einen</emph> Mann gab es, den Thatkraft, Opfermut und <lb/>moraliſcher Wille nimmer verließ, und dies war Cyrus Field, <lb/>der Unermüdliche.</s>
  <s xml:id="echoid-s6607" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6608" xml:space="preserve">Im Jahre 1863, noch mitten im Kriegslauf Nord-<lb/>amerikas, nahm Field wiederum ſeine Pläne auf, und die <lb/>Geſellſchaft, von ihm friſch ermutigt, beſchloß, den Verſuch zu <lb/>erneuern.</s>
  <s xml:id="echoid-s6609" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6610" xml:space="preserve">Nochmals wurden die gelehrteſten Naturforſcher um ihr <lb/>Gutachten angegangen, unter welchen Wheatſtones Urteil am <lb/>entſcheidendſten war, weil er der Gründer unſerer telegraphiſchen <lb/>Einrichtung iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6611" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6612" xml:space="preserve">Es gelang dem unermüdlichen Field wiederum, neue Geld-<lb/>mittel aufzutreiben, und auf Grund der gelehrten Gutachten <lb/>ſchritt man zur Anfertigung eines neuen Rieſen-Kabels, und
<pb o="32" file="0492" n="492"/>
zwar eines ſolchen von ſtärkerer Beſchaffenheit und verbeſſerter <lb/>Konſtruktion als die bisherigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6613" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6614" xml:space="preserve">Die eigentliche Leitung, “die Seele” des Kabels, beſteht <lb/>aus ſieben dünnen, nebeneinander liegenden Kupferdrähten, <lb/>welche durch Umhüllungen ſorgſam geſchützt werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6615" xml:space="preserve">Zwar <lb/>könnte ein einziger, ſtarker Kupferdraht von demſelben Umfang <lb/>ganz dasſelbe beſtellen, was die ſieben Drähte zu thun haben; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6616" xml:space="preserve">allein man wählte lieber mehrere ſchwächere Drähte, weil ein <lb/>einziger Draht, wenn er bräche, die ganze Leitung untauglich <lb/>gemacht haben würde, dahingegen mehrere einzelne Drähte <lb/>den Vorteil haben, daß die Nebendrähte ihn erſetzen, wenn <lb/><emph style="sp">einer</emph> von ihnen an einer Stelle reißt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6617" xml:space="preserve">Wenn ſämtliche ſieben <lb/>Drähte nur nicht <emph style="sp">an einer und derſelben</emph> Stelle durch-<lb/>geriſſen werden, haben Einzelbrüche der einzelnen Drähte an <lb/><emph style="sp">verſchiedenen</emph> Stellen durchaus nichts zu bedeuten, ſelbſt <lb/>wenn ſolche Einzelbrüche ſich hundertfach wiederholen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6618" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6619" xml:space="preserve">Die ſiebendrähtige Kupferleitung, “die Seele” des Kabels, <lb/>iſt mit mehreren Lagen einer weichen Maſſe aus Gutta-Percha-<lb/>Holzteer und Harz dicht umwickelt, der viel waſſerdichter und <lb/>dauerhafter iſt als bloße Gutta-Percha, welche im Waſſer leicht <lb/>brüchig und löcherig wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s6620" xml:space="preserve">Auf dieſe Umwickelung folgt dann <lb/>eine Lage Hanf, mit einer Löſung durchfeuchtet, welche ſie <lb/>gegen das Verfaulen ſchützt, und dieſe Lage endlich iſt rings-<lb/>um wohlgepanzert mit zehn Eiſendrähten, von welchen jeder <lb/>mit Hanf umwickelt iſt, und die dann wie die Einzelſtränge <lb/>eines Seiles um das Kabel herumgewickelt ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s6621" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6622" xml:space="preserve">Dieſe Konſtruktion des Kabels hat den Zweck, es zu ver-<lb/>hüten, daß ein Waſſertröpfchen des Weltmeeres bis an die <lb/>Seele des Kabels dringe; </s>
  <s xml:id="echoid-s6623" xml:space="preserve">denn wenn dies irgendwo geſchähe, <lb/>ſo würde der elektriſche Strom, der durch die Leitung geſendet <lb/>wird, nicht, wie er ſoll, bis ans Ende des Kabels laufen, um <lb/>dorthin telegraphiſche Zeichen zu bringen, ſondern ins Welt-<lb/>meer fließen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6624" xml:space="preserve">Dieſe feſte Umſchließung der Seele des Kabels
<pb o="33" file="0493" n="493"/>
nennt man die <emph style="sp">Iſolierung</emph> derſelben. </s>
  <s xml:id="echoid-s6625" xml:space="preserve">Der eiſerne, mit Hanf <lb/>umwickelte Panzer des Kabels dient dazu, ihm die nötige <lb/>Feſtigkeit zu geben, damit es nicht beim Hinablaſſen ins Meer <lb/>durch die eigene Laſt zerreiße.</s>
  <s xml:id="echoid-s6626" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6627" xml:space="preserve">Eine deutſche Meile eines ſolchen Kabels wiegt an 130 <lb/>Zentner. </s>
  <s xml:id="echoid-s6628" xml:space="preserve">Im Waſſer jedoch, wo alle Gegenſtände von der <lb/>Maſſe des Waſſers gleichſam getragen, alſo leichter werden, <lb/>iſt das Gewicht einer Meile Kabel kaum die Hälfte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6629" xml:space="preserve">Da die <lb/>äußere Hanf-Umwickelung außerdem viel Luft mit ins Waſſer <lb/>nimmt, ſo erleichtert dies das Gewicht noch bedeutend und ließ <lb/>demnach ein günſtigeres Reſultat als all’ die bisherigen Ver-<lb/>ſuche erwarten.</s>
  <s xml:id="echoid-s6630" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6631" xml:space="preserve">Eine Schwierigkeit, die unüberwindlich ſchien, erhob ſich <lb/>in Anſehung der Frage, welches Schiff wohl die ungeheure <lb/>Laſt dieſes Kabels ohne Gefahr tragen könne. </s>
  <s xml:id="echoid-s6632" xml:space="preserve">Wie aber die <lb/>Menſchengeſchichte oft in einer denkwürdigen Epoche die ver-<lb/>ſchiedenartigſten Kräfte zu einem großen Ziele ſich vereinigen <lb/>ſieht, die ohne jede Beziehung, bisher einander fremd, ſich ent-<lb/>falteten, ſo war es auch hier der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s6633" xml:space="preserve">Einige Jahre vorher <lb/>wurde nämlich in England ein Rieſenſchiff auf Aktien gebaut, <lb/>das an koloſſaler Größe alles übertraf, was je die Menſch-<lb/>heit geſehen hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6634" xml:space="preserve">Die Größe dieſes Schiffes war eine ſo <lb/>gewaltige, daß die Frommen in England mit großer Seelen-<lb/>angſt eine Sintflut vorausſagten, dieweil ja das Schiff die <lb/>Arche Noahs weit übertraf. </s>
  <s xml:id="echoid-s6635" xml:space="preserve">In der That könnten recht wohl <lb/>ein Dutzend gewöhnlicher Seeſchiffe in dieſen Nieſen hinein-<lb/>geſetzt werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s6636" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6637" xml:space="preserve">Das Rieſenſchiff erhielt urſprünglich den Namen “Le-<lb/>viathan”; </s>
  <s xml:id="echoid-s6638" xml:space="preserve">da dies aber in der bibliſchen Sprache ſo viel wie <lb/>eine fabelhafte Seeſchlange bedeutet, die der Welt mit Untergang <lb/>droht, ſo ſchrieen und eiferten die beſorgten Frommen in Eng-<lb/>land ſo lange, bis man dem Rieſenſchiff den unverfänglichen <lb/>Namen “Great Eaſtern” erteilte.</s>
  <s xml:id="echoid-s6639" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6640" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s6641" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s6642" xml:space="preserve">Volksbücher XV.</s>
  <s xml:id="echoid-s6643" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="34" file="0494" n="494"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6644" xml:space="preserve">Urſprünglich war dieſer Seerieſe als Paſſagierſchiff zur <lb/>Überfahrt nach Amerika beſtimmt worden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6645" xml:space="preserve">Die gewaltige <lb/>Größe desſelben erreichte in ſo fern den gewünſchten Zweck, als <lb/>es ſelbſt von den gewaltigſten Wellen des Meeres nicht gleich <lb/>andern Schiffen hin und her geſchleudert werden kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s6646" xml:space="preserve">In-<lb/>zwiſchen hat es ſich ergeben, daß ſeine koloſſale Größe ein <lb/>Hindernis der beabſichtigten Schnellfahrten ſei, und da es ziem-<lb/>lich gleich viel Zeit zur Überfahrt nach Amerika gebrauchte wie <lb/>audere kleinere Dampfer, ſo wurde es durch die ungeheueren <lb/>Koſten ſeiner Bedienung und Verwaltung bald als eine ver-<lb/>fehlte Spekulation betrachtet.</s>
  <s xml:id="echoid-s6647" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6648" xml:space="preserve">Aber das Jahr 1865 zeigte, daß es ein glückliches Zu-<lb/>ſammentreffen war, in welchem zwei rieſige Unternehmungen <lb/>einander unterſtützten. </s>
  <s xml:id="echoid-s6649" xml:space="preserve">Der “Great Eaſtern” fand ſeine wahre <lb/>Beſtimmung im Rieſenkabel, das die zwei Weltteile mit ein-<lb/>auder verbinden ſollte.</s>
  <s xml:id="echoid-s6650" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6651" xml:space="preserve">Das Schiff wurde von der Telegraphen-Geſellſchaft zur <lb/>Aufnahme des Kabels beſtimmt, und nunmehr begann die <lb/>Ladung desſelben unter viel größerer Vorſicht als bisher und <lb/>mit verbeſſerten Vorrichtungen für die Legung verſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6652" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6653" xml:space="preserve">Um ſich einen Begriff von der Schwierigkeit der Ver-<lb/>ladung des Kabels auf dieſes Schiff zu machen, genüge es, <lb/>wenn wir anführen, daß dieſe Arbeit allein einen Zeitraum <lb/>von einem halben Jahr in Anſpruch nahm. </s>
  <s xml:id="echoid-s6654" xml:space="preserve">Man hatte hierzu <lb/>drei, in verſchiedenen Teilen des Schiffes befindliche, waſſer-<lb/>dichte Räume eingerichtet, damit die Laſt gleichmäßiger auf <lb/>dem Schiffe verteilt werde. </s>
  <s xml:id="echoid-s6655" xml:space="preserve">Die Beſatzung des Schiffes, <lb/>welches mit 180 000 Zentnern Kohlen belaſtet war, betrug <lb/>500 Mann.</s>
  <s xml:id="echoid-s6656" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6657" xml:space="preserve">So beſetzt, lichtete der “Great Eaſtern” unter Leitung des <lb/>Kapitäns Anderſon am 15. </s>
  <s xml:id="echoid-s6658" xml:space="preserve">Juli 1865 die Anker und fuhr <lb/>diesmal nach einer Landungsſtätte, der Foihommerum-Bay, <lb/>einer an der Küſte von Valencia zwiſchen Hügeln und Vor-
<pb o="35" file="0495" n="495"/>
gebirgen gelegenen Bucht, die wegen der Ruhe der Gewäſſer <lb/>und der Abgeſchloſſenheit vom Verkehr für die Ladung des <lb/>Kabels höchſt günſtig iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6659" xml:space="preserve">Von 400 Männern wurde hier die <lb/>mühſame Arbeit vollbracht, das beſonders konſtruierte, zehn-<lb/>mal ſtärkere Uferende des Kabels vermittelſt einer aus Barken <lb/>gebildeten Brücke nach der eine Meile weit entfernten Tele-<lb/>graphenſtation zu bringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6660" xml:space="preserve">Ein zweites Schiff, der Dampfer <lb/>“Karoline”, den der “Great Eaſtern” bei Falmouth ins <lb/>Schlepptau genommen hatte, legte dann das Uferkabel, deſſen <lb/>Ende mit einer Wahrtonne bezeichnet ward. </s>
  <s xml:id="echoid-s6661" xml:space="preserve">Am folgenden <lb/>Tage ward dann die Verbindung des ſtarken Küſtenkabels mit <lb/>dem See-Kabel am Bord des “Great Eaſtern” vollzogen, und <lb/>nachdem die Leiſtungsfähigkeit erprobt war, die weitere Legung <lb/>fortgeſetzt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6662" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6663" xml:space="preserve">Aber aller Vorſicht ungeachtet, ſollte auch diesmal das <lb/>Unternehmen ſcheitern.</s>
  <s xml:id="echoid-s6664" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6665" xml:space="preserve">Schon in der Frühe des folgendes Tages nahm der Elek-<lb/>triker eine Störung des elektriſchen Stromes wahr, die darauf <lb/>hinführte, daß das Kabel im Meer lädiert ſein müſſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s6666" xml:space="preserve">Um <lb/>das verſenkte Stück wieder aufzuwinden, mußte das Schiff <lb/>gewendet werden, weil Aufwinde- und Verſenkungs-Apparat <lb/>ſich an den entgegengeſetzten Seiten des Schiffes befanden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6667" xml:space="preserve">Das Aufwinden des verſenkten Kabels gelang für diesmal <lb/>ganz gut, und ſo konnte man denn am folgenden Tage die <lb/>fehlerhafte Stelle ausfindig machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6668" xml:space="preserve">Es zeigte ſich hier eine <lb/>rätſelhafte Erſcheinung, die ſchließlich auf eine der traurigſten <lb/>Vermutungen hinführte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6669" xml:space="preserve">Durch Panzer und Iſolirung hatte <lb/>ſich bis an die Seele des Kabels ein zwei Zoll langes Stück <lb/>Eiſendraht hineingebohrt, ohne daß man wußte, wie dies ge-<lb/>ſchehen ſei. </s>
  <s xml:id="echoid-s6670" xml:space="preserve">Indeſſen vermochte man die Ausbeſſerung leicht <lb/>zu bewerkſtelligen, das verletzte Stück wurde abgeſchnitten und <lb/>eine nochmalige Verbindung des Kabels vorgenommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6671" xml:space="preserve">Die <lb/>Arbeit des Legens begann von neuem. </s>
  <s xml:id="echoid-s6672" xml:space="preserve">Zwar trat kurze Zeit
<pb o="36" file="0496" n="496"/>
darauf wieder ein momentanes Aufhören der elektriſcheu Zeichen <lb/>ein, das man ſich nicht enträtſeln konnte; </s>
  <s xml:id="echoid-s6673" xml:space="preserve">allein dieſer un-<lb/>erklärt gebliebene Fehler verbeſſerte ſich in ebenſo rätſelhafter <lb/>Weiſe von ſelber und belebte die Hoffnung auf ein endliches <lb/>Gelingen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6674" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6675" xml:space="preserve">Hierauf ſolgte denn eine fünſtägige glückliche Fahrt ohne <lb/>jede Hemmung; </s>
  <s xml:id="echoid-s6676" xml:space="preserve">da aber trat wieder, nachdem man ſchon über <lb/>150 Meilen weitergeſchifft war, ein Unfall ſchwerer Art ein.</s>
  <s xml:id="echoid-s6677" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6678" xml:space="preserve">Das Waſſer des Meeres — das erkannte man ſofort an <lb/>dem ausbleibenden elektriſchen Strom — mußte auf dem Meeres-<lb/>grunde den Zutritt zu der Seele des Kabels gefunden haben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6679" xml:space="preserve">Es mußte demnach wiederum die zeitraubende, mühſelige Ar-<lb/>beit des Auſwindens und Auffindens der ſchadhaften Stelle <lb/>unternommen werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6680" xml:space="preserve">Dieſe Arbeit ging noch glücklich genug <lb/>von Statten; </s>
  <s xml:id="echoid-s6681" xml:space="preserve">allein was man da zu ſehen bekam, erſüllte die <lb/>Unternehmer mit Entſetzen und Mutloſigkeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s6682" xml:space="preserve">Es fand ſich <lb/>ein offenbar mutwillig gemachter Einſchnitt in das Kabel und <lb/>außerdem wieder ein in das Kabel hineingeſteckter Eiſendraht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6683" xml:space="preserve"><lb/>Es unterlag hiernach keinem Zweiſel, daß ein tückiſcher Böſe-<lb/>wicht hier die Hand im Spiele habe und abſichtlich das herr-<lb/>liche Unternehmen vereitele.</s>
  <s xml:id="echoid-s6684" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6685" xml:space="preserve">Tief traurig, daß der Bosheit der Neider nichts heilig iſt, <lb/>ſelbſt nicht ein Werk, deſſen Zuſtandekommen ihr Jahrhundert <lb/>ſowohl ehrt als auch ihren eigenen Intereſſen und denen ihrer <lb/>Nachkommen unendlich dienlich iſt, ging man nach der Aus-<lb/>beſſerung des Schadens an die weitere Legung; </s>
  <s xml:id="echoid-s6686" xml:space="preserve">allein ein <lb/>neuer Unfall ließ den letzten Hoffnungsſtrahl für diesmal völlig <lb/>erlöſchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6687" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6688" xml:space="preserve">Es war am 2. </s>
  <s xml:id="echoid-s6689" xml:space="preserve">Auguſt, da man ſich ſchon 260 Meilen <lb/>von Valencia, alſo in der Mitte des Weges befand (51° nördl. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6690" xml:space="preserve">Breite und 37° weſtl. </s>
  <s xml:id="echoid-s6691" xml:space="preserve">Länge von Greenwich), als wiederum <lb/>die elektriſchen Ströme ausblieben. </s>
  <s xml:id="echoid-s6692" xml:space="preserve">Als man nun zur Auf-<lb/>ſuchung des Schadens das Kabel wieder heraufwinden wollte,
<pb o="37" file="0497" n="497"/>
verſagte plötzlich die Dampfmaſchine, die den Aufwindeapparat <lb/>trieb, wegen Mangels an Dampf. </s>
  <s xml:id="echoid-s6693" xml:space="preserve">Durch einen Windſtoß, der <lb/>das Schiff nach links trieb, verwickelte ſich das Kabel am <lb/>eiſernen Vorſprung der Kluſen und wurde durch die heftige <lb/>Reibung lädiert. </s>
  <s xml:id="echoid-s6694" xml:space="preserve">Als man nun den Apparat wieder in Be-<lb/>wegung ſetzte, <emph style="sp">riß das Kabel und ſank ins Meer</emph>.</s>
  <s xml:id="echoid-s6695" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6696" xml:space="preserve">Da ſtand denn eine neue Aufgabe vor den Unternehmern: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6697" xml:space="preserve">das Kabel nicht etwa wie bisher emporzuwinden, ſondern das-<lb/>ſelbe erſt vom Meeresboden in einer halben Meile Tiefe in <lb/>irgend einer Weiſe aufzufiſchen, um es nur wieder zur Aus-<lb/>beſſerung an Bord bringen zu können.</s>
  <s xml:id="echoid-s6698" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6699" xml:space="preserve">Auf ſolchen Unfall war man freilich bedacht und beſaß <lb/>eine Vorrichtung hierzu. </s>
  <s xml:id="echoid-s6700" xml:space="preserve">Man ließ ein Drahtſeil von 200 <lb/>Zentnern Tragkraft, deſſen Ende mit Enterhaken und Anker <lb/>verſehen war, hinab in die Tiefe. </s>
  <s xml:id="echoid-s6701" xml:space="preserve">Das Schiff ſuhr nun quer <lb/>über die Stellen fort, wo man das Kabel vermutete, in der <lb/>Hoffnung, daß die Haken auf dem Meeresgrund das Kabel <lb/>faſſen würden.</s>
  <s xml:id="echoid-s6702" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6703" xml:space="preserve">Von 5 Uhr abends bis zum folgenden Morgen am <lb/>3. </s>
  <s xml:id="echoid-s6704" xml:space="preserve">Auguſt früh um 8 Uhr ſuchte der “Great Eaſtern” auf <lb/>dieſe Weiſe das Kabel und war froh, als die Anzeichen er-<lb/>gaben, daß der Haken es wirklich gefaßt habe. </s>
  <s xml:id="echoid-s6705" xml:space="preserve">Als man jedoch <lb/>am Nachmittag um 3 Uhr etwa {1/4} Meile des Drahtſeils <lb/>wieder aufgewunden hatte, riß das Seil entzwei, und Enter-<lb/>haken nebſt Kabel ſanken wieder in das Meer. </s>
  <s xml:id="echoid-s6706" xml:space="preserve">Drei weitere <lb/>Verſuche, das Kabel aufzufiſchen, am 7.</s>
  <s xml:id="echoid-s6707" xml:space="preserve">, 10. </s>
  <s xml:id="echoid-s6708" xml:space="preserve">und 11. </s>
  <s xml:id="echoid-s6709" xml:space="preserve">Auguſt, <lb/>mißglückten wie dieſer erſte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6710" xml:space="preserve">Wegen Mangels an Seilvorrat <lb/>mußte nunmehr der “Great Eaſtern” nach England zurück-<lb/>kehren, wo er am 17. </s>
  <s xml:id="echoid-s6711" xml:space="preserve">Auguſt in Crookhaven anlangte.</s>
  <s xml:id="echoid-s6712" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6713" xml:space="preserve">So war man zwar wieder um einen Verſuch reicher und <lb/>um eine Hoffnung ärmer geworden; </s>
  <s xml:id="echoid-s6714" xml:space="preserve">aber die Überzeugung von <lb/>dem endlichen Gelingen des großen Unternehmens war doch <lb/>eher befeſtigt als erſchüttert.</s>
  <s xml:id="echoid-s6715" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="38" file="0498" n="498"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6716" xml:space="preserve">Man kannte jetzt die Hinderniſſe und die Unfälle beſſer <lb/>und wußte, daß ihnen vorgebeugt und abgeholfen werden könne. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6717" xml:space="preserve">Es war nur die Schwäche des Seils zum Auffiſchen, das dies-<lb/>mal das Unternehmen vereitelte, und man war überzeugt, daß <lb/>nur die Verbeſſerung der Maſchinerie zum Aufwinden aus-<lb/>reichen würde, endlich ein günſtiges Reſultat zu erzielen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6718" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6719" xml:space="preserve">So einmütig und feſt ward dieſes Urteil gefällt, daß <lb/>die ganze bei der vorigen Legung beteiligte Geſellſchaft ohne <lb/>Ausnahme ſich an dem neuen, im nächſten Jahr zu unter-<lb/>nehmenden Verſuch beteiligte.</s>
  <s xml:id="echoid-s6720" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6721" xml:space="preserve">Ein Kapital von 3 {1/2} Millionen Thaler war wiederum <lb/>bald beiſammen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6722" xml:space="preserve">Man ſchritt ſofort zur Anfertigung eines <lb/>anderen Kabels, wobei man die Hoffnung nicht aufgab, auch <lb/>noch das halbe Kabel, das auf dem Meeresgrunde lag, auf-<lb/>zufinden und möglichſt eine zweite Leitung herzuſtellen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6723" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6724" xml:space="preserve">Die Hauptaufmerkſamkeit hinſichtlich neuer Apparate rich-<lb/>tete man jetzt darauf, den Verſenkungsapparat am Bord des <lb/>“Great Eaſtern” durch eine Vorrichtung zugleich zum Auf-<lb/>winden brauchbar zu machen, damit das Schiff nicht um-<lb/>zuwenden habe, wenn man ein Stück Kabel aufwinden muß, <lb/>wobei ſtets das Kabel einer großen Reibung ausgeſetzt war, <lb/>wenn man dasſelbe durch die ganze 700 Fuß betragende Länge <lb/>des Schiffes transportieren mußte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6725" xml:space="preserve">Bezüglich des neu ange-<lb/>fertigten Kabels hatte man weſentliche Veränderungen nicht <lb/>vorgenommen und nur die oberſte Schutzhülle wieder mit ge-<lb/>tränktem Hanf umwickelt, der ſich beſſer bewährt hatte.</s>
  <s xml:id="echoid-s6726" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6727" xml:space="preserve">So kam denn das Jahr 1866, das Jahr der Erfüllung <lb/>der großen Aufgabe, unter erneuerter Energie und erncuerter <lb/>Hoffnung heran, die nunmehr nicht trügen ſollte.</s>
  <s xml:id="echoid-s6728" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6729" xml:space="preserve">Die Befürchtung, daß ſich der mit 600 Meilen Kabel und <lb/>etwa 120 000 Zentner Kohlen befrachtete “Great Eaſtern” an <lb/>der iriſchen Küſte feſtfahren könne, war glücklicherweiſe unbe-<lb/>gründet. </s>
  <s xml:id="echoid-s6730" xml:space="preserve">Auch die ſtürmiſche Witterung blieb ohne hemmenden
<pb o="39" file="0499" n="499"/>
Einfluß auf den erſten Auslauf in den Kanal. </s>
  <s xml:id="echoid-s6731" xml:space="preserve">Fünf Dampfer <lb/>begleiteten diesmal den “Great Eaſtern”, die einesteils zur <lb/>Landung des Küſtenkabels verwendet wurden und andernteils <lb/>die Reſte des vorjährigen Kabels mit ſich führten. </s>
  <s xml:id="echoid-s6732" xml:space="preserve">Am 7. </s>
  <s xml:id="echoid-s6733" xml:space="preserve">Iuli <lb/>1866 wurde die Legung des Küſtenendes in der Foihommerum-<lb/>Bai vollendet, welches ſtärker und feſter war als das Kabel in <lb/>der Mitte wegen der an den Küſten häufigeren Unfälle. </s>
  <s xml:id="echoid-s6734" xml:space="preserve">Das <lb/>Uferende war durch eine Brücke von Schiffen in der ſchon <lb/>früher erwähnten Weiſe gelandet nnd das Seeende durch eine <lb/>Wahrtonne kenntlich gemacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6735" xml:space="preserve">Am 13. </s>
  <s xml:id="echoid-s6736" xml:space="preserve">Iuli wurde das dicke <lb/>Uferkabel hier vom “Great Eaſtern” mittelſt des Enterhakens <lb/>aufgefiſcht und mit dem eigentlichen Meereskabel verbunden, <lb/>und nun ging es weſtwärts.</s>
  <s xml:id="echoid-s6737" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6738" xml:space="preserve">Die Fahrt ging mit großer Regelmäßigkeit von ſtatten. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6739" xml:space="preserve">Es wurden in der Zeit vom 13. </s>
  <s xml:id="echoid-s6740" xml:space="preserve">bis zum 27. </s>
  <s xml:id="echoid-s6741" xml:space="preserve">Iuli, wo man <lb/>glücklich in der Trinity-Bai anlangte, täglich etwa 30 Meilen <lb/>zurückgelegt und etwa 35 Meilen Kabellänge verſenkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6742" xml:space="preserve">Es muß <lb/>ein erhebender Anblick geweſen ſein, als man angeſichts der <lb/>grau ſich erhebenden Küſten ſchon den Triumph der gewonnenen <lb/>Sache fühlte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6743" xml:space="preserve">Ein unſcheinbares Fiſcherdorf in der Lorenz-<lb/>Bai auf Newfoundland iſt die Landungsſtätte, wo die direkte <lb/>Verbindung der beiden Weltteile vollzogen wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s6744" xml:space="preserve">Mit dem <lb/>Feſtlande von Amerika mußte aber noch das zerriſſene Kabel <lb/>durch den Lorenzbuſen wiederhergeſtellt werden, ehe die voll-<lb/>ſtändige Verbindung vorhanden war. </s>
  <s xml:id="echoid-s6745" xml:space="preserve">Am 31. </s>
  <s xml:id="echoid-s6746" xml:space="preserve">Iuli und am <lb/>1. </s>
  <s xml:id="echoid-s6747" xml:space="preserve">Auguſt wurde dies beendet, und am 4. </s>
  <s xml:id="echoid-s6748" xml:space="preserve">Auguſt 1866 begann <lb/>der elektriſche Funke ſeine blitzartige Thätigkeit im Dienſte der <lb/>Menſchen, die ſich zu Herren der Naturkräfte zu machen den <lb/>Beruf haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s6749" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6750" xml:space="preserve">Um den herrlichen Triumph zu vollenden, gelang auch <lb/>diesmal noch die Aufſuchung und Fortführung des vorjährigen <lb/>Kabels, eine Aufgabe, die, unterbrochen durch öfteres Reißen des <lb/>aufgewundenen Kabels, endlich am 4. </s>
  <s xml:id="echoid-s6751" xml:space="preserve">September vollendet war.</s>
  <s xml:id="echoid-s6752" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="40" file="0500" n="500"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6753" xml:space="preserve">So war nun durch unermüdliche Ausdauer ein Werk zu <lb/>ſtande gekommen, dem an Großartigkeit in der Ausführung <lb/>bei Überwindung der ſchwierigſten Hemmniſſe kein anderes <lb/>gleichkommt, und welches den Ruhm für ſich in Anſpruch <lb/>nehmen kann, ein der geſamten Civiliſation dienendes Kultur-<lb/>mittel zu ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s6754" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6755" xml:space="preserve">Die Thaten der Eroberer, die mit klirrendem Geräuſch die <lb/>Welt durchziehen, zeichnet die Geſchichte in ihre ehernen Tafeln. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6756" xml:space="preserve">Hier hat ſich fern vom Donner der Kanonen eine Eroberung <lb/>im Reiche des Geiſtes vollzogen, deren Ruhm das Andenken <lb/>an unſere Zeit aufrecht erhalten wird, wenn die Menſchheit <lb/>alle ſogenannten Großthaten der Waffen der Vergeſſenheit in <lb/>civiliſierten Zeiten anheimgeben wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s6757" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6758" xml:space="preserve">Der Geſchichtſchreiber, welcher dereinſt unſere Zeit zum <lb/>Gegenſtand ſeiner Darſtellung macht, wird zu berichten haben <lb/>von einem ſchnellen Aufeinanderfolgen in den Urſachen und <lb/>Wirkungen der Begebenheiten, von einer unmittelbaren Wechſel-<lb/>wirkung der Staatsaktionen, wie ſie dem ganzen Altertum und <lb/>Mittelalter fremd war, und deren rieſiger Einfluß mehr denn <lb/>je auch das Gewicht der Völker in die Wagſchale der Ent-<lb/>ſcheidungen über die höchſten Intereſſen des Lebens legt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6759" xml:space="preserve">Der <lb/>Staatsmann künftiger Zeiten, nicht mehr durch Kabinettswillkür <lb/>geſchützt, wird bei Fragen über Krieg und Frieden erkennen, <lb/>daß ſeine Entſcheidung die Völker zweier Weltteile lähmen <lb/>und deren Handel und Induſtrie hemmen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s6760" xml:space="preserve">Er wird ſich <lb/>unfähig fühlen, Gewalten heraufzubeſchwören, die nicht im <lb/>Boden der Nation ſelbſt Wurzel und Keim haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s6761" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6762" xml:space="preserve">Und von anderer Seite aus übt der Telegraph den wohl-<lb/>thätigſten Einfluß auf die Geſetzgebung der Nationen, die in <lb/>ihm ein Mittel haben, ein Ideal der Rechtsſicherheit anzu-<lb/>ſtreben, welches wiederum im ſchärfſten Gegenſatz zu früheren <lb/>Epochen ſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6763" xml:space="preserve">Den Verbrecher, der heut über den Ozean nach <lb/>dem neuen Weltteil ſlieht, ſich und ſeine That vor dem Rächer
<pb o="41" file="0501" n="501"/>
zu bergen, überholt der elektriſche Funke, noch ehe er das Ziel <lb/>ſeiner Hoffnung geſehen, und führt ihn in die Arme der ver-<lb/>geltenden Gerechtigkeit.</s>
  <s xml:id="echoid-s6764" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6765" xml:space="preserve">Wenn es ein unerreichbares Ideal früherer Zeiten war, <lb/>eine allgemeine Schriftſprache in Geltung zu bringen, die ein <lb/>vereinigendes Band um alle Nationen ſchlingt, ſo bilden die <lb/>60 Schriftzeichen der Telegraphie heut eine Sprache, die un-<lb/>ſichtbar von Ort zu Ort eilt und Gedanken austauſcht, welche <lb/>jede Nation in ihre eigene Sprache umprägt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6766" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6767" xml:space="preserve">Mächtiger aber und weittragender als all das iſt die An-<lb/>näherung des geſamten Geſellſchaftszuſtandes der Völker, welche <lb/>die Telegraphie, in Verbindung mit den Eiſenbahnen, bewirkt; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6768" xml:space="preserve">eine Annäherung, welche die ſchroffen Beſonderheiten in Sitte <lb/>und Lebensweiſe, in ſozialen und politiſchen Inſtitutionen <lb/>ausgleicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6769" xml:space="preserve">Sie bildet den Anfang zu einer Gemeinſamkeit in <lb/>den Anſchauungen der Völker, welche in weiterer ſittlicher <lb/>Verbindung dereinſt Kriege unmöglich machen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s6770" xml:space="preserve">Der <lb/>Strom, der durch die ganze civiliſierte Welt, bis in die fernſten <lb/>Steppen Aſiens und andererſeits über den Ozean nach der <lb/>neuen Welt dringt, verkündet den bedrängten Völkern, daß <lb/>auch für ſie ein neuer Morgen anbricht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6771" xml:space="preserve">Er lehrt ſie den <lb/>Segen des gemeinſamen Verkehrs und der Einheit menſchlicher <lb/>Intereſſen kennen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6772" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb file="0502" n="502"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div184" type="section" level="1" n="162">
<head xml:id="echoid-head181" xml:space="preserve"><emph style="bf">II. Ein alltägliches Geſpräch.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6773" xml:space="preserve">Iüngſt ſaß ich im Sinnen vertieſt ſo recht in der Geiſtes-<lb/>ſtimmung, in welcher die Gedanken unkontrolliert, wenn auch <lb/>nicht unmotiviert kommen und gehen und im Gedächtnis nur <lb/>jene dunklen Spuren hinterlaſſen, die uns in Staunen ſetzen, <lb/>wenn nach Jahren uns ein Gedanke begegnet, von dem wir <lb/>ſagen müſſen: </s>
  <s xml:id="echoid-s6774" xml:space="preserve">“Ei, du lieber Gaſt, du biſt ſchon einmal durch <lb/>mein Gehirn ſpaziert; </s>
  <s xml:id="echoid-s6775" xml:space="preserve">ich weiß nur nicht mehr wo? </s>
  <s xml:id="echoid-s6776" xml:space="preserve">und wie? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6777" xml:space="preserve">und wann?</s>
  <s xml:id="echoid-s6778" xml:space="preserve">”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6779" xml:space="preserve">Inmitten dieſes geſtaltungsloſen Sinnens machte ſich jedoch <lb/>ein Gedanke ganz beſonders vor mir bemerkbar und bald <lb/>hatte er mich richtig ſo weit, wie er mich haben wollte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6780" xml:space="preserve">Ich <lb/>mußte ihm folgen und gar viele andere, vielleicht beſſere <lb/>Genoſſen in den Hintergrund unſerer wunderbaren Gedanken-<lb/>fabrik verweiſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6781" xml:space="preserve">Er hatte für jetzt den Sieg davon getragen <lb/>und benutzte ihn auch ſofort, um ſich recht rund und voll vor <lb/>mir zu geſtalten und ſogar Fragen an mich zu richten, als ob <lb/>er, mein Gedanke, ein Recht hätte, mich zu examinieren oder <lb/>zu interpellieren! —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6782" xml:space="preserve">Der Gedanke war folgender:</s>
  <s xml:id="echoid-s6783" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6784" xml:space="preserve">“Die mathematiſche Wiſſenſchaft iſt über zweitauſend Jahre <lb/>alt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6785" xml:space="preserve">Sie iſt von den alten griechiſchen Meiſtern ſchon in ſolcher <lb/>Schärfe und Vollendung in ihren Grundlagen aufgeführt wor-<lb/>den, daß man vermuten muß, es haben bereits ganz unbe-<lb/>kannte Geſchlechter vor den Griechen durch lange Zeit@n dieſe <lb/>logiſch ſcharfe, all unſerem anderen Wiſſen mißtrauende Denk-<lb/>methode der mathematiſchen Disziplin erſunden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6786" xml:space="preserve">Jedenfalls <lb/>liegt der Geburtstag dieſer Wiſſenſchaft mehr als zwei Jahr-
<pb o="43" file="0503" n="503"/>
tauſende hinter uns, und während dieſer langen Zeit hat dieſer <lb/>Zweig des Wiſſens und menſchlichen Forſchens immerfort <lb/>Freunde, Pſleger und Förderer gefunden. </s>
  <s xml:id="echoid-s6787" xml:space="preserve">Dieſe Wiſſenſchaſt <lb/>hat ſich, wenn auch in ungleichmäßigem Schritt, doch immer <lb/>weiter entwickelt, bis ſie in den letzten Jahrhunderten ihr <lb/>Gebiet weit ausgedehnt hat und die begabteſten und ſchärſſten <lb/>Denker des Menſchengeſchlechts mit der Löſung ihrer Aufgaben <lb/>beſchäftigte.</s>
  <s xml:id="echoid-s6788" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6789" xml:space="preserve">Und trotzdem iſt es eine unleugbare Thatſache, die jeder <lb/>Fachkenner beſtätigen wird, daß ein junger Menſch mit gutem <lb/>klaren Kopf, ohne alle Vorkenntniſſe und ohne irgend welche <lb/>ſonſtige Gelehrſamkeit imſtande iſt, in Zeit von drei bis ſünſ <lb/>Jahren die ganze Summe der mathematiſchen Wahrheiten ſich <lb/>anzueignen, welche Tauſende der ſcharſſinnigſten Menſchen länger <lb/>als zwei Jahrtauſende mit aller Anſtrengung ihres Geiſtes zu <lb/>ſuchen genötigt waren!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6790" xml:space="preserve">Erwägt man, daß gerade dieſe Wiſſenſchaft die einzige iſt, <lb/>welche <emph style="sp">niemals</emph> auf Abwege geriet, welche ſich durch keine <lb/>Irrlehre, durch keine philoſophiſche Spekulation, durch kein <lb/>Dogma und durch keine gebieteriſche Autorität von ihrer Bahn <lb/>des Fortſchreitens konnte ablenken laſſen, daß ihre Entwickelung <lb/>wohl zu Zeiten unterbrochen war, aber niemals — wie andere <lb/>Wiſſenſchaften — einen Rückſchritt machte; </s>
  <s xml:id="echoid-s6791" xml:space="preserve">daß wir es hier <lb/>alſo mit einem Gebiet des Wiſſens zu thun haben, das fort <lb/>und fort auf dem Wege zur Wahrheit verblieb, — erwägt <lb/>man dies, ſo weiß man wahrlich nicht, ob man über den <lb/>langſamen Weg des geiſtigen Fortſchrittes der erſten Größen <lb/>der Menſchen durch Jahrtauſende in Demut verſinken ſoll, <lb/>oder ob man in Stolz ſich erheben darf wegen unſeres Vor-<lb/>zuges, daß wir in gar kurzer Reihe von Jahren all die auf-<lb/>geſammelten Schätze der Jahrtauſende uns anzueignen ver-<lb/>mögen!” —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6792" xml:space="preserve">So weit war ich mit meinem Gedanken und mit all den
<pb o="44" file="0504" n="504"/>
Empfindungen und Gefühlen, Fragen und Zweifeln, Einwen-<lb/>dungen, Vergleichungen und Beobachtungen, die ihn nebenher <lb/>ſchattenhaft und ſtillſchweigend begleiteten, gekommen, als ich <lb/>im natürlichen Fortſpinnen desſelben unterbrochen wurde durch <lb/><emph style="sp">ein alltägliches Geſpräch</emph>.</s>
  <s xml:id="echoid-s6793" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6794" xml:space="preserve">Es war ein Geſpräch, das meine Tochter, die in mein <lb/>Zimmer getreten war, mit mir führte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6795" xml:space="preserve">— Ein ganz kurzes, <lb/>flüchtiges, nur momentane Angelegenheiten berührendes Zwie-<lb/>geſpräch, das niemand der Mühe wert hält, aufzuzeichnen <lb/>oder gar andern mitzuteilen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6796" xml:space="preserve">Es war ein Zwiegeſpräch, das <lb/>man gegenüber dem geringfügigſten, gelehrten Gedanken geiſtes-<lb/>arm nennt; </s>
  <s xml:id="echoid-s6797" xml:space="preserve">es war ein Geſpräch, das uns beiden auch nicht <lb/>das allergeringſte Nachdenken gekoſtet und auch des Nachdenkens <lb/>gar nicht wert erſcheint; </s>
  <s xml:id="echoid-s6798" xml:space="preserve">— und dennoch, dennoch — will ich <lb/>dir, verehrter Leſer, weiter unten das Geſpräch vorführen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6799" xml:space="preserve">Magſt du ſelber entſcheiden, ob es des Anrechts auf deine <lb/>Aufmerkſamkeit wert iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6800" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6801" xml:space="preserve">Für jetzt aber — ich bitte dich! — begleite mich auf <lb/>einigen anderen Gedankenausflügen, die mich in der Einſam-<lb/>keit wieder in Anſpruch nahmen, als meine Tochter eben mein <lb/>Zimmer verlaſſen hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6802" xml:space="preserve">— Es waren Gedanken anderer Natur; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6803" xml:space="preserve">ſie knüpften ihre Fäden nicht direkt an die hohe Wiſſenſchaft, <lb/>ſondern an die vor mir ſchwebende Alltäglichkeit an; </s>
  <s xml:id="echoid-s6804" xml:space="preserve">aber ſie <lb/>ſtreiften und ſchweiften alle in das Gebiet der Wiſſenſchaſten <lb/>hinein, deren Umfang ſich ganz unabſehbar weit vor dem <lb/>Menſchengeiſte ausbreitet. </s>
  <s xml:id="echoid-s6805" xml:space="preserve">— Begleite mich — ich bitte dich! <lb/>— und laß dich’s nicht kümmern, wenn meine Gedanken einige <lb/>willkürliche Sprünge von einem Gegenſtande zum anderen zu <lb/>machen ſcheinen! Schenke mir nur ein wenig Geduld, und du <lb/>wirſt die Fäden des Gedankenlaufes ſelber in der Hand haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s6806" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6807" xml:space="preserve">Wieder in ſtillſter Einſamkeit dachte ich folgendes:</s>
  <s xml:id="echoid-s6808" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6809" xml:space="preserve">Wenn ein berühmter Aſtronom zu dir käme und ſagte: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6810" xml:space="preserve">“Siehe, ich will dir in deinem Zimmer ein Kunſtwerk hohen
<pb o="45" file="0505" n="505"/>
wiſſenſchaftlichen Wertes aufſtellen, das vor deinen Augen ein <lb/>getreuliches Bild abgiebt von dem Lauf der Sonne am Him-<lb/>melszelt oder richtiger von der Umdrehung der Erde um ihre <lb/>Achſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s6811" xml:space="preserve">An dem Kunſtwerk ſollſt du jederzeit genauer als durch <lb/>irgend ein Mittel erſehen können, wann die Sonne am Tage <lb/>den höchſten Punkt am Himmelsbogen erreicht, auch wenn <lb/>Wolken den Himmelsraum bedecken; </s>
  <s xml:id="echoid-s6812" xml:space="preserve">wann die Sonne nachts <lb/>den tiefſten Stand unter unſerem Horizont einnimmt, wo ſie <lb/>kein Menſchenauge erblickt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6813" xml:space="preserve">An dem Kunſtwerk ſollſt du aber <lb/>noch mehr, du ſollſt mit einem Blick auf dasſelbe ſofort ſehen <lb/>können, wie viel des Weges die Sonne auf ihrem Tageslauf <lb/>in jedem beliebigen Zeitpunkte zurücklegt, wie weit ſie den <lb/>höchſten oder den tiefſten Stand am Himmel vor ſich oder <lb/>hinter ſich hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s6814" xml:space="preserve">Das Kunſtwerk ſoll dir ohne Fernrohr und <lb/>Meſſung, ohne Anſtrengung deines Auges und ohne Mühen <lb/>deines Verſtandes ſofort zu jeder Zeit und mit größerer Ge-<lb/>nauigkeit zeigen, wie es augenblicklich um den Sonnenlauf des <lb/>Himmels oder mit der Umdrehung der Erde um ihre Achſe <lb/>ſteht, als je die unſterblichen Meiſter und Forſcher Hipparch, <lb/>Ptolemäus und Copernikus es herausbringen konnten.</s>
  <s xml:id="echoid-s6815" xml:space="preserve">”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6816" xml:space="preserve">Wenn ein Aſtronom dir ſolch einen Antrag ſtellte, du <lb/>würdeſt ihm wahrſcheinlich antworten: </s>
  <s xml:id="echoid-s6817" xml:space="preserve">“Solch ein wiſſenſchaft-<lb/>liches Kunſtwerk muß überaus intereſſant ſein, aber für den <lb/>Beſitz eines ſchlichten Privatmannes iſt es zuverläſſig viel zu <lb/>koſtſpielig und auch viel zu fein und ſubtil. </s>
  <s xml:id="echoid-s6818" xml:space="preserve">Ich möchte es <lb/>wohl ſehen und müßte es gewiß bewundern, aber ich habe <lb/>nicht das Bedürfnis, es mir anzuſchaffen!”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6819" xml:space="preserve">Riefe nun gar noch der Aſtronom einen Philoſophen zur <lb/>Hilfe, der dir deutlich machen wollte, wie das Kunſtwerk eigent-<lb/>lich die feinſten Materien unſeres Denkens zum Gegenſtand <lb/>ſeiner Löſung macht, wie es nämlich ein Werk ſei, welches un-<lb/>ſichtbare Abſchnitte der Ewigkeit, die man “<emph style="sp">Zeit</emph>“ nennt, in <lb/>Teile der Unendlichkeit verdeutlicht, die man mit dem Worte
<pb o="46" file="0506" n="506"/>
“<emph style="sp">Raum</emph>“ bezeichnet — du würdeſt ganz beſtimmt ſchon beim <lb/>Beginn der philoſophiſchen Auseinanderſetzungen ungeduldig <lb/>werden und die erſte beſte Pauſe des Redners benutzen, um <lb/>mit dem Bekenntnis herauszuplatzen, daß du dir wohl ein Buch <lb/>im Bücherſpinde gefallen läßt, das über Raum und Zeit ſehr <lb/>gründliche Abhandlungen enthält, aber ein Kunſtwerk der Art, <lb/>das dich nicht bloß mit <emph style="sp">Aſtronomie</emph>, ſondern auch mit <lb/><emph style="sp">Philoſophie</emph> jederzeit traktieren will, das möchteſt du um <lb/>keinen Preis für alle Tage in deinem Wohnzimmer haben!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6820" xml:space="preserve">Wie aber, wenn man dir ſagt: </s>
  <s xml:id="echoid-s6821" xml:space="preserve">Das Kunſtwerk beſitzeſt du <lb/>ſchon! Es beſitzen es Millionen und Millionen Menſchen! — <lb/>Es iſt nichts weiter als <emph style="sp">eine Uhr</emph>, die man jetzt ſchon den <lb/>Kindern zur Einſegnung ſchenken muß, die man vermißt, wenn <lb/>man ſie nicht zur Hand hat, die man ſich nachts vors Bett <lb/>legt, um ſie ſchon beim erſten Moment des Erwachens vor <lb/>Augen zu haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s6822" xml:space="preserve">Es iſt die Uhr, nach der die Kinder in die <lb/>Schule gehen, die Hausväter ihre Geſchäfte betreiben, die <lb/>Hausmütter das Mittagbrot kochen, nach der der Richter Ter-<lb/>mine anſetzt, der Küſter die Kirchen öffnet, der Prediger die <lb/>Liturgie beginnt und nach der ſogar <emph style="sp">dein Magen ſeinen <lb/>Appetit rechtfertigt</emph>, und — — wenn man dir das ſagte, <lb/>gewiß wirſt du ausrufen: </s>
  <s xml:id="echoid-s6823" xml:space="preserve">“Wie ſonderbar iſt es doch, daß <lb/>Mikkionen Menſchen gar nicht ahnen, welch einen Gedanken-<lb/>reichtum ſie in den Weſtentaſchen mit ſich herumſchleppen!” —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6824" xml:space="preserve">Wie hoch ſchwoll wohl die Bruſt des unbekannten Denkers, <lb/>der zuerſt den kühnen Vorſatz faßte, die Linie am Himmel, in <lb/>welcher die Sonne täglich ihren höchſten Stand erreicht, zu <lb/>fixieren, um durch ſie die Länge des jedesmaligen Tages in <lb/>zwei gleiche Hälften zu teilen! — Wie viele Geſchlechter ver-<lb/>gingen nach jenem großen Denker, bevor ein würdiger Nach-<lb/>komme den kühnen Gedanken faßte, in irgend einer Weiſe <lb/>die zwei Hälften des Tages in kleinere Abſchnitte zu teilen, <lb/>um das bis dahin Unmeßbare, das man <emph style="sp">Zeit</emph> nennt, durch
<pb o="47" file="0507" n="507"/>
Räume meſſen zu können! — Welch ſchöpferiſche Begabung <lb/>erfüllte den Geiſt des ſpäteren Denkers, der auf den überaus <lb/>kühnen Gedanken kam, daß nur der Schatten eines Stabes, <lb/>welcher verlängert die Achſen des ſich täglich umwälzenden <lb/>Himmelsgewölbes träfe, imſtande ſei, eine richtige Zeiteinteilung <lb/>für alle Tage des Jahres, eine wirkliche Sonnenuhr ab-<lb/>zugeben! — Welch ehrfurchtgebietendes Werk muß ſolch ein <lb/>Schattenzeiger einſt geweſen ſein, wenn der Prophet Jeſaias <lb/><emph style="sp">göttliche</emph> Wunder dem regierenden Könige daran zeigte, nach <lb/>deſſen Vater das Werk benannt wurde! — Wie viele Denker <lb/>erſter Größe mußten vergebliche Verſuche an fallenden Waſſer-<lb/>tropfen und rinnendem Sand machen, um nur ungefähr die <lb/>Dauer einer Stunde feſtzuſtellen, wenn der Himmel bewölkt <lb/>oder die Sonne unter dem Horizont iſt!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6825" xml:space="preserve">Und alle die großen, genialen Männer waren Uhrmacher, <lb/>nichts als Uhrmacher! Könnte man ſie auf eine Stunde wieder <lb/>beleben und in unſere Zeit hineinſtellen, ſie würden begeiſtert <lb/>vor dem ſtümperhafteſten Uhrmachergeſellen unſerer Tage in den <lb/>Staub ſinken und jeden, der eine Uhr hat, als glückſelig preiſen, <lb/>weil er der Inhaber eines Gedankenwerks iſt, nach dem viele <lb/>große Geiſter durch ganze Jahrtauſende in den beſeligendſten <lb/>Stunden ihrer ſchöpferiſchen Gedankenarbeit getrachtet! — Die <lb/>alten, großen Denker, ſie würden ſicherlich ausrufen: </s>
  <s xml:id="echoid-s6826" xml:space="preserve">Glück-<lb/>liches Zeitalter! Wie unüberſehbar reich mußt du an Gedanken <lb/>ſein, wenn ſo viele Millionen deiner Kinder ſolch herrliche <lb/>Gedankenſchöpfungen zum alltäglichen Beſitz haben!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6827" xml:space="preserve">Wie aber, wenn jemand ihnen zuriefe: </s>
  <s xml:id="echoid-s6828" xml:space="preserve">“Erhabene Geiſter <lb/>der Vorzeit, wiſſet, die ihr glücklich preiſet, ſie leben zwar nach <lb/>der Uhr, ſie eſſen, ſie trinken, ſie ſchlafen, ſie wachen, ſie beten, <lb/>ſie beluſtigen ſich, ſie arbeiten und ruhen nach der Uhr, aber <lb/>von den Millionen allen kommt es nur äußerſt ſelten Einem <lb/>zu Sinne, über die Uhr zu <emph style="sp">denken</emph>!” — Die Geiſter der <lb/>Vorzeit, würden ſie nicht mit Recht zu fliehen wünſchen aus
<pb o="48" file="0508" n="508"/>
einem Zeitalter, das ſo gedankenlos Gedankenreichtümer in den <lb/>Weſtentaſchen herumträgt?</s>
  <s xml:id="echoid-s6829" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6830" xml:space="preserve">In der That: </s>
  <s xml:id="echoid-s6831" xml:space="preserve">es benimmt ſich das Menſchengeſchlecht in-<lb/>mitten des Reichtums ſeiner geiſtigen Kräfte ſehr ſonderbar! <lb/>Man hat ſich oft verwundert, wie Tauſende von Menſchen-<lb/>geſchlechtern in einer Welt gelebt haben, in welcher großartige <lb/>Naturkräfte, wie die Anziehungskraft der Erde, der Luftdruck, <lb/>die Elektrizität allüberall ihre Wirkungen offenkundig zeigten, <lb/>ohne daß die Menſchen von dieſen Kräſten eine Ahnung hatten; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6832" xml:space="preserve">man muß ſich in viel höherem Grade verwundern, daß ſie <lb/>heute die Kulturwelt ſo gedankenlos genießen, ohne ſich um die <lb/>Geiſtesarbeit in der Entſtehungs- und Entwickelungsgeſchichte <lb/>derſelben zu kümmern. </s>
  <s xml:id="echoid-s6833" xml:space="preserve">— — —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6834" xml:space="preserve">In meinem Nachſinnen über dieſe beſchämenden That-<lb/>ſachen geriet ich nunmehr auf anderweitige Reihen der Be-<lb/>trachtung:</s>
  <s xml:id="echoid-s6835" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6836" xml:space="preserve">Eine Uhr — ſo mußte ich mir ſagen — iſt doch gar ſo <lb/>übel nicht daran. </s>
  <s xml:id="echoid-s6837" xml:space="preserve">Wenn ſie auch von Millionen benutzt wird, <lb/>die weder ihre wiſſenſchaſtliche Bedeutung, noch ihre überaus <lb/>ſeine, künſtleriſche mechaniſche Vollkommenheit im vollen Wert <lb/>ſchätzen, ſo giebt es doch einzelne, die ſie zum Gegenſtand <lb/>ihres Studiums machen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6838" xml:space="preserve">es giebt Bücher, welche die Ent-<lb/>wickelungsgeſchichte verzeichnet haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s6839" xml:space="preserve">es giebt Ausſtellungen, <lb/>wo ihre Vorzüglichkeit in induſtrieller Beziehung gewürdigt <lb/>wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s6840" xml:space="preserve">Die Uhr hat doch mindeſtens die Ehre, daß unſer Kon-<lb/>verſationslexikon einen Artikel über ſie als über einen Gegen-<lb/>ſtand des Wiſſenswerten bringt!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6841" xml:space="preserve">Wie unzählige Kultureinrichtungen aber giebt es, in deren <lb/>Reichtum wir leben, und deren Früchte wir genießen, ohne <lb/>ihnen dieſe kleinen Ehren geiſtiger Anerkennung zu Teil werden <lb/>zu laſſen!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6842" xml:space="preserve">Welch großartige Kultureinrichtung iſt z. </s>
  <s xml:id="echoid-s6843" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s6844" xml:space="preserve">ein gewöhn-<lb/>licher <emph style="sp">Markt</emph>?</s>
  <s xml:id="echoid-s6845" xml:space="preserve">!</s>
</p>
<pb o="49" file="0509" n="509"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6846" xml:space="preserve">Wir forſchen nach den Königen, welche die Pyramiden er-<lb/>baut, nach Geſetzgebern, welche in Memphis und Jeruſalem, <lb/>Sparta und Athen, Karthago und Rom Staatsordnungen ein-<lb/>geführt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6847" xml:space="preserve">Wir zerſinnen uns über Hieroglyphen in Grabmälern, <lb/>über Keilſchriften in ausgegrabenen Paläſten, — jedoch dem <lb/>Gedränge eines Wochenmarktes, in welchem ſich unſere liebens-<lb/>würdige Frauenwelt trotz Körben, Karren, Beſen, Leitern, <lb/>Binſen, Blumen, Fiſchen, Gemüſen, Buden, Schirmdächern, <lb/>Schirmen und Nervenſchwächen mit bewunderungswürdiger <lb/>Geſchicklichkeit hindurchwindet, weichen wir gelehrten Männer <lb/>aus, als einem Gebiet, das bloß der Betrachtung und Be-<lb/>friedigung alltäglicher Bedürfniſſe einen Spielraum zu bieten <lb/>ſcheint.</s>
  <s xml:id="echoid-s6848" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6849" xml:space="preserve">Von welcher Fülle großartiger Gedanken aber iſt eben <lb/>jene Ordnung der Alltäglichkeit!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6850" xml:space="preserve">Welche Schwierigkeit macht es nicht noch heutigen Tags, <lb/>die Menſchen auf ſolchen Gebieten für den Gedanken der <emph style="sp">Tei-<lb/>lung der Arbeit</emph> zu gewinnen, wo ſie dieſe Teilung nicht <lb/>gewöhnt ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s6851" xml:space="preserve">— Wer aber war der große Tyrann oder große <lb/>Philoſoph, der der Menſchheit ſchon vor vielen Jahrtauſenden <lb/>den Gedanken aufzwang oder eingab, jene Teilung der Arbeit <lb/>auszuführen, die der gewöhnliche Wochenmarkt ſo überaus exakt <lb/>darſtellt? </s>
  <s xml:id="echoid-s6852" xml:space="preserve">— Iſt das Problem, tauſend Sklavenhände an <lb/>einem Platz vereinigt zum Bau einer koloſſalen Pyramide zu <lb/>dirigieren, nicht ein Kinderſpiel gegen den kühnen Plan, tauſend <lb/>freie Menſchen Meilen weit zerſtreut übers Land ſo in ihrer <lb/>Beſchäftigung zu dirigieren, daß jeder die ganze Woche im <lb/>Schweiße ſeines Angeſichts Dinge ſchafft, die er für ſich ſelber <lb/><emph style="sp">nimmermehr</emph> verbrauchen kann, die er jedoch als einen Bei-<lb/>trag liefert zu einer merkwürdigen Pyramide, welche unter dem <lb/>Namen Wochenmarkt allwöchentlich auf ein paar Stunden auf-<lb/>gebaut wird, und die, wenn ſie wieder abgebaut iſt, ihre Be-<lb/>ſtimmung vollkommener erfüllt, als die koloſſalſten Prachtbauten,</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6853" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s6854" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s6855" xml:space="preserve">Volksbücher XV.</s>
  <s xml:id="echoid-s6856" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="50" file="0510" n="510"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6857" xml:space="preserve">und ganze Städte richtig mit überaus notwendigen Dingen <lb/>verſorgt hat, in welchen die Tauſende, die ſie bewohnen, auch <lb/>nicht die leiſeſte Ahnung haben, wie ſie dergleichen zu ſtande <lb/>bringen ſollen!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6858" xml:space="preserve">Freilich glaubt man ſich des Nachdenkens über ſolch all-<lb/>tägliche Dinge ganz überhoben, ſobald man ein bequemes <lb/>Wort dafür hat, wie “Austauſch der Bedürfniſſe”, “Gegen-<lb/>ſeitigkeit der Dienſtleiſtungen” und dergleichen, die in der That <lb/>das Problem bezeichnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6859" xml:space="preserve">Aber von welcher Tiefe und Fein-<lb/>heit iſt die Löſung ſolcher Probleme, wenn wir ſie auch nur <lb/>au ganz kleinen, ſimplen Vorgängen des Wochenmarktes ver-<lb/>folgen!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6860" xml:space="preserve">Da ſitzt auf dem Markte meines Bezirkes allwöchentlich <lb/>eine Bäuerin mit überaus appetitlicher, friſcher Butter vor dem <lb/>Hauſe eines Arztes. </s>
  <s xml:id="echoid-s6861" xml:space="preserve">Nun aber ſieht die Frau ſo kerngeſund <lb/>aus, daß der Arzt ganz entſchieden jahrelang keine Gelegen-<lb/>heit haben würde, auch nur ein Krümelchen von dieſer Butter <lb/>zu koſten, wenn er nur auf den “<emph style="sp">Austauſch der Bedürf-<lb/>niſſe</emph>“ oder “<emph style="sp">die Gegenſeitigkeit der Dienſtleiſtun-<lb/>gen</emph>“ hingewieſen wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s6862" xml:space="preserve">Und doch iſt es ganz gewiß, daß der <lb/>Arzt gerade die Butter von dieſer kerngeſunden Frau auf ſeinem <lb/>Tiſche jahraus jahrein hat, und dieſe Thatſache genügt, um <lb/>mit vollſter Zuverſicht zu behaupten, daß dieſe kerngeſunde <lb/>Bäuerin doch allwöchentlich in irgend einer Weiſe von der <lb/>Heilkunſt des Arztes einen Vorteil haben muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s6863" xml:space="preserve">Denn da es <lb/>einmal feſtſteht, daß er nichts als <emph style="sp">Heilkunſt</emph> und <emph style="sp">ſie nichts</emph> <lb/>als <emph style="sp">Butter</emph> hat, ſo iſt es rein unmöglich, daß er zu der <lb/>Butter komme, wenn er ihr nicht in einem merkwürdigen, wenn <lb/>auch beiden völlig unbekannten Rundlauf der Vermittelungen <lb/>durch eine Portion Heilkunde einen Gegendienſt leiſtet!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6864" xml:space="preserve">Nun wiſſen wir zwar ganz gut, daß dieſer Rundlauf der <lb/>Leiſtungen durch das Geld repräſentiert wird, und in Bezug <lb/>auf dieſes intereſſante Thema können wir gerade nicht ſagen,
<pb o="51" file="0511" n="511"/>
daß ſich die Menſchen dazu gedankenlos verhalten; </s>
  <s xml:id="echoid-s6865" xml:space="preserve">im Gegen-<lb/>teil, es verwenden Viele ihre Gedanken ſo fleißig auf das <lb/>Problem Geld, daß ſie für andere Dinge manchmal, wie man <lb/>zu ſagen pflegt, beim <emph style="sp">beſten</emph> Willen weder Zeit noch Gedanken <lb/>haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s6866" xml:space="preserve">— Allein gerade weil wir wiſſen, daß hier Geld mit im <lb/>Spiele iſt, möchte man es uns am eheſten verzeihen, wenn wir <lb/>bei unſerm Exempel der Ausgleichung zwiſchen Butter und <lb/>Heilkunſt ein wenig länger verweilen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6867" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6868" xml:space="preserve">Wir wollen, der Einfachheit halber, den Ausgleichungs-<lb/>weg uns in der kürzeſten Weiſe denken, die nur möglich iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6869" xml:space="preserve">— Da ſchrägüber an der Ecke wohnt ein Kaufmann, bei <lb/>welchem unſere Bäuerin regelmäßig Kaffee, Zucker, Reis, <lb/>Syrup, Pfeffer und Salz a. </s>
  <s xml:id="echoid-s6870" xml:space="preserve">entnimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6871" xml:space="preserve">Der Kaufmann aber <lb/>und ſein Haus mag von dem Arzt durchs ganze Jahr behan-<lb/>delt werden, und wenn wir uns nun denken, daß der Arzt vom <lb/>Kaufmann 100 Mark Jahreshonorar erhält und dieſe Summe <lb/>wieder jährlich für Butter an die Bäuerin verausgabt, und <lb/>ſie wieder dieſelbe Summe dem Kaufmann durchs Jahr für <lb/>Materialwaren giebt, ſo hätten wir die einfachſten Fäden des <lb/>Rundlaufs in Händen, in welchem ſich die Gegenſeitigkeit der <lb/>Dienſtleiſtungen vermittelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6872" xml:space="preserve">— Hierbei ſpielten nun freilich die <lb/>100 Mark Geld eine Rolle, aber wenn wirs recht bedenken, <lb/>bloß eine <emph style="sp">ſcheinbare</emph> Rolle; </s>
  <s xml:id="echoid-s6873" xml:space="preserve">denn jedesmal am Ende des <lb/>Jahres hat der Kaufmann dieſelben 100 Mark wieder, die er <lb/>dem Arzt zu Anfang des Jahres gegeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s6874" xml:space="preserve">— Wenn wir den <lb/>Lauf des Geldes betrachten, ſo hat der Arzt nur das Geſchäft, <lb/>das Geld vom Kaufmann zu nehmen, um es der Bäuerin zu <lb/>geben; </s>
  <s xml:id="echoid-s6875" xml:space="preserve">die Bäuerin nimmt es vom Arzt und bringt es dem <lb/>Kaufmann, und der Kaufmann nimmt’s von der Bäuerin und <lb/>giebt’s wieder dem Arzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6876" xml:space="preserve">Der Rundlauf des Geldes iſt alſo <lb/>in Wahrheit ein bloßes Ringelſpiel, in welchem der überaus <lb/>intereſſante Gegenſtand rein zum Schein die Eigentümer <lb/>wechſelt, um jedem auf kurze Zeit ein thörichtes Vergnügen zu
<pb o="52" file="0512" n="512"/>
bereiten. </s>
  <s xml:id="echoid-s6877" xml:space="preserve">— Der wahre Wert des Rundlaufs liegt im Werte <lb/>der Leiſtungen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6878" xml:space="preserve">denn während die 100 Mark jahraus jahrein <lb/>eigentlich bloß zum Spaß zirknlieren, verzehrt der Arzt im <lb/>vollen Ernſt und mit beſtem Wohlgefallen immerfort die <lb/>Buttern der Bäuerin, genießt die Bäuerin mit innigem Be-<lb/>hagen immerfort die Materialien des Kaufmanns und wird <lb/>das Haus des Kaufmanns fortwährend — und wir wollen <lb/>hoffen, mit mindeſtens eben ſo gutem Erfolg — von dem Arzte <lb/>mit Heilkunſt traktiert.</s>
  <s xml:id="echoid-s6879" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6880" xml:space="preserve">Man bedenke aber, daß all dies nur ein Beiſpiel iſt, um <lb/>durch eine Einfachheit, die in Wirklichkeit gar nicht ſo exiſtiert, <lb/>den Nundlauf der Leiſtungen und den entgegengeſetzten Rund-<lb/>lauf des Geldes zu verſiunlichen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6881" xml:space="preserve">Man bedenke, daß in <lb/>Wahrheit der Markt nicht bloß dem Arzte die Butter der <lb/>Bäuerin zuführt, ſondern auch auf den unberechenbarſten und <lb/>komplizierteſten Umwegen der Vermittelungen Tauſenden von <lb/>Menſchen Lebensmittel liefert, die nicht im Entfernteſten den <lb/>Landbewohnern durch ihr Thun und Laſſen <emph style="sp">direkte</emph> Gegen-<lb/>dienſte leiſten können. </s>
  <s xml:id="echoid-s6882" xml:space="preserve">Man bedenke, daß Alles, was der <lb/>Handel und Wandel in der Welt ſchafft und herbeiführt, Alles, <lb/>was die großartigſten Maſchinen liefern und Alles, was in <lb/>Prachtgewölben ausgeſtellt, auf Meſſen von der ewig thätigen <lb/>Iuduſtrie angehäuft und über die Welt zerſtreut wird, nur <lb/>dann gearbeitet und geſchaffen werden kann, wenn der Wochen-<lb/>markt ſo gut iſt, den Arbeitenden Fiſche, Fleiſch, Butter, Obſt, <lb/>Brot, Kartoffeln, Mehl, Grütze, Graupen, Kräuter, Grünes a. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6883" xml:space="preserve">zu liefern. </s>
  <s xml:id="echoid-s6884" xml:space="preserve">Wenn man dies Alles bedenkt, und ferner, daß <lb/>auch die Millionen, welche die großen Aktienunternehmen koſten, <lb/>nur dahin gegeben werden, um ſich ſofort in die Welt der <lb/>Arbeitenden und Schaffenden zu zerſtreuen, und, kaum in deren <lb/>Häude gelangt, von ihren Frauen und Töchtern eiligſt in Klein-<lb/>geld auf den <emph style="sp">Wochenmarkt</emph> gebracht zu werden, ſo muß man <lb/>bekennen, daß derjenige, der den Wochenmarkt erſonnen, den
<pb o="53" file="0513" n="513"/>
erſten Grundſtein zu unſerm Kulturweſen gelegt hat, und die <lb/>Gedankenloſigkeit, mit welcher wir an dieſem Fundamentalbau <lb/>unſerer Civiliſation ſo häufig vorübergehen, nur darin ihren <lb/>Grund hat, daß das Wunder in ſeiner Vollkommenheit uns ſo <lb/>alltäglich geworden iſt! — — —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6885" xml:space="preserve">Soweit war ich in meinem Ideengang über die Wunder <lb/>der Alltäglichkeit gekommen, als mich nach ſtillem Sinnen der <lb/>Gedankenflug ſehr bald auf andere Gebiete unſeres Kultur-<lb/>daſeins hinüberführte.</s>
  <s xml:id="echoid-s6886" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6887" xml:space="preserve">Wir leben inmitten einer Ordnung, — mußte ich mir <lb/>ſagen — wo vielleicht Alles, was wir von alten, uns unbe-<lb/>kannten Zeiten her ererbt haben, noch geringfügig iſt gegen <lb/>Einrichtungen ſehr jungen Datums, deren Früchte wir nicht <lb/>minder gedankenlos genießen, obwohl ſie tiefer eingreifen in <lb/>das wirkliche Kulturdaſein und in unſerm geſellſchaftlichen <lb/>Leben als hohe <emph style="sp">ſittliche</emph> Errungenſchaften daſtehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6888" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6889" xml:space="preserve">Wie oft leſen wir mit kindlicher Rührung von dem ge-<lb/>treuen Kuecht, der den Willen ſeines Herrn mit Pünktlichkeit <lb/>und Sorgfalt erfüllt und ſeines geringen Lohnes froh iſt für <lb/>einen ſchweren Dienſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6890" xml:space="preserve">Wie oft vermeinen wir in Geringſchätzung <lb/>der Alltäglichkeit, daß wir um vieles Geld gar nicht mehr <lb/>imſtande wären, uns ſolcher Dienſte zu erfreuen, und vergeſſen <lb/>dabei, daß ein getreuerer Bote, als ihn je die Simplicität <lb/>des Altertums ſich denken konnte, alltäglich, ja allſtündlich <lb/>durch unſere Straßen läuft und von Haus zu Haus trepp-<lb/>auf, treppab eilt, um die wichtigſten Botſchaften der Menſchen <lb/>unter einander aufs ſchleunigſte zu vermitteln, und wie <lb/>er all dies thut, ohne die geringſten Anſprüche auf unſern <lb/>Dank, und ohne irgend einen Anteil zu fordern von den <lb/>günſtigen Erfolgen, die ſeine Votſchaften ſehr häufig für den <lb/>Empfänger haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s6891" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6892" xml:space="preserve">Daß ich niemanden anders als den Briefträger meine, <lb/>das wird wohl ſchon jeder gemerkt haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s6893" xml:space="preserve">Iſt doch der
<pb o="54" file="0514" n="514"/>
Briefträger die einzige Sorte von Staatsbeamten, die jeder <lb/>gern in ſein Haus kommen fieht! — Der Briefträger hat <lb/>nicht umſonſt ein friſches, freundliches Botengeſicht; </s>
  <s xml:id="echoid-s6894" xml:space="preserve">es drückt <lb/>dies ein gewiſſes Selbſtgefühl des Bewußtſeins aus, daß er <lb/>in den allermeiſten Fällen ein willkommener Gaſt iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s6895" xml:space="preserve">und <lb/>daß er ein ſolcher iſt, rührt im Grunde genommen doch nur <lb/>wiederum daher, daß er ein Kulturträger unſerer Zeit und <lb/>ein überaus treffendes Zeugnis der <emph style="sp">ſittlichen</emph> Höhe unſeres <lb/>Kulturlebens iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6896" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6897" xml:space="preserve">Wir wollen von dem hohen Wert der geiſtigen Ver-<lb/>mittelung überhaupt hier gar nicht ſprechen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6898" xml:space="preserve">— Die Schrift <lb/>und der ſchriftliche Geiſtesverkehr nimmt eine ſo hohe Stufe <lb/>des geiſtigen Lebens des Menſchen ein, daß wir, im vollen <lb/>Genuß derſelben aufgewachſen, gar keinen Begriff mehr davon <lb/>haben, was ſie für uns iſt, und was wir ohne ſie wären. </s>
  <s xml:id="echoid-s6899" xml:space="preserve">— <lb/>Es müßte erſt für unſere Forſchergabe ein Mittel ausfindig <lb/>gemacht werden, um eine Kenntnis von den graueſten Zeiten <lb/>des Altertums zu erlangen, wo dieſes Mittel des geiſtigen <lb/>Lebens fehlte, damit wir an dieſen Zeiten die Bedeutung der <lb/>ſpätern und der jetzigen meſſen können, wo das Geſchriebene <lb/>nicht bloß das Geſprochene erſetzt, ſondern an Wirkung weit <lb/>überragt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6900" xml:space="preserve">— Wir wollen es für jetzt genug ſein laſſen und <lb/>nur den faſt fabelhaſten Fortſchritt deutlich machen, den der <lb/>briefliche Verkehr ſeit Beginn unſeres jetzigen Jahrhunderts <lb/>genommen, und wir werden ſehen, wie wir nicht bloß den <lb/>alltäglich gewordenen Austauſch der Geiſter, ſondern mehr <lb/>noch die ſittliche Grundlage zu bewundern haben, auf der er <lb/>ſich aufbaut.</s>
  <s xml:id="echoid-s6901" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6902" xml:space="preserve">Wer den Brieſwechſel des edelſten und verehrteſten, ge-<lb/>liebteſten und gefeiertſten der deutſchen Dichter, wer <emph style="sp">Schillers <lb/>Briefwechſel mit ſeiner Braut Charlotte</emph> heutigen Tages <lb/>lieſt, der wird inmitten dieſes Zeugniſſes eines überaus reichen <lb/>Seelenlebens auch viele treffende Züge der damaligen Zuſtände,
<pb o="55" file="0515" n="515"/>
Perſonen und Verhältniſſe mit großem Genuß darin wahr-<lb/>nehmen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6903" xml:space="preserve">unter dieſen aber ſteht obenan <emph style="sp">die wackere Boten-<lb/>frau</emph>, die ein herrliches, patriarchaliſches Abbild des getreuen <lb/>Botentums aus den Tagen unſerer Väter abgiebt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6904" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6905" xml:space="preserve">Die wackere Botenfrau iſt die lebendige Poſt, die zu Fuß, <lb/>mit einem Korbe auf dem Rücken, fortdauernd auf Reiſen iſt <lb/>zwiſchen Rudolſtadt, Weimar und Jena. </s>
  <s xml:id="echoid-s6906" xml:space="preserve">— Aus den beiläufi-<lb/>gen Andeutungen der Briefe, die faſt regelmäßig Etwas von <lb/>der “erwarteten” oder der “angekommenen” oder “bald ab-<lb/>gehenden” Botenfrau enthalten, gelangt man unwillkürlich <lb/>dahin, ſich mit ihrem Weſen und ihrer Erſcheinung ſo vertraut <lb/>zu machen, daß man ſie faſt lieb gewinnt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6907" xml:space="preserve">— Sie iſt nicht ſehr <lb/>verzärtelter Natur, ſie geht im Sommer barfuß und im Winter <lb/>in Mannsſtiefeln, aber ſie verſteht ſich auf die Zärtlichkeiten <lb/>des Herzens, denn ſie macht ſehr gern mündliche Beſtellungen <lb/>über das Wohlbefinden und gute Ausſehen des Schreibers wie <lb/>des Empfängers ihrer Botſchaften, und Schiller wie Charlotte <lb/>verraten gar nicht ſelten in ihren Briefen, wie dieſe münd-<lb/>lichen Beigaben der wackern Frau ihnen nicht bloß wichtig, <lb/>ſondern auch willkommen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s6908" xml:space="preserve">— Aus beiläufigen Bemerkun-<lb/>gen in dieſem Briefwechſel erfahren wir auch, wie die getreue <lb/>Botin keineswegs ein teilnahmloſes, blindes Fatum ihres <lb/>ſchweren Gewerbes iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6909" xml:space="preserve">Sie kennt die Beziehungen ihrer <lb/>kleinen Kundſchaft zu einander ſehr wohl. </s>
  <s xml:id="echoid-s6910" xml:space="preserve">Sie erzählt zuweilen <lb/>Schiller, ob auch Goethe und von wem einen Brief bekommt, <lb/>und bei wem ſie außerdem noch in den erwähnten Städten <lb/>einen Brief beſtellt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s6911" xml:space="preserve">— Sie iſt obenein auch noch ein vor-<lb/>trefflicher Mahner für Jeden, der etwa eine Antwort ſchuldig <lb/>iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s6912" xml:space="preserve">— und wer weiß, ob nicht manch herrlich gedachter Brief <lb/>in jetziger Zeit nur deshalb ungeſchrieben bleibt, weil wir eben <lb/>ſolcher Mahnerinnen entbehren, vor deren perſönlichem Beſuch <lb/>die gewöhnliche Ausrede “des Unwohlſeins” oder “des Mangels <lb/>an Zeit” ſchwindet! — Sie kommt alle Woche einmal an und
<pb o="56" file="0516" n="516"/>
geht faſt regelmäßig an einem beſtimmten Tage ab; </s>
  <s xml:id="echoid-s6913" xml:space="preserve">doch wartet <lb/>ſie auch zuweilen, wenn ein Kunde noch nicht mit dem <lb/>Briefe fertig iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s6914" xml:space="preserve">ſie erntet dafür auch Dank und erfreut <lb/>ſich der Teilnahme der Briefſchreiber. </s>
  <s xml:id="echoid-s6915" xml:space="preserve">Ja, wenn ſie erkrankt, <lb/>iſt große Not unter den Korreſpondenten. </s>
  <s xml:id="echoid-s6916" xml:space="preserve">Ihre Wieder-<lb/>geneſung wird durch längere Briefe gefeiert, die für ein vier-<lb/>zehntägiges Entbehren des geiſtigen Verkehrs Entſchädigung <lb/>bieten müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6917" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6918" xml:space="preserve">Von ſolch rührender Naivetät waren die Verkehrsgelegen-<lb/>heiten zwiſchen drei Orten, die alle drei Reſidenzen regierender <lb/>Fürſten waren, und von denen die eine eine berühmte Pflanz-<lb/>ſchule der Wiſſenſchaft, die andere die blütenreichſte Stätte der <lb/>deutſchen Bildung, der Sitz deutſcher Volkskultur war, und <lb/>all’ die Orte liegen nur in geringfügiger, ſtundenweiter Ent-<lb/>fernung von einander! —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6919" xml:space="preserve">Unzweifelhaft bedurfte es damals noch einer ſolch wackern <lb/>Botenfrau, um mit einiger Zuverläſſigkeit ihren Händen die <lb/>teuern Herzensergüſſe anvertrauen zu können. </s>
  <s xml:id="echoid-s6920" xml:space="preserve">Wenn bei ihrer <lb/>Erkrankung der ganze gegenſeitige Geiſtesverkehr dreier deut-<lb/>ſcher Reſidenzen darniederlag, um erſt wieder in Fluß zu ge-<lb/>raten, ſobald die wackere Frau unter vollſter Teilnahme ſämt-<lb/>licher Korreſpondenz-Liebhaber ſich wieder auf den Weg machen <lb/>konnte, ſo muß wohl eine große Portion ſittlichen Vertrauens <lb/>auf ihr geruht haben, das man nicht ſo bald jeder Andern <lb/>ſchenken konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6921" xml:space="preserve">— Wenn Schiller und Charlotte von ihr mit <lb/>ſolcher Teilnahme und Achtung ſprechen, dürfen wir ſie gewiß <lb/>in ihrer Weiſe als ein gutes Muſterſtück treuer Boten be-<lb/>trachten. </s>
  <s xml:id="echoid-s6922" xml:space="preserve">Die gute, wackere Frau, ſie hat in ihren Wochen-<lb/>märſchen ſchon darum ein ſittliches Verdienſt erworben, als <lb/>eben der Briefwechſel, der uns von ihr Kunde giebt, durch <lb/>ihre Hände ging, und ihre getreulichen Beſorgungen es nur <lb/>möglich machten, daß die deutſche Litteratur durch ſeine Ver-
<pb o="57" file="0517" n="517"/>
öffentlichung einen Schatz mehr aus dem Leben und Wirken <lb/>des geliebteſten der Dichter beſitzt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6923" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6924" xml:space="preserve">Mit welchen Schätzen beladen rennen aber heutigen Tags <lb/>unausgeſetzt alle Briefträger durch unſere Straßen?</s>
  <s xml:id="echoid-s6925" xml:space="preserve">! Von <lb/>welch’ ſittlichem Vertrauen iſt das allenthalben hindringende <lb/>Poſt-Inſtitut getragen, daß wir Geiſtesergüſſe, Geſchäfts-<lb/>geheimniſſe und Herzensangelegenheiten ſo ohne weiteres in <lb/>Briefen der Poſt anvertrauen! Wie hoch müſſen wir ſie halten, <lb/>wenn wir der vollen Zuverſicht uns hingeben, daß Menſchen, <lb/>die wir nie im Leben geſehen haben, unſern Brief, an dem <lb/>uns außerordentlich viel liegt, ſchon richtig ſortieren, regelrecht <lb/>verpacken, in den richtigen Poſtbeutel ſtecken, nach dem richtigen <lb/>Wagen befördern werden, damit er nur eiligſt und pünktlich <lb/>per Eiſenbahn oder Kourier-Poſt an ſeinem Beſtimmungsort <lb/>anlange, woſelbſt ihn wieder uns völlig unbekannte Menſchen <lb/>aus der Verpackung nehmen, ſortieren und einem Briefträger <lb/>übergeben, der ſich <emph style="sp">ſofort</emph> auf den Weg machen wird, <lb/>um unſern Adreſſaten aufzuſuchen und ihm den Brief ab-<lb/>zuliefern!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6926" xml:space="preserve">Freilich wundern wir uns gar nicht mehr darüber und <lb/>am allerwenigſten haben wir Luſt, uns Gedanken um Dinge <lb/>zu machen, für die wir <emph style="sp">bezahlen</emph>. </s>
  <s xml:id="echoid-s6927" xml:space="preserve">— Wir tragen ja das <lb/>Porto, und die Poſt macht noch ein gutes Geſchäft dabei; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6928" xml:space="preserve">folglich müſſen alle Briefe richtig beſorgt werden, und wir <lb/>ſind allen Nachdenkens überhoben. </s>
  <s xml:id="echoid-s6929" xml:space="preserve">— Und dennoch — welchen <lb/>Moraliſten und Philoſophen, Propheten oder Gottesverkünder <lb/>des Altertums, denen die Verſittlichung des Menſchengeſchlechts <lb/>als das höchſte Ziel ihres Strebens galt, wir herzaubern <lb/>möchten in unſere Gegenwart, es würde jeder von ihnen be-<lb/>kunden, daß die ſittliche Garantie, unter welcher unſer alltäg-<lb/>licher Briefverkehr ſteht, einen höhern Zuſtand der Kultur be-<lb/>zeugt, als es jemals ihnen, ſelbſt in ihren idealſten Hoffnun-<lb/>gen, in den Sinn gekommen iſt!</s>
</p>
<pb o="58" file="0518" n="518"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6930" xml:space="preserve">Wir wiſſen nicht, wann die ideale Zeit ſein wird, wo der <lb/>Löwe Stroh frißt gleich dem Rinde und Pardel und Schaf <lb/>friedlich mit einander ſpazieren gehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6931" xml:space="preserve">Die Zeit aber iſt <lb/>wahrhaftig nicht weniger bewundernswert, wo Briefe, die all-<lb/>täglich über die Millionen der Geſchäftswelt disponieren, die <lb/>den geiſtigen Verkehr, die die Herzensverhältniſſe, die häus-<lb/>lichen Geheimniſſe und die geſellſchaftlichen Angelegenheiten be-<lb/>treffen, ganz ſorglos zu Millionen in fremde Hände übergeben <lb/>werden, durch nichts verſchloſſen, als durch ein wenig Klebe-<lb/>gummi, höchſtens durch eine Oblate oder etwas Siegellack, um <lb/>durch Menſchen, die niemand von den Schreibern kennt, aufs <lb/>eiligſte Hunderte von Meilen, ja in die fernſten Weltteile be-<lb/>fördert zu werden, für einen Lohn, mit dem wir uns genieren <lb/>würden, einen Boten abzufinden, der für uns zweimal die <lb/>Treppe auf und ab gelaufen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s6932" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6933" xml:space="preserve">Aber die ſittliche Garantierung des brieflichen Verkehrs iſt <lb/>noch weiter in ihrer Sorgfalt gegangen.</s>
  <s xml:id="echoid-s6934" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6935" xml:space="preserve">Wenn wir einen Brief abſenden und das Porto im Vor-<lb/>aus bezahlen wollen, könnte es leicht kommen, daß unſer un-<lb/>getreuer Privatbote, den wir zur Poſt ſenden, das Geld behält <lb/>und den Brief beiſeite ſchafft. </s>
  <s xml:id="echoid-s6936" xml:space="preserve">Um auch dieſe Beſorgnis zu <lb/>heben, brauchen wir uns nur mit Freimarken zu verſehen uud <lb/>eine ſolche ſtatt der Bezahlung auf die Adreſſe zu kleben; </s>
  <s xml:id="echoid-s6937" xml:space="preserve">ja <lb/>bei den Kartenbriefen iſt die Poſt ſogar ſo zuvorkommend, uns <lb/>ein ſauberes Couvert zu geben, in das wir unſere Korreſpon-<lb/>denzen nur hineinzuſtecken brauchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6938" xml:space="preserve">Selbſt das Bißchen <lb/>Klebegummi, deſſen wir als Verſchluß bedürfen, iſt ſchon <lb/>daran, und um uns ganz und gar die Mühe des Übergebens <lb/>an einen Poſtbeamten zu erſparen, ſind Kaſten in den Straßen <lb/>aufgeſtellt, in die wir den Brief hineinwerfen dürfen, in der <lb/>feſten Zuverſicht, daß er ſeinen Beſtimmungsort weit ſicherer <lb/>und pünktlicher erreicht, als wenn wir ihn direkt durch unſern <lb/>treueſten Leibdiener mit eigener Equipage oder gar durch
<pb o="59" file="0519" n="519"/>
die wackere Botenfrau der Schillerſchen Korreſpondenz beſorgen <lb/>wollten!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6939" xml:space="preserve">Iſt es aber recht, Inſtitute von ſolch’ ſittlicher Garantie <lb/>alltäglich ſo gedankenlos zu gebrauchen?</s>
  <s xml:id="echoid-s6940" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6941" xml:space="preserve">Doch — bis zu welchen Ketzereien verliere ich mich in <lb/>meinen Gedankenläufen? </s>
  <s xml:id="echoid-s6942" xml:space="preserve">— Es iſt hohe Zeit, daß ich umkehre; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6943" xml:space="preserve">es iſt Zeit, daß ich Rechnung ablege, wie ich in dieſes Hin <lb/>und Wieder der Betrachtungen hineingeraten. </s>
  <s xml:id="echoid-s6944" xml:space="preserve">Es iſt Zeit, <lb/>daß ich es ſage, welches Geſpräch mich aus den Sinnen <lb/>über eine wiſſenſchaftliche Frage herausgehoben und mir eine <lb/>Löſung, die ich in der Ferne ſuchte, auf einem Gebiete ent-<lb/>gegenführte, das uns ſo überaus nahe ſteht, wie die Alltäg-<lb/>lichkeit.</s>
  <s xml:id="echoid-s6945" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6946" xml:space="preserve">Ich hatte über die Mathematik, ihre zweitauſendjährige <lb/>Geſchichte, den wundervoll lichten, unausgeſetzt auf ihre Weiter-<lb/>bildung gerichteten Geiſt ihrer Meiſter und über die ſonderbare <lb/>Wahrnehmung nachgedacht, wie gar ſo wenig Jahre des <lb/>Studiums ausreichen, ſich ihre Reſultate zu eigen zu machen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6947" xml:space="preserve">Eben ſchwebte mir der große Pythagoras vor, der eine Heka-<lb/>tombe den Göttern darbrachte für die Entdeckung ſeines Lehr-<lb/>ſatzes, den jetzt ein zehnjähriger Knabe recht gut begreifen und <lb/>beweiſen kann; </s>
  <s xml:id="echoid-s6948" xml:space="preserve">da wurde ich, wie bereits erzählt, in meinem <lb/>ſtillen Sinnen durch das alltägliche Geſpräch unterbrochen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6949" xml:space="preserve"><lb/>Es lautete wie folgt:</s>
  <s xml:id="echoid-s6950" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6951" xml:space="preserve">Guten Morgen, Papa, wie ſpät iſt es ſchon? </s>
  <s xml:id="echoid-s6952" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6953" xml:space="preserve">Drei Viertel auf Acht, Kind.</s>
  <s xml:id="echoid-s6954" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6955" xml:space="preserve">Da will ich zur Markthalle. </s>
  <s xml:id="echoid-s6956" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6957" xml:space="preserve">Warte, Kind, du kannſt mir den Brief mitnehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6958" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6959" xml:space="preserve">Zur Poſt?</s>
  <s xml:id="echoid-s6960" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6961" xml:space="preserve">Nein, wirf ihn nur in den Kaſten!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6962" xml:space="preserve">Adien, Papa.</s>
  <s xml:id="echoid-s6963" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6964" xml:space="preserve">Adieu, Kind! — — —</s>
</p>
<pb o="60" file="0520" n="520"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6965" xml:space="preserve">Als ich wieder allein war und mich nach dem Pythagoras <lb/>umſah, mit dem ich mich eben unterhalten wollte, da kam <lb/>mir’s plötzlich in den Sinn, daß, wenn der große, gefeierte <lb/>Denker des Altertums wirklich mir die Ehre ſeines Beſuches <lb/>jetzt erwieſen hätte und ſomit Zeuge des alltäglichen Geſprächs <lb/>geweſen wäre, das ich eben geführt, er vielleicht bei all’ ſeinem <lb/>immenſen Scharfſinn mehr der Jahre bedurfte, um dies Ge-<lb/>ſpräch in ſeinem ganzen Umfang gründlich verſtehen zu lernen, <lb/>wie jetzt nötig ſind, um den ganzen Kurſus der Mathematik <lb/>durchzumachen! —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6966" xml:space="preserve">Daß dies wahr iſt, das wird ſchwerlich Jemand beſtreiten, <lb/>der auch nur obenhin die Fülle der Ideen überblickt, welche <lb/>dem ſcheinbar gedankenarmen Geſpräch zu Grunde liegen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6967" xml:space="preserve">Ich glaube nicht, daß irgend eine mit Hieroglyphen oder Keil-<lb/>ſchriften bedeckte Mauer des Altertums eine ſolche Summe <lb/>von vorausgeſetzten Menſchengedanken, ſinnreichen Erfindungen <lb/>und wundervollen Kulturerlebniſſen enthält als das Alltäg-<lb/>lichſte, in dem wir uns fortwährend bewegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6968" xml:space="preserve">Unſer gewöhu-<lb/>lichſtes Leben iſt ein ſo überreiches Schwelgen in vorge-<lb/>arbeiteten Menſchengedanken, <emph style="sp">daß wir zu keinem neuen <lb/>Gedanken Zeit hätten, wenn wir nicht die alten ohne <lb/>wiederholende Gedanken-Operationen hinnehmen <lb/>wollten</emph>! —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6969" xml:space="preserve">Wir ſind ſehr geneigt, zu glauben, daß unſere Gedanken <lb/>in den Büchern ſtecken, die die Wiſſenſchaft repräſentieren; </s>
  <s xml:id="echoid-s6970" xml:space="preserve">aber <lb/>das iſt ein Irrtum. </s>
  <s xml:id="echoid-s6971" xml:space="preserve">Die Wiſſenſchaften, wie ſie auch heißen <lb/>mögen, ſtellen nur zum <emph style="sp">allerkleinſten Teil’</emph> die Eut-<lb/>ſtehung, die Geneſis ſolcher Gedankenreihen dar, die uns <lb/>methodiſch überſichtlich gemacht werden können. </s>
  <s xml:id="echoid-s6972" xml:space="preserve">Das große <lb/>Gedanken-Daſein jedoch, in dem wir wirklich leben, liegt un-<lb/>methodiſch durcheinander verſteckt in den tauſendfältigen Dingen, <lb/>unter welchen wir uns von frühe auf bewegen, und wir <lb/>nehmen es hin wie überreiche Erben ohne die Mühen des Er-
<pb o="61" file="0521" n="521"/>
werbens und zufrieden mit uns, wenn wir mit der ererbten <lb/>Ausſtattung nur noch durch eine kleine Zuthat die Erbſchaft <lb/>erweitern können. </s>
  <s xml:id="echoid-s6973" xml:space="preserve">— Aber hiermit <emph style="sp">müſſen</emph> wir nicht nur zu-<lb/>frieden ſein, ſondern wir <emph style="sp">dürfen</emph> es auch. </s>
  <s xml:id="echoid-s6974" xml:space="preserve">Ja, es iſt ein <lb/>Kulturgeſetz, das uns dazu zwingt, ein Kulturgeſetz, das für <lb/>die Wiſſenſchaft ebenſo wie für das Leben gilt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6975" xml:space="preserve">Wir können <lb/>ebenſowenig alle geiſtigen Vorarbeiten durchmachen, die den <lb/>großen Pythagoras auf die Erfindung ſeines berühmten Lehr-<lb/>ſatzes leiteten, ſo wenig wir mit dem Frühſtück warten können, <lb/>bis wir uns ſelber etwa Thee aus China oder Kaffee aus <lb/>Amerika geholt haben werden! —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6976" xml:space="preserve">Das Kulturgeſetz, das ich meine, geht auch noch weiter.</s>
  <s xml:id="echoid-s6977" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6978" xml:space="preserve">Wir <emph style="sp">müſſen</emph> und <emph style="sp">dürfen</emph> nicht nur alle geiſtigen Vor-<lb/>arbeiten der Geſchlechter, die vor uns lebten, als ererbtes <lb/>Eigentum hinnehmen, ſondern unſere eigentliche Kulturaufgabe <lb/>beſteht darin, Alles, was wir ſelber etwa auf dem ſchweren <lb/>Wege der Gedanken erſinnen, erfinden oder ſchaffen, ſo ins <lb/>Leben hineinzutragen, daß es ſobald wie möglich <emph style="sp">alltäglich</emph> <lb/>und von allen, die nach uns kommen, eben ſo ohne ſelbſt-<lb/>ſchöpferiſche Gedanken-Operationen benutzt, genoſſen und auf-<lb/>genommen werde, wie wir es mit der Uhr in der Weſten-<lb/>taſche, mit dem Markt und der Briefpoſt und nicht minder <lb/>und in gleicher Berechtigung mit dem Lehrſatz des Pythagoras <lb/>machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s6979" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6980" xml:space="preserve">Und wirklich, wir machen es ſo; </s>
  <s xml:id="echoid-s6981" xml:space="preserve">denn wunderbar genug <lb/>leben und wirken wir nach Kulturgeſetzen, ſelbſt wenn dieſe <lb/>noch nicht in Büchern niedergeſchrieben worden ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s6982" xml:space="preserve">So <lb/>lange Schöpferwerke der Kultur uns neu ſind, ſtutzen wir vor <lb/>ihnen, denn ſie fordern uns zu Gedanken-Operationen heraus <lb/>Mancher erinnert ſich vielleicht noch der Zeit, wo das erſte <lb/>Stipp-Feuerzeng im väterlichen Hauſe eine wahrhafte Gedanken-<lb/>Rebellion erzeugte und nicht blos die alte, gute Blechdoſe mit <lb/>Stahl, Stein und Zunder, ſondern ganze Berge autoriſierter
<pb o="62" file="0522" n="522"/>
Weltanſchauungen erſchütterte und antiquierte. </s>
  <s xml:id="echoid-s6983" xml:space="preserve">— Die Orthodoxie <lb/>hat gar ſo unrecht nicht, wenn ſie in jeder neuen Erfindung <lb/>“den Böſen” wittert, der die beſtehende Autorität umſtürzt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s6984" xml:space="preserve">Jede neue Gedankenſchöpfung reizt zum Denken und iſt wirklich <lb/>ſo lange gefährlich, bis ſich an ihr das Kulturgeſetz erfüllt, <lb/>das heißt, bis ſie <emph style="sp">alltäglich</emph> und <emph style="sp">gedankenlos</emph> benutzt und <lb/>genoſſen wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s6985" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6986" xml:space="preserve">Und ging es mit der Eiſenbahn beſſer? </s>
  <s xml:id="echoid-s6987" xml:space="preserve">Ging es mit der <lb/>Photographie beſſer, ging es mit der Telegraphie und tauſend <lb/>andren Dingen beſſer? </s>
  <s xml:id="echoid-s6988" xml:space="preserve">— Sie erfüllen alle das Kulturgeſetz <lb/>und <emph style="sp">ſollen</emph> es erfüllen; </s>
  <s xml:id="echoid-s6989" xml:space="preserve">ſie werden zu bloßen Vorarbeiten der <lb/>Kultur, die man endlich ohne <emph style="sp">Gedanken-Operation</emph> hin-<lb/>nimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s6990" xml:space="preserve">Sie werden alltäglich, und ſie <emph style="sp">ſollen</emph> alltäglich <lb/>werden: </s>
  <s xml:id="echoid-s6991" xml:space="preserve">wie mein <emph style="sp">alltägliches Geſpräch</emph>. </s>
  <s xml:id="echoid-s6992" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<pb file="0523" n="523"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div185" type="section" level="1" n="163">
<head xml:id="echoid-head182" xml:space="preserve"><emph style="bf">III. Die Entzifferung der aſſyriſch-babyloniſchen</emph> <lb/><emph style="bf">Keilſchrift.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6993" xml:space="preserve">Nirgends erfaßt den Menſchengeiſt ein tieferer Drang des <lb/>Wiſſensdurſtes als dort, wo er ſich gegenüber der Menſchen-<lb/>ſtimme untergegangener Völker befindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s6994" xml:space="preserve">Was nächtlich der <lb/>Sternenhimmel in lichter Naturſchrift uns aus der Geſchichte <lb/>des Weltalls erzählt, ſpricht auch unverſtanden zu unſerer <lb/>Phantaſie in erhebenden Tröſtungen ewiger Geſetzlichkeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s6995" xml:space="preserve">Eine <lb/>Inſchrift menſchlicher Hand aber, in der untergegangene Ge-<lb/>ſchlechter das tiefe Bedürfnis hatten, zur Nachwelt zu ſprechen, <lb/>dringt wie ein Ruf nach Menſchenverſtändnis und menſchlicher <lb/>Teilnahme an unſer Herz. </s>
  <s xml:id="echoid-s6996" xml:space="preserve">Sie wirkt wie ein Hilferuf auf <lb/>uns ein, um das Menſchlichſte des Menſchenweſens, das An-<lb/>gedenken der Vergangenheit, zu retten aus dem Meere der <lb/>Vergeſſenheit, das auch uns dereinſt überfluten wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s6997" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s6998" xml:space="preserve">Wenn die neu entdeckten Pfahlbauten das Thema von ver-<lb/>geſſenen Menſchengeſchlechtern in uns aufrufen und Teilnahme <lb/>für ihr Daſein erwecken, ſo enthält unſer Wiſſen vom Leben <lb/>vorweltlicher Menſchengeſchlechter den Troſt, daß die ſtummen <lb/>Ueberreſte ihrer einſtmaligen Exiſtenz ein ſprechendes Zeugnis <lb/>ablegen, an das ſie ſelber nicht gedacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s6999" xml:space="preserve">Wo aber eine In-<lb/>ſchrift in rätſelhafter Form vor uns ſteht, drückt uns das <lb/>Gefühl der Ohnmacht nieder, daß auch die höchſte Gabe der <lb/>Kultur, das Schriftwort, vergeblich der Vergeſſenheit entgegen-<lb/>wirken, vergeblich den Notſchrei nach Erlöſung in unſeren <lb/>Herzen erſchallen laſſen ſoll. </s>
  <s xml:id="echoid-s7000" xml:space="preserve">Wir ſtehen entſetzt vor dem <lb/>Rätſel, daß das Schickſal nicht nur die Vernichtung über
<pb o="64" file="0524" n="524"/>
kultivierte Völker ausgeſprochen, ſondern auch, in grauſamem <lb/>Hohn, ihrer Worte an die Nachwelt ſpottet.</s>
  <s xml:id="echoid-s7001" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7002" xml:space="preserve">Unſere Vorfahren in den vorletzten Jahrhunderten waren <lb/>freilich hiergegen durch ihren Glaubens-Troſt gepanzert. </s>
  <s xml:id="echoid-s7003" xml:space="preserve">Hiero-<lb/>glyphen und Keilſchrift waren ihnen Hilferufe der <emph style="sp">Heiden</emph>, <lb/>deren Untergang, aber nicht deren Daſein uns intereſſiert. </s>
  <s xml:id="echoid-s7004" xml:space="preserve">Die <lb/>Menſchengeſchichte, welche die heilige Schrift in verbürgter <lb/>Faſſung aufbewahrt, bedurfte nach der frommen Anſchauung <lb/>keiner weitern Erleuchtung durch Zeugniſſe der Heiden, die der <lb/>Weiſung des “heiligen Geiſtes” entbehren. </s>
  <s xml:id="echoid-s7005" xml:space="preserve">Aber in den letzten <lb/>hundert Jahren, als der Glaube an die Unfehlbarkeit der <lb/>bibliſchen Geſchichten durch die kritiſchen Unterſuchungen derſelben <lb/>erſchüttert wurde, fing man an, den Zeugniſſen der Menſchen-<lb/>geſchicke auch in jenen Schriften der Heiden nachzuſpüren, die <lb/>nicht wie die Werke der Griechen und Römer eine Art Toleranz <lb/>auch in chriſtlichen Glaubenszeiten genoſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7006" xml:space="preserve">Schon vor hundert <lb/>Jahren wagte es ein deutſcher Orientaliſt, Tychſen, auszu-<lb/>ſprechen, daß Hieroglyphen und Keilſchriften, viel älter als <lb/>die Schriften griechiſcher Hiſtoriker, zur Kontrole der in der <lb/>Bibel enthaltenen Erzählungen von größter Wichtigkeit werden <lb/>könnten.</s>
  <s xml:id="echoid-s7007" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7008" xml:space="preserve">Der Entzifferung der Hieroglyphen-Schrift der Aegypter <lb/>hat ein mit Vorbedacht für die Nachwelt ausgeſührtes Denk-<lb/>mal großen Vorſchub geleiſtet. </s>
  <s xml:id="echoid-s7009" xml:space="preserve">Während der Expedition des <lb/>großen Napoleon nach Ägypten (1798) wurde dort der “Stein <lb/>von Roſette” aufgefunden, der drei gleichlautende Inſchriften <lb/>in drei Schriftformen enthielt, und deſſen Nachbildung man <lb/>im Berliner ägyptiſchen Muſeum betrachten kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s7010" xml:space="preserve">Die älteſte <lb/>Inſchrift war die ſogenannte heilige Hieroglyphenſchrift, worin <lb/>ehedem die Prieſterſchaſt ihre Gedanken ausdrückte. </s>
  <s xml:id="echoid-s7011" xml:space="preserve">Die zweite <lb/>Inſchrift, gleichfalls hieroglyphiſch, iſt in einer Art weltlicher <lb/>Bilderſchrift niedergelegt, wie ſie in Ägypten gebraucht wurde, <lb/>als auch profane Menſchen das Bedürfnis des Schriftweſens
<pb o="65" file="0525" n="525"/>
empfanden und befriedigten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7012" xml:space="preserve">Die dritte Inſchrift aber iſt die <lb/>griechiſche Überſetzung, welche in der offenkundigen Abſicht um <lb/>das Jahr 196 vor unſerer Zeitrechnung abgefaßt worden iſt, <lb/>um die nebenſtehenden Schriftſtücke des Altertums der Nachwelt <lb/>verſtändlich zu machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7013" xml:space="preserve">War es auch nicht leicht, hieraus die <lb/>Bilderſchrift der Ägypter zu enträtſeln, ſo legte doch dieſer <lb/>Fund den Grundſtein zu den Enträtſelungen, welche mit gutem <lb/>Erfolge ſeit den letzten hundert Jahren von den Forſchern be-<lb/>trieben worden ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s7014" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7015" xml:space="preserve">Ähnlich, aber doch anders, ſtand es um die Entzifferung <lb/>der Keilſchriſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7016" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7017" xml:space="preserve">In einem Dorfe, namens Vehiſtun, in Perſien befindet ſich <lb/>eine Bergwand gleichen Namens von einer Höhe von nahezu <lb/>500 Metern. </s>
  <s xml:id="echoid-s7018" xml:space="preserve">In dieſer Wand ſind Keil-Inſchriſten enthalten, <lb/>welche, auf geglättetem Geſtein eingegraben und mit ſehr halt-<lb/>barem Firniß-Überzug verſehen, der vernichtenden Einwirkung <lb/>der Zeit glücklich widerſtanden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7019" xml:space="preserve">Eine Vergleichung dieſer In-<lb/>ſchriften unter einander zeigt nun, daß der allgemeine Charakter <lb/>der Zeichen zwar einer und derſelbe iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7020" xml:space="preserve">Es beſtehen alle Zeichen <lb/>aus geraden, ſenkrechten und horizontalen, keilartigen Strichen, <lb/>ſo daß die Kunſt des Schreibens nicht in vereinzelten Schrift-<lb/>zügen gleich den modernen Buchſtaben, ſondern nur in der <lb/>ſehr einfachen Kenntnis beſtand, wie dieſe Keilſtriche zu ein-<lb/>ander geſtellt werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7021" xml:space="preserve">Allein bei der Gleichheit der Zeichen-<lb/>form laſſen dennoch die verſchieden kombinierten Keile, wie die <lb/>Anzahl ihrer Kombinationen erkennen, daß ſie drei verſchiedene <lb/>Sprachen repräſentierten, und daß wir ſomit auch hier ein <lb/>Denkmal beſitzen, wodurch man im Altertum beſtrebt war, <lb/>eine alte Sprache und deren Schrift vor dem Untergang der <lb/>Vergeſſenheit durch Übertragung in eine moderne zu retten. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7022" xml:space="preserve">Daß dieſe modernere Sprache uns auch unbekannt und ihre <lb/>Schrift, in Keilzeichen beſtehend, nicht minder rätſelhaft als</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7023" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s7024" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s7025" xml:space="preserve">Volksbücher XV.</s>
  <s xml:id="echoid-s7026" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="66" file="0526" n="526"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7027" xml:space="preserve">die ältere blieb, war freilich ein Mißgeſchick, welches die <lb/>Schöpfer des Denkmals nicht abwenden konnten.</s>
  <s xml:id="echoid-s7028" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7029" xml:space="preserve">Die Betrachtung der dreiſprachigen Inſchrift führte aber <lb/>die Forſcher zu der ſehr richtigen Vermutung, daß dies Denk-<lb/>mal von den Vorgängern der griechiſchen Weltherrſchaſt, alſo <lb/>von den <emph style="sp">Perſern</emph> herrühre, und demnach die modernſte dieſer <lb/>Keilſchriſten eine <emph style="sp">perſiſche ſei</emph>. </s>
  <s xml:id="echoid-s7030" xml:space="preserve">Den danebenſtehenden zweiten <lb/>Text erklärte man für eine in <emph style="sp">mediſcher</emph> Sprache und älterer <lb/>Keilſchrift angefertigte Übertragung. </s>
  <s xml:id="echoid-s7031" xml:space="preserve">Den dritten Text endlich <lb/>ſah man für <emph style="sp">aſſyriſch-babyloniſch</emph> an und machte die <lb/>Vorausſetzung, daß die perſiſchen Eroberer und Zerſtörer der <lb/>aſſyriſch-babyloniſchen Reiche einen Wert darauf gelegt haben, <lb/>ihren Ruhm allen kommenden Menſchengeſchlechtern in den <lb/>vorzüglichſten Sprachen und Schriftzeichen der unterworfenen <lb/>Länder zu verkünden und vielleicht nebenbei auch die gute Ab-<lb/>ſicht hatten, die moderne perſiſche Keilſchrift zum Wegweiſer <lb/>des Verſtändniſſes für die älteren Schriftzeichen zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7032" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7033" xml:space="preserve">Dieſe Vorausſetzung als richtig angenommen, mußte es <lb/>demnach als die nächſte und noch am leichteſten zu löſende <lb/>Aufgabe erſcheinen, zuerſt den <emph style="sp">perſiſchen</emph> Text zu erforſchen, <lb/>und hierzu hat denn auch ein deutſcher Gelehrter, <emph style="sp">Georg <lb/>Friedrich Grotefend</emph> (1775—1853) in Göttingen, am Anfang <lb/>unſeres Jahrhunderts den erſten Schritt gethan, den bald glück-<lb/>liche Erfolge zur Enträtſelung der perſiſchen Keilſchrift krönten.</s>
  <s xml:id="echoid-s7034" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7035" xml:space="preserve">Die Iugend der perſiſchen Keil-Inſchrift von Behiſtun <lb/>verriet ſich den Forſchern dadurch, daß man im Ganzen in <lb/>dieſer Schrift nur circa 40 kombinierte Charaktere auffand, <lb/>während man in der anderen für alt-mediſch gehaltenen In-<lb/>ſchrift an 200 verſchieden zuſammengeſetzte Keile, in der als <lb/>aſſyriſch-babyloniſch angeſehenen Inſchrift gar 400 ſolcher <lb/>Charaktere zählte. </s>
  <s xml:id="echoid-s7036" xml:space="preserve">Aus dieſem Umſtand ſchloß bereits <emph style="sp">Niebuhr</emph> <lb/>(1776—1831), daß die Inſchrift mit 40 Charakteren aus Buch-<lb/>ſtaben entſprechend allen modernen Schriften beſtehe, während
<pb o="67" file="0527" n="527"/>
die anderen Inſchriſten keineswegs aus Buchſtaben gebildet <lb/>ſein können und demnach die Schriftweiſe älterer Zeiten repräſen-<lb/>tieren, wo man ſeine Gedanken und Vorſtellungen durch Bilder <lb/>oder ſymboliſche Zeichen ausdrückte. </s>
  <s xml:id="echoid-s7037" xml:space="preserve">Unter dieſen Zeichen der <lb/>perſiſchen Inſchrift erkannte ſodann <emph style="sp">Tychſen</emph> (1734—1815) <lb/>richtig, daß ein ſchräger Keilſtrich, der ſehr häufig vorkommt, <lb/>das Trennungs-Zeichen zwiſchen Wort und Wort bilde. </s>
  <s xml:id="echoid-s7038" xml:space="preserve">Auch <lb/>dieſes Trennungs-Zeichen trägt das Gepräge der Iugend an <lb/>ſich. </s>
  <s xml:id="echoid-s7039" xml:space="preserve">Es fehlt in den älteſten hebräiſchen Schriften wie in den <lb/>nunmehr entdeckten phöniziſchen und moabitiſchen Schriftſtücken, <lb/>die der hebräiſchen Sprache und Schreibweiſe analog ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s7040" xml:space="preserve">In <lb/>dieſen älteſten Denkmälern der Geſchichte iſt Wort an Wort ſo <lb/>eng angereiht, daß es nicht wenig Mühe koſtet, jedes zu ſondern. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7041" xml:space="preserve">Daß man in der perſiſchen Keilſchrift durch ein beſonderes <lb/>Zeichen dafür ſorgte, die Worte zu trennen, berechtigte zu dem <lb/>Schluß, daß dieſe Schrift einer Zeit angehört, wo man bereits <lb/>den Wunſch hegte, die Schriften auch den weniger gelehrten <lb/>und weniger geübten Leſern zugänglich zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7042" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7043" xml:space="preserve">Endlich reihte ſich dieſem glücklichen Nachſpüren auch noch <lb/>die richtige Vermutung des däniſchen Gelehrten <emph style="sp">Münter</emph> an, <lb/>daß dieſe Keilſchriften nicht gleich der hebräiſchen Schrift von <lb/>rechts nach links, ſondern gleich den modernen von links nach <lb/>rechts geleſen werden müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7044" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7045" xml:space="preserve">Auf Grund all’ dieſer treffenden Verſuche, die überein-<lb/>ſtimmend darauf hinweiſen, daß wir hier Denkmale eines ver-<lb/>hältnismäßig jüngeren Volkes vor uns haben, das aber Grund <lb/>hatte, ſeinen Ruhm auch in älteren Schriftzeichen zu verewigen, <lb/>that Grotefend den kühnen Schritt, einige perſiſche Königs-<lb/>namen wie <emph style="sp">Xerxes, Darius Hyſtaspes</emph> in den Inſchriften <lb/>aufzuſuchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7046" xml:space="preserve">Sein Scharfblick leitete hierin zu glücklichen Kom-<lb/>binationen, wodurch man einige Buchſtaben kennen lernte. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7047" xml:space="preserve">Die Vergleichung mit anderen Worten führte denn auch bald <lb/>die ſpäteren Forſcher zur Kenntnis des ganzen Alphabets.</s>
  <s xml:id="echoid-s7048" xml:space="preserve">
<pb o="68" file="0528" n="528"/>
Und da inzwiſchen auch die altperſiſche Sprache durch ander-<lb/>weitige Studien des Indogermaniſchen, ihres Urſprunges, wie <lb/>des Neu-Perſiſchen, ihres Ausläufers, den Forſchern zugänglich <lb/>wurde, war man imſtande, die perſiſche Keil-Inſchrift ſowohl in <lb/>ihrem Wortlaute wie ihrem Inhalte vollſtändig zu entziffern.</s>
  <s xml:id="echoid-s7049" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7050" xml:space="preserve">Die Inſchrift von Behiſtun war nicht das einzige uns <lb/>erhaltene Denkmal perſiſchen Urſprungs. </s>
  <s xml:id="echoid-s7051" xml:space="preserve">Man entdeckte in der <lb/>Nähe des Felſens und in der Umgebung von Perſepolis, der <lb/>ehemaligen Hauptſtadt Perſiens, mehrere Keil-Inſchriſten, die <lb/>der glücklichen Entzifferungs – Arbeit nicht widerſtanden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7052" xml:space="preserve">Wir <lb/>wiſſen nunmehr — vorzüglich durch die gründlichen Arbeiten <lb/>von <emph style="sp">Spiegel</emph> (geb. </s>
  <s xml:id="echoid-s7053" xml:space="preserve">1820) —, daß die großen wie die kleineren <lb/>Inſchriften nur zum Ruhme der perſiſchen Könige und zur <lb/>Verkündigung ihrer Thaten, ihrer Bauten und Siege angefertigt <lb/>wurden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7054" xml:space="preserve">In all’ dieſen wird auch der Gott “Auramazda” <lb/>(ſonſt “Ormuzd”) als Lichtgott und Schöpfer alles Guten <lb/>feierlich bekannt, unter deſſen Schutz all die Großthaten dieſer <lb/>“Könige aller Könige der Erde” geſchehen ſeien.</s>
  <s xml:id="echoid-s7055" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7056" xml:space="preserve">Man ſollte nun wohl meinen, daß mit der Entzifferung <lb/>des Inhalts der perſiſchen Keilſchriften einerſeits das lebhaſte <lb/>Intereſſe für die Ergründung des aſſyriſch-babyloniſchen Textes <lb/>verſchwinden und andererſeits dieſe Ergründung ſehr leicht ge-<lb/>worden ſein müßte. </s>
  <s xml:id="echoid-s7057" xml:space="preserve">Allein beide Vorausſetzungen haben ſich <lb/>faktiſch nicht als zutreffend erwieſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7058" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7059" xml:space="preserve">Das Intereſſe für den Inhalt der aſſyriſchen Überſetzung <lb/>des eigentlich perſiſchen Textes konnte ſich freilich durch die <lb/>Entzifferung des letzteren abſchwächen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7060" xml:space="preserve">Wußte man ja, daß <lb/>in dieſem perſiſchen Denkmal nur ein Stück Weltgeſchichte dar-<lb/>gelegt wird, das bereits durch die griechiſchen Geſchichtsſchreiber, <lb/>wie Herodot und Xenophon, urbar gemacht worden war. </s>
  <s xml:id="echoid-s7061" xml:space="preserve">Allein <lb/>die Ausgrabungen von Niniveh und Babylon, wo Keilſchriften <lb/>älteren, ja älteſten Urſprunges in gewaltiger Maſſe entdeckt <lb/>wurden, und zwar aus Zeiten, wo andere Urkunden, mit Aus-
<pb o="69" file="0529" n="529"/>
nahme der bibliſchen gelegentlichen Erwähnungen, ganz und <lb/>gar fehlen, flößten ein mächtiges Intereſſe für die Entzifferung <lb/>ein. </s>
  <s xml:id="echoid-s7062" xml:space="preserve">Die ſeit den letzten Jahrzehnten enthüllten Prachtbauten <lb/>einer untergegangenen, mächtigen Welt, die rieſigen Bildwerke, <lb/>welche die Paläſte der aſſyriſchen Herrſcher und die Tempel <lb/>ihrer Götter zierten, und die Keilſchriften, welche zu ihrer <lb/>Erläuterung dienten, wurden eine ſtets wachſende Auſgabe <lb/>zur Entzifferung, wo es galt, einen wichtigen Teil un-<lb/>bekannter Weltgeſchichte zu enthüllen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7063" xml:space="preserve">Die lesbar gewordene <lb/>perſiſche Keilſchrift wurde dadurch als die einzige und alleinige <lb/>Vorſtufe zur Enthüllung der aſſyriſch-babyloniſchen Schrift <lb/>von der höchſten Bedeutung. </s>
  <s xml:id="echoid-s7064" xml:space="preserve">Bot ihr Inhalt auch für die <lb/>perſiſche Geſchichte keine große Ausbeute, ſo konnte ſie doch zu <lb/>der reichſten Ernte führen, welche in den viel älteren, echten <lb/>aſſyriſchen Originalfunden dalag.</s>
  <s xml:id="echoid-s7065" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7066" xml:space="preserve">Aber das Rätſel wollte ſich ſo leicht nicht löſen laſſen, <lb/>wie man vermuten ſollte.</s>
  <s xml:id="echoid-s7067" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7068" xml:space="preserve">Was kann es für Schrift ſein, die an 400 verſchiedene <lb/>Zeichen zum Ausdruck ihres Inhalts braucht? </s>
  <s xml:id="echoid-s7069" xml:space="preserve">Sind dieſe <lb/>Zeichen Repräſentanten einer Sprache gleich unſeren Buchſtaben, <lb/>ſo ſind ihrer viel zu viel, ſelbſt wenn ſie die feinſten Ab-<lb/>ſtufungen der von menſchlichen Sprachwerkzeugen hervorge-<lb/>brachten Laute darſtellen wollten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7070" xml:space="preserve">Sollen dieſe Charaktere in <lb/>der Weiſe der Hieroglyphen nur in Bildern beſtimmte Ge-<lb/>danken wiedergeben, ſo mußten ſie doch mindeſtens in ſolchen <lb/>Gegenſtänden erkennbar ſein, die, wie die Könige, zu deren <lb/>Ruhm ſie dienen ſollten, einen Anſpruch auf irgend ein ent-<lb/>ſprechendes Bild haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7071" xml:space="preserve">Eine Schrift, von der man aus dem <lb/>perſiſchen Text ganz beſtimmt wußte, daß darin Cyrus, Darius, <lb/>Xerxes, Artaxerxes, Hyſtaspes, Achamenes und ganz beſonders <lb/>der hochbelobte Gott Auramazda vorkommt, und die gleichwohl <lb/>keinen Anhalt bot, auch nur einen einzigen dieſer Namen ſicher <lb/>aufzufinden, war ein Rätſel unlösbarer Art.</s>
  <s xml:id="echoid-s7072" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="70" file="0530" n="530"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7073" xml:space="preserve">Und welche Sprache war die der Aſſyrer?</s>
  <s xml:id="echoid-s7074" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7075" xml:space="preserve">Einerſeits ließen die Namen Sanherib, Nabſchake a.</s>
  <s xml:id="echoid-s7076" xml:space="preserve">, <lb/>welche in der Bibel genannt ſind, auf eine Verwandtſchaſt mit <lb/>dem Hebräiſchen ſchließen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7077" xml:space="preserve">Andererſeits macht eine hiſtoriſche <lb/>Stelle in den Büchern der Könige, wie im Jeſaias das Ge-<lb/>genteil wahrſcheinlich. </s>
  <s xml:id="echoid-s7078" xml:space="preserve">Es ſchildert dieſe Stelle in draſtiſcher <lb/>Weiſe, wie Rabſchake als Herold des aſſyriſchen Königs an <lb/>die Mauer des belagerten Jeruſalem tritt und daſelbſt das <lb/>Volk in hebräiſcher Sprache anredet. </s>
  <s xml:id="echoid-s7079" xml:space="preserve">Die Fürſten der be-<lb/>lagerten Stadt bitten ihn, ſich der aramäiſchen Sprache zu be-<lb/>dienen, die ſie verſtehen und die dem Volke fremd ſei. </s>
  <s xml:id="echoid-s7080" xml:space="preserve">Der <lb/>Herold verweigert dies und erklärt, gerade zum Volke in einer <lb/>dieſem verſtändlichen Sprache reden zu wollen, damit dieſes <lb/>ihm die Thore öffne und ſich ergebe. </s>
  <s xml:id="echoid-s7081" xml:space="preserve">Hieraus glaubte man <lb/>ſich berechtigt, zu ſchließen, daß die Sprache der Aſſyrer nicht <lb/>verwandt ſein könne mit der der Hebräer. </s>
  <s xml:id="echoid-s7082" xml:space="preserve">Und ſomit ſchien <lb/>ſelbſt die leiſeſte Spur zu verſchwinden, um jemals eine in <lb/>aſſyriſcher Sprache abgefaßte Inſchrift enträtſeln zu können, <lb/>ſelbſt wenn man das Rätſel der 400 Schriftzeichen zu löſen <lb/>imſtande wäre.</s>
  <s xml:id="echoid-s7083" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7084" xml:space="preserve">Da brachte denn im Jahre 1849 der leider der Wiſſen-<lb/>ſchaft zu früh entriſſene engliſche Forſcher <emph style="sp">Hinks</emph> mitten <lb/>im Wirrſal unbegründeter Hypotheſen das erſte ergebnisreiche <lb/>Licht über den wahren Charakter dieſer Schriftzeichen und <lb/>legte den Grund zu einer Entzifferung, die gegenwärtig jeden <lb/>Zweifel an ihrer Richtigkeit niederſchlägt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7085" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7086" xml:space="preserve">Das Licht, welches Hinks über die Schriftzeichen der <lb/>Aſſyrer verbreitet, beſteht in folgender Entdeckung:</s>
  <s xml:id="echoid-s7087" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7088" xml:space="preserve">Die Aſſyrer zerlegten nicht die geſprochenen Worte in ein-<lb/>zelne Buchſtaben, in Vokale und Konſonanten, ſondern in <lb/>einfache Silben, d, h. </s>
  <s xml:id="echoid-s7089" xml:space="preserve">in Silben, welche aus einem Konſonanten <lb/>und einem Vokal zuſammengeſprochen entſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7090" xml:space="preserve">Für jede <lb/>dieſer Silben mußte es natürlich zwei verſchiedene Zeichen
<pb o="71" file="0531" n="531"/>
geben, das eine für den Fall, wo der Konſonant vor dem <lb/>Vokal, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7091" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7092" xml:space="preserve">in der Silbe “Ba”, und das zweite für den <lb/>Fall, wo der Vokal dem Konſonanten vorangeht, wie in der <lb/>Silbe “Ab”. </s>
  <s xml:id="echoid-s7093" xml:space="preserve">— Denken wir uns ſolch’ eine Silbenſchrift in <lb/>moderner Sprache durchgeführt, die zwanzig Konſonanten und <lb/>fünf Vokale enthält, ſo müßten für jeden Konſonanten fünf <lb/>Zeichen exiſtieren, wenn er dem Vokal vorangeſtellt iſt, und <lb/>wiederum fünf andere Zeichen für den Fall, wo der Vokal <lb/>dem Konſonanten voranſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7094" xml:space="preserve">Zwanzig Konſonanten alſo, von <lb/>welchen jeder zehn Zeichen erforderte, würden beiſammen eine <lb/>Silbentabelle von 200 Zeichen bilden.</s>
  <s xml:id="echoid-s7095" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7096" xml:space="preserve">Wir werden bald ſehen, daß die Keilſchrift von dieſem <lb/>von uns angeführten Beiſpiele noch weſentlich abweicht, wir <lb/>wollen aber gleichwohl für jetzt uns wieder des Beiſpiels be-<lb/>dienen, um die Art zu zeigen, wie aus ſolchen einfachen Silben <lb/>ganze Worte zuſammengeſetzt werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s7097" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7098" xml:space="preserve">Wenn der aſſyriſche Schreiber eine Silbe wiedergeben <lb/>wollte, welche nicht mehr einfach iſt, ſondern aus zwei Kon-<lb/>ſonanten und einem Vokal, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7099" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7100" xml:space="preserve">“Bad”, oder aus zwei <lb/>Vokalen und einem Konſonanten, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7101" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7102" xml:space="preserve">“Abu” beſteht, ſo <lb/>kombinierte er zwei ſeiner Silbenzeichen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7103" xml:space="preserve">Das Wort “Bad” <lb/>ſchrieb er mit dem Silbenzeichen “Ba” und dem Silbenzeichen <lb/>“Ad”; </s>
  <s xml:id="echoid-s7104" xml:space="preserve">das Wort “Abu” ſchrieb er mit den zwei einfachen <lb/>Silben “Ab” und “Bu”. </s>
  <s xml:id="echoid-s7105" xml:space="preserve">In Fällen, wo ſprachlich zwei <lb/>Konſonanten einen gemeinſchaftlichen Vokal haben, wie in der <lb/>Silbe “Bru” oder “Alt”, trennte der aſſyriſche Schreiber <lb/>dieſelben und ſchrieb dafür Bu-Ru und Al-At.</s>
  <s xml:id="echoid-s7106" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7107" xml:space="preserve">Wenn man ſich klar macht, daß in Wirklichkeit ein Kon-<lb/>ſonant ohne einen Vokal gar nicht ausgeſprochen werden kann <lb/>und wiederum ein Vokal ohne Konſonanten eigentlich nur ein <lb/>Laut und nicht eine geſprochene Silbe iſt, ſo muß man zu-<lb/>geben, daß ſich der Aſſyrer in ſeiner Schreibweiſe der Natur <lb/>des Sprechens ſehr nahe angeſchloſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7108" xml:space="preserve">Wir haben Grund
<pb o="72" file="0532" n="532"/>
vorauszuſetzen, daß dieſe Schreibweiſe älter iſt, als die auf uns <lb/>überkommene Buchſtabenſchrift. </s>
  <s xml:id="echoid-s7109" xml:space="preserve">Dieſe, die Buchſtabenſchrift, <lb/>beruht auf einer in der Natur des Sprechens nicht begründeten <lb/>Abſtraktion, wo wir mit gedachten Konſonanten operieren, die <lb/>mit keinem Vokal verbunden ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s7110" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7111" xml:space="preserve">Bei näherer Betrachtung ergiebt ſich leicht, daß mit ſolchem <lb/>einfachen Silbenſchema jedes geſprochene Wort wiedergegeben <lb/>werden kann und die Lesbarkeit dieſer Schriftweiſe auch ohne <lb/>Schwierigkeit zu erlangen wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s7112" xml:space="preserve">Allein in Wirklichkeit iſt die <lb/>Keilſchrift keineswegs in dieſem ſo einfachen Schema erſchöpft. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7113" xml:space="preserve">Es bildet das Schema der einfachen Silben wohl die Grund-<lb/>lage der Keilſchrift, aber dieſe iſt von ſo mannigfachen Aus-<lb/>nahmen und anderen, ſehr fremdartigen Kombinationen durch-<lb/>kreuzt, daß man ſich nicht wundern darf, wenn das Licht, <lb/>welches Hincks über das Weſen dieſer Schreibweiſe verbreitete, <lb/>noch viele Dunkelheiten übrig ließ.</s>
  <s xml:id="echoid-s7114" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7115" xml:space="preserve">Zunächſt müſſen wir die Thatſache anführen, daß die Keil-<lb/>ſchrift nur die drei Hauptvokale A, I und U gebraucht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7116" xml:space="preserve">Der <lb/>Halblaut E und der Mittellaut O fehlen in dieſer Schreibart. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7117" xml:space="preserve">Desgleichen vermißt man die in unſerer Schreibweiſe durch <lb/>Doppelvokale ausgedrückten Laute. </s>
  <s xml:id="echoid-s7118" xml:space="preserve">Da wir nicht annehmen <lb/>können, daß die Aſſyrer im Sprechen dieſe Vokale ganz ent-<lb/>behrten, ſo müſſen wir vorausſetzen, daß ſie im Sprachgebrauch <lb/>die Übergänge des einen Vokals in den andern praktiſch ver-<lb/>mittelt haben, ohne daß man es für nötig fand, für die Va-<lb/>riationen beſondere Silbenzeichen zu erfinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7119" xml:space="preserve">Als Analogie <lb/>wollen wir nur daran erinnern, daß die hebräiſche Schriftweiſe <lb/>urſprünglich gar kein Zeichen für Vokale hatte, daß auch <lb/>ſpäter, als man Vokale unter und über die Buchſtaben ſetzte, <lb/>die Laute für Ei, für Au fehlten, und der Dialekt unſerer <lb/>deutſchen Volksſprache gar mannigfach die Vokale A in O, <lb/>wie E in Ei verwandelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7120" xml:space="preserve">Eine ſtrenge Trennung und Fixie-<lb/>rung der Vokale iſt ſtets nur das Produkt der vollen Aus-
<pb o="73" file="0533" n="533"/>
bildung der Schreibweiſe, die dann auch in die Sprechweiſe <lb/>übergehen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s7121" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7122" xml:space="preserve">Da in der Keilſchrift der Aſſyrer nur drei Vokale, A, I <lb/>und U gebraucht ſind, ſo reduzieren ſich die einfachen Silben <lb/>in bedeutendem Grade. </s>
  <s xml:id="echoid-s7123" xml:space="preserve">Es giebt für jeden Konſonanten nicht <lb/>wie wir oben angenommen zehn, ſondern nur ſechs Varia-<lb/>tionen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7124" xml:space="preserve">So z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7125" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7126" xml:space="preserve">für den Konſonanten B die Silben Ba, Bi, <lb/>Bu, und Ab, Ib, Ub. </s>
  <s xml:id="echoid-s7127" xml:space="preserve">Das Silbenſchema, welches uns in <lb/>dem vorzüglichen Werke von <emph style="sp">Schrader</emph> vorliegt, auf deſſen <lb/>außerordentlich wichtige Leiſtungen wir noch weiter zurück-<lb/>kommen werden, — enthält nur einige neunzig Zeichen, <lb/>die auch zu einer vollſtändigen Wortbildung durch einfache <lb/>Silben genügen, ſobald man ſich für harte und weiche Kon-<lb/>ſonanten unter Umſtänden nur eines und desſelben Zeichens <lb/>bedient. </s>
  <s xml:id="echoid-s7128" xml:space="preserve">Die wirkliche Keilſchrift indeſſen beſteht neben dieſen <lb/>aus Silben gebildeten Worten noch aus anderen Zeichen, <lb/>welche auf einem ganz anderen und für unſere gewöhnliche <lb/>Vorſtellungsweiſe ſehr fremdartigen Schreibſyſteme beruhen, <lb/>welches eine Entzifferung ganz unmöglich gemacht hätte, wenn <lb/>nicht ebenſo überraſchende wie wunderbare, von den Aſſyrern <lb/>ſelber eingeführte Hilfsmittel den Schlüſſel zur Löſung dar-<lb/>geboten hätten.</s>
  <s xml:id="echoid-s7129" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7130" xml:space="preserve">Mitten im Text der Keilſchriften, worin wirkliche Worte <lb/>aus Silbenzeichen gebildet daſtehen, treten nämlich einzelne <lb/>Zeichen auf, welche nicht dem Laute nach geleſen ſein wollen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7131" xml:space="preserve">Es ſind dieſe Zeichen Repräſentanten von Ideen und Dingen, <lb/>welche garnicht mit dem Lautwert in Beziehung ſtehen, ſondern <lb/>für ihr Verſtändnis im Texte eine ganz eigene Art von Hilfs-<lb/>mitteln erfordern. </s>
  <s xml:id="echoid-s7132" xml:space="preserve">Man nennt ſolche Zeichen und Zeichen-<lb/>gruppen, welche oft gerade die Hauptſache betreffen, “Ideo-<lb/>gramme”, was ſoviel beſagt, daß man es hier nicht mit einer <lb/>Wortſchrift, ſondern mit einer Ideenſchrift zu thun habe.</s>
  <s xml:id="echoid-s7133" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7134" xml:space="preserve">Um es begreiflich zu machen, wie ſolche Ideogramme in
<pb o="74" file="0534" n="534"/>
einer wirklichen Wortſchrift entſtehen können, wollen wir als <lb/>Beiſpiel die Thatſache anführen, daß man in mittelalterlichen <lb/>hebräiſchen Schriften ſehr oft anſtatt des Wortes “Jehova” <lb/>den Buchſtaben D gebraucht findet. </s>
  <s xml:id="echoid-s7135" xml:space="preserve">Ohne uns hier auf den <lb/>Grund dieſes Gebrauchs einzulaſſen, wird man leicht erkennen, <lb/>daß dieſes D nicht ſo verſtanden ſein ſoll, wie es geleſen wird. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7136" xml:space="preserve">Es repräſentiert ideal etwas, das nicht in ſeinem Lautwert <lb/>liegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7137" xml:space="preserve">Ähnliche Fälle kommen — wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7138" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7139" xml:space="preserve">die Buchſtaben <lb/>Alpha und Omega für die Begriffe “Anfang” und “Ende” — <lb/>auch in anderweitigen mittelalterlichen Schriften vor und er-<lb/>fordern eine Kenntnis derſelben, welche die Sprache nicht er-<lb/>giebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7140" xml:space="preserve">In der Keilſchrift aber ſind ſolche Fälle maſſenhaft <lb/>vorhanden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7141" xml:space="preserve">Man hat bei jedem neuen Wort vorerſt zu unter-<lb/>ſuchen, ob es dem Silbenlaute nach geleſen oder dem Ideen-<lb/>werte nach verſtanden ſein will. </s>
  <s xml:id="echoid-s7142" xml:space="preserve">Man kann ſich leicht vor-<lb/>ſtellen, wie eine ſonderbare Miſchung in der Schreibweiſe <lb/>die Entzifferung zu einem Kunſtſtück mit zahlloſen Hinder-<lb/>niſſen machte.</s>
  <s xml:id="echoid-s7143" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7144" xml:space="preserve">Man hätte vollauf Urſache, an der Möglichkeit der Ent-<lb/>zifferung zu zweifeln und allen Verſuchen und Behauptungen <lb/>der Löſung zu mißtrauen, wenn nicht zwei Thatſachen jeden <lb/>Zweifel niedergeſchlagen hätten.</s>
  <s xml:id="echoid-s7145" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7146" xml:space="preserve">Die eine Thatſache iſt, daß alle nicht ideogrammiſchen <lb/>Worte der Keilſchrift dem Stamme der ſemitiſchen Sprache an-<lb/>gehören. </s>
  <s xml:id="echoid-s7147" xml:space="preserve">Dieſe Worte haben eine ſo entſchiedene Verwandt-<lb/>ſchaft mit der hebräiſchen Sprache, daß ſie, einmal in ihrem <lb/>Silbenwert erkannt, vollſtändig jedem Kenner der ſemitiſchen <lb/>Sprachen verſtändlich ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s7148" xml:space="preserve">Für die Ideogramme aber hat <lb/>man eine Entzifferung viel erſtaunlicherer Natur aufgefunden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7149" xml:space="preserve">Man hat in den Ausgrabungen der aſſyriſchen Altertümer <lb/>Tafeln entdeckt, welche im vollſten Sinne des Wortes Lexika <lb/>bilden, und die darüber belehren, wie ein ideogrammiſches Wort <lb/>geleſen ſein will, und was man darunter zu verſtehen hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s7150" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="75" file="0535" n="535"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7151" xml:space="preserve">Dieſe lexikaliſchen Tabellen ſind ſicherlich das Erſtaun-<lb/>lichſte aller Funde in aſſyriſchen Altertümern, und ihnen müſſen <lb/>wir daher noch einige Aufmerkſamkeit widmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7152" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7153" xml:space="preserve">Die koloſſalen Paläſte und Tempel, welche die Aus-<lb/>grabungen von Niniveh und Babylon aus Schutt und Gerölle <lb/>unter den Hügeln des Wüſtenlandes wieder an das Licht des <lb/>Tages gebracht, tragen das Gepräge allgewaltiger, dynaſtiſcher <lb/>Mächte, welche ihre Herrſchaft über ganze Menſchengeſchlechter <lb/>mißbrauchten, um ihre Größe im Angedenken der Nachwelt zu <lb/>verewigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7154" xml:space="preserve">Wenn man die Skulpturen, die Wandgemälde, die <lb/>Denkmäler ſieht, welche ſiegreiche Schlachten und Triumphzüge <lb/>darſtellen, wo Maſſenhinrichtungen der Gefangenen mit aller <lb/>Umſtändlichkeit der Torturen getreulich abgebildet ſind, ſo ver-<lb/>ſteht man es, weshalb die Stimme geſitteter Völker dieſem <lb/>entſetzlichen Aufblühen tyranniſcher Welteroberung mit ſo feſter <lb/>Zuverſicht den Untergang prophezeien konnte und prophezeien <lb/>mußte. </s>
  <s xml:id="echoid-s7155" xml:space="preserve">Das Bild der Geſchichte, welches dieſe Denkmäler <lb/>aufrollen, wo die Kraft der Millionen von Unterthanen auf-<lb/>gerieben wurde, um dem Herrſchergelüſte blutiger Eroberer eine <lb/>Befriedigung zu gewähren, läßt das Gericht als ein wohl-<lb/>verdientes erſcheinen, welches all’ die barbariſche Herrlichkeit <lb/>untergehen ließ und zwei Jahrtauſende lang mit Nacht und <lb/>Grauen vor dem Anblick der Nachwelt verdeckte. </s>
  <s xml:id="echoid-s7156" xml:space="preserve">Im Anblick <lb/>der wieder ans Licht gebrachten Monumente ſolcher über Blut <lb/>und Leichen, Raub und Unterjochung aufgebauten Mächte be-<lb/>greift man die Zuverſicht und die ſittliche Gerechtigkeit, mit <lb/>welcher der Prophet (Jeſaias) ausgerufen: </s>
  <s xml:id="echoid-s7157" xml:space="preserve">“Wehe dir, Zer-<lb/>ſtörer, noch unzerſtört, Räuber, unberaubt! Wenn du das Ziel <lb/>erreicht, Zerſtörer, wirſt du zerſtört, wenn du den Gipfel mit <lb/>Ranben erſtiegen, wirſt du beraubt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7158" xml:space="preserve">”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7159" xml:space="preserve">Aber mehr noch als das Grauen vor dem Weltgericht, <lb/>das die Seele im Anblick dieſer koloſſalen, untergegangenen <lb/>Welt erfaßt, erſchüttert uns die Wahrnehmung, daß unter der
<pb o="76" file="0536" n="536"/>
zur Befriedigung der Tyrannen geſchaffenen Pracht eine un-<lb/>geahnte Volkskultur mit begraben liegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7160" xml:space="preserve">Die Zeugniſſe dieſer <lb/>Kultur ſind ſo überraſchend, daß ſie mehr die Aufmerkſamkeit <lb/>des Denkers auf ſich ziehen, als ganze Palaſtwände voll Sieges-<lb/>bilder und Siegesinſchriften.</s>
  <s xml:id="echoid-s7161" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7162" xml:space="preserve">Unter dem Schutte der Prachtbauten fand man nämlich <lb/>Tafeln und Täfelchen aus gebranntem Thon auf, worin Keil-<lb/>ſchrift mannigfachen Inhalts eingepreßt und eingegraben iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7163" xml:space="preserve">Die Tafeln ſind von ſehr verſchiedener Größe. </s>
  <s xml:id="echoid-s7164" xml:space="preserve">Einzelne kaum <lb/>ſo groß wie eine Kinderhand, andere einer gewöhnlichen <lb/>Schiefertafel an Größe gleich, wieder andere von tabellenartiger <lb/>Länge. </s>
  <s xml:id="echoid-s7165" xml:space="preserve">Die Schrift auf ihnen iſt oft ſo fein, wie unſere kleinſte <lb/>Druckſchrift. </s>
  <s xml:id="echoid-s7166" xml:space="preserve">Die Keilſtriche ſind nicht immer vertieft, ſondern <lb/>oft gleich unſerem Petſchaftabdrucke in erhabenem Relief ge-<lb/>prägt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7167" xml:space="preserve">Weitere Entdeckungen erklärten auch, wie dieſe Schrift-<lb/>ſtücke auf Thonplatten hergeſtellt wurden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7168" xml:space="preserve">Man fand Thon-<lb/>Cylinder, auf welche mit einem Stichel die Keilſchrift vertieft <lb/>und zwar noch vor dem Brennen in die weiche Thonmaſſe <lb/>eingegraben worden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7169" xml:space="preserve">Nachdem ſie im Feuer zu feſter <lb/>Maſſe gebrannt waren, wurden ſie über flache, weiche Thon-<lb/>platten mit leichtem Druck gerollt und prägten da die Original-<lb/>ſchrift in beliebig vielen Exemplaren ab.</s>
  <s xml:id="echoid-s7170" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7171" xml:space="preserve">Da man Platten auffand, welche auf beiden Seiten in <lb/>ſolcher Weiſe ein Schriftgepräge hatten, ſo muß man annehmen, <lb/>daß ſie zwiſchen zwei Originalcylinder hindurchgepreßt und <lb/>Vorrichtungen angewendet wurden, um die weiche Maſſe ohne <lb/>Beſchädigung der Schrift in den Ofen zum Hartbrennen zu <lb/>bringen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7172" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7173" xml:space="preserve">Die Thatſache iſt intereſſant, daß dieſe kleinen Tafeln <lb/>wohl vielfach zerbrochen aufgefunden worden ſind, aber wegen <lb/>ihres feſten Materials der Zerſtörung der Zeit viel beſſer wider-<lb/>ſtanden als die gewaltigſten Wandreliefs aus Marmor. </s>
  <s xml:id="echoid-s7174" xml:space="preserve">Die <lb/>Zerſtörer und Räuber, welche der Prophet den Zerſtörern und
<pb o="77" file="0537" n="537"/>
Räubern vorher angekündigt, haben mit Schwert und Feuer in <lb/>den Prachtbauten gewütet. </s>
  <s xml:id="echoid-s7175" xml:space="preserve">Das Feuer hat den Marmor in <lb/>Kalk verwandelt und die Denkmäler, zu Ehren der Tyrannen <lb/>ſamt den Inſchriften zu ihrer Verewigung, vielfach dem Zer-<lb/>fallen unter den Händen ihrer Entdecker anheimgegeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7176" xml:space="preserve">Von <lb/>den zerbrochenen Thontafeln aber hat man die Stücke ſorgſam <lb/>zuſammengeſucht und ſoviel gerettet, um aus ihnen ein Bild <lb/>untergangener, merkwürdiger Kulturwelt wiederum an das Licht <lb/>der Erkenntnis zu bringen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7177" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7178" xml:space="preserve">Außer dieſen in hochſtehendem Relief gepreßten Schrift-<lb/>ſtücken fand man auch verſchiedene Tafeln vor, in welchen die <lb/>Originalinſchrift vertieft angebracht iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7179" xml:space="preserve">In einem Palaſte <lb/>von Niniveh ſcheinen beſondere Gemächer als Archive ſolcher <lb/>Schriſtſtücke gedient zu haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7180" xml:space="preserve"><emph style="sp">Layard</emph> (ſpr. </s>
  <s xml:id="echoid-s7181" xml:space="preserve">Leh-ard), der <lb/>verdienſtvolle Entdecker dieſer Schätze, fand 1845 den Boden <lb/>dieſer Gemächer faſt über einen Fuß hoch mit den Bruchſtücken <lb/>dieſer Tafeln unter dem Schutt der zuſammengeſtürzten Wände <lb/>und Balkendecken angefüllt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7182" xml:space="preserve">Die Sammlung, Zuſammenſtellung <lb/>und Ergänzung der Bruchſtücke gehört noch immer zu den <lb/>wichtigſten Vorarbeiten der Altertumsforſcher.</s>
  <s xml:id="echoid-s7183" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7184" xml:space="preserve">Über den Zweck und den Inhalt dieſer merkwürdigen <lb/>Fundſtücke iſt man gegenwärtig noch nicht imſtande, einen <lb/><emph style="sp">vollſtändigen</emph> Aufſchluß zu geben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7185" xml:space="preserve">Man hat Grund zu ver-<lb/>muten, daß dieſe Archive verſchiedenen ſtaatlichen, chronolo-<lb/>giſchen, religiöſen, hiſtoriſchen und wiſſenſchaftlichen Zwecken <lb/>gedient haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7186" xml:space="preserve">Was aber ſpeziell unſer Thema betrifft, ſo ſind <lb/>einzelne Taſeln von ſolcher Wichtigkeit für die Entzifferung <lb/>der Keilſchrift, daß wir dieſen unſere beſondere Aufmerkſamkeit <lb/>widmen müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7187" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7188" xml:space="preserve">Es wurden nämlich kleine Täfelchen entdeckt, welche aus <lb/>zwei durch einen ſenkrechten Strich getrennten Kolumnen in <lb/>Keilſchrift beſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7189" xml:space="preserve">Die eine Kolumne enthält in der bisher <lb/>erkannten Silbenſchrift nicht lesbare Keilſchrift-Charaktere,
<pb o="78" file="0538" n="538"/>
welche wir mit dem Namen “Ideogramme” bezeichnen; </s>
  <s xml:id="echoid-s7190" xml:space="preserve">die <lb/>daneben auf der anderen Kolumne ſtehende Schrift giebt offen-<lb/>bar die <emph style="sp">Überſetzung</emph> der Nachbarzeile; </s>
  <s xml:id="echoid-s7191" xml:space="preserve">denn ſie iſt in regel-<lb/>rechter Silbenſchrift geſchrieben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7192" xml:space="preserve">Wir entnehmen hieraus, daß <lb/>die Aſſyrer ſelber Sorge getragen, eine jedenfalls nicht allge-<lb/>mein lesbare Schriftweiſe in eine lesbare zu überſetzen, oder <lb/>richtiger, dem Unkundigen den Sinn der unbekannten Charak-<lb/>tere zu verdeutlichen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7193" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7194" xml:space="preserve">Nun aber ſind eine Menge ſolcher Täfelchen rein <emph style="sp">gram-<lb/>matiſchen</emph> Inhalts. </s>
  <s xml:id="echoid-s7195" xml:space="preserve">So z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7196" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7197" xml:space="preserve">enthält eine kleine Tafel von <lb/>ſechs Zeilen nichts weiter als die Verbindung des Wortes <lb/>“mit” mit den Fürwörtern “mir”, “dir”, “ihm”, “uns”, “euch”, <lb/>“ihnen”. </s>
  <s xml:id="echoid-s7198" xml:space="preserve">Dieſe ſechs Zeilen in beiden Schreibweiſen in zwei <lb/>Kolumnen nebeneinander geſtellt, ſind ein offenbarer Beweis, <lb/>daß die ideogrammiſchen Zeichen in regelrechter Weiſe einer <lb/>Sprachlehre verſtändlich gemacht wurden durch eine Über-<lb/>ſetzung in bekannter Sprache und Schrift. </s>
  <s xml:id="echoid-s7199" xml:space="preserve">Man kann ſich <lb/>des Gedankens gar nicht erwehren, <emph style="sp">daß man in ſolchen <lb/>Tafeln eine Art Schulbuch vor ſich hat, wonach ein <lb/>regelrechter Unterricht erteilt worden iſt</emph>.</s>
  <s xml:id="echoid-s7200" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7201" xml:space="preserve">Sind dieſe Funde ſchon von höchſter Wichtigkeit für die <lb/>Kenntnis der ideogrammiſch geſchriebenen Worte, ſo werden ſie <lb/>noch von einem anderen Fund hierin übertroffen, der aus 800 <lb/>Zeilen beſteht, die in drei Kolumnen wiedergegeben ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s7202" xml:space="preserve">In <lb/>der einen, der mittelſten Kolumne, ſtehen die Keilſchriſtzeichen <lb/>in ideogrammiſcher Schrift; </s>
  <s xml:id="echoid-s7203" xml:space="preserve">dieſen zur Seite links befindet ſich <lb/>in lesbarer Keilſchrift niedergeſchrieben, wie das fragliche <lb/>Ideogramm <emph style="sp">den Lauten nach geleſen werden muß</emph>; </s>
  <s xml:id="echoid-s7204" xml:space="preserve">zur <lb/>Seite rechts ſteht <emph style="sp">die Bedeutung</emph> des Ideogramms in der <lb/>eigentlichen Sprache und Schreibweiſe der Aſſyrer, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s7205" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s7206" xml:space="preserve">in der <lb/>für uns verſtändlichen ſemitiſchen Sprache und der Silben-<lb/>ſchreibart der regelrechten Keilſchrift.</s>
  <s xml:id="echoid-s7207" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7208" xml:space="preserve">Leider iſt dieſes Lexikon von Ideogrammen vielfach be-
<pb o="79" file="0539" n="539"/>
ſchädigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7209" xml:space="preserve">Es fehlt bald rechts, bald links der erklärende Laut <lb/>und der überſetzte Sinn. </s>
  <s xml:id="echoid-s7210" xml:space="preserve">Gleichwohl iſt dieſer Schatz doch <lb/>noch in ſo weit erhalten, daß mit Nachhilfe der anderen Ent-<lb/>zifferungsmittel über den Inhalt ſehr wichtiger Keilſchrift-<lb/>dokumente kein Zweifel mehr obwaltet.</s>
  <s xml:id="echoid-s7211" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7212" xml:space="preserve">Welche Fülle von Aufſchlüſſen die glücklich erhaltenen und <lb/>ſorgſam zuſammengeſuchten Bruchſtücke der in Niniveh aufge-<lb/>fundenen Täfelchen nun auch gewähren, ſo ſehr bieten ſie doch <lb/>wiederum dem Forſcherſinn neue Rätſel dar. </s>
  <s xml:id="echoid-s7213" xml:space="preserve">Die Bemühungen <lb/>der Aſſyrer, die Ideogramme mitten in ihrer Silbenſchrift <lb/>ihrem Laute und ihrem Sinne nach zu erklären, läßt ſich nur <lb/>unter der Vorausſetzung begreifen, daß die Aſſyrer bei ihrem <lb/>Eindringen in das Land ein Kulturvolk vorgefunden und <lb/>unterjocht haben, welches bereits eine Schreibweiſe ſeiner uns <lb/>völlig unbekannten Sprache beſaß, daß hiernach eine viel <lb/>ältere Keilſchrift von den Eroberern in einzelnen Worten und <lb/>Ideen adoptiert worden und in die von den Aſſyrern gebrauchte <lb/>Silbenkeilſchrift übergegangen ſei, und daß man ſpäter, als <lb/>die Kenntnis der alten Schriftweiſe immer ſeltener wurde, zu <lb/>ſolchen Tabellen Zuflucht nehmen mußte, welche über Aus-<lb/>ſprache und Sinn der alten Schriftzeichen einen Aufſchluß <lb/>gaben.</s>
  <s xml:id="echoid-s7214" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7215" xml:space="preserve">Da man den Urſprung dieſer Ideogramme noch nicht mit <lb/>Sicherheit zu ermitteln imſtande war, ſo müſſen wir uns für <lb/>jetzt mit den glücklichen Ergebniſſen begnügen, die die auf-<lb/>gefundenen Tabellen uns zum Verſtändnis der Inſchriften <lb/>bieten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7216" xml:space="preserve">Allein auch dieſe Ergebniſſe ſind nicht ohne Schwierig-<lb/>keiten zu gewinnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7217" xml:space="preserve">Die Tabellen zeigen uns, daß nicht ſelten <lb/>ein und dasſelbe Ideogramm ſehr verſchieden ausgeſprochen <lb/>wurde und einen ſehr verſchiedenen Sinn hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s7218" xml:space="preserve">Es iſt gewiß <lb/>nicht wenig überraſchend, aus den aſſyriſchen Tabellen zu er-<lb/>ſehen, daß ideogrammiſch für “Angeſicht”, “Auge”, “Ohr”, <lb/>“Geſtalt”, “Vorderſeite” und ſogar für “Fuß” ein und dasſelbe
<pb o="80" file="0540" n="540"/>
Zeichen gilt, während an einer anderen Stelle für “Auge” und <lb/>“Mund” ein anderes Zeichen angegeben iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7219" xml:space="preserve">Der Umſtand, <lb/>daß gerade die populärſten Worte ideogrammiſch geſchrieben <lb/>wurden, wie “Tag”, “Sonnenaufgang”, “Sonnenuntergang”, <lb/>“Abend”, “Nacht”, “Erde”, “Vater”, “Mutter”, “Bruder”, <lb/>“Schweſter”, “Tochter”, “Sohn”, “Gott”, “Menſchen”, läßt <lb/>vermuten, daß in dem Zeitalter, wo die Keilinſchriften ver-<lb/>faßt wurden, die Volksſprache noch den Stempel der alten, <lb/>untergegangenen, nicht-ſemitiſchen Sprache in den gebräuch-<lb/>lichſten Gegenſtänden an ſich trug. </s>
  <s xml:id="echoid-s7220" xml:space="preserve">Hierdurch aber wird es <lb/>auch begreiflich, daß bei der großen Unvollſtändigkeit der auf-<lb/>gefundenen Tabellen nicht wenig Schwierigkeiten der voll-<lb/>ſtändigen Entzifferung der Inſchriften entgegentreten.</s>
  <s xml:id="echoid-s7221" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7222" xml:space="preserve">Gleichwohl dürfen wir jetzt mit Zuverſicht ſagen, daß das <lb/>Geheimnis der Keilſchrift enthüllt und die weitere und reichere <lb/>Ausbeute nur noch eine Frage der Zeit und der glücklichen <lb/>Ausbeute weiterer Hilfsmittel iſt, der ſich ſcharſſinnige Forſcher <lb/>bereits bemächtigt haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s7223" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7224" xml:space="preserve">Außer Hinks, der das Fundament zur Entzifferung durch <lb/>ſeine Entdeckung der Silbenſchrift gelegt hat, waren es nament-<lb/>lich <emph style="sp">Rawlinſon</emph> in England und <emph style="sp">Oppert</emph> in Frankreich, <lb/>welchen man die Enthüllung des von vielen geſuchten Geheim-<lb/>niſſes zu verdanken hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s7225" xml:space="preserve">Später hat ſich ein deutſcher Gelehrter, <lb/><emph style="sp">Eberhard Schrader</emph> (geb. </s>
  <s xml:id="echoid-s7226" xml:space="preserve">1836) das Verdienſt erworben, <lb/>durch zwei Werke einen offeneren Einblick in das bisher kaum <lb/>den Spezialiſten zugängliche Gebiet der Keilſchrift zu gewähren. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7227" xml:space="preserve">Die Ergebniſſe der Forſchungen ſind von ihm niedergelegt in dem <lb/>Werke: </s>
  <s xml:id="echoid-s7228" xml:space="preserve">“Die aſſyriſch-babyloniſchen Keilinſchriften”, worin die <lb/>Entzifferungsmethode kritiſch beleuchtet und in ihrer nunmehrigen <lb/>Zuverläſſigkeit nachgewieſen wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s7229" xml:space="preserve">Ein zweites Werk erſchien <lb/>unter dem Titel: </s>
  <s xml:id="echoid-s7230" xml:space="preserve">“Die Keilinſchriſten und das alte Teſtament”, <lb/>ein Werk, welchem man unbedingt die glänzendſte Beweis-<lb/>führung von der Richtigkeit der Entzifferung und der Wichtig-
<pb o="81" file="0541" n="541"/>
keit derſelben zur Kenntnis der älteſten Menſchengeſchichte nach-<lb/>rühmen darf.</s>
  <s xml:id="echoid-s7231" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7232" xml:space="preserve">Um unſeren Leſern einen Maßſtab für die Zuverläſſigkeit <lb/>der Entzifferung zu geben, wollen wir hier nur kurz die <lb/>Reihe der Hilfsmittel der bisherigen Erforſchungen erwähnen, <lb/>welche Schrader in dem erſtgenannten Werke in voller Aus-<lb/>führlichkeit behandelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7233" xml:space="preserve">Zunächſt bildet natürlich die Ver-<lb/>gleichung der dreiſprachigen Keilinſchriften, von welchen die <lb/>perſiſche vollkommen lesbar iſt, die Grundlage der Entzifferung. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7234" xml:space="preserve">Dieſe wäre denn auch längſt weiter vorgeſchritten, hauptſächlich <lb/>durch Enthüllung der Namen, die in den Inſchriften vor-<lb/>kommen, wenn nicht gerade die Eigennamen in den aſſyriſchen <lb/>Keilſchriften am meiſten durch ideographiſche Zeichen anſtatt <lb/>durch Silbenſchrift wiedergegeben wären. </s>
  <s xml:id="echoid-s7235" xml:space="preserve">Ein zweites, aus-<lb/>gezeichnetes Hilfsmittel der Entzifferung ſind die oft wörtlich <lb/>vorkommenden, gleichmäßigen Redensarten in den Inſchriften. </s>
  <s xml:id="echoid-s7236" xml:space="preserve"><lb/>Die Vergleichung ſolcher übereinſtimmenden Sätze zeigt ſehr <lb/>häufig, daß in der einen Stelle ein Wort, das in ideographiſcher <lb/>Schreibweiſe vorkommt, an einer anderen Stelle in regelrechter <lb/>Silbenſchrift wiedergegeben iſt, in welchem Falle natürlich das <lb/>rätſelhafte Ideogramm ſich am leichteſten erklärt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7237" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7238" xml:space="preserve">Vom unſchätzbarſten Werte für die Entzifferung ſind <lb/>natürlich die von den Aſſyrern ſelber herrührenden Tabellen, <lb/>welche man “Syllabare” nennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7239" xml:space="preserve">Die Vervollſtändigung dieſer <lb/>Syllabare ſchreitet unausgeſetzt fort, ſowohl durch neue Funde, <lb/>wie durch ſorgſame Zuſammenſetzung der bereits aufgefundenen <lb/>Bruchſtücke. </s>
  <s xml:id="echoid-s7240" xml:space="preserve">Sie gewähren die Hoffnung, daß die mannigfach <lb/>vorwaltenden Zweifel in der Löſung der noch rätſelhaften <lb/>Ideogramme ganz ſchwinden werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s7241" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7242" xml:space="preserve">Ein ferneres Hilfsmittel der Entzifferung ſind die bild-<lb/>lichen Darſtellungen, die rieſigen Wandreliefs, welche au Deut-<lb/>lichkeit der dargeſtellten Scenen nichts zu wünſchen übrig <lb/>laſſen, und einen zuverläſſigen Anhalt für den Sinn der In-</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7243" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s7244" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s7245" xml:space="preserve">Volksbücher XV.</s>
  <s xml:id="echoid-s7246" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="82" file="0542" n="542"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7247" xml:space="preserve">ſchriften bilden, welche ſich unter ſolchen Bildwerken vor-<lb/>finden.</s>
  <s xml:id="echoid-s7248" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7249" xml:space="preserve">Endlich kam auch teils die konſervative Tradition und <lb/>teils die freie Kombination der Enträtſelung zu Hilfe. </s>
  <s xml:id="echoid-s7250" xml:space="preserve">Die <lb/>Tradition, geſtützt auf einige bibliſche Angaben, hat zuerſt <lb/>richtig und glücklich auf die Thatſache hingewieſen, daß die <lb/>Aſſyrer ein Volk ſemitiſchen Stammes waren, und die Kühn-<lb/>heit der freien Kombination hat unter vielen Mißgriffen auch <lb/>manchen glücklichen Griff gethan, der in der Folge unter kritiſcher <lb/>Forſchung gut verwertet werden kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s7251" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7252" xml:space="preserve">Den größten Teil des Schraderſchen Werkes, welches nur <lb/>einleitend die erwähuten Hilfsmittel und die Methode der Ent-<lb/>zifferung behandelt, nimmt die Beweisführung für die Richtig-<lb/>keit der nunmehrigen Entzifferung ein. </s>
  <s xml:id="echoid-s7253" xml:space="preserve">Der hauptſächlichſte <lb/>Abſchnitt aber iſt dem Sprachbau der Keilſchrift gewidmet, der <lb/>dem ſcharfblickenden Auge der neueren Forſchung oft die zu-<lb/>verläſſigſten Merkmale der Abſtammung und des Charakters <lb/>einer unbekannten Sprache bietet.</s>
  <s xml:id="echoid-s7254" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7255" xml:space="preserve">Wie der Naturforſcher aus einem aufgefundenen Zahn auf <lb/>den Kiefer, vom Kiefer auf den Schädel, vom Schädel auf den <lb/>Knochenbau und vom Knochenbau auf das Weſen eines ganzen <lb/>längſt untergegangenen Tieres und ſeines Lebens in einer <lb/>untergegangenen Welt ſchließt, ſo und mit nicht minderer Zu-<lb/>verſicht ſchließt der neuere Sprachforſcher aus dem Bau ein-<lb/>zelner Worte einer ſelbſt ihm völlig unbekannten Sprache auf <lb/>den Bau, den grammatiſchen Charakter derſelben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7256" xml:space="preserve">Die Art <lb/>und Weiſe, wie in einer Sprache ein Wort in Deklination, <lb/>Konjugation, in Verbindung mit Fürwörtern 2c. </s>
  <s xml:id="echoid-s7257" xml:space="preserve">ſich verändert, <lb/>iſt nicht der Willkür des ſprechenden Volkes anheimgeſtellt, <lb/>ſondern folgt beſtimmten Geſetzen, in welchen ſich die Sprech-<lb/>weiſen nach beſtimmten Sprachſtämmen ſehr charakteriſtiſch <lb/>unterſcheiden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7258" xml:space="preserve">Auf der Baſis dieſer Sprachgeſetze haben bereits <lb/>früher namhafte Forſcher die Sprache der Aſſyrer als dem
<pb o="83" file="0543" n="543"/>
<emph style="sp">ſemitiſchen</emph> Stamme angehörig nachgewieſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7259" xml:space="preserve">Das Werk <lb/>von Schrader führt dieſen Beweis im weiteſten Umfange <lb/>durch und legt den Grund zu einer Richtigſtellung dieſer <lb/>Frage in einem ſo entſcheidenden Grade dar, daß fortan die <lb/>Keilſchrift nur ein Gebiet der ſemitiſchen Sprachforſchung <lb/>bilden wird, dem ſich kein Fachgelehrter mehr wird verſchließen <lb/>können.</s>
  <s xml:id="echoid-s7260" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7261" xml:space="preserve">Wir finden in Schraders Werken einen Schatz von Lich-<lb/>tungen und Aufklärungen hiſtoriſcher, geographiſcher, archäolo-<lb/>giſcher und ſprachlicher Fragen durch Vergleichungen der aſſy-<lb/>riſchen Altertümer mit der hebräiſchen Litteratur. </s>
  <s xml:id="echoid-s7262" xml:space="preserve">Wir finden <lb/>an 700 Themata dieſer Art in dem Werke behandelt, von <lb/>welchen jedes in ſeiner Weiſe wiſſenſchaftlich wertvoll iſt, in <lb/>ihrer Geſamtheit aber die Überzeugung befeſtigen, daß noch <lb/>weitere Entdeckungen und Enträtſelungen in den weſentlichſten <lb/>Punkten unſere Kenntnis nach beiden Richtungen hin erweitern <lb/>werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s7263" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7264" xml:space="preserve">Indem wir hier nur auf wenige dieſer Punkte hinweiſen <lb/>können, die auch den Laien zugänglich ſind, wollen wir vor-<lb/>weg bemerken, daß die längſt von engliſchen Gelehrten be-<lb/>haupteten Beziehungen zwiſchen den Funden in Aſſyrien und <lb/>den Schriften der Hebräer mit großem Mißtrauen gerade in <lb/>Deutſchland aufgenommen worden ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s7265" xml:space="preserve">Man fand es wunder-<lb/>lich und darum unglaublich, daß die Litteratur eines ſo kleinen <lb/>Ländchens wie Paläſtina über gar ſo vieles ſollte Aufſchluß <lb/>geben können, was in den Ruinen eines ungeheuer großen <lb/>Weltſtaates wie Aſſyrien aufgefunden wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s7266" xml:space="preserve">Es erſchien ſolche <lb/>Vorſtellung als eine Schrulle der bibelgläubigen Engländer <lb/>eben ſo belächelnswert, wie wenn jemand es unternehmen <lb/>wollte, aus den Archiven von Heſſen-Homburg die Geſchichte <lb/>des ruſſiſchen Staates zu enträtſeln.</s>
  <s xml:id="echoid-s7267" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7268" xml:space="preserve">Allein, berechtigte oder unberechtigte Zweifelſucht: </s>
  <s xml:id="echoid-s7269" xml:space="preserve">wo <lb/><emph style="sp">Thatſachen</emph> ſprechen, müſſen die Zweifel ſchweigen, und dieſe
<pb o="84" file="0544" n="544"/>
Thatſachen ſprechen nicht bloß in ihrer übergewaltigen Maſſen-<lb/>haftigkeit, ſondern auch in Aufſchlüſſen, welche eine ganz neue <lb/>Perſpektive der geſchichtlichen Ereigniſſe zeigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7270" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7271" xml:space="preserve">So klein das Ländchen Paläſtina iſt, eine ſo große Be-<lb/>deutung hatte es als die Vormauer von Suez, welches das <lb/>hochaufſtrebende, eroberungsſüchtige Aſien mit dem konſervativen, <lb/>in alter Kultur und in gewaltigen Reichtümern und Schätzen <lb/>prangenden Ägypten verbindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s7272" xml:space="preserve">Ein Eroberungszug nach <lb/>Ägypten war ein eben ſo unabwendbarer Ausſichtspunkt jedes <lb/>aſiatiſchen Herrſchers, wie ein Römerzug es während des <lb/>Mittelalters in Europa war. </s>
  <s xml:id="echoid-s7273" xml:space="preserve">Wer in Paläſtina feſten Fuß <lb/>hatte, der durfte hoffen, den Gegner zu überwinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7274" xml:space="preserve">Die Keil-<lb/>inſchriften erweiſen nun, daß dieſes Hineinreißen Paläſtinas <lb/>in die Händel der großen Weltbühne viel früher ſtattfand, als <lb/>man bisher nach den bibliſchen Angaben vermuten konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s7275" xml:space="preserve">Es <lb/>lichtet ſich hierdurch auch ſo manches wiſſenſchaftliche Rätſel <lb/>über die Spaltungen, welche ſich durchgehend zwiſchen der <lb/>konſervativen Hofpolitik, die ſtets ägyptiſch iſt, und der frei-<lb/>ſinnigen Politik der Propheten zeigt, die durchweg Ägypten <lb/>feindlich ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s7276" xml:space="preserve">Es ſtellt ſich jetzt ganz zweifellos heraus, daß <lb/>die Aſſyrer es ſchon an tauſend Jahre vor unſerer Zeitrechnung <lb/>verſtanden haben, das Ländchen Paläſtina ſich tributär zu <lb/>machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7277" xml:space="preserve">Die Stammverwandtſchaft mit Aſſyrien und die <lb/>volkstümliche, von allen Propheten unterſtützte politiſche An-<lb/>ſchauung, daß Ägypten das Land ſei, wo die Vorfahren in <lb/>ſchmachvoller Knechtſchaft gehalten wurden, machen es erklär-<lb/>lich, daß ſich in der Litteratur der Hebräer und in den Denk-<lb/>mälern der Aſſyrer viel engere Beziehungen ſpiegeln, als man <lb/>bisher für glaublich hielt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7278" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7279" xml:space="preserve">Dieſe Beziehungen geben ſich nun in ſo mannigfacher <lb/>Geſtalt und auf allen Gebieten des Volkslebens kund, daß <lb/>man deren Gewicht erſt in der gewaltigen Maſſenhaftigkeit er-<lb/>kennt, die das Werk von Schrader vorführt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7280" xml:space="preserve">Wir unſererſeits
<pb o="85" file="0545" n="545"/>
können nur Einzelnes andeuten, ſoweit es für das populäre <lb/>Verſtändnis zugänglich und intereſſant genug iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7281" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7282" xml:space="preserve">Bezeichnend für verwandte Volksbegriffe ſind in allen <lb/>Fällen die Namen der Götter. </s>
  <s xml:id="echoid-s7283" xml:space="preserve">In dieſem Punkte iſt es <lb/>charakteriſtiſch, daß “El” “Gott” im Hebräiſchen identiſch iſt <lb/>mit ilu, welches in den Keilinſchriften die Gottheit bedeutet. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7284" xml:space="preserve">Viel überraſchender aber iſt es, daß auch der Name “Jehovah” <lb/>oder richtiger “Jahve” keineswegs, wie man bisher glaubte, <lb/>ausſchließliches Eigentum der Hebräer iſt, ſondern bereits in <lb/>Keilinſchriften hohen Altertums, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7285" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7286" xml:space="preserve">bei den Hamathenſern <lb/>gebräuchlich, und zwar in demſelben Sinne in Königsnamen <lb/>und als Erſatz für “El” vorkommt, wie dies in hebräiſchen <lb/>Königsnamen der Fall iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7287" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7288" xml:space="preserve">In der Sage von Adam, Eva und deren Söhnen ſind <lb/>die von dem Dichter gewählten Namen vollkommen erklärt; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7289" xml:space="preserve">nur für “Abel” fehlt eine Erklärung. </s>
  <s xml:id="echoid-s7290" xml:space="preserve">Bisher begnügte man <lb/>ſich mit der Kombination, daß dies Wort in der hebräiſchen <lb/>Sprache “Hauch” bedeutet, obwohl man hierin keine treffende <lb/>Beziehung zu der Rolle, welche Abel in der Sage ſpielt, finden <lb/>konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s7291" xml:space="preserve">Die Keilinſchriften geben nunmehr eine vollauf be-<lb/>friedigende Erklärung. </s>
  <s xml:id="echoid-s7292" xml:space="preserve">“Habal” iſt ein echt ſemitiſches Wort, <lb/>welches “Sohn” bedeutet und bei den Aſſyrern unzählige <lb/>Male in Namen vorkommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7293" xml:space="preserve">Daß es in der hebräiſchen Litte-<lb/>ratur nicht ſonſt gebraucht wird, iſt — wie mannigfache andere <lb/>Fälle hinlänglich bekunden — kein Beweis gegen die Richtig-<lb/>keit dieſer Bedeutung.</s>
  <s xml:id="echoid-s7294" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7295" xml:space="preserve">Über die Entſtehung der großen Städte Aſſyriens und <lb/>das Wirken des gewaltigen “Nimrod” und ſeines Geſchlechtes <lb/>enthält die bibliſche Erzählung manch’ richtige, durch die Keil-<lb/>inſchriften beſtätigte, hiſtoriſche Notiz. </s>
  <s xml:id="echoid-s7296" xml:space="preserve">Nur ſind die erzählten <lb/>Thatſachen viel zu weit hinauf in das dunkle Altertum bald <lb/>nach der Zeit der ſogenannten Sintflut verſchoben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7297" xml:space="preserve">Die Keil-<lb/>inſchriften geben hierüber einen ſicheren Aufſchluß. </s>
  <s xml:id="echoid-s7298" xml:space="preserve">Eine dieſer
<pb o="86" file="0546" n="546"/>
Städte, die auch in der Bibel genannt wird, “Chalah”, iſt, <lb/>wie eine offizielle Inſchrift bekundet, von dem König Sal-<lb/>manaſſar dem Erſten um das Jahr 1300 vor unſerer Zeit-<lb/>rechnung und nicht, wie man nach der bibliſchen Darſtellung <lb/>annehmen ſollte, um zweitauſend Jahre früher gegründet. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7299" xml:space="preserve">“Chalah” ſelber iſt aber gleichfalls jetzt aufgefunden worden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7300" xml:space="preserve"><lb/>Es iſt nicht eine Stadt für ſich, ſondern der ſüdliche Teil von <lb/>Niniveh, das in ſeinem koloſſalen Umfang von vielen Einzel-<lb/>ſtädten, aus Paläſten der Könige nebſt ihren baulichen Um-<lb/>gebungen beſtehend, gebildet wurde.</s>
  <s xml:id="echoid-s7301" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7302" xml:space="preserve">Über den Turmbau zu Babel geben die Keilinſchriften <lb/>einen ſehr intereſſanten Aufſchluß.</s>
  <s xml:id="echoid-s7303" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7304" xml:space="preserve">Weſtlich von Babylon fand man die Ruinen eines Turmes <lb/>vor, welcher “Birs Nimrud” “Turm des Nimrod” genannt wird. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7305" xml:space="preserve">Wer der Erbauer desſelben geweſen, weiß man noch nicht; </s>
  <s xml:id="echoid-s7306" xml:space="preserve"><lb/>wohl aber hat man eine in zwei Exemplaren aufgefundene <lb/>Keilſchrift entdeckt, worin der König Nebukadnezar ſelber <lb/>erzählt, daß er den unvollſtändigen, ruinenhaften, heiligen Bau <lb/>vollendet habe. </s>
  <s xml:id="echoid-s7307" xml:space="preserve">Die Inſchrift lautet nach Schraders Über-<lb/>ſetzung wie folgt:</s>
  <s xml:id="echoid-s7308" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7309" xml:space="preserve">Wir verkünden folgendes: </s>
  <s xml:id="echoid-s7310" xml:space="preserve">Der Tempel der ſieben <lb/>Leuchten der Erde, der Turm von Vorſippe, welchen ein <lb/>früherer König errichtet hatte — man berechnet ihn auf 42 <lb/>Ellen — deſſen Spitze er aber nicht aufgeſetzt hatte, war <lb/>ſeit vielen Tagen verfallen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7311" xml:space="preserve">Es hatte keine richtige Beſor-<lb/>gung der Abzugskanäle für das Waſſer desſelben ſtatt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7312" xml:space="preserve">Regen <lb/>und Unwetter hatten fortgeſpült ſeine Backſteine. </s>
  <s xml:id="echoid-s7313" xml:space="preserve">Die Ziegel <lb/>ſeiner Bedachung waren geborſten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7314" xml:space="preserve">Die Backſteine des <lb/>eigentlichen Gebäudes waren fortgeſchwemmt zu Trümmer-<lb/>haufen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7315" xml:space="preserve">Ihn auszubeſſern trieb der große Gott Merodach <lb/>mir den Sinn an. </s>
  <s xml:id="echoid-s7316" xml:space="preserve">Seinen Ort indeſſen beſchädigte ich nicht, <lb/>nicht änderte ich ſeine Grundmauern. </s>
  <s xml:id="echoid-s7317" xml:space="preserve">In einem Monate <lb/>des Heils, an einem günſtigen Tage beſſerte ich die Back-
<pb o="87" file="0547" n="547"/>
ſteine ſeines Gebäudes und die Ziegel ſeiner Bedachung zu <lb/>feſtverbundenem Mauerwerk aus, erneuerte ſein Balkenwerk <lb/>und brachte die Schrift eines Namens an dem Kranze <lb/>ſeiner erneuerten Mauern an. </s>
  <s xml:id="echoid-s7318" xml:space="preserve">Es zu vollenden und ſeine <lb/>Spitze aufzuſetzen, erhob ich meine Hand. </s>
  <s xml:id="echoid-s7319" xml:space="preserve">Wie vor Alters <lb/>gründete, erbaute ich ihm den Turm — wie in jenen Tagen <lb/>errichtete ich ſeine — des Tempels — Spitze.</s>
  <s xml:id="echoid-s7320" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7321" xml:space="preserve">Aus dieſer Inſchrift geht hervor, daß der Turm zu Babel <lb/>freilich eine alte, berühmte Ruine war, welche indeſſen trotz der <lb/>Intervention Jehovahs beinahe vollendet wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s7322" xml:space="preserve">Der bibliſche <lb/>Erzähler lebte alſo vor Nebukadnezar und teilte eine Sage mit, <lb/>welche ſich, wie dies ſo häufig der Fall iſt, an die Exiſtenz <lb/>der Ruine knüpfte.</s>
  <s xml:id="echoid-s7323" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7324" xml:space="preserve">Für den Namen “Babel” (Babylon) hat der bibliſche Er-<lb/>zähler eine Erklärung, durch welche er in einer leichten Um-<lb/>ſchreibung des Wortes in “Balal” die Sprachenvermiſchung <lb/>bezeichnet ſieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7325" xml:space="preserve">Es läßt ſich nicht leugnen, daß der Dichter <lb/>der bibliſchen Sage guten Grund hatte, die Sprachenvermiſchung <lb/>ſeines Zeitalters nach Babylon zu verſetzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7326" xml:space="preserve">Dahin führten <lb/>nämlich die Welteroberer alle Gebildeten und Großen der <lb/>unterjochten Staaten in Gefangenſchaft und errichteten daſelbſt <lb/>ein Weltall im Kleinen, wo ſich mit den verſchiedenſten Sprachen <lb/>auch die verſchiedenſten Ideen verwebten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7327" xml:space="preserve">Vom national-<lb/>politiſchen Standpunkt aus hatte freilich der bibliſche Dichter <lb/>ein berechtigtes Intereſſe, darin eine Sprachenverwirrung zu <lb/>ſehen und eine Auflöſung der Gemeinſchaft zu prophezeien, <lb/>obwohl dieſe Epoche auf die hebräiſche Litteratur einen durch-<lb/>aus günſtigen Eindruck hervorbrachte. </s>
  <s xml:id="echoid-s7328" xml:space="preserve">Die Emigranten in <lb/>Babylon, — das bezeugt der ſogenannte zweite Jeſaias — <lb/>haben ein viel reineres und beſſeres und ideenreicheres Hebräiſch <lb/>geſchrieben, als das gemeine Volk, welches die Eroberer in <lb/>Paläſtina zurückgelaſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7329" xml:space="preserve">Es zeigte ſich bei ihnen eine Er-<lb/>ſcheinung, welche wir in den letzten Jahrzehnten bei den Polen
<pb o="88" file="0548" n="548"/>
wahrnehmen, deren Emigration in Paris und Brüſſel ihrer <lb/>Nationallitteratur viel mehr Ehre gemacht hat, als die daheim-<lb/>gebliebene, ungebildete und unterdrückte Bevölkerung.</s>
  <s xml:id="echoid-s7330" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7331" xml:space="preserve">Aber, hiſtoriſch betrachtet, ſtellt ſich die Erklärung des <lb/>Namens “Babel” anders heraus. </s>
  <s xml:id="echoid-s7332" xml:space="preserve">Die Keilinſchriften ergeben, <lb/>daß die urſprüngliche Ausſprache dieſes Namens “Babil” <lb/>lautete. </s>
  <s xml:id="echoid-s7333" xml:space="preserve">“Bab” heißt “Pforte,” “Heiligtum”, und “Il” iſt der <lb/>Name eines Gottes, der dem “Bel” am Range gleichſtand, <lb/>wie eine alte Keilinſchrift bekundet. </s>
  <s xml:id="echoid-s7334" xml:space="preserve">“Bab-il” hieß alſo: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7335" xml:space="preserve">Heiligtum des Gottes “Il”. </s>
  <s xml:id="echoid-s7336" xml:space="preserve">Eine nähere Bezeichnung von <lb/>Städten mit dem Titel “Bab” findet ſich, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7337" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7338" xml:space="preserve">“Bab-<lb/>Dur” d. </s>
  <s xml:id="echoid-s7339" xml:space="preserve">i. </s>
  <s xml:id="echoid-s7340" xml:space="preserve">“Pforte der Feſtung”, auch anderweitig.</s>
  <s xml:id="echoid-s7341" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7342" xml:space="preserve">Sehr intereſſant iſt es, daß die Staaten Ammon und <lb/>Moab unter den Titeln “Bit-Ammon” und Mabn” in den <lb/>Keilſchriften vorkommen und die Hoffnung gewähren, daß auch <lb/>deren ſehr unvollkommen bekannte Geſchichte eine Lichtung <lb/>durch alte Dokumente erfahren werde. </s>
  <s xml:id="echoid-s7343" xml:space="preserve">Seit einigen Jahren, <lb/>nachdem eine moabitiſche Inſchriftſäule aus dem 7. </s>
  <s xml:id="echoid-s7344" xml:space="preserve">Jahrhundert <lb/>v. </s>
  <s xml:id="echoid-s7345" xml:space="preserve">Chr. </s>
  <s xml:id="echoid-s7346" xml:space="preserve">aufgefunden worden iſt, weiß man, daß die Sprache <lb/>des dortigen Landes die hebräiſche war. </s>
  <s xml:id="echoid-s7347" xml:space="preserve">Durch die vollſtändig <lb/>lesbare Inſchrift lernte man auch ein wichtiges Stück Ge-<lb/>ſchichte kennen, welches in der Bibel nur in ſehr verſtümmelter <lb/>Form angedeutet iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7348" xml:space="preserve">Wir dürfen alſo hoffen, daß dieſe im <lb/>Verein mit weiteren Entzifferungen der Keilinſchriften die <lb/>Kenntnis der Geſchichte der untergegangenen Staaten bereichern <lb/>werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s7349" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7350" xml:space="preserve">In einem Punkte zeigen ſchon jetzt die Keilinſchriften <lb/>und die aufgefundene moabitiſche Inſchriftſäule eine über-<lb/>raſchende Übereinſtimmung. </s>
  <s xml:id="echoid-s7351" xml:space="preserve">Nach den bibliſchen Erzählungen <lb/>ſollte man meinen, daß das Reich “Israel” auch unter dieſem <lb/>anſcheinend offiziellen Namen bekannt und anerkannt geweſen <lb/>wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s7352" xml:space="preserve">Dies war aber durchaus nicht der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s7353" xml:space="preserve">Schon in <lb/>der moabitiſchen Inſchriftſäule kommt das Reich Israel unter
<pb o="89" file="0549" n="549"/>
dem Namen “Haus Omri” vor. </s>
  <s xml:id="echoid-s7354" xml:space="preserve">Da der Name Israel einen <lb/>glorifizierenden Charakter hat und ſoviel wie “Gotteskämpfer” <lb/>bedeutet, ſo könnte man annehmen, daß die ihm feindlichen <lb/>Moabiter abſichtlich dieſen Namen verleugnen und das Land <lb/>nach dem israelitiſchen König “Omri” benennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7355" xml:space="preserve">Jetzt jedoch <lb/>erweiſt ſich aus Keilinſchriften, daß “Bit-Omri” d. </s>
  <s xml:id="echoid-s7356" xml:space="preserve">i. </s>
  <s xml:id="echoid-s7357" xml:space="preserve">“Haus <lb/>Omri” der wirkliche offizielle Titel dieſes Reiches war. </s>
  <s xml:id="echoid-s7358" xml:space="preserve">Der <lb/>Name “Israel” kommt in den vielen, aſſyriſchen, offiziellen <lb/>Dokumenten nicht vor. </s>
  <s xml:id="echoid-s7359" xml:space="preserve">Es ſcheint ſich hierin die Anſicht zu <lb/>beſtätigen, daß dieſer Name nur eine verherrlichende Um-<lb/>ſchreibung des Namens “Jeſreel”, einer Hochebene, iſt, in <lb/>welcher die wichtigſten Schlachten in alten Zeiten ſpielten, und <lb/>in der auch ſpäter eine Hauptſtadt gleichen Namens zur Reſidenz <lb/>erhoben wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s7360" xml:space="preserve">Der Name, mit welchem man urſprünglich <lb/>die Bewohner dieſer Ebene als die “Söhne Jeſreel” bezeichnete, <lb/>wurde dann von nationalen Dichtern in den glorreicheren <lb/>Namen “Söhne Iſraels” umgewandelt und dem Reiche zuge-<lb/>ſchrieben, ohne in Wirklichkeit im Auslande unter dieſem Namen <lb/>anerkaunt worden zu ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s7361" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7362" xml:space="preserve">Wir übergehen die reiche Ausbeute, welche das Werk <lb/>Schraders in hiſtoriſcher, geographiſcher und archäologiſcher <lb/>Beziehung im ganzen Bereiche der Vergleichung bibliſcher Er-<lb/>zählungen und aſſyriſcher Inſchriften darbietet, um die bekannte <lb/>Kataſtrophe von Sanherib vor Jeruſalem in einer ausführ-<lb/>licheren Darſtellung nach den Keilinſchriften geben zu können. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7363" xml:space="preserve">Es bietet dieſe Inſchrift bei allem reichen Material, wodurch <lb/>ſie die Geſchichte vervollſtändigt, auch eine intereſſante Gelegen-<lb/>heit, die Art und Weiſe kennen zu lernen, wie gut auch aſſy-<lb/>riſche Tyrannen in offiziellen Denkmälern ihre Niederlagen zu <lb/>verdecken und zu verſtecken wußten.</s>
  <s xml:id="echoid-s7364" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7365" xml:space="preserve">Sanherib hat für eine ſehr reiche Inſchriftenlitteratur zur <lb/>Verkündigung ſeines Ruhmes geſorgt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7366" xml:space="preserve">Sein Name — der <lb/>eigentlich “Sin-achi-irba” lautet und ſoviel bedeutet, wie “Sin”,
<pb o="90" file="0550" n="550"/>
der Mondgott, “giebt der Brüder viele” — findet ſich auf <lb/>den Bauſteinen des von ihm in Niniveh errichteten Pracht-<lb/>baues. </s>
  <s xml:id="echoid-s7367" xml:space="preserve">Laut dem Regentenverzeichnis Aſſyriens regierte er, <lb/>als Sohn und Nachfolger Sargons, von 705 bis 681 vor <lb/>unſerer Zeitrechnung. </s>
  <s xml:id="echoid-s7368" xml:space="preserve">Unter den Ruinen ſeines Palaſtes <lb/>fanden ſich teils größere, teils kleinere Inſchriften auf Thon-<lb/>cylindern, Thontäfelchen, Alabaſterplatten vor. </s>
  <s xml:id="echoid-s7369" xml:space="preserve">Desgleichen <lb/>entdeckte man eine Inſchrift auf einem Felſen zu Bavian, <lb/>nördlich von Niniveh. </s>
  <s xml:id="echoid-s7370" xml:space="preserve">Am wichtigſten zur Kenntnis ſeiner <lb/>Geſchichte iſt eine Cylinderinſchrift, welche ausführlich die <lb/>Annalen ſeiner erſten acht Feldzüge enthält. </s>
  <s xml:id="echoid-s7371" xml:space="preserve">Wir beſitzen aber <lb/>auch eine kleine Inſchrift über einem Bilde, welches den König <lb/>Sanherib auf einem Throne ſitzend zeigt, wie er jüdiſche Ge-<lb/>fangene empfängt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7372" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7373" xml:space="preserve">Die Cylinderinſchrift iſt für den Geiſt der damaligen Zeit <lb/>und für die Kenntnis der Detailgeſchichte von großer Wich-<lb/>tigkeit, weshalb ſie im Werke von Schrader eine ſehr aus-<lb/>führliche und ergebnisreiche Behandlung findet. </s>
  <s xml:id="echoid-s7374" xml:space="preserve">Die Inſchrift <lb/>iſt aber auch ſo charakteriſtiſch für das ganze Weſen der <lb/>offiziellen Dokumente der Aſſyrer, daß wir ſie unſeren Leſern <lb/>gern unverkürzt vorführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7375" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7376" xml:space="preserve">Es lautet dieſelbe wie folgt:</s>
  <s xml:id="echoid-s7377" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7378" xml:space="preserve">In meiner dritten Kriegsunternehmung zog ich gegen <lb/>das Land Chatti. </s>
  <s xml:id="echoid-s7379" xml:space="preserve">Eluäus, der König von Sidon, ihn über-<lb/>fiel der gewaltige Schrecken meiner Herrſchaft, und er floh weit-<lb/>hin mitten in das Meer. </s>
  <s xml:id="echoid-s7380" xml:space="preserve">Sein Land brachte ich in Botmäßig-<lb/>keit. </s>
  <s xml:id="echoid-s7381" xml:space="preserve">Groß-Sidon und Klein-Sidon, Beth Zilli, Sarepta <lb/>Machallib, Schemoſch, Akzib, Akko, ſeine feſten Städte und <lb/>ſeine offenen und unbeſetzten Plätze, ſeine Prachtpaläſte — es <lb/>hatte ſie der Schrecken vor den Waffen Aſurs, meines Herrn, <lb/>überwältigt — unterwarfen ſich mir. </s>
  <s xml:id="echoid-s7382" xml:space="preserve">Den Ethobal ſetzte ich <lb/>auf den königlichen Thron über ſie, und die Leiſtung des Tri-<lb/>buts meiner Herrſchaft legte ich ihm als dauernde Abgabe auf.</s>
  <s xml:id="echoid-s7383" xml:space="preserve">
<pb o="91" file="0551" n="551"/>
Es brachten Menahem von Samarien, Ethobal von Sidon, <lb/>Abdilit von Arvat, Uruiski von Byblos, Mitinti von Asdod, <lb/>Puduil von Ammon, Kamosnadab von Moab, Malikram von <lb/>Edom, die ſämtlichen Könige des Weſtlands an den Marken <lb/>der Herrſchaft ihre reichen Geſchenke und Koſtbarkeiten mir dar <lb/>und küßten meine Füße.</s>
  <s xml:id="echoid-s7384" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7385" xml:space="preserve">Zidka aber von Askalon, der ſich unter mein Joch nicht <lb/>gebeugt hatte: </s>
  <s xml:id="echoid-s7386" xml:space="preserve">ich führte die Götter des Hauſes ſeines Vaters, <lb/>die Schätze, ſeine Gattin, ſeine Söhne, ſeine Töchter, ſeine <lb/>Brüder, die Familie des Hauſes ſeines Vaters fort und brachte <lb/>ſie nach Aſſyrien. </s>
  <s xml:id="echoid-s7387" xml:space="preserve">Sarludari, den Sohn des Rukibiti, ihren <lb/>früheren König, ſetzte ich über die Leute von Askalon und <lb/>legte ihm die Leiſtung von Tribut auf, als Zeichen der Unter-<lb/>würfigkeit unter meine Herrſchaft, und er leiſtete Gehorſam. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7388" xml:space="preserve">Im Fortgang meiner Kriegsunternehmungen rückte ich wider <lb/>Beth-Dagon, Joppe, Beneberak, Azur, die Städte Zidkas, <lb/>welche ſich mir nicht in Botmäßigkeit gefügt hatten, nahm ſie <lb/>ein, führte ihre Gefangenen fort.</s>
  <s xml:id="echoid-s7389" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7390" xml:space="preserve">Die oberſten Beamten, die Großen und das Volk von <lb/>Ekron, welche Padi ihren König, meinen Bundesgenoſſen und <lb/>Vaſallen Aſſyriens, in eiſerne Bande geſchlagen und dem Hizkia <lb/>von Juda in feindlicher Abſicht im Schatten der Nacht über-<lb/>liefert hatten: </s>
  <s xml:id="echoid-s7391" xml:space="preserve">es fürchte ſich ihr Herz! Die Könige von <lb/>Ägypten hatten die Bogenſchützen, den Wagen, die Roſſe des <lb/>Königs von Meroe (Äthiopien), unzählige Scharen, herbei-<lb/>gerufen, und dieſe zogen zu ihrer Hilfe aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s7392" xml:space="preserve">In der Nähe <lb/>von Altaku ward mir gegenüber die Schlachtordnung aufge-<lb/>ſtellt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7393" xml:space="preserve">Sie riefen ihre Truppen auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s7394" xml:space="preserve">Im Vertrauen auf <lb/>Aſur, meinen Herrn, kämpfte ich mit ihnen und brachte ihnen <lb/>eine Niederlage bei. </s>
  <s xml:id="echoid-s7395" xml:space="preserve">Die Wagenlenker und die Söhne des <lb/>ägyptiſchen Königs ſamt den Wagenlenkern des Königs von <lb/>Meroe nahmen meine Hände lebend mitten in der Schlacht ge-<lb/>fangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7396" xml:space="preserve">Die Städte Altaku, Timnath griff ich an, nahm ſie
<pb o="92" file="0552" n="552"/>
ein, führte die Gefangenen fort. </s>
  <s xml:id="echoid-s7397" xml:space="preserve">Gegen die Stadt Ekron rückte <lb/>ich, die höchſten Beamten, die Großen, welche Rebellion ge-<lb/>macht hatten, fötete ich; </s>
  <s xml:id="echoid-s7398" xml:space="preserve">auf Pfählen der Ringmauer der <lb/>Stadt ſpießte ich ihre Leichname auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s7399" xml:space="preserve">Die Söhne der Stadt, <lb/>welche Gewaltthätigkeit und Bedrückung geübt hatten, be-<lb/>ſtimmte ich zur Wegführung. </s>
  <s xml:id="echoid-s7400" xml:space="preserve">Die übrigen Bewohner, welche <lb/>ſich nicht an dem Aufruhr und den Schandthaten beteiligt <lb/>hatten, deren Amneſtie verkündete ich. </s>
  <s xml:id="echoid-s7401" xml:space="preserve">Ich bewirkte, daß Padi, <lb/>ihr König, Jeruſalem verlaſſen konnte, inſtallierte ihn auf <lb/>ſeinem Herrſcherſitze über ſie und legte ihm den Tribut meiner <lb/>Herrſchaft auf.</s>
  <s xml:id="echoid-s7402" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7403" xml:space="preserve">Hizkia aber von Juda, welcher ſich mir nicht unterwarf: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7404" xml:space="preserve">ſechsundvierzig ſeiner befeſtigten Städte, zahlloſe Burgen und <lb/>kleinere Örter, die in ihrem Bereich lagen, bewarf ich mit Pat-<lb/>bus . </s>
  <s xml:id="echoid-s7405" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7406" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7407" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7408" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7409" xml:space="preserve">(?) </s>
  <s xml:id="echoid-s7410" xml:space="preserve">und den Angriff . </s>
  <s xml:id="echoid-s7411" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7412" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7413" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7414" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7415" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7416" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7417" xml:space="preserve">mit Belagerungs-<lb/>maſchinen machte ich einen Angriff auf ſie, nahm ſie ein. </s>
  <s xml:id="echoid-s7418" xml:space="preserve"><lb/>200 150 Menſchen, männlichen und weiblichen Geſchlechtes, <lb/>Pferde, Maultiere, Eſel, Kamele, Rinder, Schafe ohne Zahl <lb/>führte ich aus denſelben fort und erklärte ſie für Kriegsbeute. </s>
  <s xml:id="echoid-s7419" xml:space="preserve"><lb/>Ihn ſelber ſchloß ich wie einen Vogel im Käſig in Jeruſalem, <lb/>ſeiner Königſtadt, ein. </s>
  <s xml:id="echoid-s7420" xml:space="preserve">Befeſtigungen führte ich wider ſie auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s7421" xml:space="preserve"><lb/>Den Ausgang des großen Thores ſeiner Stadt ließ ich durch-<lb/>brechen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7422" xml:space="preserve">Seine Städte, deren (Bewohner) ich zu Gefangenen <lb/>machte, trennte ich von ſeinem Gebiet ab und gab ſie Mitinti, <lb/>dem Könige von Asdod, Padi, dem Könige von Ekron und <lb/>Ismibil, dem Könige von Gaza. </s>
  <s xml:id="echoid-s7423" xml:space="preserve">So verkleinerte ich ſein <lb/>Gebiet. </s>
  <s xml:id="echoid-s7424" xml:space="preserve">Zu dem früheren Tribut fügte ich als Tribut der <lb/>Unterwürfigkeit unter meine Herrſchaft eine Abgabe von ihrem <lb/>Vermögen, legte ſolche ihnen auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s7425" xml:space="preserve">Ihn, den Hizkia, ergriff <lb/>ein gewaltiger Schrecken vor meiner Herrſchaft, ebenſo die <lb/>Beſatzungstruppen und ſeine Leute, welche er zur Verteidigung <lb/>von Jeruſalem, ſeiner Königsſtadt, hineingenommen hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s7426" xml:space="preserve"><lb/>So verſtand er ſich zu Tributleiſtungen, uämlich 30 Talente
<pb o="93" file="0553" n="553"/>
Goldes und 800 Talente Silbers. </s>
  <s xml:id="echoid-s7427" xml:space="preserve">Metallarbeiten (?)</s>
  <s xml:id="echoid-s7428" xml:space="preserve">, rot-<lb/>ſchimmernde Steine, . </s>
  <s xml:id="echoid-s7429" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7430" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7431" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7432" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7433" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7434" xml:space="preserve">große Edelſteine, . </s>
  <s xml:id="echoid-s7435" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7436" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7437" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7438" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7439" xml:space="preserve">. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7440" xml:space="preserve">Holz, Beſchläge für Prachtſeſſel, Gegenſtände aus dem Felle des <lb/>Amſi, Horn (?) </s>
  <s xml:id="echoid-s7441" xml:space="preserve">vom Amſi, Sandelholz (?)</s>
  <s xml:id="echoid-s7442" xml:space="preserve">, Ebenholz (?)</s>
  <s xml:id="echoid-s7443" xml:space="preserve">, reiche <lb/>Schätze, ſowie auch ſeine Töchter, ſeine Palaſtfrauen, ſeine <lb/>männlichen nud weiblichen Haremsdiener mir nach Niniveh, <lb/>meinem Herrſcherſitz, nachführen ließ. </s>
  <s xml:id="echoid-s7444" xml:space="preserve">Zu der Zahlung des <lb/>Tributs und dem Angelöbnis der Untergebenheit ſchickte er <lb/>ſeinen Geſandten.</s>
  <s xml:id="echoid-s7445" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7446" xml:space="preserve">Dieſe Inſchrift, welche ſich auf einem ſechsſeitigen Cylinder <lb/>befindet, iſt mit noch anderen Schriften kürzerer Faſſung in <lb/>den Hauptſachen übereinſtimmend. </s>
  <s xml:id="echoid-s7447" xml:space="preserve">Sie geben ſowohl ſtrategiſch <lb/>wie politiſch wichtige Aufſchlüſſe über die in der Bibel nicht <lb/>völlig klare Geſchichte des Feldzuges. </s>
  <s xml:id="echoid-s7448" xml:space="preserve">Aber ſie ſind in dem <lb/>Hauptpunkte prahleriſch gefärbt, um es zu verdecken, daß der <lb/>Aſſyrer unverrichteter Sache von Jeruſalem abziehen mußte. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7449" xml:space="preserve">Die Eroberer wußten nicht nur Geſchichte zu machen, ſondern <lb/>auch, wo es ihnen paßte, ſie zu fälſchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7450" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7451" xml:space="preserve">Die Sprache der großen Sanheribiuſchrift iſt die aller <lb/>Eroberer. </s>
  <s xml:id="echoid-s7452" xml:space="preserve">Sie kann als Maßſtab für die anderen zahlreichen <lb/>aſſyriſchen Inſchriften gelten, in welchen die Helden ihre Siege <lb/>verewigen und ihre Niederlagen verdecken und dadurch die Ge-<lb/>ſchichte in nicht geringem Grade verfälſchten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7453" xml:space="preserve">Der Sanherib-<lb/>zug hat aber auch litterariſch einige charakteriſtiſche Bilder und <lb/>Redewendungen aufgebracht, welche ſich bis auf den heutigen <lb/>Tag in ungeſchwächter Kraft erhalten haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7454" xml:space="preserve">Sanherib ver-<lb/>ſtand es, in ſeinen Proklamationen die Völker gründlich auf-<lb/>zuwühlen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7455" xml:space="preserve">Vor Jeruſalem ging ſein Herold ſoweit, dem <lb/>Volke zuzurufen, daß “Jehovah” ſeinem Herrn den Befehl <lb/>erteilt habe, das Land zu bekriegen und zu zerſtören. </s>
  <s xml:id="echoid-s7456" xml:space="preserve">Aus <lb/>einer Proklamation Sanheribs ſtammt das noch jetzt gebräuch-<lb/>liche Bild her: </s>
  <s xml:id="echoid-s7457" xml:space="preserve">“Wie verlaſſet Ihr Euch,” ruft er aus, “auf <lb/>Ägypten, dieſes geknickte Rohr, das zerbricht und die Hand
<pb o="94" file="0554" n="554"/>
deſſen verwundet, der ſich darauf ſtützt?</s>
  <s xml:id="echoid-s7458" xml:space="preserve">” Auch die große <lb/>Keilinſchrift bedient ſich eines Bildes, das ſicherlich nicht zu-<lb/>fällig mit Worten zuſammentrifft, welche der Prophet Jeſaias <lb/>dem hochmütigen Feind in den Mund legt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7459" xml:space="preserve">In der Inſchrift <lb/>rühmt ſich Sanherib, wie wir geſehen haben, daß er den König <lb/>Hizkia “wie einen Vogel im Käfig in Jeruſalem eingeſchloſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7460" xml:space="preserve">” <lb/>Aus den Worten, welche ſich im Jeſaias als Citat aus einer <lb/>Proklamation Sanheribs vorfinden, erſieht man, daß der <lb/>Eroberer ſich im Bilde des unwiderſtehlichen Vogelſtellers <lb/>ſehr gefiel. </s>
  <s xml:id="echoid-s7461" xml:space="preserve">“Wie Vogelneſter hebt meine Hand die Reich-<lb/>tümer der Länder aus, und wie man verlaſſene Eier ſammelt, <lb/>habe ich aufgerafft die ganze Welt, und da war niemand, der <lb/>den Flügel regte und den Mund aufthat zum Zwitſchern.</s>
  <s xml:id="echoid-s7462" xml:space="preserve">” Es <lb/>ſcheint ſo, als ob Sanherib ſelbſt dort, wo er das Neſt nicht <lb/>ausheben konnte, ſich doch mindeſtens noch mit dem Bilde <lb/>tröſten mochte, den Vogel eine Zeit lang in den Käfig ein-<lb/>geſperrt zu haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s7463" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7464" xml:space="preserve">Wie ſo manch’ treffendes Wort ſich oft überträgt auf ferne <lb/>Zeiten, wo der Urſprung ſelber der Vergeſſenheit anheimfällt, <lb/>ſo mochte wohl der Dichter des Pſalms 124 in dem Bilde <lb/>“des Vogels, der dem Netz entflieht”, eben ſo wenig eine <lb/>Ahnung davon haben, wem das Original dieſes Bildes ge-<lb/>hört, ſo wenig heutigen Tages ein Redner es ſich in den <lb/>Sinn kommen läßt, daß er mit dem Bilde des “zerbrechlichen <lb/>Rohres” einem Helden der Keil-Inſchriften die Worte ent-<lb/>lehnt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7465" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7466" xml:space="preserve">Laut Bericht der Bibel ſoll Sanherib von zweien ſeiner <lb/>Söhne im Tempel des Gottes “Nisroch” ermordet worden ſein. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7467" xml:space="preserve">Die Keil-Inſchriften wiſſen von dieſer Mordthat nichts. </s>
  <s xml:id="echoid-s7468" xml:space="preserve">Sein <lb/>Tod erfolgte im Jahre 681 vor unſerer Zeitrechnung, wo ſein <lb/>Sohn Aſſarhadun den Thron beſteigt, womit denn aber auch <lb/>die Epoche der aſſyriſchen Eroberungen erliſcht und die der <lb/>Babylonier ihren Platz in der Geſchichte einnimmt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7469" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="95" file="0555" n="555"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7470" xml:space="preserve">Je weniger erquicklich es dem Kulturfreunde iſt, mit ſo <lb/>großer Aufopferung ein untergegangenes, blutiges Heldentunt <lb/>aus dem Strom der Vergeſſenheit zu retten, um ſo tröſtlicher <lb/>iſt die Wahrnehmung, daß in den aſſyriſchen Altertümern <lb/>mehr gerettet worden iſt, als die Kunde von unerſättlicher Er-<lb/>oberungsſucht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7471" xml:space="preserve">Der Schatz iſt übergroß; </s>
  <s xml:id="echoid-s7472" xml:space="preserve">es fehlt nur noch <lb/>an Kräften, welche die Hebung desſelben vollenden helfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7473" xml:space="preserve">Die <lb/>großen Inſchriften, welche zunächſt die Aufmerkſamkeit der <lb/>Forſcher in Anſpruch nehmen, bieten freilich wichtige Auf-<lb/>ſchlüſſe für die Altertumskunde, obwohl ſie in ethiſcher Be-<lb/>ziehung einen Schauder erregen wegen des maßloſen Blutver-<lb/>gießens. </s>
  <s xml:id="echoid-s7474" xml:space="preserve">Dafür jedoch verſprechen die unzähligen, kleinen <lb/>Täfelchen, welche noch der Entzifferung ihres Inhaltes harren, <lb/>ein reichhaltiges Material zur Kenntnis des Kulturzuſtandes <lb/>der damaligen Zeit, der ein überraſchend hoher war, was man <lb/>ſchon aus der Art, wie Proklamationen, Regententafeln, Re-<lb/>gierungs-Erlaſſe, Verwaltungs-Reſkripte, grammatiſche Regeln, <lb/>ja vielleicht gar Unterrichts-Schriften durch Stereotyp-Abdrücke <lb/>vervielfältigt wurden, mit Recht ſchließen muß.</s>
  <s xml:id="echoid-s7475" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7476" xml:space="preserve">Freilich hinterlaſſen derartige Betrachtungen auch einen <lb/>betrübenden Eindruck, daß eine ſo hohe Kultur doch wieder <lb/>ein Raub wilder Eroberung werden und ſpurlos im Staub <lb/>der Jahrtauſende verſchwinden konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s7477" xml:space="preserve">Es ſcheinen ſolche <lb/>Wahrnehmungen die Zuverſicht unſerer philanthropiſchen Theorie <lb/>“<emph style="sp">vom ſiegreichen Fortſchritt des Menſchengeiſtes</emph>“ <lb/>ſtark zu erſchüttern und die traurige Perſpektive als Möglich-<lb/>keit zuzulaſſen, daß auch unſere europäiſche Kultur einmal <lb/>einem ähnlichen Geſchick verfallen könnte.</s>
  <s xml:id="echoid-s7478" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7479" xml:space="preserve">Allein bei näherer Betrachtung gelangt man doch wohl zu <lb/>einem tröſtlicheren Schluß.</s>
  <s xml:id="echoid-s7480" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7481" xml:space="preserve">Wäre unſere Kultur in der That nur eine <emph style="sp">Palaſt-Kul-<lb/>tur im Dienſte großer Eroberer</emph>, ſo müßte man die <lb/>Möglichkeit zugeben, daß ſiegreiche, barbariſche Horden ſie einſt
<pb o="96" file="0556" n="556"/>
vertilgen köuuten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7482" xml:space="preserve">Die Inſchriften unſerer Sieges – Monu-<lb/>mente würden am Ende auch nicht viel beſſer klingen als die <lb/>aſſyriſchen, und das Bild, welches ſie hinterließen, wäre wohl <lb/>nicht viel lichter als das der untergegangenen Welt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7483" xml:space="preserve">Aber <lb/>unſere Kultur iſt glücklicherweiſe <emph style="sp">keine Palaſt-Kultur</emph>. </s>
  <s xml:id="echoid-s7484" xml:space="preserve">Das <lb/>Leben des Volkes iſt von ihr durchtränkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7485" xml:space="preserve">Unſere Schriften <lb/>ſind, weil ſie im Volksgeiſte entſtehen und fortleben, beſſer als <lb/>alle <emph style="sp">Inſchriften</emph>. </s>
  <s xml:id="echoid-s7486" xml:space="preserve">Unſere Bildung, auf der breiten Grund-<lb/>lage des Volksgeiſtes erbaut, könnte von barbariſchen Horden <lb/>nicht vertilgt werden, ſelbſt wenn ſie alle Paläſte verwüſteten <lb/>und deren Schätze raubten.</s>
  <s xml:id="echoid-s7487" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7488" xml:space="preserve">Zu ſolch’ troſtreicher Überzeugung gelangt man ſo recht <lb/>innig, wenn man, wie in dem vorliegenden Thema, zu dem <lb/>Vergleich zwiſchen den Altertümern <emph style="sp">Aſſyrien’s</emph> und dem ein-<lb/>zigen Altertum <emph style="sp">Paläſtina’s</emph> angeregt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s7489" xml:space="preserve">Von den Pa-<lb/>läſten David’s und den Prachtbauten Salomon’s iſt kein Stein <lb/>mehr vorhanden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7490" xml:space="preserve">Möglich, daß man einmal Ueberreſte aus <lb/>dem Staube der Jahrtauſende gleichfalls aus Licht rettet, wie <lb/>dies nicht bloß in ſo großartigem Maße in Aſſyrien der Fall <lb/>iſt, ſondern auch bereits in Phönizien und im Wüſtenſande <lb/>geſchieht, wo einſt Moab für die “Ewigkeit” Denkmäler er-<lb/>richtete. </s>
  <s xml:id="echoid-s7491" xml:space="preserve">Alle dynaſtiſchen Denkmäler, die ganze ſtolze Palaſt-<lb/>Kultur konnte im Sturm barbariſcher Eroberer verloren gehen, <lb/>während ein <emph style="sp">Buch</emph> und nur ein Buch ſich erhielt und durch <lb/>zwei Jahrtauſende kulturbefruchtend auf die Welt wirkte, weil <lb/>es eben <emph style="sp">nicht</emph> ein Dynaſtenwerk, ſondern ein <emph style="sp">Erzeugnis <lb/>begabter Geiſter war, deſſen ſich das Volk</emph> mit <emph style="sp">Liebe <lb/>bemächtigte</emph>!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7492" xml:space="preserve">Das kleine Buch, das man “<emph style="sp">altes Teſtament</emph>“ nennt, <lb/>im Vergleich mit den Ausgrabungen aſſyriſcher Paläſte, die <lb/>in Niniveh allein einen Raum von neunzehn Quadratmeilen <lb/>eingenommen haben — iſt auch in Bezug auf die <emph style="sp">Bürgſchaft</emph> <lb/>und die <emph style="sp">Lebensdauer</emph> der Kultur ein lehrreiches Thema.</s>
  <s xml:id="echoid-s7493" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="97" file="0557" n="557"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7494" xml:space="preserve">So überreich an Material die Keil-Inſchriften in Bezug <lb/>auf die Geſchichte Aſſyriens und ſo außerordentlich ergiebig <lb/>die Vergleichung Schraders zwiſchen dieſen und den bibliſchen <lb/>Erzählungen iſt, ſo ſehr vermiſſen wir die Beleuchtung mancher <lb/>Hauptpunkte, welche man ſonſt in der Altertumskunde in den <lb/>Vordergrund der Forſchungen zu ſtellen pflegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7495" xml:space="preserve">Wir vermiſſen <lb/>eine Klarſtellung des aſſyriſchen Kultus, die jedenfalls einen <lb/>Einblick in den Kulturzuſtand gewähren würde, und mehr noch <lb/>eine Andeutung über den Stand der Naturwiſſenſchaft in jenen <lb/>Ländern, wo, wie man bisher anzunehmen pflegte, die Ge-<lb/>burtsſtätte der aſtronomiſchen Kenntnis zu ſuchen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7496" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7497" xml:space="preserve">Zwar an Götternamen fehlt es in den Keilſchrift-Pro-<lb/>klamationen nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7498" xml:space="preserve">Der Enkel Sanherib’s, Aſſurbanipal, giebt <lb/>ſich die Ehre, ſein ihm vom Vater freiwillig übertragenes Re-<lb/>gierungsgeſchäft im Jahre 668 mit einer Berufung auf einen <lb/>ganzen Götterkatalog dem Reiche zu empfehlen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7499" xml:space="preserve">Er ſagt in <lb/>ſeiner Proklamation:</s>
  <s xml:id="echoid-s7500" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7501" xml:space="preserve">Aſſurhaddan, König von Aſſyrien, der Vater, mein Er-<lb/>zeuger, hielt in Ehren die Offenbarung Aſſur’s und der Beltis, <lb/>der Götter ſeines Vertrauens, welche ihm geheißen hatten, <lb/>mich zum König zu erheben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7502" xml:space="preserve">Im Monat Ijjar, dem Monat <lb/>des Nisroch, des Herrn der Menſchheit, am zwölften Tage, <lb/>einem heilbringenden Tage, dem Feſte Gulas, erließ er in <lb/>Ausführung des erhabenen Gebotes <emph style="sp">Aſſurs, der Beltis, <lb/>des Sin, Samas, Bin, Bel, Nebo</emph>, der <emph style="sp">Iſtar</emph> von <lb/>Niniveh, der himmliſchen Gebieterin von Kitmar, der <emph style="sp">Iſtar</emph> <lb/>von Arbela, des <emph style="sp">Ninig, Nergal, Nusku</emph>, ein Edikt und <lb/>verſammelte die Aſſyrer, jung und alt, die der oberen und der <lb/>unteren See, um mein Königtum anzuerkennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7503" xml:space="preserve">Darnach über-<lb/>nahm ich die Herrſchaft über Aſſyrien.</s>
  <s xml:id="echoid-s7504" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7505" xml:space="preserve">So zufriedenſtellend dieſe anerkannte Götterreihe indeſſen <lb/>in den Augen eines aſſyriſchen Konſiſtoriums ſein mußte, ſo <lb/>wenig befriedigend für unſeren Wiſſensdurſt iſt dieſer uns</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7506" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s7507" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s7508" xml:space="preserve">Volksbücher XV.</s>
  <s xml:id="echoid-s7509" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="98" file="0558" n="558"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7510" xml:space="preserve">teilweiſe unbekannte Olymp. </s>
  <s xml:id="echoid-s7511" xml:space="preserve">Gewöhnt, — oder vielleicht auch <lb/><emph style="sp">verwöhnt</emph> — durch anderweitige ältere Forſchungen über <lb/>den Kultus der Semiten Näheres zu vernehmen, wäre uns <lb/>ein Nachweis über dieſes Götter-Tribunal oder dieſe Götter-<lb/>Hierarchie eine willkommene Gabe.</s>
  <s xml:id="echoid-s7512" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7513" xml:space="preserve">Wie ſehr wir Urſache haben, dieſen Wunſch erfüllt zu <lb/>ſehen, wird ein Fall zeigen, worin ſich erweiſt, daß Geſtalten <lb/>des aſſyriſch-babyloniſchen Kultus ſich auf einem merkwürdigen <lb/>Umwege ſelbſt bis in unſere modernen chriſtlichen Kirchen ver-<lb/>pflanzt haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s7514" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7515" xml:space="preserve">Zu den Ornamenten der Kanzeln chriſtlicher Kirchen ge-<lb/>hören die von Alters her auf uns überkommenen Bilder eines <lb/>Menſchen, eines Löwen, eines Ochſen und eines Adlers. </s>
  <s xml:id="echoid-s7516" xml:space="preserve">Sie <lb/>ſollen bedeuten die vier Evangeliſten, Matthäus, Markus, <lb/>Lukas und Johannes. </s>
  <s xml:id="echoid-s7517" xml:space="preserve">Fragt man, wie die mittelalterliche <lb/>Symbolik zu dieſen Gebilden kam, ſo ergiebt die Forſchung, <lb/>daß der Prophet Heſekiel im erſten Kapitel ſeiner Weiſſagungen <lb/>eine ſehr ausführliche Schilderung des Thrones Gottes giebt, <lb/>wie er ihm gezeigt wurde im Lande der Chaldäer. </s>
  <s xml:id="echoid-s7518" xml:space="preserve">Darin <lb/>findet ſich nun die Beſchreibung von vier ſehr wunderbar mit <lb/>Flügeln und Rädern ausgeſtatteten Trägern dieſes Thrones, <lb/>“deren Angeſichte zur Rechten gleich waren dem eines Menſchen <lb/>und eines Löwen und zur Linken gleich waren dem eines <lb/>Ochſen und eines Adlers.</s>
  <s xml:id="echoid-s7519" xml:space="preserve">” Für die mittelalterliche Vorſtellung <lb/>war es ſelbſtverſtändlich, daß Heſekiel in den vier Geſtalten <lb/>die vier Träger des Chriſtentums, die Evangeliſten, geſchaut <lb/>und deshalb wurde es auch für angemeſſen erachtet, die Kanzeln, <lb/>welche vom Geiſt der Evangelien getragen ſein ſollen, mit <lb/>dieſen Emblemen zu ſchmücken.</s>
  <s xml:id="echoid-s7520" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7521" xml:space="preserve">Geht man aber weiter und fragt ſich, was hat denn <lb/>eigentlich der Prophet Heſekiel im Lande der Chaldäer geſehen, <lb/>das ihn zu dieſer Phantaſie anregte? </s>
  <s xml:id="echoid-s7522" xml:space="preserve">— ſo findet ſich’s, daß <lb/>er in Wirklichkeit nur das geſehen hat, was uns jetzt ein aſſy-
<pb o="99" file="0559" n="559"/>
riſches Muſeum in den ausgegrabenen Koloſſalfiguren zeigt, <lb/>welche die Eingänge der Tempel bewachten oder als Träger <lb/>der Throne allmächtiger Herrſcher figurierten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7523" xml:space="preserve">Die ſehr zu <lb/>überſchwenglichen Bildern geneigte Phantaſie des Propheten <lb/>übertrug ganz zweifellos nur die geſehenen Herrlichkeiten der <lb/>irdiſchen Herrſcher auf die Geſichte, in welchen er die himm-<lb/>liſche Herrſchaft zu ſchauen vermeinte.</s>
  <s xml:id="echoid-s7524" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7525" xml:space="preserve">Man wird zugeben, daß eine Symbolik des Altertums, <lb/>welche dermaßen bis in die Gegenwart hinein ihr Weſen treibt, <lb/>eine lichtende Forſchung ſehr ernſtlich wünſchen läßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7526" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7527" xml:space="preserve">Zur Geſchichte der Kultur gehört auch eine genauere <lb/>Kenntnis der aſtrologiſchen Vorſtellungen des Altertums, hinter <lb/>welchen in der Regel ebenſo ein aſtronomiſches Wiſſen ver-<lb/>ſchleiert liegt, wie bei uns hinter der Alchymie die Anfänge <lb/>der chemiſchen Wiſſenſchaft. </s>
  <s xml:id="echoid-s7528" xml:space="preserve">Wie ſah es hiermit im aſſyriſchen <lb/>Reiche aus? </s>
  <s xml:id="echoid-s7529" xml:space="preserve">Lange Zeiten hat man hierüber nur nach den <lb/>Berichten geurteilt, welche die Griechen uns überlieferten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7530" xml:space="preserve">Es <lb/>ſcheint aber, als ob dieſe eine wiſſenſchaftliche Sichtung dringend <lb/>erfordern, weil in den dichteriſchen Köpfen der Griechen ſich in-<lb/>folge der gewaltigen Völkervermiſchungen viele Vorſtellungen <lb/>vermiſchten, welche eine genauere, wiſſenſchaftliche Reviſion in <lb/>Ur-Chaldäiſches, Aſſyriſches, Babyloniſches, Indiſches, Perſiſches <lb/>und Ägyptiſches zu trennen haben würde.</s>
  <s xml:id="echoid-s7531" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7532" xml:space="preserve">In den Keilinſchriften, welche uns bis jetzt zugänglich <lb/>gemacht worden ſind, finden wir hierüber keinen Aufſchluß. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7533" xml:space="preserve">Dafür jedoch ſehen wir zur größten Überraſchung, daß eine <lb/>Zeitrechnung, deren Urſprung man bis jetzt wiſſenſchaftlich in <lb/>die perſiſche Zeit verſetzte, viel viel älteren Datums iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7534" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7535" xml:space="preserve">In Bezug auf den Anfang des Jahres und die Zahl und <lb/>Benennung der Monate unterſcheiden ſich nämlich die Bücher <lb/>der Bibel ſehr weſentlich von einander, je nachdem ſie vor <lb/>oder nach dem Exil der Juden in Babylon geſchrieben ſind. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7536" xml:space="preserve">Aus einzelnen Stellen der vorexiliſchen Bücher läßt ſich ent-
<pb o="100" file="0560" n="560"/>
nehmen, daß die Hebräer den Herbſt als den Anfang des <lb/>Jahres betrachteten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7537" xml:space="preserve">Der Prophet Heſekiel, der im Exil lebte, <lb/>ſpricht dies ausdrücklich aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s7538" xml:space="preserve">Das Jahr hatte zwölf Monate, <lb/>wie eine Nachricht über die Hofverwaltung des Königs Salomo <lb/>erweiſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s7539" xml:space="preserve">und da der Monat auf dreißig Tage berechnet wurde, <lb/>wie die berechnete Dauer der Sintflut ergiebt, ſo hat man <lb/>Grund auf die Exiſtenz eines Sonnenjahres zu ſchließen, in <lb/>welchem der Reſt von fünf Tagen in irgend einer Weiſe aus-<lb/>geglichen wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s7540" xml:space="preserve">Gelegentlich kommen auch Namen von dreien <lb/>dieſer Monate vor, welche jedoch in ſpäteren Schriften wieder <lb/>verſchwinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7541" xml:space="preserve">Aus den Büchern der Bibel, welche nach <lb/>dem Exil geſchrieben oder überarbeitet worden ſind, leuchtet <lb/>dagegen eine veränderte Zeitrechnung hervor. </s>
  <s xml:id="echoid-s7542" xml:space="preserve">Der Jahres-<lb/>anfang wird in den Frühling verlegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7543" xml:space="preserve">Die Monate treten <lb/>mit ganz neuen Namen auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s7544" xml:space="preserve">Eine ſichere Tradition beweiſt, <lb/>daß dies Mondmonate von neunundzwanzig Tagen und zloölf <lb/>Stunden waren, und daß zur Ausgleichung des Mondjahres <lb/>mit dem Sonnenjahr von Zeit zu Zeit ein dreizehnter Monat <lb/>eingeſchaltet worden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7545" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7546" xml:space="preserve">Eine ſolche Reform in der Zeitrechnung hat nicht bloß <lb/>die Chronologen, ſondern auch wegen der neuen Namen der <lb/>Monate die Sprachforſcher vielfach beſchäftigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7547" xml:space="preserve">Man nahm <lb/>auf Grund der letzteren Unterſuchungen für erwieſen an, daß <lb/>man es hier mit einer Reform zu thun habe, welche durch die <lb/>Perſer bei ihrem Siege über Babylonien eingeführt wurde, <lb/>und hielt auch die ſchwer zu erklärenden Monatsnamen für <lb/>altperſiſch.</s>
  <s xml:id="echoid-s7548" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7549" xml:space="preserve">Durch die Entzifferung der Keilinſchriften iſt dieſe ganze <lb/>Theorie umgeſtürzt worden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7550" xml:space="preserve">Zunächſt wurde einer der für <lb/>perſiſch gehaltenen Monatsnamen bereits in einer alten aſſy-<lb/>riſchen Keilinſchrift aufgefunden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7551" xml:space="preserve">Sodann aber, um jeden <lb/>Zweifel niederzuſchlagen, wurde eine merkwürdige Keilſchrift-<lb/>tafel entdeckt, welche aus drei Kolumnen beſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7552" xml:space="preserve">Die erſte
<pb o="101" file="0561" n="561"/>
Kolumne enthält dreizehn Worte in jener rätſelhaften Schreib-<lb/>weiſe, welche wir “Ideogramme” nennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7553" xml:space="preserve">Die zweite Kolumne <lb/>weiſt nach, wie dieſe Worte gelautet haben in jener noch <lb/>unerforſchten Urſprache, die man die “protochaldäiſche” nennt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7554" xml:space="preserve">Die dritte Kolumne endlich in gut lesbarer Keilſchrift zählt <lb/>von A bis Z faſt wörtlich getreu die Namen der dreizehn <lb/>Monate auf, wie wir ſie in den nachexiliſchen Schriften der <lb/>Juden finden.</s>
  <s xml:id="echoid-s7555" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7556" xml:space="preserve">Durch dieſe Entdeckung ergiebt ſich, daß ein chronologiſches <lb/>Syſtem zur Ausgleichung des Mond- und Sonnenjahres <lb/>mindeſtens ein Jahrtauſend älter iſt, als man bisher annehmen <lb/>mochte.</s>
  <s xml:id="echoid-s7557" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7558" xml:space="preserve">Ein ſolches Syſtem ſetzt aber aufmerkſame aſtronomiſche <lb/>Beobachtungen voraus und macht es nicht unwahrſcheinlich, <lb/>daß die ausgegrabenen Thontäfelchen, deren Scherben ein <lb/>Gegenſtand eifriger Studien ſind, wohl auch ein altes aſtro-<lb/>nomiſches Datum einmal verraten werden, woraus man mit <lb/>größerer Exaktität als bisher eine ſtattgefundene Mond- oder <lb/>Sonnenfinſternis aus alten Zeiten wird erſehen können! Von <lb/>welcher Wichtigkeit dergleichen Data für die aſtronomiſche <lb/>Wiſſenſchaft der Gegenwart ſind, das werden unſere Leſer <lb/>Wohl einſehen, wenn wir ihnen die Verſicherung geben, daß <lb/>die weiter oben zur Sprache gebrachte, allerkühnſte aſtronomiſche <lb/>Frage über “Beſchleunigung des Mondlaufs”, oder “Verlang-<lb/>famung der Erdumdrehung” nur auf dem glücklichen Umſtand <lb/>baſierte, daß wir ein einziges genaues Datum für eine vor <lb/>zweitauſend Jahren ſtattgehabte Sonnenfinſternis beſitzen! <lb/>Ein genaues Datum für eine derartige Himmelserſcheinung <lb/>vor viertauſend Jahren iſt von unſchätzbarem Werte für die <lb/>Wiſſenſchaft.</s>
  <s xml:id="echoid-s7559" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7560" xml:space="preserve">Zum Schluß unſerer Betrachtung haben wir noch von <lb/>einem Fund in Keilſchrift zu berichten, der einen Einblick in <lb/>die mythologiſchen Dichtungen der Aſſyrer gewährt, alſo in das
<pb o="102" file="0562" n="562"/>
Gebiet der frei produzierenden Volksweiſen, die oft charak-<lb/>teriſtiſcher für den Volksgeiſt ſind als ganze Partieen ſeiner <lb/>Geſchichte.</s>
  <s xml:id="echoid-s7561" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7562" xml:space="preserve">Der Mythus, welchen wir meinen, wurde 1882 in frommen <lb/>engliſchen Zeitungen als ein Keilſchriftenbericht über die ſo-<lb/>genannte “Sündflut” der Bibel begrüßt, die natürlich von <lb/>“Aſſur”, dem Sohne des “Sem” und leiblichen Enkel “Noahs”, <lb/>ſehr gut hätte herrühren können, wenn nur nicht zur Ent-<lb/>täuſchung aller frommen Erwartungen die Keilſchriftgeſchichte <lb/>ganz anders lautete als die bibliſche Erzählung.</s>
  <s xml:id="echoid-s7563" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7564" xml:space="preserve">Für uns natürlich iſt ſie darum nicht entwertet. </s>
  <s xml:id="echoid-s7565" xml:space="preserve">Der <lb/>Entdecker dieſer Inſchrift, ein Beamter der archäologiſchen Ab-<lb/>teilungen im Britiſh Muſeum, Herr <emph style="sp">George Smith</emph>, hat die <lb/>Inſchrift zuſammengefunden aus den Bruchſtücken mehrerer <lb/>Tafeln, welche übereinſtimmend den Text enthalten haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7566" xml:space="preserve">Die <lb/>Bruchſtücke rühren aus den Ruinen des Palaſtes von Aſſur-<lb/>banipal, dem Enkel Sanheribs her, deſſen götterreiche Em-<lb/>pfehlungskarte beim Regierungsantritt wir bereis unſeren Leſern <lb/>vorgeführt haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7567" xml:space="preserve">Da Aſſurbanipal circa 660 Jahre vor <lb/>unſerer Zeitrechnung regierte, ſo läßt ſich nicht leugnen, daß <lb/>ein Mythendichter ſeines Hofes über die Zeit der Sündflut <lb/>eben ſo gut hätte unterrichtet ſein können, wie einer der bib-<lb/>liſchen Erzähler, der ungefähr um dieſelbe Zeit mochte gelebt <lb/>haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7568" xml:space="preserve">Wir ſagen “Einer” der bibliſchen Erzähler, denn die <lb/>Bibel enthält, wenn man den Text genauer beſieht, zwei durch-<lb/>einandergeworfene Berichte über die Flut, einen älteren und <lb/>einen in weſentlichen Punkten anders lautenden, jüngeren Bericht. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7569" xml:space="preserve">Und gerade dieſer jüngere Bericht reicht ſicherlich nicht über <lb/>das Zeitalter Aſſurbanipals hinauf.</s>
  <s xml:id="echoid-s7570" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7571" xml:space="preserve">Ja, wenn das Alter einen Mythus in eine Thatſache ver-<lb/>wandelte, ſo hätten wir Urſache dem Keilſchriftbericht beſonderen <lb/>Glauben zu ſchenken. </s>
  <s xml:id="echoid-s7572" xml:space="preserve">Herr George Smith behauptet nämlich, <lb/>daß die aufgefundenen Tafelbruchſtücke nicht eine Original-
<pb o="103" file="0563" n="563"/>
Erzählung, ſondern nur eine Abſchrift wiedergeben, welche aus <lb/>dem viel höheren Altertum der urchaldäiſchen Zeit ſtammt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7573" xml:space="preserve">Wir ſind nicht imſtande zu ſagen, ob dieſe Vermutung richtig <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7574" xml:space="preserve">Dies iſt Sache der gründlicheren Unterſuchung, über <lb/>welche niemand vorweg ein Urteil fällen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s7575" xml:space="preserve">Beſonders <lb/>ſchwierig iſt es, das Alter der Mythen aus ihrem Charakter <lb/>zu ſchätzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7576" xml:space="preserve">Wiſſen wir ja kaum, wie alt oder wie jung <lb/>viele von Grimm geſammelte deutſche Märchen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s7577" xml:space="preserve">Der <lb/>Volksmund iſt alt wie jung gleich kindlich dichteriſch, und die <lb/>Dichtung iſt ebenſo uralt wie ewig jung, ſolange ſie im Volks-<lb/>munde lebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7578" xml:space="preserve">Wenn nicht ſonſtige Eigentümlichkeiten einen <lb/>Anhalt für das Alter geben, ſo wird ihn der Scharfblick des <lb/>Forſchers aus dem Inhalt eines Mythus ſchwer herausfinden.</s>
  <s xml:id="echoid-s7579" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7580" xml:space="preserve">Der Flutmythus der Aſſyrer iſt dem der Bibel in vielen <lb/>Punkten ähnlich, ohne mit ihm identiſch zu ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s7581" xml:space="preserve">Es iſt nun <lb/>wahrſcheinlich, daß beide Mythen ſich ſelbſtändig entwickelt <lb/>und doch durch gleiche Umſtände einen gleich klingenden Typus <lb/>erhalten haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s7582" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7583" xml:space="preserve">Die Wiſſenſchaft, die ſich mit der Erforſchung der Erdkruſte <lb/>befaßt, die Geologie, lehrt — wie wir das in Teil VIII aus-<lb/>geführt haben —, daß viele Geſteine urſprünglich Ablagerungen <lb/>aus dem Waſſer ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s7584" xml:space="preserve">Knochen von gewaltigen, längſt ausge-<lb/>ſtorbenen Tieren werden allenthalben gefunden und werden die <lb/>Finder aller Orten zu dem Glauben verleiten, daß ein gewalt-<lb/>thätiges Rieſengeſchlecht einmal auf Erden gelebt habe, das von <lb/>Göttern herſtammt und wegen ſeiner ſittlichen Verwahrloſung <lb/>auf Erden wiederum von den Göttern durch Waſſerfluten vertilgt <lb/>wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s7585" xml:space="preserve">Dies iſt in der bibliſchen Erzählung auch betont von den <lb/>“Söhnen Gottes”, welche die Töchter der Menſchen ſahen und <lb/>mit ihnen Rieſengeſchlechter erzeugten, die die Sitten auf Erden <lb/>verdarben und die Flut veranlaßt haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7586" xml:space="preserve">Inſoweit kann die <lb/>Gleichartigkeit der Mythen entſtanden ſein ohne direkten Einfluß <lb/>des einen auf den anderen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7587" xml:space="preserve">Einige Ähnlichkeiten in den Details
<pb o="104" file="0564" n="564"/>
indeſſen ſind doch wiederum zu ſtark, um die völlige Unab-<lb/>hängigkeit der beiden Mythen anzunehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7588" xml:space="preserve">Da wir aber <lb/>nunmehr wiſſen, daß Aſſyrer und Hebräer ſo ſehr ſprachverwandt <lb/>waren und die Keilinſchriften uns auch verraten haben, daß <lb/>die Aſſyrer ſich das kleine Hebräerland wohl an tauſend Jahre <lb/>vor unſerer Zeitrechnung tributär gemacht haben, ſo kann es <lb/>gewiß nicht befremden, wenn Mythen, die vielleicht Jahr-<lb/>tauſende lang hin und her mündlich von Land zu Land ge-<lb/>tragen wurden, auch endlich eine ſtarke Ähnlichkeit erhielten, <lb/>als ſie zur Zeit Aſſurbanipals gleichzeitig in beiden Ländern <lb/>niedergeſchrieben wurden.</s>
  <s xml:id="echoid-s7589" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7590" xml:space="preserve">Der Keilſchriftmythus erzählt, daß König Jzdubar, der <lb/>ſich mit der Iſtar vermählt hatte, erkrankte und ſeinen Tod <lb/>nahe fühlte. </s>
  <s xml:id="echoid-s7591" xml:space="preserve">Darum beſchloß er, den Siſit aufzuſuchen, um <lb/>ſich von dieſem in die Geheimniſſe der Unſterblichkeit ein-<lb/>weihen zu laſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7592" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7593" xml:space="preserve">Der König zog mit einem Führer, Ur-Hamſi, über den <lb/>“Strom der Zeit, welcher die Sterblichen von den Unſterblichen <lb/>trennt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7594" xml:space="preserve">” Dort fanden ſie Siſit, der Unſterblichkeit erlangt <lb/>hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s7595" xml:space="preserve">Er hatte die große Sturmflut überlebt und während <lb/>derſelben durch ein von ihm gebautes Schiff einen Stamm <lb/>von Menſchen und wilden und zahmen Tieren gerettet und <lb/>für die Fortpflanzung des Lebens auf Erden erhalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7596" xml:space="preserve">Von <lb/>dieſer Sturmflut, welche Bel in ſeiner Geſtalt als “Samas” <lb/>über die Erde geſendet, erzählt nun Siſit “als Augenzeuge” <lb/>folgendes.</s>
  <s xml:id="echoid-s7597" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7598" xml:space="preserve">“Ich hieß alle meine männlichen und weiblichen Diener, <lb/>die wilden Tiere des Feldes und die zahmen Tiere des Feldes <lb/>in das Schiff gehen, und die Söhne des Heeres. </s>
  <s xml:id="echoid-s7599" xml:space="preserve">Alle hieß <lb/>ich hinaufſteigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7600" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7601" xml:space="preserve">Samas ließ eine Flut kommen, und er ſprach in der Nacht: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7602" xml:space="preserve">Ich werde ſchwer vom Himmel regnen laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7603" xml:space="preserve">Gehe in die <lb/>Mitte des Schiffes und ſchließe deine Thür.</s>
  <s xml:id="echoid-s7604" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="105" file="0565" n="565"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7605" xml:space="preserve">Er ließ eine Flut ſteigen und redete in der Nacht: </s>
  <s xml:id="echoid-s7606" xml:space="preserve">Ich <lb/>werde ſchweren Regen vom Himmel fallen laſſen!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7607" xml:space="preserve">Am Tage, wo ich ſein Feſt beging, am Tage, den er feſt-<lb/>geſetzt, hatte ich Furcht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7608" xml:space="preserve">Ich ging in die Mitte des Schiffes <lb/>und ſchloß meine Thür.</s>
  <s xml:id="echoid-s7609" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7610" xml:space="preserve">Dem Buzurſadirabi übergab ich das Schiff, um es zu führen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7611" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7612" xml:space="preserve">Das Toſen des Sturmes begann am Morgen; </s>
  <s xml:id="echoid-s7613" xml:space="preserve">vom Ho-<lb/>rizont des Himmels dehnte er ſich aus in das weite Land Vul. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7614" xml:space="preserve">In der Mitte donnerte es.</s>
  <s xml:id="echoid-s7615" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7616" xml:space="preserve">Nebo und Saru gingen voraus. </s>
  <s xml:id="echoid-s7617" xml:space="preserve">Die Thronträger gingen <lb/>über Berge und Ebenen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7618" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7619" xml:space="preserve">Nergal, der Zerſtörer, ſtürzte ſie nieder. </s>
  <s xml:id="echoid-s7620" xml:space="preserve">Ninip ging voran <lb/>und warf nieder.</s>
  <s xml:id="echoid-s7621" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7622" xml:space="preserve">Die Geiſter brachten Zerſtörung. </s>
  <s xml:id="echoid-s7623" xml:space="preserve">Sie fuhren in ihrer <lb/>Glorie über die Erde.</s>
  <s xml:id="echoid-s7624" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7625" xml:space="preserve">Die Flut des Vul reichte an den Himmel. </s>
  <s xml:id="echoid-s7626" xml:space="preserve">Die glänzende <lb/>Erde wurde in eine Wildnis verwandelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7627" xml:space="preserve">Die Oberfläche der <lb/>Erde gleich . </s>
  <s xml:id="echoid-s7628" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7629" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7630" xml:space="preserve">fuhr darüber hin.</s>
  <s xml:id="echoid-s7631" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7632" xml:space="preserve">Er zerſtörte alles Leben auf der Oberfläche der Erde . </s>
  <s xml:id="echoid-s7633" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7634" xml:space="preserve">. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7635" xml:space="preserve">Der ſtarke Sturm fuhr über die Menſchen und erreichte den <lb/>Himmel.</s>
  <s xml:id="echoid-s7636" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7637" xml:space="preserve">Bruder ſah nicht ſeinen Bruder. </s>
  <s xml:id="echoid-s7638" xml:space="preserve">Der Sturm ſchonte <lb/>niemanden.</s>
  <s xml:id="echoid-s7639" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7640" xml:space="preserve">Im Himmel die Götter fürchteten den Sturm und ſuchten <lb/>Rettung. </s>
  <s xml:id="echoid-s7641" xml:space="preserve">Sie ſtiegen hinauf in den Himmel von Anu.</s>
  <s xml:id="echoid-s7642" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7643" xml:space="preserve">Die Götter, Hunden gleich, welche den Schwanz einziehen, <lb/>kauerten ſich nieder.</s>
  <s xml:id="echoid-s7644" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7645" xml:space="preserve">Da ſprach Iſtar eine Rede; </s>
  <s xml:id="echoid-s7646" xml:space="preserve">die große Göttin hielt eine <lb/>Anrede:</s>
  <s xml:id="echoid-s7647" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7648" xml:space="preserve">“Die Welt hat ſich zur Sünde gewendet!” Und dann, in <lb/>der Götter Gegenwart, prophezeite ſie Unheil:</s>
  <s xml:id="echoid-s7649" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7650" xml:space="preserve">“Als ich vor den Göttern Unheil prophezeite, war mein <lb/>ganzes Volk der Sünde ergeben, und ich prophezeite ſo:</s>
  <s xml:id="echoid-s7651" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="106" file="0566" n="566"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7652" xml:space="preserve">Ich habe den Menſchen geboren und laſſe ihn nicht, wie <lb/>die Söhne der Fiſche die See füllen!”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7653" xml:space="preserve">Die Götter weinten mit ihr. </s>
  <s xml:id="echoid-s7654" xml:space="preserve">Die Götter ſaßen auf ihren <lb/>Sitzen voll Jammers. </s>
  <s xml:id="echoid-s7655" xml:space="preserve">Sie bedeckten ihre Lippen vor dem <lb/>kommenden Unglück.</s>
  <s xml:id="echoid-s7656" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7657" xml:space="preserve">Sechs Tage und Nächte vergingen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7658" xml:space="preserve">Der Wind und Sturm <lb/>war überwältigend mächtig. </s>
  <s xml:id="echoid-s7659" xml:space="preserve">Am ſiebenten Tage beruhigte ſich der <lb/>Sturm und wurde ſtill, der die Erde wie ein Erdbeben zerſtört hatte.</s>
  <s xml:id="echoid-s7660" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7661" xml:space="preserve">Er ließ das Waſſer eiutrocknen, und der Sturmwind hatte <lb/>ein Ende. </s>
  <s xml:id="echoid-s7662" xml:space="preserve">Ich wurde durch die See getragen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7663" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7664" xml:space="preserve">Der Übelthäter und die ganze ſündliche Menſchheit — wie <lb/>Schilfrohr ſchwammen ihre Leichname dahin.</s>
  <s xml:id="echoid-s7665" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7666" xml:space="preserve">Ich öffnete das Fenſter, und das Licht brach herein und <lb/>leuchtete über meinem Aſyl. </s>
  <s xml:id="echoid-s7667" xml:space="preserve">Ich ſaß ſtill, und über mein Aſyl <lb/>kam Friede.</s>
  <s xml:id="echoid-s7668" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7669" xml:space="preserve">Ich wurde über den Strand getragen an der Grenze der <lb/>See, die zwölf Maß hoch über das Land geſtiegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7670" xml:space="preserve">Nach <lb/>dem Lande Nizir ging das Schiff. </s>
  <s xml:id="echoid-s7671" xml:space="preserve">Der Berg Nizir hielt das <lb/>Schiff auf; </s>
  <s xml:id="echoid-s7672" xml:space="preserve">es konnte nicht darüber hinweg.</s>
  <s xml:id="echoid-s7673" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7674" xml:space="preserve">Am erſten und zweiten Tage der Berg Nizir!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7675" xml:space="preserve">Am dritten und vierten Tage der Berg Nizir!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7676" xml:space="preserve">Am fünften und ſechsten Tage der Berg Nizir ebenſo!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7677" xml:space="preserve">Am ſiebenten Tage ſendete ich eine Taube aus, und ſie <lb/>flog davon. </s>
  <s xml:id="echoid-s7678" xml:space="preserve">Die Taube ſuchte und fand keinen Ruheplatz und <lb/>kam zurück!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7679" xml:space="preserve">Ich ſendete ein Schwalbe aus, und ſie flog davon und <lb/>fand keinen Ruheplatz und kam zurück.</s>
  <s xml:id="echoid-s7680" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7681" xml:space="preserve">Ich ſendete einen Raben aus, und er flog davon. </s>
  <s xml:id="echoid-s7682" xml:space="preserve">Der <lb/>Rabe flog und ſah die Leichen auf den Waſſern und fraß und <lb/>ſchwamm und wanderte fort und kam nicht wieder.</s>
  <s xml:id="echoid-s7683" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7684" xml:space="preserve">Ich ſchickte die Tiere hinaus nach den vier Winden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7685" xml:space="preserve">Ich <lb/>goß ein Trankopfer aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s7686" xml:space="preserve">Ich baute einen Altar auf der Spitze <lb/>des Berges.</s>
  <s xml:id="echoid-s7687" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="107" file="0567" n="567"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7688" xml:space="preserve">Sieben Kräuter zerſchnitt ich, und darunter legte ich Schilf, <lb/>Fichtenholz und Sigmar.</s>
  <s xml:id="echoid-s7689" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7690" xml:space="preserve">Die Götter ſammelten ſich an dem Brande; </s>
  <s xml:id="echoid-s7691" xml:space="preserve">die Götter <lb/>ſammelten ſich an dem guten Brande. </s>
  <s xml:id="echoid-s7692" xml:space="preserve">Die Götter gleich <lb/>Adlern ſammelten ſich über dem Opfer.</s>
  <s xml:id="echoid-s7693" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7694" xml:space="preserve">Auch der große Gott, der in alter Zeit den großen Glanz <lb/>von Anu geſchaffen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7695" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7696" xml:space="preserve">Als nun die Glorie dieſer Götter, wie der Glanz des <lb/>Steines Ukni, auf mein Antlitz fiel, konnte ich ihn nicht er-<lb/>tragen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7697" xml:space="preserve">In jenen Tagen betete ich, daß ich das niemals er-<lb/>tragen müßte. </s>
  <s xml:id="echoid-s7698" xml:space="preserve">Mögen die Götter zu meinem Altar kommen, <lb/>aber nicht Bel, denn er hat unſer nicht gedacht und mein <lb/>Volk zur Tiefe beſtimmt von alters her!”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7699" xml:space="preserve">Des weiteren erfahren wir durch die Keilſchrift nur noch, <lb/>daß Bel, der Zornige, das Schiff des Siſit vernichten will, <lb/>aber die Götter, von der Iſtar aufgewühlt, treten dem ent-<lb/>gegen; </s>
  <s xml:id="echoid-s7700" xml:space="preserve">worauf ſich denn Bel herbeiläßt zur Verſöhnung mit <lb/>Siſit und “einen Bund mit ihm ſchließt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7701" xml:space="preserve">”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7702" xml:space="preserve">Soviel wir wiſſen, iſt dieſes Bruchſtück eines Mythus die <lb/>einzige bisher aufgefundene Probe dichteriſcher Produktion der <lb/>Aſſyrer. </s>
  <s xml:id="echoid-s7703" xml:space="preserve">Es wäre ebenſo voreilig zu glauben, daß dieſes das <lb/>Beſte, wie anzunehmen, daß dies gerade das Unbedeutendſte <lb/>ſei, was die Aſſyrer geleiſtet haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7704" xml:space="preserve">Nehmen wir es alſo als <lb/>“Mittelgut” hin und erwägen wir, daß wir doch nur ein <lb/>Bruchſtück und dies noch in verſtümmelter Geſtalt hier kennen <lb/>lernten, ſo haben wir Urſache, nicht gering von der litterariſchen <lb/>Begabung der Aſſyrer zu denken und von den weiteren Er-<lb/>forſchungen der Funde.</s>
  <s xml:id="echoid-s7705" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb file="0568" n="568"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div186" type="section" level="1" n="164">
<head xml:id="echoid-head183" xml:space="preserve"><emph style="bf">IV. Einige Geheimniſſe der Zahlen.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head184" xml:space="preserve">I.</head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7706" xml:space="preserve">Es giebt eine Wiſſenſchaft, welche man Zahlentheorie <lb/>nennt, die die feinſten Geiſter unſeres Zeitalters beſchäftigt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7707" xml:space="preserve">Nun iſt dieſe Wiſſenſchaft ſo ſchwierig und verwickelt für uns <lb/>gewöhnliche Köpfe, daß wir ſo gut wie garnichts von ihren <lb/>Operationen erfahren. </s>
  <s xml:id="echoid-s7708" xml:space="preserve">Da es aber gar ſo traurig iſt, wenn <lb/>wir Menſchen in den Tag hineinleben, ohne davon eine Ahnung <lb/>zu haben, was unſere ausgezeichnetſten Köpfe beſchäftigt, wäre <lb/>es wohl gut, wenn wenigſtens ein leichter Schimmer als erſtes <lb/>Aufleuchten der Wiſſenſchaft jedermann deutlich würde. </s>
  <s xml:id="echoid-s7709" xml:space="preserve">Dies <lb/>wollen wir denn im allererſten Beginn hier verſuchen, und <lb/>zwar, wie ſich von ſelbſt verſteht, nicht mit der Theorie, <lb/>ſondern auf dem Wege der leicht faßlichen Praxis, wozu man <lb/>nicht mehr als Addieren und Subtrahieren braucht, das ja <lb/>jedem Kinde geläufig iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7710" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7711" xml:space="preserve">Wir beginnen daher mit einem Beiſpiel.</s>
  <s xml:id="echoid-s7712" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7713" xml:space="preserve">Ein ſparſamer Kaufmann will ſich ſo einrichten, daß er <lb/>mit möglichſt wenig Gewichtsſtücken, die er in eine Wagſchale <lb/>legt, möglichſt viel Ware in der andern Schale abwägen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s7714" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7715" xml:space="preserve">Wie ſoll er ſich die Gewichtsſtücke wählen?</s>
  <s xml:id="echoid-s7716" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7717" xml:space="preserve">Er wähle dazu Gewichtsſtücke von 1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, <lb/>128 u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7718" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s7719" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s7720" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7721" xml:space="preserve">Daß er mit dieſen acht Gewichtsſtücken alle Waren von <lb/>1 bis 255 wiegen kann, läßt ſich leicht ausrechnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7722" xml:space="preserve">Um nicht <lb/>zu weitläufig zu werden, wollen wir zunächſt die vier erſten <lb/>Zahlen betrachten.</s>
  <s xml:id="echoid-s7723" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="109" file="0569" n="569"/>
<note position="right" xml:space="preserve"> <lb/>1 # und 2 kann der Kaufmann wiegen, weil er dieſe Ge-<lb/># wichtsſtücke ſelber hat. <lb/>3 # wiegt er, wenn er 1 und 2 zuſammen nimmt. <lb/>4 # beſitzt er ſelber. <lb/>5 # wiegt er mit 1 und 4. <lb/>6 # wiegt er mit 2 und 4. <lb/>7 # wiegt er mit 1, 2 und 4. <lb/>8 # beſitzt er ſelber. <lb/>9 # wiegt er mit 1 und 8. <lb/>10 # wiegt er mit 2 und 8. <lb/>11 # wiegt er mit 1 und 2 und 8. <lb/>12 # wiegt er mit 4 und 8. <lb/>13 # wiegt er mit 1 und 4 und 8. <lb/>14 # wiegt er mit 2 und 4 und 8. <lb/>15 # wiegt er mit 1 und 2 und 4 und 8. <lb/></note>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7724" xml:space="preserve">Wenn er nun 16 wiegen will, ſo muß er ein neues Ge-<lb/>wichtsſtück von dieſer Schwere haben, wie das auch oben an-<lb/>gegeben iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7725" xml:space="preserve">Aber wir brauchen nicht weiter zu rechnen, <lb/>ſondern können uns durch ein wenig Nachdenken überzeugen, <lb/>daß man mit dieſem fünften Gewichtsſtück einen großen Sprung <lb/>vorwärts kommt und ſchon bis 31 wiegen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s7726" xml:space="preserve">Denn da <lb/>wir wiſſen, daß er mit den erſten vier Gewichtsſtücken von 1 <lb/>bis 15 wiegen kann, ſo braucht er für jede Zahl über 16 nur <lb/>die Gewichtsſtücke zuzulegen, mit welchen er bis 15 gewogen <lb/>hat, um ſchließlich bis zu 15 und 16 zu kommen, was zuſammen <lb/>die Summe aller fünf Gewichtsſtücke, das iſt 31, beträgt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7727" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7728" xml:space="preserve">Jetzt iſt freilich ſeine Kunſt wieder zu Ende. </s>
  <s xml:id="echoid-s7729" xml:space="preserve">Will er <lb/>weiter wiegen, ſo muß er ſich ein Gewichtsſtück von 32 an-<lb/>ſchaffen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7730" xml:space="preserve">Wie weit wird er aber damit kommen? </s>
  <s xml:id="echoid-s7731" xml:space="preserve">Das läßt ſich <lb/>ebenfalls leicht einſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7732" xml:space="preserve">Denn da er von 1 bis 31 mit <lb/>den fünf erſten Stücken wiegen kann, ſo wird er mit Hilfe <lb/>des ſechsten Gewichtsſtückes von 32 ganz richtig von 1 bis <lb/>63 kommen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7733" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="110" file="0570" n="570"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7734" xml:space="preserve">Will er nun noch weitere Maſſen wiegen, ſo muß er ſich <lb/>ein ſiebentes Gewichtsſtück von 64 anſchaffen, damit gelangt <lb/>er ſchon ein ſtarkes Stück vorwärts; </s>
  <s xml:id="echoid-s7735" xml:space="preserve">denn da er von 1 bis 63 <lb/>wiegen kann und ein Gewichtsſtück von 64 beſitzt, ſo kann er <lb/>offenbar mit Hilfe derſelben auch von 1 bis 127 wiegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7736" xml:space="preserve">Schafft <lb/>er ſich nun gar ein achtes Gewichtsſtück von 128 an, ſo kann <lb/>man, wie ein wenig Nachdenken zeigt, von 1 bis 255 wiegen, <lb/>denn 127 und 128 iſt 255.</s>
  <s xml:id="echoid-s7737" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7738" xml:space="preserve">All’ das ſieht freilich wie eine Spielerei aus; </s>
  <s xml:id="echoid-s7739" xml:space="preserve">aber dahinter <lb/>ſtecken mathematiſche Regeln von tiefem Ernſt und folgenreicher <lb/>Bedeutung, über welche die beſten Köpfe ſich nicht geſcheut <lb/>haben, viel nachzudenken.</s>
  <s xml:id="echoid-s7740" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7741" xml:space="preserve">Die Zahlen, mit welchen wir unſere Spielerei begannen, <lb/>1, 2, 4, 8, 16, 32 u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7742" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s7743" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s7744" xml:space="preserve">ſind nämlich der Reihe nach die <lb/>ſogenannten Potenzen der Zahl 2 und dieſe ſpielen in der <lb/>Mathematik eine gewaltige Rolle. </s>
  <s xml:id="echoid-s7745" xml:space="preserve">Die Eigentümlichkeit dieſer <lb/>Zahlenreihe anzudeuten, wird es genügen, ſich zu überzeugen, <lb/>wie jede Zahl derſelben immer um eins mehr iſt als die <lb/>Summe aller vorangegangenen zuſammengerechnet. </s>
  <s xml:id="echoid-s7746" xml:space="preserve">Eine weitere <lb/>Fortſetzung ihrer Reihe nach derſelben Regel der Verdoppelung <lb/>ergiebt, wie man mit ſechzehn ſolchen Gewichtsſtücken ſchon <lb/>gar von 1 bis 65 535 wiegen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s7747" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7748" xml:space="preserve">Wir ſehen alſo, wie man 16 Zahlen nach einer ſehr <lb/>ſimpeln Regel ſo aufreihen kann, daß aus ihnen durch bloßes <lb/>Addieren alle Zahlen von 1 bis 65 535 entwickelt werden <lb/>können!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7749" xml:space="preserve">Sollte man dann aber mit Hilfe von einem bißchen Sub-<lb/>trahieren nicht noch viel weiter kommen?</s>
  <s xml:id="echoid-s7750" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7751" xml:space="preserve">Ganz gewiß!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7752" xml:space="preserve">Darum wollen wir uns ein neues Beiſpiel wählen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7753" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7754" xml:space="preserve">Ein noch ſparſamerer Kaufmann will gleichfalls möglichſt <lb/>viel mit möglichſt wenig Gewichtsſtücken wiegen; </s>
  <s xml:id="echoid-s7755" xml:space="preserve">aber er ſagt <lb/>ſich: </s>
  <s xml:id="echoid-s7756" xml:space="preserve">“Es iſt gar nicht nötig, daß ich die Gewichtsſtücke immer
<pb o="111" file="0571" n="571"/>
nur auf die eine Wagſchale und die Waren auf die andere <lb/>lege, ſondern ich könnte wohl auch ein großes Gewichtsſtück <lb/>auf die eine Wagſchale und ein kleines auf die andere legen, <lb/>um den Unterſchied durch das Gewicht der Waren auszu-<lb/>gleichen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7757" xml:space="preserve">” Er meint dadurch an Anſchaffung der Gewichtsſtücke <lb/>ſparen zu können.</s>
  <s xml:id="echoid-s7758" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7759" xml:space="preserve">Hat er recht?</s>
  <s xml:id="echoid-s7760" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7761" xml:space="preserve">Ganz gewiß, wie wir ſogleich ſehen werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s7762" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7763" xml:space="preserve">Er ſchafft ſich ſtatt der früheren acht Gewichtsſtücke nur <lb/>folgende ſechs Stücke an und findet, daß er ſchon mit dieſen <lb/>mehr abwiegen kann als vorher, wenn er einzelne derſelben <lb/>auch als Gegengewicht gebraucht.</s>
  <s xml:id="echoid-s7764" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7765" xml:space="preserve">Dieſe Gewichtsſtücke ſind 1, 3, 9, 27, 81 und 243.</s>
  <s xml:id="echoid-s7766" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7767" xml:space="preserve">Sehen wir zu, wie ſchön er damit fertig wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s7768" xml:space="preserve"/>
</p>
<note position="right" xml:space="preserve"> <lb/>1 # wiegt er mit dem erſten Gewichtsſtück, <lb/>2 # wiegt er, indem er in die eine Schale das Gewichtsſtück \\ 1, in die zweite das Gewichtsſtück 3 legt, <lb/>3 # hat er im Gewichtsſtück ſelber, <lb/>4 # wiegt er mit 1 und 3, <lb/>5 # wiegt er mit 9, gegen welche er 1 und 3 in die zweite \\ Schale legt, <lb/>6 # wiegt er mit 9 gegen 3, <lb/>7 # mit 9 und 1 in der einen und 3 in der zweiten Schale, <lb/>8 # wiegt er mit 9 gegen 1, <lb/>9 # hat er ſelber, <lb/>10 # wiegt er mit 9 und 1, <lb/>11 # wiegt er mit 9 und 3 in der einen und 1 in der zweiten \\ Schale, <lb/>12 # wiegt er mit 9 und 3, <lb/>13 # wiegt er mit 9 und 3 und 1, <lb/>14 # wiegt er mit 27 in der einen und 9 und 3 und 1 in \\ der zweiten Schale. <lb/></note>
<pb o="112" file="0572" n="572"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7769" xml:space="preserve">Und nun brauchen wir’s wohl nicht weiter buchſtäblich <lb/>vorzuführen, ſondern jeder unſerer Leſer wird mit gar leichter <lb/>Mühe das Verfahren weiter verfolgen können und ausfindig <lb/>machen, daß man mit den ſechs Gewichtsſtücken von 1 bis <lb/>364 wiegen kann, während der obige Kaufmann mit acht Ge-<lb/>wichtsſtücken im Abwiegen nur bis zu 255 kommen konnte.</s>
  <s xml:id="echoid-s7770" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7771" xml:space="preserve">Giebt es denn auch eine Regel für dieſe Zahlenreihe?</s>
  <s xml:id="echoid-s7772" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7773" xml:space="preserve">Ganz gewiß. </s>
  <s xml:id="echoid-s7774" xml:space="preserve">Sie iſt ſehr einfach.</s>
  <s xml:id="echoid-s7775" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7776" xml:space="preserve">Während in der obigen Reihe 1, 2, 4, 8, 16 u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7777" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s7778" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s7779" xml:space="preserve">jede <lb/>neue Zahl entſtanden iſt durch Verdoppelung der vorhergehen-<lb/>den Zahl, entſteht in der jetzigen Reihe jede neue Zahl durch <lb/>Verdreifachung der vorangegangenen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7780" xml:space="preserve">Die Zahlen 1, 3, 9 und <lb/>27 entſtehen durch das ſehr einfache Multiplicieren jeder vor-<lb/>herigen Zahl mit 3. </s>
  <s xml:id="echoid-s7781" xml:space="preserve">So geht es denn auch ganz regelrecht <lb/>immer weiter und immerfort mit demſelben Erfolg. </s>
  <s xml:id="echoid-s7782" xml:space="preserve">Will man <lb/>der Reihe von ſechs Zahlen noch zwei zufügen, ſo erhält man <lb/>als Gewichtsſtücke 729 und 2187. </s>
  <s xml:id="echoid-s7783" xml:space="preserve">Und mit einfachem Addieren <lb/>und Subtrahieren derſelben oder, was dasſelbe iſt, mit Gewicht <lb/>und Gegengewicht kann man mit dieſen acht Stücken gar ſchon <lb/>von 1 bis 3280 wiegen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7784" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7785" xml:space="preserve">Nun bedenke man wohl, was es ſagen will, daß in acht <lb/>nach ſehr einfacher Regel zu berechnenden Zahlen ſämtliche <lb/>Zahlen von 1 bis 3280 liegen! Nur noch zwei Zahlen nach <lb/>derſelben Verdreifachungsregel hinzugefügt und eine kinder-<lb/>leichte Rechnung zeigt, wie darin die Zahlen von 1 bis 29 524 <lb/>ſtecken.</s>
  <s xml:id="echoid-s7786" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7787" xml:space="preserve">Aber ſchäme Dich nicht, wenn Dich dies Zahlengeheimnis <lb/>in Staunen verſetzt; </s>
  <s xml:id="echoid-s7788" xml:space="preserve">denn wiſſe: </s>
  <s xml:id="echoid-s7789" xml:space="preserve">Eine Welt voll Denkern und <lb/>Forſchern hat davon nichts gewußt, bis vor hundertundfünfzig <lb/>Jahren ein großer Mann Namens <emph style="sp">Leonhard Euler</emph> aufſtand, <lb/>der dies entdeckt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s7790" xml:space="preserve">Es liegt gar viel in dieſer ſo ſimpel <lb/>ſcheinenden Entdeckung; </s>
  <s xml:id="echoid-s7791" xml:space="preserve">denn hier öffnete ſich eine Bahn zur <lb/>Erforſchung der Eigenſchaften unſerer Zahlen, welche bis auf
<pb o="113" file="0573" n="573"/>
den heutigen Tag die feinſten und begabteſten Denker mit <lb/>neuen und immer neuen Entdeckungen auf dem Gebiet der <lb/>Zahlengeheimniſſe beſchäftigt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7792" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div187" type="section" level="1" n="165">
<head xml:id="echoid-head185" xml:space="preserve">II.</head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7793" xml:space="preserve">Zu den wiſſenſchaftlichen Erfindungen der neueren Zeit, <lb/>welche von dem Publikum am meiſten angeſtaunt werden, gehören <lb/>die Rechenmaſchinen, welche vermittelſt einer Kurbelbewegung <lb/>das Kunſtſtück des Multiplicierens, des Dividierens, das Er-<lb/>heben der Zahlen ins Quadrat und in den Kubus wie das <lb/>ſogenannte Ausziehen von Quadrat- und Kubikwurzeln voll-<lb/>bringen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7794" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7795" xml:space="preserve">Die Methode, wonach dies geſchieht, iſt jedoch eine rein <lb/>wiſſenſchaftliche und beruht auf dem Studium der Eigentüm-<lb/>lichkeit unſerer Zahlen, die in ihren Kombinationen auf ein-<lb/>fache Formeln zurückgeführt werden können. </s>
  <s xml:id="echoid-s7796" xml:space="preserve">Um durch ein <lb/>Beiſpiel dieſe Eigentümlichkeit deutlich zu machen, wollen wir <lb/>hier die Einfachheit der Geſetze der Quadrat- und Kubikzahlen <lb/>von 1 bis 10 vorführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7797" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7798" xml:space="preserve">Das Quadrat einer Zahl erhält man, wenn man eine Zahl <lb/>mit ſich ſelbſt multipliciert. </s>
  <s xml:id="echoid-s7799" xml:space="preserve">So z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7800" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7801" xml:space="preserve">iſt das Quadrat von <lb/>2 gleich 4, denn 2 mal 2 iſt 4. </s>
  <s xml:id="echoid-s7802" xml:space="preserve">Das Quadrat von 3 iſt 9, <lb/>denn 3 mal 3 iſt 9, das Quadrat von 4 iſt 16, denn 4 mal 4 <lb/>iſt 16, das Quadrat von 5 iſt 25 u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7803" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s7804" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s7805" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7806" xml:space="preserve">Nun wollen wir einmal die Quadrate der Zahlen von 1 <lb/>bis 10 hier nebeneinanderſtellen und die Eigentümlichkeit dieſer <lb/>Reihe zeigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7807" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7808" xml:space="preserve">Die Quadrate ſind:</s>
  <s xml:id="echoid-s7809" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7810" xml:space="preserve">1, 4, 9, 16, 25, 36, 49, 64, 81, 100.</s>
  <s xml:id="echoid-s7811" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7812" xml:space="preserve">Sehen wir nun, um wieviel jede dieſer Zahlen wächſt, ſo <lb/>finden wir, daß die zweite Zahl 4 um 3 größer iſt als die <lb/>erſte; </s>
  <s xml:id="echoid-s7813" xml:space="preserve">die dritte 9 iſt um 5 größer als die zweite; </s>
  <s xml:id="echoid-s7814" xml:space="preserve">die vierte</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7815" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s7816" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s7817" xml:space="preserve">Volksbücher XV.</s>
  <s xml:id="echoid-s7818" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="114" file="0574" n="574"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7819" xml:space="preserve">Zahl 16 iſt um 7 größer als die vorangegangene. </s>
  <s xml:id="echoid-s7820" xml:space="preserve">Führen wir <lb/>dieſe Rechnung weiter, ſo erhalten wir eine neue Reihe Zahlen, <lb/>welche die Unterſchiede zwiſchen je zwei der obigen Quadrat-<lb/>zahlen angeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7821" xml:space="preserve">Dieſe Reihe ſieht, wie jedes Kind ausrechnen <lb/>kann, folgendermaßen aus:</s>
  <s xml:id="echoid-s7822" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7823" xml:space="preserve">3, 5, 7, 9, 11, 13, 15, 17, 19.</s>
  <s xml:id="echoid-s7824" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7825" xml:space="preserve">Betrachtet man aber dieſe dritte Zahlenreihe, ſo ſieht man <lb/>bereits auf den erſten Blick, daß jede neue Zahl ſtets um 2 <lb/>größer iſt als die vorangegangene. </s>
  <s xml:id="echoid-s7826" xml:space="preserve">Die Unterſchiede dieſer <lb/>Zahlen iſt 2, 2, 2, 2 u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7827" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s7828" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s7829" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7830" xml:space="preserve">Da ſieht man denn, daß die Quadratzahlen von 1 bis 10 <lb/>auf eine äußerſt einfache und gleichmäßige Steigerung zurück-<lb/>geführt werden können, ſobald man aus dem Unterſchiede der <lb/>Quadratzahlen eine neue Zahlenreihe macht und dieſe neue <lb/>Zahlenreihe wiederum in ihrem Unterſchiede prüft.</s>
  <s xml:id="echoid-s7831" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7832" xml:space="preserve">Dasſelbe äußerſt einfache Geſetz des Wachstums der Qua-<lb/>dratzahlen gilt aber nicht etwa bloß für die Zahlen von 1 <lb/>bis 10, ſondern bis 100, 1000 u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7833" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s7834" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s7835" xml:space="preserve">ins Unendliche. </s>
  <s xml:id="echoid-s7836" xml:space="preserve">Dieſe <lb/>Einfachheit, dieſe Gleichheit wird in den Rechenmaſchinen an-<lb/>gewendet, und ſie bringen durch ihre Mechanismen die Reſultate <lb/>heraus, welche, wenn man über dieſe Einfachheit nicht nach-<lb/>denkt, das Staunen des Publikums erregen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7837" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7838" xml:space="preserve">Mit der Berechnung der Kubikzahlen geht es ebenſo einfach <lb/>zu; </s>
  <s xml:id="echoid-s7839" xml:space="preserve">nur ſind die dazu nötigen Zahlenreihen etwas größer.</s>
  <s xml:id="echoid-s7840" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7841" xml:space="preserve">Eine Kubikzahl entſteht, wenn man eine Zahl mit ſich <lb/>ſelbſt multipliciert und das Reſultat nochmals mit derſelben <lb/>Zahl multipliciert. </s>
  <s xml:id="echoid-s7842" xml:space="preserve">Z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7843" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s7844" xml:space="preserve">die Kubikzahl von 2 iſt 8, denn <lb/>zweimal 2 iſt 4 und zweimal 4 iſt 8; </s>
  <s xml:id="echoid-s7845" xml:space="preserve">das heißt der Kubus <lb/>von 2 iſt 8 (weil 2 mal 2 mal 2 gleich 8 iſt). </s>
  <s xml:id="echoid-s7846" xml:space="preserve">In ganz <lb/>gleicher Weiſe iſt die Kubikzahl von 3 gleich 27 (denn 3 mal <lb/>3 mal 3 macht 27). </s>
  <s xml:id="echoid-s7847" xml:space="preserve">Die Kubikzahl von 4 iſt 64 (denn 4 <lb/>mal 4 mal 4 beträgt 64).</s>
  <s xml:id="echoid-s7848" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="115" file="0575" n="575"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7849" xml:space="preserve">Wir wollen nun einmal die Kubikzahlen von 1 bis 10 <lb/>hier herſetzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7850" xml:space="preserve">Sie lauten:</s>
  <s xml:id="echoid-s7851" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7852" xml:space="preserve">1, 8, 27, 64, 125, 216, 343, 512, 729, 1000.</s>
  <s xml:id="echoid-s7853" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7854" xml:space="preserve">In dieſer Zahlenreihe iſt das Wachstum jeder Zahl gegen-<lb/>über der vorangegangenen ſchon ſehr gewaltig und ſcheinbar <lb/>ſehr verſchieden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7855" xml:space="preserve">Aber wenn wir auch hier dies Wachstum <lb/>näher unterſuchen, kommen wir ſchließlich doch wieder auf ein <lb/>ſehr einfaches und ganz gleiches Geſetz.</s>
  <s xml:id="echoid-s7856" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7857" xml:space="preserve">Wir wollen deshalb auch hier die Reihe des Wachſens <lb/>dieſer Zahlen aufſuchen und dadurch eine neue Zahlenreihe <lb/>ſchaffen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7858" xml:space="preserve">Es wächſt die erſte Zahl 1 zur zweiten Zahl 8 um <lb/>7. </s>
  <s xml:id="echoid-s7859" xml:space="preserve">Die zweite Zahl wächſt zur dritten 27 um 19, die dritte <lb/>Zahl wächſt zur vierten um 37 u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7860" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s7861" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s7862" xml:space="preserve">Die Reihe dieſes <lb/>Wachstums nebeneinandergeſtellt, iſt alſo folgende:</s>
  <s xml:id="echoid-s7863" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7864" xml:space="preserve">7, 19, 37, 61, 91, 127, 169, 217, 271.</s>
  <s xml:id="echoid-s7865" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7866" xml:space="preserve">Sehen wir uns nun das Wachstum dieſer neuen Reihe <lb/>an und ſtellen uns die Zahlen des Wachstums wieder zu einer <lb/>neuen Reihe auf, ſo erhalten wir als das Wachstum von 7 <lb/>zu 19 die Zahl 12, von 19 zu 37 die Zahl 18 u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7867" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s7868" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s7869" xml:space="preserve">, eine <lb/>neue Reihe, die wie folgt ausſieht:</s>
  <s xml:id="echoid-s7870" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7871" xml:space="preserve">12, 18, 24, 30, 36, 42, 48, 54.</s>
  <s xml:id="echoid-s7872" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7873" xml:space="preserve">Unterſuchen wir aber dieſe Reihe Zahlen, ſo finden wir, <lb/>daß der Unterſchied zwiſchen der erſten 12 zur zweiten 18 gleich <lb/>6 iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7874" xml:space="preserve">Dasſelbe iſt aber auch zwiſchen der zweiten und dritten, <lb/>zwiſchen der dritten und vierten u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7875" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s7876" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s7877" xml:space="preserve">der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s7878" xml:space="preserve">Dieſe <lb/>Zahlenreihe wächſt ſehr einfach und gleichmäßig immer um 6.</s>
  <s xml:id="echoid-s7879" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7880" xml:space="preserve">Da ſehen wir denn, wie das Wachstum der Kubikzahlen <lb/>von 1 bis 10 im Anfang ſehr verſchiedenartig erſcheint, doch <lb/>äußerſt einfach wird, ſobald man nur den feinen Kniff an-<lb/>wendet, ihre Unterſchiede in wiederholten Reihen aufzuſuchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7881" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7882" xml:space="preserve">Was wir hier in den Kubikzahlen von 1 bis 10 zeigen, <lb/>ailt aber auch für die Reihe der Zahlen bis in die Unend-
<pb o="116" file="0576" n="576"/>
lichkeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s7883" xml:space="preserve">In der vierten Unterſchiedsreihe wachſen dieſe Kubik-<lb/>zahlen immer nur um 6.</s>
  <s xml:id="echoid-s7884" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7885" xml:space="preserve">Dieſes einfache Zahlengeſetz wird in Rechenmaſchinen an-<lb/>gewendet, um ſcheinbar ſehr komplizierte Exempel auf einfache <lb/>zurückzuführen und durch fein ausgeſonnene Mechanismen aus-<lb/>zurechnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7886" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7887" xml:space="preserve">Zur beſſeren Überſicht ſtellen wir die hier erwähnten <lb/>Zahlenreihen nochmals zuſammen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7888" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7889" xml:space="preserve">Einfachheit des Wachstums der Quadratzahlen:</s>
  <s xml:id="echoid-s7890" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7891" xml:space="preserve">Erſtens, einfache Zahlen: </s>
  <s xml:id="echoid-s7892" xml:space="preserve">1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10.</s>
  <s xml:id="echoid-s7893" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7894" xml:space="preserve">Zweitens, deren Quadrate: </s>
  <s xml:id="echoid-s7895" xml:space="preserve">1, 4, 9, 16, 25, 36, 49, 64, 81, 100.</s>
  <s xml:id="echoid-s7896" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7897" xml:space="preserve">Drittens, Unterſchiede der zweiten Reihe: </s>
  <s xml:id="echoid-s7898" xml:space="preserve">3, 5, 7, 9, 11, 13, <lb/>15, 17, 19.</s>
  <s xml:id="echoid-s7899" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7900" xml:space="preserve">Viertens, Unterſchiede der dritten Reihe: </s>
  <s xml:id="echoid-s7901" xml:space="preserve">2, 2, 2, 2, 2, 2, 2, 2.</s>
  <s xml:id="echoid-s7902" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7903" xml:space="preserve">Einfachheit des Wachstums der Kubikzahlen:</s>
  <s xml:id="echoid-s7904" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7905" xml:space="preserve">Erſtens, einfache Zahlen: </s>
  <s xml:id="echoid-s7906" xml:space="preserve">1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10.</s>
  <s xml:id="echoid-s7907" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7908" xml:space="preserve">Zweitens, deren Kuben: </s>
  <s xml:id="echoid-s7909" xml:space="preserve">1, 8, 27, 64, 125, 216, 343, 512, <lb/>729, 1000.</s>
  <s xml:id="echoid-s7910" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7911" xml:space="preserve">Drittens, deren Unterſchiede: </s>
  <s xml:id="echoid-s7912" xml:space="preserve">7, 19, 37, 61, 91, 127, 169, <lb/>217, 271.</s>
  <s xml:id="echoid-s7913" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7914" xml:space="preserve">Viertens, Unterſchiede der dritten Reihe: </s>
  <s xml:id="echoid-s7915" xml:space="preserve">12, 18, 24, 30, 36, <lb/>42, 48, 54.</s>
  <s xml:id="echoid-s7916" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7917" xml:space="preserve">Fünftens, Unterſchiede der vierten Reihe: </s>
  <s xml:id="echoid-s7918" xml:space="preserve">6, 6, 6, 6, 6, 6, 6.</s>
  <s xml:id="echoid-s7919" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7920" xml:space="preserve">Wem es Vergnügen macht, noch verwickeltere Exempel <lb/>bis zur Einfachheit zurückzuführen, der verſuche es einmal <lb/>mit der vierten Potenz der einfachen Zahlen, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s7921" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s7922" xml:space="preserve">er ſtelle <lb/>ſich die Zahlenreihe auf, die jede Zahl von 1 bis 10 giebt, <lb/>wenn man ſie mit ſich ſelbſt dreimal multipliciert, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s7923" xml:space="preserve">B. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7924" xml:space="preserve">2 mal 2 mal 2 mal 2, was 16 giebt, und 3 mal 3 mal 3 <lb/>mal 3, was gleich iſt 81, 4 mal 4 mal 4 mal 4, gleich 256 <lb/>u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7925" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s7926" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s7927" xml:space="preserve">Aus der ſo erhaltenen Reihe Zahlen ſuche er das
<pb o="117" file="0577" n="577"/>
Wachstum und mache eine neue Reihe, aus dieſer neuen Reihe <lb/>wieder eine Reihe in gleicher Weiſe, aus dieſer wiederum eine <lb/>neue Reihe; </s>
  <s xml:id="echoid-s7928" xml:space="preserve">dann wird er endlich finden, daß die Zahl 24 <lb/>das Grundgeſetz des Wachstums der vierten Potenz iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7929" xml:space="preserve">— <lb/>Treibt man die leichte Rechnung noch weiter in die fünfte und <lb/>ſechste Potenz und weiter, ſo wird man leicht in den Grund-<lb/>Zahlen, welche man da erhält, ein überraſchendes Geſetz <lb/>entdecken, das mit zu den intereſſanteſten Zahlengeheimniſſen <lb/>gehört, welche die kühnſten Denker beſchäftigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7930" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb file="0578" n="578"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div188" type="section" level="1" n="166">
<head xml:id="echoid-head186" xml:space="preserve"><emph style="bf">Vom Spiritismus.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head187" xml:space="preserve"><emph style="bf">I. Einleitende Betrachtungen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7931" xml:space="preserve">Wie ſich in der grauen Vorzeit, als der Menſch zum <lb/>erſtenmale die ihn umgebenden Naturvorgänge mit Ver-<lb/>ſtändnis betrachtete, und ſich zum erſtenmale das Kauſalitäts-<lb/>bedürfnis bei ihm geltend machte, der Glaube an überirdiſche <lb/>Weſen, an Götter und Dämonen, entwickelte, iſt ſchon oft von <lb/>geiſtvollen Forſchern dargelegt worden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7932" xml:space="preserve">Der Menſch fragte <lb/>ſich mit einem Male, wodurch gewiſſe Naturerſcheinungen <lb/>hervorgerufen würden, und hatte damit den entſcheidenden <lb/>Schritt gethan, der ihn endgültig von den Tieren trennte. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7933" xml:space="preserve">Zumal durch die Vorgänge, die ſich beim Gewitter ab-<lb/>ſpielen, mag die Religion entſtanden ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s7934" xml:space="preserve">Der Menſch ſah, <lb/>wie in ungeheuren Strömen das Waſſer vom Himmel ſtürzte, <lb/>er ſah, wie die ſtarken Bäume des Waldes, die er nicht be-<lb/>wegen konnte, hin und her gebogen, wie ſie umgebrochen wurden, <lb/>er hörte, wie es in den Lüften rollte und krachte, er ſah, wie <lb/>ein rätſelhaftes Weſen, gleich einer feurigen Schlange, vom <lb/>Himmel herniederfuhr und ſeine kleine Hütte zerſtörte, er <lb/>ſah, wie ein wunderbar ſchillernder, farbiger Bogen plötz-<lb/>lich ſich am Himmel zeigte, und er ſah keine Hände, welche <lb/>dies alles vollführten, kein Weſen, welches ſolche ihm ſelbſt <lb/>unmöglichen Dinge vollbrachte. </s>
  <s xml:id="echoid-s7935" xml:space="preserve">Manches andere Rätſel noch
<pb o="119" file="0579" n="579"/>
fiel ihm auf, beſonders die Erſcheinungen des Schlafes und <lb/>Todes, die den denkenden Menſchen noch heut oft ſo rätſelhaft <lb/>anmuten; </s>
  <s xml:id="echoid-s7936" xml:space="preserve">und ſo muß es gekommen ſein, daß der Urmenſch <lb/>zuerſt den Gedanken an übermächtige Weſen faßte, “Bilder, <lb/>die ihm gleich waren” an Ausſehen, aber ihn an Kraft über-<lb/>trafen, welche teils freundlich und ſegnend, teils feindlich und <lb/>vernichtend in ſein Leben eingriffen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7937" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7938" xml:space="preserve">So waren es alſo unerklärliche Vorgänge, welche den <lb/>Glauben an mächtige oder gar allmächtige Weſen ſchufen; </s>
  <s xml:id="echoid-s7939" xml:space="preserve">bei <lb/>allen Völkern und — man kann auch ſagen, zu allen Zeiten. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7940" xml:space="preserve">Sobald ſein Kauſalitätsbedürfnis nicht befriedigt wird, nimmt <lb/>der Menſch zu übernatürlichen Erklärungen ſeine Zuflucht. </s>
  <s xml:id="echoid-s7941" xml:space="preserve"><lb/>Jene Erſcheinungen, welche den Urmenſchen ſchreckten, ſind zwar <lb/>jetzt größtenteils auf natürliche Weiſe erklärt, und viele, viele <lb/>andere mit ihnen; </s>
  <s xml:id="echoid-s7942" xml:space="preserve">ſiegend hat die Wiſſenſchaft ihre Leuchte in <lb/>ſo manches Dunkel getaucht, und noch immer dringt ſie raſtlos <lb/>in unermüdlichem Forſchen weiter vor, um immer neue und <lb/>neue Gebiete der Myſtik und dem Aberglauben zu entreißen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7943" xml:space="preserve"><lb/>Aber, ſo weit ſie auch vorſchreitet, immer weitere, ungeahnte <lb/>Hinderniſſe ſtellen ſich ihrem Erkenntnisdrang entgegen, wenn <lb/>ſie auch nicht auf die Dauer ihrem unwiderſtehlichen Anſturm <lb/>ſtand halten können. </s>
  <s xml:id="echoid-s7944" xml:space="preserve">Und jedes vor dem Geiſte des Menſchen <lb/>neu auftauchende Naturrätſel ſcheint ihm zuerſt unzugänglich <lb/>für eine “natürliche” Erklärung, eine Erklärung mit den bisher <lb/>gewonnenen, naturwiſſenſchaftlichen Kenntniſſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s7945" xml:space="preserve">eine Erklärung <lb/>aber verlangt das allmählich ins Rieſenhafte angewachſene <lb/>Kauſalitätsbedürfnis des Menſchen, und ſo nimmt man denn <lb/>nur gar zu leicht ohne weiteres zum Wunderglauben ſeine <lb/>Zuflucht, ſtatt herzhaft dem Geheimnis gegenüber zu treten <lb/>und mit den Siegwaffen der Mathematik und Erfahrung <lb/>den unheimlichen Schleier, welcher darüber liegt, zu zerreißen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7946" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7947" xml:space="preserve">Die Wiſſenſchaft dagegen verfällt in ihrem löblichen Be-<lb/>ſtreben, rein empiriſtiſch zu bleiben, jeder neu ſich andeutenden
<pb o="120" file="0580" n="580"/>
Naturoffenbarung gegenüber leicht in den entgegengeſetzten <lb/>Fehler übertrieben großer Zweifelſucht; </s>
  <s xml:id="echoid-s7948" xml:space="preserve">alles, was ſie nicht er-<lb/>klären kann, und was in ihrer bisherigen Kenntnis keinen An-<lb/>knüpfungspunkt bietet, verwirft ſie von vornherein als thörichte <lb/>Spekulation. </s>
  <s xml:id="echoid-s7949" xml:space="preserve">Aber ſie muß ſich auch ſo verhalten, und erſt <lb/>wenn ſie unwiderlegliche Beweiſe in Händen hat, kann ſie eine <lb/>andre Stellung zu der Frage einnehmen; </s>
  <s xml:id="echoid-s7950" xml:space="preserve">dann allerdings geht <lb/>ſie auch mit Feuereifer daran, alles Myſtiſche zu zerſtören und <lb/>mit der Sonde der Erkenntnis bis in die entlegenſten Schlupf-<lb/>winkel zu dringen.</s>
  <s xml:id="echoid-s7951" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7952" xml:space="preserve">So ſtoßen denn Wiſſenſchaft und Metaphyſik allerorten in <lb/>hartem Kampfe gegen einander; </s>
  <s xml:id="echoid-s7953" xml:space="preserve">denn alle Erſcheinungen im <lb/>menſchlichen Leben, welche der natürlichen Erklärung noch ent-<lb/>rückt ſind, denen die Wiſſenſchaft erſt jetzt Intereſſe entgegen-<lb/>zubringen beginnt, oder die ſie noch vollſtändig ignoriert, wenn <lb/>nicht gar rundweg leugnet, alle dieſe Erſcheinungen — und es <lb/>giebt deren eine große Menge — werden von der Metaphyſik <lb/>als Beweis für ihre Anſchauungen in Anſpruch genommen, ſo <lb/>lange, bis es endlich gelingen wird, eine einfache “Erklärung” <lb/>dafür zu liefern. </s>
  <s xml:id="echoid-s7954" xml:space="preserve">Immer weitere Gebiete fallen der ſtetig vor-<lb/>wärtsſtürmenden Wiſſenſchaft zu; </s>
  <s xml:id="echoid-s7955" xml:space="preserve">die Metaphyſik wird dauernd <lb/>weiter eingeſchränkt, und geängſtigt haſcht ſie nach allem, was <lb/>noch unerklärt und geheimnisvoll im menſchlichen Leben iſt, <lb/>ſaugt es gewiſſermaßen in ſich auf, wie ein Schwamm, und <lb/>ſucht es bei jeder Gelegenheit der Wiſſenſchaft vorwurfsvoll <lb/>entgegen zu ſchleudern, um ihr ihre Ohnmacht und Unvoll-<lb/>kommenheit zu demonſtrieren und dadurch ſich ſelbſt und ihren <lb/>Lieblingsideen ein Recht auf Exiſtenz zu ſichern.</s>
  <s xml:id="echoid-s7956" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7957" xml:space="preserve">Zu vollem Ausbruch iſt der Kampf erſt gekommen, ſeit <lb/>durch Darwins große That auch alle jene Stützen der trans-<lb/>cendentalen Weltauffaſſung, welche bis dahin unwiderleglich <lb/>und unbeſieglich erſchienen, ins Wanken geraten ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s7958" xml:space="preserve">Seit <lb/>dieſer Zeit erſt kann auch wirklich die Rede ſein von jener Be-
<pb o="121" file="0581" n="581"/>
wegung, welche ſich die Gegnerſchaft gegen die naturwiſſen-<lb/>ſchaftliche Weltanſchauung im Grunde genommen zum Haupt-<lb/>zweck gemacht hat, welche ſich deshalb allein mit den von der <lb/>Wiſſenſchaft nicht anerkannten Vorgängen und Erſcheinungen <lb/>beſchäftigt — vom Spiritismus.</s>
  <s xml:id="echoid-s7959" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7960" xml:space="preserve">Wenngleich wir nun natürlich nicht eingehend die verſchiedenen <lb/>Lehren des Spiritismus behandeln können, ſo wollen wir doch <lb/>wenigſtens einige der wichtigſten und bekannteſten Phänomene, <lb/>die der Spiritismus für ſich in Anſpruch nimmt, einer ſorg-<lb/>fältigen, vorurteilsloſen Kritik unterziehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s7961" xml:space="preserve">ſoweit dies bei einem <lb/>ſo heiklen Thema, wo ein jeder gern ſogleich Partei für oder <lb/>wider ergreift, möglich iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s7962" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7963" xml:space="preserve">Wir glauben aber, daß heutzutage der Spiritismus eine <lb/>ſo große Rolle ſpielt und auch ſo großer Beachtung wert iſt, <lb/>daß in einem naturwiſſenſchaftlichen Volksbuch unbedingt <lb/>davon die Rede ſein muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s7964" xml:space="preserve">Alſo friſch ans Werk!</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div189" type="section" level="1" n="167">
<head xml:id="echoid-head188" xml:space="preserve"><emph style="bf">II. Das Tiſchrücken.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7965" xml:space="preserve">Das Tiſchrücken iſt die vielleicht am häufigſten citierte <lb/>Erſcheinung unter allen angeblich ſpiritiſtiſchen Phänomen, iſt <lb/>aber nichts deſtoweniger ein noch ſehr viel umſtrittenes Problem. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7966" xml:space="preserve">Während die Spiritiſten darin einen der ſchlagendſten Beweiſe <lb/>für das Walten von Geiſtern oder “Intelligenzen” erblicken, <lb/>erklären die Antiſpiritiſten das ganze Tiſchrücken für ein Pro-<lb/>dukt überhitzter Phantaſie oder geradezu als einen ganz un-<lb/>glaublichen Schwindel. </s>
  <s xml:id="echoid-s7967" xml:space="preserve">Zwiſchen dieſen beiden extremen An-<lb/>ſchauungen dürfte das Richtige zu ſuchen ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s7968" xml:space="preserve">Wer ſich zu-<lb/>ſammen mit einigen, von gleichem Wiſſensdrange beſeelten und <lb/>unbedingt zuverläſſigen Perſonen einmal ernſtlich mit dem
<pb o="122" file="0582" n="582"/>
Tiſchrücken abgegeben hat, wird alsbald erkennen, daß man es <lb/>hier allerdings mit Thatſachen zu thun hat, welche jeden Ge-<lb/>danken an Betrügerei oder Selbſtbetrug ausſchließen, und wir <lb/>können daher unſren Leſern nur dringend raten, in einer freien <lb/>Stunde mit Hülfe einiger Freunde derartige Experimente an-<lb/>zuſtellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s7969" xml:space="preserve">Wir hoffen allerdings dabei, daß ſie naturwiſſenſchaftlich <lb/>genug geſchult ſind, um nicht gleich nach den erſten, ſehr über-<lb/>raſchenden Reſultaten des Experiments mit Haut und Haar <lb/>dem Spiritismus zu verfallen und fortan auf Geiſter und <lb/>“Intelligenzen” zu ſchwören. </s>
  <s xml:id="echoid-s7970" xml:space="preserve">Wir hoffen vielmehr, ſie werden <lb/>in der rechten Weiſe naturwiſſenſchaftlicher Forſcher verfahren <lb/>und nicht ruhen und raſten, bis ſie die natürliche Deutung <lb/>der ſeltſamen Erſcheinungen ſich klar gemacht haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s7971" xml:space="preserve">Sie <lb/>werden alsdann ſehen, daß das Tiſchrücken weder Einbildung <lb/>iſt oder Schwindel — “Mumpitz”, wie der Berliner gern <lb/>ſagt — noch daß es irgendwie etwas für den Spiritismus be-<lb/>weiſen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s7972" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7973" xml:space="preserve">Freilich, lieber Leſer, du mußt, wenn du vom Tiſchrücken <lb/>hörſt, nicht gleich an fliegende Tiſche u. </s>
  <s xml:id="echoid-s7974" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s7975" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s7976" xml:space="preserve">denken, wovon <lb/>manche Leute fabeln; </s>
  <s xml:id="echoid-s7977" xml:space="preserve">vielmehr iſt die Sache ganz ungeheuer <lb/>einfach, zuerſt ſogar ſchrecklich langweilig . </s>
  <s xml:id="echoid-s7978" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7979" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7980" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s7981" xml:space="preserve">Aber es wird <lb/>ſchon am beſten ſein, wir verſetzen uns gleich einmal in eine kleine <lb/>Geſellſchaft, die ſich mit Tiſchrücken abgiebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7982" xml:space="preserve">Nötig ſind nur <lb/>drei oder vier Perſonen; </s>
  <s xml:id="echoid-s7983" xml:space="preserve">große Vorbereitungen ſind abſolut <lb/>nicht zu treffen; </s>
  <s xml:id="echoid-s7984" xml:space="preserve">das einzige, was wir brauchen, iſt ein mög-<lb/>lichſt leichter, runder, polierter Tiſch, am beſten mit drei Beinen, <lb/>ein ſogenannter Kabinettiſch oder ein Rauchtiſch. </s>
  <s xml:id="echoid-s7985" xml:space="preserve">Die Per-<lb/>ſonen, die wir annehmen wollen, haben alle noch keinen ähn-<lb/>lichen Verſuch unternommen, ja, ſie ſind ſogar alle “ungläubig”. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7986" xml:space="preserve">Betrug ſelbſtverſtändlich ausgeſchloſſen! Gut, die Sitzung be-<lb/>ginnt. </s>
  <s xml:id="echoid-s7987" xml:space="preserve">Die betreffenden Perſonen — ſagen wir drei! — ſtellen <lb/>oder ſetzen ſich um den Tiſch, jeder legt die Hände neben-<lb/>einander vor ſich hin, und zwar ſo, daß die Innenſeiten der
<pb o="123" file="0583" n="583"/>
Finger auf der Tiſchkante liegen und daß die beiden Daumen <lb/>ſich berühren. </s>
  <s xml:id="echoid-s7988" xml:space="preserve">Die kleinen Finger eines jeden müſſen die der <lb/>jeweiligen Nachbarn berühren. </s>
  <s xml:id="echoid-s7989" xml:space="preserve">Je mehr dabei die Hände ge-<lb/>ſpreizt werden, deſto vorteilhafter iſt es für das Experiment, <lb/>allerdings auch deſto anſtrengender; </s>
  <s xml:id="echoid-s7990" xml:space="preserve">werden ſie zu wenig ge-<lb/>ſpreizt, etwa wegen einer zu großen Zahl von beteiligten Per-<lb/>ſonen, ſo wird man auf einen Mißerfolg zu rechnen haben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s7991" xml:space="preserve">Nehmen wir aber an, bei unſern drei Perſonen ſeien alle Vor-<lb/>bedingungen richtig erfüllt, was geſchieht nun?</s>
  <s xml:id="echoid-s7992" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s7993" xml:space="preserve">Zunächſt eine ganze Weile gar nichts. </s>
  <s xml:id="echoid-s7994" xml:space="preserve">Allgemeines, er-<lb/>wartungsvolles Schweigen; </s>
  <s xml:id="echoid-s7995" xml:space="preserve">dann nach einigen Minuten fallen <lb/>ein paar mehr oder weniger gute Witze, die aber alle nur die <lb/>lebhaft ſkeptiſche Geſinnung der Beteiligten bekunden. </s>
  <s xml:id="echoid-s7996" xml:space="preserve">Jetzt <lb/>ſtößt einer abſichtlich oder unabſichtlich mit dem Fuß an den <lb/>Tiſch. </s>
  <s xml:id="echoid-s7997" xml:space="preserve">Entrüſtungsrufe, neue Witze! So vergehen fünf Mi-<lb/>nuten. </s>
  <s xml:id="echoid-s7998" xml:space="preserve">Schon fängt einer an zu raiſonnieren, und man ver-<lb/>nimmt zum erſtenmale von einem Beteiligten, wenn es noch <lb/>länger dauerte, ginge er ab; </s>
  <s xml:id="echoid-s7999" xml:space="preserve">ein anderer proteſtiert da-<lb/>gegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8000" xml:space="preserve">Neue Witze! Der erſte erklärt abermals, er habe nun <lb/>genug, die Hände thäten ihm ſchon weh, die andern machen <lb/>dieſelbe Beobachtung an ſich. </s>
  <s xml:id="echoid-s8001" xml:space="preserve">Kurzes Schweigen, Hoffnungs-<lb/>loſigkeit! “Wollen wir aufhören?</s>
  <s xml:id="echoid-s8002" xml:space="preserve">” “Na, ein paar Minuten <lb/>noch!” Abermaliges Schweigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8003" xml:space="preserve">Die Hände ſchmerzen immer <lb/>mehr. </s>
  <s xml:id="echoid-s8004" xml:space="preserve">“Na, nun noch zwei Minuten; </s>
  <s xml:id="echoid-s8005" xml:space="preserve">dann höre ich aber <lb/>auf.</s>
  <s xml:id="echoid-s8006" xml:space="preserve">” “Ja, ich auch, das hält ja kein Menſch aus.</s>
  <s xml:id="echoid-s8007" xml:space="preserve">” “Es iſt <lb/>zu dumm, daß man ſeine ſchöne Zeit mit ſolchem Unſinn tot <lb/>ſchlägt!” “Na, jetzt gehe ich, es wird ja doch nichts.</s>
  <s xml:id="echoid-s8008" xml:space="preserve">” Da, <lb/>eine leiſe Schwankung des Tiſches nach einer Seite!. </s>
  <s xml:id="echoid-s8009" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s8010" xml:space="preserve">Wehe <lb/>dem Unglücklichen, dem der Tiſch dieſe “Neigung” bezeigt! <lb/>Die beiden andern fallen über ihn her, und die gelindeſte Ver-<lb/>mutung, die ausgeſprochen wird, iſt noch die, daß er ſich einen <lb/>Scherz erlaubt habe. </s>
  <s xml:id="echoid-s8011" xml:space="preserve">Vergebens beteuert der andere ſeine Un-<lb/>ſchuld. </s>
  <s xml:id="echoid-s8012" xml:space="preserve">Aber von Aufhören iſt jetzt nicht die Rede. </s>
  <s xml:id="echoid-s8013" xml:space="preserve">Der Tiſch,
<pb o="124" file="0584" n="584"/>
der all die Aufregung verurſacht hat, ſteht wieder ſteif wie ein <lb/>Klotz und thut, als ob er von gar nichts wüßte. </s>
  <s xml:id="echoid-s8014" xml:space="preserve">Wieder ver-<lb/>gehen zwei Minuten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8015" xml:space="preserve">Man ſpricht abermals von Aufhören. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8016" xml:space="preserve">Da, eine neue Schwankung, nach derſelben Seite wie vorher! <lb/>Nun iſt der Ärmſte als Betrüger entlarvt, er bekommt nicht <lb/>gerade Schmeicheleien zu hören, und wenn die beiden anderen <lb/>ihre Hände nicht auf den Tiſch halten müßten, würden ſie ihm <lb/>wahrſcheinlich in die Haare fahren. </s>
  <s xml:id="echoid-s8017" xml:space="preserve">Aber halt, da ſchwankt <lb/>der Tiſch ſchon wieder, intenſiver als vorher, aber nach einer <lb/>andren Seite! Nun wird den Beteiligten die Sache unheim-<lb/>lich, mit ihrer Weisheit iſt es zu Ende, bis es mit einem Mal <lb/>heißt, jetzt hätte der “Betrüger” nicht den Tiſch zu ſich herab-<lb/>gedrückt, wie vorher, ſondern ihn geſtoßen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8018" xml:space="preserve">Der Grund klingt <lb/>plauſibel, aber nun macht der Tiſch mit einem Mal eine tiefe <lb/>Verbeugung, richtet ſich auf und verbeugt ſich nach einer andern <lb/>Seite. </s>
  <s xml:id="echoid-s8019" xml:space="preserve">Er wirft ordentlich mit “Bücklingen” um ſich, nach <lb/>allen Seiten, wie ein dienſteifriger Lakai. </s>
  <s xml:id="echoid-s8020" xml:space="preserve">Und nun — o <lb/>Wunder! — ein lebhafter Ruck nach rechts! Alle fahren mit <lb/>den Köpfen unter den Tiſch, um zu ſehen, wer der Übelthäter <lb/>iſt, der “mit dem Fuße angeſtoßen” hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s8021" xml:space="preserve">Doch iſt nichts Ver-<lb/>dächtiges zu entdecken. </s>
  <s xml:id="echoid-s8022" xml:space="preserve">Allgemeines Staunen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8023" xml:space="preserve">Da: </s>
  <s xml:id="echoid-s8024" xml:space="preserve">ſchon <lb/>wieder ein Ruck; </s>
  <s xml:id="echoid-s8025" xml:space="preserve">noch einer! Der Tiſch beginnt wahrhaftig <lb/>um ſeine eigene Axe zu rotieren, und doch ſind alle Füße (die <lb/>menſchlichen natürlich) möglichſt weit von ihm entfernt, ſie <lb/>fliehen ihn, wie die Peſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8026" xml:space="preserve">Nun wieder eine Verbeugung um <lb/>30, um 45 Grad; </s>
  <s xml:id="echoid-s8027" xml:space="preserve">der Tiſch wäre gefallen, hätte nicht einer <lb/>raſch zugegriffen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8028" xml:space="preserve">“Nein, Kinder . </s>
  <s xml:id="echoid-s8029" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s8030" xml:space="preserve">.</s>
  <s xml:id="echoid-s8031" xml:space="preserve">” “Das begreif ich nicht.</s>
  <s xml:id="echoid-s8032" xml:space="preserve">” <lb/>“Da hört ja doch aber alles bei auf.</s>
  <s xml:id="echoid-s8033" xml:space="preserve">” Der “Betrüger” muß <lb/>die Daumen hochheben und die kleinen Finger auf die ſeiner <lb/>Nachbarn legen, damit er gar nicht mehr den Tiſch berührt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8034" xml:space="preserve"><lb/>Und dieſer “bewegt ſich doch”, wenn auch nur wenig. </s>
  <s xml:id="echoid-s8035" xml:space="preserve">Die <lb/>Beſchuldigungen der Mogelei fallen hageldicht; </s>
  <s xml:id="echoid-s8036" xml:space="preserve">jeder ſteht <lb/>gegen alle, einer nach dem andern muß über ſich dieſelbe
<pb o="125" file="0585" n="585"/>
Probe ergehen laſſen, wie der “Betrüger” vorher. </s>
  <s xml:id="echoid-s8037" xml:space="preserve">Keiner <lb/>merkt mehr den Schmerz in den Händen, alle ſtarren den Tiſch <lb/>an, der jetzt mit bedeutender Schnelligkeit nach rechts rotiert. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8038" xml:space="preserve">Plötzlich ſteht er ſtill, dann beginnt er, erſt langſam, dann <lb/>immer ſchneller und ſchneller, nach links zu wandern. </s>
  <s xml:id="echoid-s8039" xml:space="preserve">Er <lb/>karamboliert mit einem Spind, ſo daß die Verbindung der <lb/>Hände auf Augenblicke unterbrochen werden muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s8040" xml:space="preserve">Der Tiſch <lb/>wird wieder in die Mitte des Zimmers gebracht, iſt nun aber <lb/>gar nicht mehr zu bändigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8041" xml:space="preserve">Er geberdet ſich wie ein Berſerker, <lb/>den drei Männer zwar umſpannen, aber nicht halten können. </s>
  <s xml:id="echoid-s8042" xml:space="preserve"><lb/>Und ſo geht es fort, bis ſchließlich die Beteiligten, ermüdet <lb/>von dem vielen Laufen, die Sitzung abbrechen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8043" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8044" xml:space="preserve">Wenn einer nicht ſehr “geiſterfeſt” iſt, ſo iſt er — wie <lb/>geſagt — nach ſolchen Erſcheinungen faſt unrettbar dem Spiri-<lb/>tismus verfallen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8045" xml:space="preserve">Nun ja, es waren doch aber auch ganz <lb/>wunderbare, übernatürliche Dinge, die wir da erlebt haben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8046" xml:space="preserve">Sprachen denn nicht jene Erſcheinungen geradezu allen Natur-<lb/>geſetzen Hohn? </s>
  <s xml:id="echoid-s8047" xml:space="preserve">Und ſchlugen ſie nicht allen wiſſenſchaftlichen <lb/>Erfahrungen ins Geſicht? </s>
  <s xml:id="echoid-s8048" xml:space="preserve">Ein lebloſes Möbel, das ſonſt ganz <lb/>harmlos zu ſein ſcheint, und über deſſen Vorleben nichts Nach-<lb/>teiliges bekannt geworden iſt, kann es nicht vertragen, wenn <lb/>es an mehreren Stellen befaßt wird, gerät dadurch in geradezu <lb/>nervöſe Zuckungen und ſucht ſich ſchließlich ſeinen Peinigern <lb/>durch die Flucht zu entziehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8049" xml:space="preserve">So ſieht die Sache aus, und <lb/>da ſollten noch keine Geiſter mit im Spiel ſein? </s>
  <s xml:id="echoid-s8050" xml:space="preserve">Zum wenigſten <lb/>müſſen doch die Leute, die ſich hartnäckigerweiſe, wider beſſere <lb/>Überzeugung natürlich, dem Spiritismus widerſetzen, zugeben, <lb/>daß die ganze Erſcheinung etwas Geheimnisvolles, Wider-<lb/>natürliches an ſich hatte, und daß ſie mindeſtens ſoviel beweiſt: </s>
  <s xml:id="echoid-s8051" xml:space="preserve"><lb/>es giebt noch ganz unerforſchte Naturkräfte. </s>
  <s xml:id="echoid-s8052" xml:space="preserve">Nicht wahr?</s>
  <s xml:id="echoid-s8053" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8054" xml:space="preserve">Ach nein! Wenn man die Sache genauer unterſucht, ſo <lb/>kann man den ſpiritiſtiſch angehauchten Geheimnisſuchern nach-<lb/>weiſen, daß ſie ſich garuicht ſo erhaben übernatürlich, ſondern
<pb o="126" file="0586" n="586"/>
ganz banal natürlich abſpielt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8055" xml:space="preserve">Der erſte, der das Tiſchrücken <lb/>gründlich erforſchte und richtig erklärte, war der große engliſche <lb/>Phyſiker <emph style="sp">Michael Faraday</emph> (1791—1867).</s>
  <s xml:id="echoid-s8056" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8057" xml:space="preserve">Wenn die Hände mehrere Minuten lang in derſelben, <lb/>ſtark geſpreizten Lage verharren, ſo müſſen ſie natürlicherweiſe <lb/>erlahmen, und ſie würden in der freien Luft ſichtlich zu zittern <lb/>anfangen, während ſie ſo einen Halt und eine Stütze am Tiſch <lb/>haben, auf den ſich nun aber ihre ganzen Bewegungen über-<lb/>tragen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8058" xml:space="preserve">Aus dieſen zitternden Bewegungen kann man nun die <lb/>Erſcheinung in all ihren Stadien ableiten; </s>
  <s xml:id="echoid-s8059" xml:space="preserve">je ſtärker jene Be-<lb/>wegungen ſind, deſto beſſer gelingt das Experiment, daher <lb/>eignen ſich leidenſchaftliche, aufgeregte oder nervöſe Perſonen <lb/>am beſten zum Tiſchrücken. </s>
  <s xml:id="echoid-s8060" xml:space="preserve">Gewöhnlich fangen die Hände bei <lb/>der Berührung mit der Tiſchplatte auch noch an zu tran-<lb/>ſpirieren, ſo daß ſie ſich noch leichter auf der polierten Platte <lb/>hin- und herbewegen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s8061" xml:space="preserve">Dieſe Bewegungen bleiben <lb/>uns im großen und ganzen unbewußt, eben deshalb, weil die <lb/>Hände ermüdet ſind, der Tiſch aber reagiert wegen ſeiner <lb/>Leichtigkeit bereits auf verhältnismäßig ſehr ſchwache Ein-<lb/>wirkungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8062" xml:space="preserve">Zunächſt läßt natürlich jeder die Hände, die er <lb/>anfangs nur ganz leiſe auf die Tiſchplatte auflegte, nach und <lb/>nach, ohne es zu merken, immer mehr ſinken; </s>
  <s xml:id="echoid-s8063" xml:space="preserve">dadurch übt er <lb/>ſchon, zumal wenn er ſteht, einen recht kräftigen Druck auf <lb/>den Tiſch aus, auf welchen dieſer durch eine Beugung uach <lb/>der betreffenden Seite reagiert. </s>
  <s xml:id="echoid-s8064" xml:space="preserve">Dadurch wird wiederum, <lb/>was auch nicht zu vernachläſſigen iſt, die Aufregung der be-<lb/>teiligten Perſonen geſteigert, und durch dieſe, wie durch die <lb/>zunehmende Ermüdung der Hände, werden die Bewegungen <lb/>immer lebhafter, der Druck immer intenſiver. </s>
  <s xml:id="echoid-s8065" xml:space="preserve">Nie außer-<lb/>ordentlich kräftig dieſer Druck werden kann, ohne daß man ſich <lb/>deſſen bewußt wird, hat Schreiber dieſes einmal an ſich ſelbſt beob-<lb/>achtet, wo er eine ſehr tiefe Neigung des Tiſches nach ſeiner <lb/>linken Seite allein durch den Druck des kleinen linken Fingers
<pb o="127" file="0587" n="587"/>
veranlaßt hatte, was ihm erſt zum Bewußtſein kam, als ſeine <lb/>beiden Partner den Tiſch plötzlich losließen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8066" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8067" xml:space="preserve">So ſind die Schwankungen des Tiſches zu erklären, wie <lb/>ſteht es nun aber mit dem Rotieren um ſeine Achſe? </s>
  <s xml:id="echoid-s8068" xml:space="preserve">Auch das <lb/>iſt ſehr einfach: </s>
  <s xml:id="echoid-s8069" xml:space="preserve">Nehmen wir z. </s>
  <s xml:id="echoid-s8070" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s8071" xml:space="preserve">an, die Hände einer <lb/>Perſon gleiten etwas nach rechts. </s>
  <s xml:id="echoid-s8072" xml:space="preserve">Dadurch wird auf einen <lb/>Augenblick der leiſe Kontakt mit dem kleinen Finger des linken <lb/>Nachbars unterbrochen, und dieſer wird, um die Berührung <lb/>wieder herzuſtellen, ſeine Hände ebenfalls etwas nach rechts <lb/>verſchieben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8073" xml:space="preserve">Aus demſelben Grunde thut dies dann auch ſein <lb/>Nachbar wieder, und ſo ſind die Hände aller am Tiſch be-<lb/>findlichen Perſonen in einer zwar für gewöhnlich gar nicht <lb/>merkbaren, aber doch zur Fortbewegung des Tiſches aus-<lb/>reichenden Bewegung nach rechts begriffen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8074" xml:space="preserve">Iſt der Tiſch nun <lb/>erſt einmal im Gange, ſo müſſen ihm die Hände ja folgen <lb/>und üben dadurch abermals einen unwillkürlichen Druck nach <lb/>rechts aus, der noch weit kräftiger iſt, als zuvor, der aber <lb/>auch nicht zum Bewußtſein kommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8075" xml:space="preserve">Mehrfach konnte Schreiber <lb/>dieſes beobachten, daß ſchon der bloße Gedanke, der Tiſch <lb/>ſolle nach links oder rechts gehen, ohne den Willensimpuls, <lb/>ihn wirklich dorthin zu bewegen, genügte, um eine Drehung <lb/>in der gewünſchten Richtung zu veranlaſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8076" xml:space="preserve">Wenn dagegen <lb/>einer ſagt, “wir wollen jetzt alle einmal unſere Hände ganz <lb/>ſtill halten”, ſo ſteht der Tiſch ſofort ſtill, da jeder die zitternden <lb/>Handbewegungen durch einige Konzentration des Willens eine <lb/>kurze Zeit lang verhindern kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s8077" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8078" xml:space="preserve">Daß die gegebene Erklärung wirklich die richtige ſein <lb/>muß, konnte Verfaſſer noch ein ander Mal beobachten: </s>
  <s xml:id="echoid-s8079" xml:space="preserve">Einſt <lb/>weilte er in einer größeren Geſellſchaft, und dieſe wollte <lb/>gern das Tiſchrücken verſuchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8080" xml:space="preserve">Es fand ſich aber nur ein <lb/>ziemlich ſchwerer, vierbeiniger, unpolierter, eichener Tiſch vor, <lb/>zu deſſen Umſpannung nicht weniger als 6 Perſonen notwendig <lb/>waren. </s>
  <s xml:id="echoid-s8081" xml:space="preserve">Nichtsdeſtoweniger wurde mit ihm das Experiment
<pb o="128" file="0588" n="588"/>
gemacht, trotzdem von vornherein klar war, daß es mißlingen <lb/>müſſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s8082" xml:space="preserve">So geſchah es auch, wir ſtanden ſchon eine Viertelſtunde <lb/>lang, der Tiſch aber rührte ſich nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8083" xml:space="preserve">Da machte einer den <lb/>Vorſchlag, ein jeder von uns ſolle abſichtlich einen ganz, ganz <lb/>leichten Druck nach rechts ausüben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8084" xml:space="preserve">Dies geſchah auch, und <lb/>auf der Stelle zeigten ſich alle für das Tiſchrücken charak-<lb/>teriſtiſchen Merkmale. </s>
  <s xml:id="echoid-s8085" xml:space="preserve">Der Tiſch begann trotz ſeiner Schwere <lb/>auf dieſen ſcheinbar doch viel zu geringen Druck in der wohl-<lb/>bekannten Weiſe zu rotieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s8086" xml:space="preserve">Damit war die Vermutung, daß <lb/>die ganze Erſcheinung auf natürlichem Wege zu erklären ſei, <lb/>in der glänzendſten Weiſe beſtätigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8087" xml:space="preserve">Denn wenn bei einem <lb/>verhältnismäßig großen und ſchweren, noch dazu vierbeinigen <lb/>Tiſch ſchon ein gerade noch merkbarer Druck genügt, um ihn <lb/>in recht lebhafter, unzweideutiger Weiſe zum “Rücken” zu <lb/>bringen, ſo iſt leicht einzuſehen, daß bei einem 4 oder 5 mal <lb/>leichteren Tiſch zu demſelben Effekt ſchon ein Druck genügt, <lb/>welcher dem einzelnen Individuum garnicht mehr zum Be-<lb/>wußtſein zu kommen braucht, welcher — um den wiſſenſchaftlichen <lb/>Ausdruck zu gebrauchen — “unterhalb der Schwelle des Be-<lb/>wußtſeins” liegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8088" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div190" type="section" level="1" n="168">
<head xml:id="echoid-head189" xml:space="preserve"><emph style="bf">III. Das Tiſchklopfen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8089" xml:space="preserve">Beim eigentlichen Tiſchrücken alſo handelt es ſich um recht <lb/>einfache phyſikaliſche und phyſiologiſche Vorgänge, welche keinem <lb/>bekannten Naturgeſetz auch nur im geringſten widerſtreiten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8090" xml:space="preserve">Nun <lb/>aber haben wir noch einer eng damit verwandten und oft ver-<lb/>bundenen Erſcheinung zu gedenken, nämlich des ſogenannten <lb/><emph style="sp">Tiſchklopfens</emph>. </s>
  <s xml:id="echoid-s8091" xml:space="preserve">Wenn der Tiſch in lebhafter Rotation begriffen <lb/>iſt, ſo pflegt er nicht ſelten ſeine Umdrehungen zeitweilig zu
<pb o="129" file="0589" n="589"/>
unterbrechen und ſich lebhaft nach einer Seite hin zu neigen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8092" xml:space="preserve">Dabei muß er natürlich eins ſeiner Beine in die Luft er-<lb/>heben, und in dieſer Stellung ſoll er nun durch Klopfen mit <lb/>dem freiſchwebenden Fuß auf alle möglichen an ihn gerichteten <lb/>Fragen Antwort geben, indem etwa ein einmaliges Klopfen <lb/>“Nein”, ein zweimaliges “Ja” bedeutet. </s>
  <s xml:id="echoid-s8093" xml:space="preserve">Unter Umſtänden <lb/>wird der Tiſch ſogar ſo redſelig, daß er lange Geſchichten <lb/>erzählt; </s>
  <s xml:id="echoid-s8094" xml:space="preserve">man braucht dazu nur das Alphabet aufzuſagen, ſo <lb/>wird der Tiſch bei dem gewünſchten Buchſtaben prompt mit <lb/>dem Fuß aufſchlagen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8095" xml:space="preserve">Allmählich reihen ſich dann die Buch-<lb/>ſtaben zu Wörtern und Sätzen zuſammen; </s>
  <s xml:id="echoid-s8096" xml:space="preserve">allerdings dauert <lb/>es auf dieſe Weiſe etwas lange, bis man durch eine gütige <lb/>“Intelligenz” etwas zu erfahren bekommt, aber deſto mehr <lb/>Zeit hat man ja dann auch, über alle Wunder der über-<lb/>ſinnlichen Welt, in Ehrfurcht erſterbend, nachzudenken.</s>
  <s xml:id="echoid-s8097" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8098" xml:space="preserve">Schreiber dieſes hatte vor einiger Zeit ſelber Gelegenheit, <lb/>an einer ſolchen Tiſchklopf-Soirée teilzunehmen, und er muß <lb/>geſtehen, daß er anfangs ganz frappiert war von dem prompten <lb/>dreimaligen Aufklopfen des Tiſches, welches jedesmal eintrat, <lb/>wenn bei Aufſagung des Alphabets der jeweilig paſſende, ſinn-<lb/>gemäße Buchſtabe genannt wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s8099" xml:space="preserve">Es ſchien zuerſt ſo, als <lb/>ob ſich wirklich ein vernünftiger Satz entwickeln würde, aber <lb/>als drei oder vier verheißungsvolle Worte fertig geklopft waren, <lb/>wurde nur noch ein grauenhafter Unſinn von wild durch-<lb/>einandergewürfelten Buchſtaben produziert, der nichts weniger <lb/>als “geiſtreich” war. </s>
  <s xml:id="echoid-s8100" xml:space="preserve">Trotzdem freilich gab die vernünftige <lb/>Zuſammenſetzung der erſten Worte (wenn ich mich recht er-<lb/>innere, lauteten ſie: </s>
  <s xml:id="echoid-s8101" xml:space="preserve">“Adolf F . </s>
  <s xml:id="echoid-s8102" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s8103" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s8104" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s8105" xml:space="preserve">.</s>
  <s xml:id="echoid-s8106" xml:space="preserve"><anchor type="note" xlink:href="" symbol="*)"/> darf kein”) zum
Nachdenken Anlaß. </s>
  <s xml:id="echoid-s8107" xml:space="preserve">Nun, die Sache ſtellt ſich bei genauerer <lb/>Betrachtung und Erwägung der begleitenden Umſtände als</s>
</p>
<note symbol="*)" position="foot" xml:space="preserve"> Der dreiſilbige Name einer der am Tiſchklopfen beteiligten <lb/>Perſonen.</note>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8108" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s8109" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s8110" xml:space="preserve">Volksbücher XV.</s>
  <s xml:id="echoid-s8111" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="130" file="0590" n="590"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8112" xml:space="preserve">ungemein einfach heraus. </s>
  <s xml:id="echoid-s8113" xml:space="preserve">Der betreffende Herr, von dem der <lb/>Tiſch ſprach, hegte von vornherein die Überzeugung, daß von <lb/>ihm die Rede ſein würde, nach ſeiner Seite hatte ſich der <lb/>Tiſch auch geneigt, ſo daß der ihm gegenüber befindliche Tiſch-<lb/>fuß in der Luft ſchwebte und die Antworten gab. </s>
  <s xml:id="echoid-s8114" xml:space="preserve">Auf dieſen <lb/>Umſtand iſt Wert zu legen, weil derjenige, welche die geneigte <lb/>Tiſchplatte an ihrer tiefſten Stelle berührt, auf die Bewegungen <lb/>des Tiſches den größten Einfluß hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s8115" xml:space="preserve">Wir haben alſo das <lb/>beachtenswerte Faktum zu konſtatieren, daß von vornherein <lb/>bei einem Teilnehmer die Erwartung beſtand, der Tiſch würde <lb/>bei gewiſſen Buchſtaben, erſt bei a, dann bei d, bei o, bei l <lb/>u. </s>
  <s xml:id="echoid-s8116" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s8117" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s8118" xml:space="preserve">aufklopfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8119" xml:space="preserve">Damit iſt aber ſchon der Schlüſſel des <lb/>ganzen Geheimniſſes gegeben, denn, wie wir ſchon oben ge-<lb/>ſehen haben, genügt ſchon der bloße Wunſch, die bloße Er-<lb/>wartung, Bewegungen des Tiſches in irgend einer Weiſe wahr-<lb/>zunehmen, um die Hände thatſächlich einen Druck mit den <lb/>gewollten Wirkungen ausüben bezw. </s>
  <s xml:id="echoid-s8120" xml:space="preserve">einen bis dahin hervor-<lb/>gebrachten Druck aufheben zu laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8121" xml:space="preserve">Von der Richtigkeit dieſer <lb/>Behauptung kann man ſich mit Leichtigkeit jederzeit überzeugen, <lb/>wenn man einen Stuhl auf zwei Füße ſtellt, ſo daß er “auf <lb/>der Kippe ſteht”, und ihn mit den Händen möglichſt loſe in <lb/>der Schwebe erhält; </s>
  <s xml:id="echoid-s8122" xml:space="preserve">wenn man dann das Alphabet aufſagt in <lb/>der Erwartung, daß der Stuhl bei einem beſtimmten Buch-<lb/>ſtaben umfallen wird, ſo wird man bei Nennung des be-<lb/>treffenden Buchſtaben thatſächlich die Empfindung haben, als <lb/>ob der Stuhl lebhafter wie zuvor zum Fallen neigen wird. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8123" xml:space="preserve">Giebt man dieſer Empfindung nach, ſo wird der Stuhl infolge <lb/>des verminderten Druckes der Hände wirklich “klopfen”. </s>
  <s xml:id="echoid-s8124" xml:space="preserve">Genau <lb/>ebenſo liegen die Verhältniſſe nun aber beim Tiſchrücken, und da-<lb/>durch iſt im oben erzählten Fall das richtige Herausbuchſtabieren <lb/>des Eigennamens ſchon erklärt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8125" xml:space="preserve">Nun, und die andern beiden <lb/>Worte? </s>
  <s xml:id="echoid-s8126" xml:space="preserve">Ebenſo einfach! Auch wenn man gar keine Ver-<lb/>mutungen hegt hinſichtlich des kommenden Wortes, ſo kann
<pb o="131" file="0591" n="591"/>
dennoch ein vernünftiges Wort erklopft werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s8127" xml:space="preserve">man ka@n ſich <lb/>hiervon ebenfalls durch Verſuche mit einem Stuhl überzeugen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8128" xml:space="preserve">Die Erklärung iſt die folgende: </s>
  <s xml:id="echoid-s8129" xml:space="preserve">Da die Hände nie ganz ſtill <lb/>liegen, ſondern ſtets recht merklich zittern, ſo wird man bei <lb/>irgend einem beliebigen Buchſtaben das Gefühl haben, der Stuhl <lb/>ſtrebe ſtärker nach der Erde, als bei einem anderen; </s>
  <s xml:id="echoid-s8130" xml:space="preserve">um ihm <lb/>freien “Willen” zu laſſen, vermindert man unabſichtlich den <lb/>Druck der Hände, und — der Stuhl klopft. </s>
  <s xml:id="echoid-s8131" xml:space="preserve">Damit iſt der erſte <lb/>Buchſtabe des neuen Wortes gewonnen; </s>
  <s xml:id="echoid-s8132" xml:space="preserve">und auch dafür iſt <lb/>geſorgt, daß dieſer Buchſtabe kein gar zu ungewöhnlicher und <lb/>ſeltener werde, denn bei Nennung von Buchſtaben, wie <lb/>q, x, y, pflegt man in der Erwartung, der Tiſch reſp. </s>
  <s xml:id="echoid-s8133" xml:space="preserve">Stuhl <lb/>werde nicht klopfen, viel weniger auf die Bewegungen des <lb/>Möbels zu achten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8134" xml:space="preserve">Iſt ſo der erſte Buchſtabe gegeben, ſo iſt, <lb/>damit ein vernünftiger Sinn zuſtande kommt, die Auswahl <lb/>unter den folgenden Buchſtaben ſchon bedeutend eingeſchränkt; </s>
  <s xml:id="echoid-s8135" xml:space="preserve"><lb/>iſt z. </s>
  <s xml:id="echoid-s8136" xml:space="preserve">B.</s>
  <s xml:id="echoid-s8137" xml:space="preserve">, wie im oben erzählten Fall beim dritten Wort, der <lb/>Buchſtabe d als erſter gegeben, ſo iſt die Wahrſcheinlichkeit, <lb/>daß der zweite ein Vokal wird, ſehr groß, man wird daher <lb/>auch faſt nur auf dieſe ſeine Aufmerkſamkeit lenken. </s>
  <s xml:id="echoid-s8138" xml:space="preserve">Sind aber <lb/>erſt zwei Buchſtaben erklopft, ſo ſucht es ſchon ein jeder <lb/>unwillkürlich ſo zu ergänzen, daß es mit den vorangegangenen <lb/>Worten einen Sinn ergiebt, es herrſcht alſo wieder die Er-<lb/>wartung, bei einem beſtimmten Buchſtaben werde der Tiſch <lb/>klopfen, und das oben beſchriebene Spiel wiederholt ſich. </s>
  <s xml:id="echoid-s8139" xml:space="preserve">Wenn <lb/>aber eine Reihe zuſammenhängender Wörter gegeben ſind, und <lb/>man einen gewiſſen Buchſtaben nicht mehr zu einem Wort <lb/>ergänzen kann, das mit den übrigen einen Sinn ergiebt, ſo <lb/>paßt man die Bewegungen des Tiſches nicht mehr unwill-<lb/>kürlich den eigenen Erwartungen an und — die weiteren <lb/>“Offenbarungen” ſind nur offenbarer Unſinn, man erhält nur <lb/>noch Buchſtaben ohne Sinn und Zuſammenhang.</s>
  <s xml:id="echoid-s8140" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8141" xml:space="preserve">So laſſen ſich Tiſchrücken und Tiſchklopfen auf eine höchſt
<pb o="132" file="0592" n="592"/>
einfache und ungezwungene Weiſe erklären. </s>
  <s xml:id="echoid-s8142" xml:space="preserve">Kein Geſetz der <lb/>Phyſik wird durch ſie verletzt, nur muß man die Erſcheinung <lb/>nicht mit Zuhilfenahme außerperſönlicher Kräfte erklären wollen, <lb/>ſondern ſie auf das phyſiologiſche und vor allem das pſycho-<lb/>logiſche Gebiet hinüberſpielen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8143" xml:space="preserve">Aber die meiſten Menſchen ſehen ſich <lb/>garnicht erſt nach einer natürlichen Erklärung um, ſie ſehen <lb/>das Wunder und — ſtaunend verehren alle das Walten der <lb/>Geiſter, die durch die Hände — pardon! die Füße eines ſchwachen <lb/>Werkzeuges ſolche “übernatürlichen” Dinge verrichten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8144" xml:space="preserve">Daß <lb/>unter ſolchen “geheimnisvollen” Umſtänden der Tiſch unfehlbar <lb/>iſt, iſt ſelbſtverſtändlich, man mag ihn fragen, was man will. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8145" xml:space="preserve">Die Anſicht dieſes Möbels iſt unter allen Umſtänden maß-<lb/>gebend. </s>
  <s xml:id="echoid-s8146" xml:space="preserve">Daß ein ſolcher Aberglaube ebenſo wie jeder andere <lb/>unter Umſtänden ſehr viel Schaden ſtiften kann, braucht wohl <lb/>kaum noch hervorgehoben zu werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s8147" xml:space="preserve">nur ein Beiſpiel ſei hier <lb/>angeführt:</s>
  <s xml:id="echoid-s8148" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8149" xml:space="preserve">Irgend eine Dame erhielt Beſuch, als ſie gerade nicht zu <lb/>Hauſe war. </s>
  <s xml:id="echoid-s8150" xml:space="preserve">Später wurde in einer Geſellſchaft ein Tiſch <lb/>befragt, ob ſie nicht doch zu Haus geweſen wäre und ſich nur <lb/>habe verleugnen laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8151" xml:space="preserve">Die Antwort fiel — natürlich! — <lb/>bejahend aus, und trotz aller Unſchuldsbeteuerungen wurde <lb/>infolge dieſes modernen “Gottesurteils” die Dame für eine <lb/>Lügnerin gehalten und war eine Zeitlang unmöglich geworden.</s>
  <s xml:id="echoid-s8152" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8153" xml:space="preserve">Alſo, lieber Leſer, ſollteſt du einmal in die Lage kommen, <lb/>einer Sitzung beizuwohnen, in der man ſich mit Tiſchrücken oder <lb/>Tiſchklopfen beſchäftigt, ſo mache die Sache ruhig mit: </s>
  <s xml:id="echoid-s8154" xml:space="preserve">du wirſt <lb/>dich königlich amuſieren und gar manche Anregung zum Nach-<lb/>denken erhalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8155" xml:space="preserve">Wenn aber einer dir dadurch demonſtrieren <lb/>will, daß es Geiſter giebt, die mit dem Menſchen ſich auf dieſe <lb/>Weiſe verſtändigen können, ſo weißt du uun die Sache beſſer, <lb/>und wirſt von den Verſtorbenen hoffentlich auch viel zu hoch <lb/>und zu pietätvoll denken, als daß du ihnen eine ſo alberne <lb/>und kindliche Methode des Herumſpukens nach dem Tode zu-
<pb o="133" file="0593" n="593"/>
trauen willſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8156" xml:space="preserve">— Aber laß dich um Himmelswillen nicht in <lb/>in eine wiſſenſchaftliche Unterhaltung und Diskuſſion mit dem <lb/>betreffenden Jünger des Spiritismus ein: </s>
  <s xml:id="echoid-s8157" xml:space="preserve">bekehren wirſt du <lb/>ihn doch nicht und kannſt höchſtens in Gefahr kommen, einen <lb/>guten Freund in ihm zu verlieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s8158" xml:space="preserve">Es giebt eben gewiſſe <lb/>Dinge zwiſchen Himmel und Erde, über die eine Verſtändigung <lb/>entgegengeſetzter Anſichten nicht zu erzielen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8159" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div191" type="section" level="1" n="169">
<head xml:id="echoid-head190" xml:space="preserve"><emph style="bf">IV. Die Klopfgeiſter und der eigentliche</emph> <lb/><emph style="bf">Spiritismus.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8160" xml:space="preserve">Wir wenden uns nunmehr einem andren Problem zu, zu <lb/>einer der berühmteſten und bekannteſten Spukerſcheinungen, den <lb/>Klopflauten, welche in Möbeln der verſchiedenſten Art zuweilen <lb/>hörbar werden und eine Manifeſtation von Geiſtern ſein ſollen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8161" xml:space="preserve">(Es mag vorher erwähnt werden, daß das ſoeben behandelte <lb/>Tiſchklopfen nichts mit dieſen Erſcheinungen zu thun hat.) </s>
  <s xml:id="echoid-s8162" xml:space="preserve">Die <lb/>Spiritiſten behaupten alſo, daß die von ihnen als exiſtenzfähig <lb/>betrachteten Geiſter der Verſtorbenen durch rätſelhafte Klopf-<lb/>laute in allen möglichen Möbeln, wie Stühlen, Tiſchen, <lb/>Spinden u. </s>
  <s xml:id="echoid-s8163" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s8164" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s8165" xml:space="preserve">zuweilen die Menſchen von ihrer Exiſtenz <lb/>und ſomit von einem Leben nach dem Tode zu überzeugen <lb/>ſtreben; </s>
  <s xml:id="echoid-s8166" xml:space="preserve">man ſoll ſich ſogar mit den Geiſtern unterhalten <lb/>können und auf etwaige Fragen auch mehr oder weniger ge-<lb/>ſcheite Antworten bekommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8167" xml:space="preserve">Der unbefangene Leſer wird es <lb/>allerdings von vornherein etwas ſonderbar finden, daß die <lb/>Geiſter ſich nicht auf eine — offen herausgeſagt — etwas <lb/>verſtändigere Art und Weiſe ſollten bemerkbar machen können, <lb/>aber das iſt ja ſchließlich eine Geſchmacksſache, die nichts für <lb/>und nichts wider beweiſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8168" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="134" file="0594" n="594"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8169" xml:space="preserve">Seit wann kennt man wohl ſolche geiſterhaften Klopf-<lb/>erſcheinungen? </s>
  <s xml:id="echoid-s8170" xml:space="preserve">Nun, dieſer Verkehrsweg ſcheint den Geiſtern <lb/>ſelbſt erſt verhältnismäßig recht kurze Zeit bekannt zu ſein, <lb/>denn die Erfindung iſt noch nicht einmal ſo alt, wie die der <lb/>Eiſenbahnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8171" xml:space="preserve">Zum erſtenmal wurde ſie beobachtet am Abend <lb/>des 31. </s>
  <s xml:id="echoid-s8172" xml:space="preserve">März 1848, und zwar in Hydesville im Staate New-<lb/>York. </s>
  <s xml:id="echoid-s8173" xml:space="preserve">Es iſt bedauerlich, daß der “erfinderiſche Geiſt”, welcher <lb/>der Entdecker des Klopfverkehrs war, gerade in einem Lande, <lb/>das in Bezug auf Glaubwürdigkeit etwas verrufen iſt, fern <lb/>von aller Wiſſenſchaft zum erſtenmale ſeine Produktionen <lb/>vorführte. </s>
  <s xml:id="echoid-s8174" xml:space="preserve">Allerdings ſcheint die Familie, welcher die große <lb/>Ehre zu teil wurde, zuerſt des Verkehrs mit Geiſtern ge-<lb/>würdigt zu werden, und die auf den ungewöhnlich ſchönen <lb/>Namen <emph style="sp">Fox</emph> hörte, ungemein intelligent geweſen zu ſein, denn <lb/>an demſelben Abend, an dem ſie das Klopfen zuerſt vernahm, <lb/>wußte ſie auffallenderweiſe auch ſchon, was es zu bedeuten <lb/>habe, und wenige Tage ſpäter kam ſie bereits auf den illuſtren <lb/>Gedanken, das Alphabet aufzuſagen, damit der Geiſt jedesmal <lb/>bei dem gewünſchten Buchſtaben klopfe. </s>
  <s xml:id="echoid-s8175" xml:space="preserve">Fürwahr, ſo intelli-<lb/>gent können doch die Leute auch nur in Amerika ſein! Seit <lb/>jenem Tage hat ſich nun die gleiche Erſcheinung überall oder <lb/>— wir wollen nicht zu viel ſagen! — in allen Ländern, wohin <lb/>die Kunde von jenem Ereignis drang, wieder gezeigt, und zwar <lb/>außerordentlich oft, was um ſo auffallender iſt, als ſie drei <lb/>bis vier Jahrtauſende vorher niemals und nirgends beobachtet <lb/>worden war.</s>
  <s xml:id="echoid-s8176" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8177" xml:space="preserve">Oder kam die große Verbreitung der Klopfgeiſterei vielleicht <lb/>daher, daß man nun jeden unerklärlichen Laut, den man hörte, <lb/>den Geiſtern in die Schuhe ſchob? </s>
  <s xml:id="echoid-s8178" xml:space="preserve">— vorausgeſetzt, daß ſie <lb/>welche haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8179" xml:space="preserve">“Setze dich in ſpäter Nachtſtunde bei halb ver-<lb/>hülltem Lampenſchein an deinen Schreibtiſch und lauere auf <lb/>myſtiſche Laute, — du wirſt Wunderdinge erleben.</s>
  <s xml:id="echoid-s8180" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8181" xml:space="preserve">“Ein ganzes Naturleben erwacht um dich her, das dir
<pb o="135" file="0595" n="595"/>
fremd iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8182" xml:space="preserve">Die Uhr in deiner Weſtentaſche tickt laut wie eine <lb/>Wanduhr. </s>
  <s xml:id="echoid-s8183" xml:space="preserve">Dein Herz klopft in dumpfen Schlägen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8184" xml:space="preserve">Deine <lb/>Kleider raſcheln, reiben ſich, rauſchen bei jedem Atemzug. </s>
  <s xml:id="echoid-s8185" xml:space="preserve">Alle <lb/>deine Möbel knacken. </s>
  <s xml:id="echoid-s8186" xml:space="preserve">Im alten Holz wühlen Larven und <lb/>Käfer, die Tapeten kniſtern. </s>
  <s xml:id="echoid-s8187" xml:space="preserve">Eine einſame, weltabgeſchiedene <lb/>Fliege ſingt im tiefen Baß.</s>
  <s xml:id="echoid-s8188" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8189" xml:space="preserve">“Du hörſt die Ofenwärme, wie ſie arbeitet, die Stoffe <lb/>ausdehnt, bis es allenthalben kracht und klopft. </s>
  <s xml:id="echoid-s8190" xml:space="preserve">Du hörſt die <lb/>langſamen Ausgleiche der Spannungen, die die Schwere her-<lb/>vorruft: </s>
  <s xml:id="echoid-s8191" xml:space="preserve">das Pult, auf das du vorhin ein dickes Buch gelegt, <lb/>thut jetzt einen ſcharfen Knacks im Holz, der Tiſch, auf den <lb/>du achtlos ſeit einer Weile den Arm geſtützt, zittert leiſe nach <lb/>deiner Seite hin”.</s>
  <s xml:id="echoid-s8192" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8193" xml:space="preserve">Dieſe Sätze ſind einem ungemein geiſtvollen Zeitungs-<lb/>Aufſatz entnommen, der unter dem Titel: </s>
  <s xml:id="echoid-s8194" xml:space="preserve">“Moderner Zauber-<lb/>ſpuk” von dem bekannten Schriftſteller <emph style="sp">Wilhelm Bölſche</emph> im <lb/>Jahre 1894 veröffentlicht worden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8195" xml:space="preserve">In dem gleichen Aufſatz <lb/>finden ſich auch noch einige andere Auslaſſungen, die hier zum <lb/>Teil wiedergegeben ſein mögen, da ſie trotz ihrer humoriſtiſchen <lb/>Form von treffendſter Schärfe ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s8196" xml:space="preserve">So ſagte <emph style="sp">Bölſche</emph> z. </s>
  <s xml:id="echoid-s8197" xml:space="preserve">B. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8198" xml:space="preserve">über die eigentümliche und befremdende Methode der Geiſter, <lb/>ſich verſtändlich zu machen, folgendes:</s>
  <s xml:id="echoid-s8199" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8200" xml:space="preserve">“Wir leben nach dem Tode als Geiſter weiter . </s>
  <s xml:id="echoid-s8201" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s8202" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s8203" xml:space="preserve">Aber <lb/>das 'Wie’ iſt entſetzlich. </s>
  <s xml:id="echoid-s8204" xml:space="preserve">Um überhaupt mit den Menſchen als <lb/>Geiſt verkehren zu können, ſteht uns zunächſt nur das Mittel <lb/>offen, zu 'klopfen’: </s>
  <s xml:id="echoid-s8205" xml:space="preserve">in Tiſchen, Schränken und anderen Ge-<lb/>brauchsgegenſtänden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8206" xml:space="preserve">Das direkte Klopfen im Gehirn erſcheint <lb/>unzuläſſig, und ein Menſch z. </s>
  <s xml:id="echoid-s8207" xml:space="preserve">B.</s>
  <s xml:id="echoid-s8208" xml:space="preserve">, der nicht das Geld beſitzt, <lb/>ein geeignetes Möbel ſich zu erwerben, könnte vielleicht zeit-<lb/>lebens ſeinen liebenden väterlichen oder mütterlichen Geiſt zum <lb/>Stillſchweigen verurteilen . </s>
  <s xml:id="echoid-s8209" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s8210" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s8211" xml:space="preserve">Gut, du fragſt, du verlangſt <lb/>Auskunft, du ſprichſt das Alphabet. </s>
  <s xml:id="echoid-s8212" xml:space="preserve">Bei dem Buchſtaben, den <lb/>er bezeichnen will, klopft er Beifall. </s>
  <s xml:id="echoid-s8213" xml:space="preserve">Oft irrt er ſich oder du
<pb o="136" file="0596" n="596"/>
irrſt dich. </s>
  <s xml:id="echoid-s8214" xml:space="preserve">Dann geht die Maſchine ſehr langſam, die Pro-<lb/>zedur fängt auch wohl wieder von vorn an. </s>
  <s xml:id="echoid-s8215" xml:space="preserve">Mit einem <lb/>Schwerhörigen am Telephon oder einem Taubſtummen zu reden, <lb/>ſich mit einem Chineſen ohne Sprachkenntnis zu verſtändigen, <lb/>iſt ein Hochgenuß gegen dieſe Pein.</s>
  <s xml:id="echoid-s8216" xml:space="preserve">”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8217" xml:space="preserve">Stellt man dann ſchließlich die einzelnen Buchſtaben zu-<lb/>ſammen und ſucht einen “geiſtreichen” Satz zu entziffern, ſo <lb/>ſchwirren einem die Lettern in unverſtändlichen, barocken Ver-<lb/>bindungen durcheinander, und man kann kein Wort entziffern. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8218" xml:space="preserve">Nun, dann haben wir vielleicht einige Proben aus der Geiſter-<lb/>ſprache vor uns, oder es iſt doch noch eine größere Reihe von <lb/>Irrtümern bei dem Klopfen mituntergelaufen, vielleicht war auch <lb/>der Geiſt, mit dem wir es zu thun hatten, ein Betrüger und <lb/>wollte uns nur foppen,<anchor type="note" xlink:href="" symbol="*)"/> oder er war “geiſtesgeſtört” und
infolgedeſſen kindiſch und unzurechnungsfähig, aber ein Geiſt <lb/>war auf jeden Fall da. </s>
  <s xml:id="echoid-s8219" xml:space="preserve">Übrigens wird man in der ſpiritiſti-<lb/>ſchen Litteratur dennoch vereinzelte Erzählungen finden, welche <lb/>von vernünftigen Kundgebungen, ja ſogar von wichtigen Ent-<lb/>hüllungen ſprechen, welche durch die Geiſter ausgeklopft worden <lb/>ſein ſollen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8220" xml:space="preserve">So heißt es z. </s>
  <s xml:id="echoid-s8221" xml:space="preserve">B.</s>
  <s xml:id="echoid-s8222" xml:space="preserve">: in jener Familie Fox, durch <lb/>welche die Geiſter zuerſt ihre Exiſtenz der ſtaunenden Welt <lb/>offenbarten, habe man gleich in den erſten Tagen des April 1848 <lb/>durch Klopfgeiſter von einem Morde Kunde erhalten, den der <lb/>frühere Beſitzer des Hauſes 15 Monate vorher an einem herum-<lb/>ziehenden, unbekannten Hauſierer begangen habe, und durch <lb/>Auffindung des Leichnams des Gemordeten im Keller ſei die <lb/>Mitteilung der Geiſter in vollem Umfange beſtätigt worden.</s>
  <s xml:id="echoid-s8223" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8224" xml:space="preserve">Auch noch eine weitere heikle Frage iſt bei den Klopf-<lb/>kundgebungen zu beachten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8225" xml:space="preserve">Unter einem Geiſt ſtellt man ſich <lb/>
<anchor type="note" xlink:label="note-0596-01a" xlink:href="note-0596-01"/>
<pb o="137" file="0597" n="597"/>
doch, ſobald man die Sache von der ernſten Seite auffaßt, ein <lb/>ehrbares, würdevolles Weſen vor, das erhaben über alle <lb/>menſchlichen Thorheiten nur an Vervollkommnung denkt und <lb/>an ſonſtige der idealſten Dinge, die es überhaupt giebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8226" xml:space="preserve">Und <lb/>eben dieſe Geiſter wiſſen nun, wenn ſie den Menſchen über die <lb/>höchſten Probleme Aufſchluß geben oder ihnen die Geheimniſſe, <lb/>welche ihrer nach dem Tode warten, enthüllen wollen, nichts <lb/>Anderes zu thun, als in irgend einem Möbel beſcheidentlich zu <lb/>klopfen, in ſtrenger Befolgung des Spruches: </s>
  <s xml:id="echoid-s8227" xml:space="preserve">“<emph style="sp">Klopfet an</emph>, <lb/>ſo wird euch aufgethan,” bis der unbedeutende Menſch die Ge-<lb/>wogenheit hat, ihnen Audienz zu gewähren. </s>
  <s xml:id="echoid-s8228" xml:space="preserve">Stellen ſie ſich <lb/>damit nicht auf eine Stufe mit Schulknaben, die ihren Lehrer <lb/>foppen wollen und obendrein noch eher Beachtung erlangen, <lb/>als ſie, die erhabenen Geiſter? </s>
  <s xml:id="echoid-s8229" xml:space="preserve">Ja, ſagen die Spiritiſten, “wir <lb/>klingeln oder klopfen, wenn wir Einlaß begehren; </s>
  <s xml:id="echoid-s8230" xml:space="preserve">wie aber <lb/>ſollen es die Geiſter anfangen, um unſere Aufmerkſamkeit auf <lb/>ſich zu lenken?</s>
  <s xml:id="echoid-s8231" xml:space="preserve">” (ſo zu leſen in der Schrift: </s>
  <s xml:id="echoid-s8232" xml:space="preserve">“Der Spiritis-<lb/>mus.</s>
  <s xml:id="echoid-s8233" xml:space="preserve">” Herausgegeben vom Verein Pſyche. </s>
  <s xml:id="echoid-s8234" xml:space="preserve">Berlin 1891. </s>
  <s xml:id="echoid-s8235" xml:space="preserve">S. </s>
  <s xml:id="echoid-s8236" xml:space="preserve">30). <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8237" xml:space="preserve">Hm! Na, alſo ſoviel ſteht feſt, daß den Geiſtern daran liegt, <lb/>unſere Aufmerkſamkeit auf ſich zu lenken, daß ſie ein Intereſſe <lb/>daran haben, mit uns in Verkehr zu treten? </s>
  <s xml:id="echoid-s8238" xml:space="preserve">Dies iſt ein <lb/>höchſt wichtiger und beachtenswerter Umſtand, den wir uns recht <lb/>ſehr merken wollen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8239" xml:space="preserve">Aber eben war ja wohl die Frage auf-<lb/>geworfen, ob denn nicht die Geiſter auch ohne Plattheiten der <lb/>genannten Art ſich bemerkbar machen könnten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8240" xml:space="preserve">Nun, da giebt <lb/>es doch wohl Mittel genug: </s>
  <s xml:id="echoid-s8241" xml:space="preserve">könnten ſie nicht z. </s>
  <s xml:id="echoid-s8242" xml:space="preserve">B.</s>
  <s xml:id="echoid-s8243" xml:space="preserve">, da es ihnen <lb/>doch ſo leicht iſt, übernatürliche Dinge vor ſich gehen zu laſſen und <lb/>das Geſetz der Schwerkraft aufzuheben, ſchwere Laſten oder <lb/>auch Menſchen ſelbſt an ihren Beſtimmungsort bringen u. </s>
  <s xml:id="echoid-s8244" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s8245" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s8246" xml:space="preserve">, <lb/>wodurch ſie ſich beſſer bemerkbar machen und obendrein Dank <lb/>und Gläubigkeit der Menſchheit erwerben würden? </s>
  <s xml:id="echoid-s8247" xml:space="preserve">Aber <lb/>nein, dergleichen thun ſie nicht, ſie heben die Naturgeſetze nur <lb/>auf, um ganz unnötige und unnütze Dinge zu vollbringen, die
<pb o="138" file="0598" n="598"/>
dem Menſchen eher Arbeit machen, als daß ſie ſie ihm <emph style="sp">er-<lb/>leichtern</emph>, und — um Kunſtſtücke zu vollbringen, die <lb/>jeder geſchickte Schwindler ihnen bei einiger Übung nach-<lb/>machen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s8248" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div191" type="float" level="2" n="1">
<note symbol="*)" position="foot" xlink:label="note-0596-01" xlink:href="note-0596-01a" xml:space="preserve"> In einem ſpiritiſtiſchen Auſſatz ſtand einſt wörtlich zu leſen: <lb/>“Gute und böſe Geiſter drängen ſich heran, die einen zu beſſern, die <lb/>andern aus Langeweile, um zu täuſchen.” (!)</note>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8249" xml:space="preserve">Jeder geſchickte Schwindler! Ja, da ſitzt eben der Haken! <lb/>Schon mehr als einmal hat man herausgefunden, daß die an-<lb/>geblich geiſterhaften Klopflaute auf irgend eine, immer ſehr ge-<lb/>ſchickte Weiſe von raffinierten Betrügern hervorgerufen wurden, <lb/>die in einer ganz gewöhnlichen Menſchenhaut ſteckten und mit <lb/>den “Geiſteroffenbarungen” ein ſehr flottes Geſchäft betrieben, <lb/>indem ſie auf die Wunderſucht der Leute ſpekulierten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8250" xml:space="preserve">Und <lb/>mit was für erſchreckend banalen Mitteln hat man die Geiſter-<lb/>laute hervorgebracht! Durch ein bloßes, willkürliches Knacken <lb/>gewiſſer Sehnen des Fußes, ja ſchon vermittelſt der großen <lb/>Zehe im Stiefel kann man bei einiger Übung die erſtaun-<lb/>lichſten Wirkungen hervorbringen, und natürlich kommt ein <lb/>harmloſer Zuſchauer — oder vielmehr Zuhörer — nicht ſo leicht <lb/>auf die verrückte Idee, daß die geheimnisvollen Klopflaute von <lb/>den Füßen einer andren Perſon ausgehen könnten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8251" xml:space="preserve">Auch bei <lb/>der oben erwähnten Familie Fox, der die zweifelhafte Ehre <lb/>der Entdeckung des Geiſterklopfens gebührt, wurde die Sache <lb/>nachher als Schwindel erkannt: </s>
  <s xml:id="echoid-s8252" xml:space="preserve">es war ja auch zu wunderbar, <lb/>daß die Geiſter immer nur dann zu klopfen geneigt waren, <lb/>wenn die eine Tochter des Hauſes zugegen war. </s>
  <s xml:id="echoid-s8253" xml:space="preserve">Nun wird <lb/>es wohl auch klar, wodurch es kam, daß die Familie Fox ſo <lb/>unglaublich ſchnell auf den Gedanken kam, daß das gehörte <lb/>Klopfen von Geiſtern herrührte und daß man durch Auf-<lb/>ſagen des Alphabets einen Verkehr mit ihnen anbahnen <lb/>könne.</s>
  <s xml:id="echoid-s8254" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8255" xml:space="preserve">Noch nie — das kann man mit vollſter Beſtimmtheit be-<lb/>haupten — <emph style="sp">noch nie hat ſich in einer vollkommen zu-<lb/>verläſſigen und von jeglichem Verdacht des Schwin-<lb/>dels freien Geſellſchaft von Perſonen das Geiſter-</emph>
<pb o="139" file="0599" n="599"/>
<emph style="sp">klopfen vernehmen laſſen</emph>, und ehe das nicht geſchieht, hat <lb/>die Naturwiſſenſchaft natürlich abſolut keine Veranlaſſung, die <lb/>Sache ernſt zu nehmen und ſich damit zu beſchäftigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8256" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div193" type="section" level="1" n="170">
<head xml:id="echoid-head191" xml:space="preserve"><emph style="bf">V. Die Schreibmedien.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8257" xml:space="preserve">Ebenſo wenig Vertrauen erweckend wie mit den Klopf-<lb/>erſcheinungen, ſteht es nun auch mit den anderen behaupteten <lb/>Offenbarungen der Geiſter. </s>
  <s xml:id="echoid-s8258" xml:space="preserve">Über allen, aber ausnahmslos <lb/>über allen ſchwebt das merkwürdige Verhängnis, daß ſie dem <lb/>Schwindel und ſonſtigen Täuſchungen in jeder möglichen Ge-<lb/>ſtalt in die Hände arbeiten, zumal da die vorgeblichen Geiſter <lb/>die unangenehme und bedenkliche Angewohnheit haben, ſich faſt <lb/>nur in “Dunkelſitzungen” zu produzieren.</s>
  <s xml:id="echoid-s8259" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8260" xml:space="preserve">Da haben wir zunächſt die Produktionen der “Schreib-<lb/>medien”; </s>
  <s xml:id="echoid-s8261" xml:space="preserve">dies ſind gewiſſe Menſchen, die ſich, mit Papier und <lb/>Bleiſtift oder Schiefertafel und Griffel bewaffnet, hinſetzen, <lb/>ohne die Abſicht irgendwas zu ſchreiben oder zu zeichnen — <lb/>meiſt obendrein wieder im Dunkeln! Und wenn ſie dann ſo <lb/>ein Weilchen geſeſſen haben, entdecken ſie zu ihrem Erſtaunen, <lb/>daß ſie doch etwas geſchrieben oder gekritzelt haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8262" xml:space="preserve">Sehr <lb/>geiſtreich, was? </s>
  <s xml:id="echoid-s8263" xml:space="preserve">Und dieſe Produktionen ſollen nun nach An-<lb/>ſicht der Spiritiſten nur dadurch zu erklären ſein, daß die <lb/>Hand des Mediums von Geiſtern geführt wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s8264" xml:space="preserve">Daß hier <lb/>dem Betrug Thür und Thor offen ſteht, bedarf kaum der Er-<lb/>wähnung, aber auch Leute, die es ganz ehrlich meinen, werden <lb/>in der That nicht ſelten, wenn ſie den vermeintlich ganz <lb/>ſtill auf dem Papier gehaltenen Bleiſtift entfernen, verſchiedene <lb/>Kritzeleien vorfinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8265" xml:space="preserve">Bölſche ſagt darüber: </s>
  <s xml:id="echoid-s8266" xml:space="preserve">“Du ſetzt dich an <lb/>den Tiſch, auch am beſten in ſtiller Nachteinſamkeit, legſt ein
<pb o="140" file="0600" n="600"/>
großes Blatt Papier vor dich hin und ergreifſt einen Blei-<lb/>ſtift. </s>
  <s xml:id="echoid-s8267" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s8268" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s8269" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s8270" xml:space="preserve">Du ſelbſt darfſt an gar nichts denken, das iſt ſtrengſte <lb/>Vorſchrift, — auch wenn’s ſchwer fällt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8271" xml:space="preserve">Nun iſt ſo viel ſicher, <lb/>daß es viele Leute giebt, die in ſolchem Zuſtande anfangen zu <lb/>ſchreiben oder Arabesken zu kritzeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s8272" xml:space="preserve">Meiſt wieder ſinnloſe <lb/>Sachen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8273" xml:space="preserve">Kommt aber irgend ein vernünftiger Satz zu ſtande, <lb/>ſo iſt es gerade der Spiritiſt ſelber, der anfängt zu warnen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8274" xml:space="preserve">Er warnt vor 'Selbſtbetrug’. </s>
  <s xml:id="echoid-s8275" xml:space="preserve">Der ſchleiche ſich hier leicht ein, <lb/>man müſſe ſtreng die Grenze finden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8276" xml:space="preserve">Ganz ehrliche Leute be-<lb/>ſchwindeln ſich bei dieſem Schreiben unglaublich leicht ſelber. </s>
  <s xml:id="echoid-s8277" xml:space="preserve"><lb/>Da wird die Sache alſo noch ſchlimmer. </s>
  <s xml:id="echoid-s8278" xml:space="preserve">Nicht nur die echten <lb/>Geiſter können Schwindler ſein, ſondern auch in jeder ehrlichen <lb/>Erdenhaut kann ein verhüllter Selbſtbeſchwindler ſtecken — der <lb/>erſt bei dieſem Experiment zum Vorſchein kommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8279" xml:space="preserve">Und wo <lb/>finde ich jene erforderliche feine Grenze? </s>
  <s xml:id="echoid-s8280" xml:space="preserve">Liegt ſie, wie Arne <lb/>Garborg einmal ſehr gut geſagt hat, darin, daß notwendiger <lb/>Weiſe ein Geiſt dann mit im Spiel iſt, wenn der geſchriebene <lb/>Blödſinn ſo hochgradig iſt, daß ich ſelbſt ihn — alle meine <lb/>gelegentlichen Leiſtungen an menſchlicher Thorheit in Ehren — <lb/>unmöglich allein produziert haben kann? </s>
  <s xml:id="echoid-s8281" xml:space="preserve">Sie wäre ſelbſt dann <lb/>verzweifelt ſchwer klar zu ziehen, denn es iſt beim leidigen <lb/>Stande der Eitelkeit am Ende doch immer möglich, daß man <lb/>ſelbſt noch dümmer iſt, als man weiß . </s>
  <s xml:id="echoid-s8282" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s8283" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s8284" xml:space="preserve">Die Geiſter können <lb/>dich beſchummeln und du ſelbſt dich ſelbſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8285" xml:space="preserve">Und verſtändige <lb/>Sachen hörſt du auf alle Fälle nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8286" xml:space="preserve">Wenigſtens iſt das bis-<lb/>her nicht vorgekommen, wie ſehr einſichtige Spiritiſten rund-<lb/>weg zugeben.</s>
  <s xml:id="echoid-s8287" xml:space="preserve">’ Wenn aber die Spiritiſten ſelber zugeſtehen, <lb/>die Geiſterantworten ſeien nicht ſelten neckiſch und ſogar albern, <lb/>und wenn ſie dafür die offenbar ſehr naheliegende Erklärung <lb/>geben, daß es auch unwiſſende, unorthographiſch ſchreibende <lb/>und boshafte Geiſter giebt (!), ſo kann man doch derartige <lb/>Erklärungen — um einmal ganz offen zu reden — nicht an-<lb/>ders als höchſt ungeſchickte und kindiſche Verlegenheitsphraſen,
<pb o="141" file="0601" n="601"/>
als unwürdige und unpaſſende Ausflüchte bezeichnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8288" xml:space="preserve">Sollte <lb/>man es wohl für möglich halten, was für unglaublich dumme <lb/>und abgeſchmackte Kindereien zuweilen als Beweis für die <lb/>Exiſtenz von Geiſtern herangezogen werden!</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div194" type="section" level="1" n="171">
<head xml:id="echoid-head192" xml:space="preserve"><emph style="bf">VI. Sonſtige Geiſterkundgebungen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8289" xml:space="preserve">Wir warfen vorhin die Frage auf, ob denn nicht die ſo-<lb/>genannten Geiſter ihre Exiſtenz auf andere und zwar etwas <lb/>verſtändigere Weiſe darthun könnten als durch Klopfen und <lb/>ſinnloſe Kritzeleien. </s>
  <s xml:id="echoid-s8290" xml:space="preserve">Nun, ſie haben noch andere Wege — ob <lb/>dieſe aber als verſtändiger bezeichnet werden können, mag ge-<lb/>troſt dem Urteil des Leſers überlaſſen bleiben.</s>
  <s xml:id="echoid-s8291" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8292" xml:space="preserve">Denke Dir, lieber Leſer, einen zuſammenklappbaren Bett-<lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0601-01a" xlink:href="fig-0601-01"/>
ſchirm in der Weiſe aufgeſtellt, wie <lb/>es Dir nebenſtehende Skizze zeigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8293" xml:space="preserve">In <lb/>dieſen abgegrenzten Verſchlag wird ein <lb/>Stuhl geſtellt, und auf dieſen ſetzt <lb/>ſich ein “Medium” — ohne das geht’s <lb/>nun einmal nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8294" xml:space="preserve">Dies Medium kann <lb/>nun, um jeden Verdacht der Täuſchung <lb/>zu beſeitigen, von mißtrauiſchen Per-<lb/>ſonen aus dem Publikum mit Stricken aller Art an allen <lb/>Gliedern gefeſſelt und auf dem Stuhl feſtgebunden werden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8295" xml:space="preserve">Nachdem dies geſchehen iſt, wird vor die offene, vierte Seite <lb/>des Verſchlages eine Gardine gezogen, ſo daß das Medium <lb/>ſich jetzt in einem nach allen vier Seiten geſchloſſenen Raum <lb/>befindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s8296" xml:space="preserve">Kaum iſt die Innenſeite des Verſchlages nebſt <lb/>Medium und Stuhl den Blicken des Publikums durch die <lb/>Gardine entzogen, ſo beginnt hinter der Gardine ein unglanb-
<pb o="142" file="0602" n="602"/>
liches Rumoren: </s>
  <s xml:id="echoid-s8297" xml:space="preserve">man hört Klopfen und Hämmern, Schellen-<lb/>geläute und Klimpern, krächzende Geigentöne und Knarren; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8298" xml:space="preserve">kurz, es entſteht ein gräulicher Radau, der auf das muſikaliſche <lb/>Gefühl der Geiſter gerade kein allzu günſtiges Licht wirft. </s>
  <s xml:id="echoid-s8299" xml:space="preserve"><lb/>Der Lärm wird immer ärger, und ehe man’s ſich verſieht, fliegen <lb/>alle möglichen Gegenſtände über die Gardine und den Bett-<lb/>ſchirm, Kartoffeln und Äpfel, Knüppel und Knochen und was <lb/>man ſonſt nur begehren kann, auch eine Violine kommt über <lb/>den Vorhang geflogen, und den Schluß bilden ein paar ganz <lb/>ungeheure Knochen von Armeslänge. </s>
  <s xml:id="echoid-s8300" xml:space="preserve">Dann wird der Vorhang <lb/>wieder aufgezogen, und das Medium ſitzt wieder, wie zuvor, <lb/>gefeſſelt auf dem Stuhl und wird erſt durch das Publikum <lb/>von ſeinen Banden befreit.</s>
  <s xml:id="echoid-s8301" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div194" type="float" level="2" n="1">
  <figure xlink:label="fig-0601-01" xlink:href="fig-0601-01a">
    <image file="0601-01" xlink:href="http://echo.mpiwg-berlin.mpg.de/zogilib?fn=/permanent/library/xxxxxxxx/figures/0601-01"/>
  </figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8302" xml:space="preserve">Eine Geiſterkundgebung von überwältigendem Tiefſinn, <lb/>nicht wahr? </s>
  <s xml:id="echoid-s8303" xml:space="preserve">Aber hier iſt doch jede natürliche Erklärung <lb/>ausgeſchloſſen, denn von den über den Vorhang geflogenen <lb/>Gegenſtänden war doch vorher nicht die geringſte Spur zu <lb/>entdecken, und das Medium war doch zum Schluſſe, wie wir <lb/>uns ſelbſt überzeugen konnten, regelrecht gefeſſelt, kann ſich <lb/>alſo doch inzwiſchen nicht freigemacht haben! Und doch wird <lb/>der ſtrenge Forſcher ſich nicht mit dem Medium befreunden <lb/>können: </s>
  <s xml:id="echoid-s8304" xml:space="preserve">“Hm! Geht’s denn nicht auch ohne ſolch ein Medium?</s>
  <s xml:id="echoid-s8305" xml:space="preserve">” <lb/>“Nein”, ſagt der Spiritiſt, “die Geiſter kommen immer nur, <lb/>wenn eine von den ſelten vorkommenden, geeigneten Perſonen, <lb/>den ſogenannten Medien, zugegen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8306" xml:space="preserve">” “So, das iſt ja ein <lb/>ganz eigentümlicher Eigenſinn Ihrer Geiſter, der jedenfalls <lb/>der Sache nicht gerade zum Vorteil gereicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8307" xml:space="preserve">Ich kann mir <lb/>nun mal nicht helfen: </s>
  <s xml:id="echoid-s8308" xml:space="preserve">ſolange dies Medium da hinter dem <lb/>Schirm ſitzt, habe ich ein gewiſſes Mißtrauen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8309" xml:space="preserve">” “Aber das <lb/>verſtehe ich nicht! Wie ſoll denn ein an Händen und Füßen <lb/>gefeſſeltes Medium imſtande ſein, ſolche Produktionen zu voll-<lb/>bringen?</s>
  <s xml:id="echoid-s8310" xml:space="preserve">” “Ja, es thut mir leid, aber ich bin noch nicht <lb/>ganz überzeugt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8311" xml:space="preserve">”</s>
</p>
<pb o="143" file="0603" n="603"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8312" xml:space="preserve">Und ſiehe da! der ſkeptiſche Forſcher iſt doch mit ſeiner <lb/>thöricht ſcheinenden Zweifelſucht vollauf im Recht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8313" xml:space="preserve">Es iſt <lb/>thatſächlich das Medium, das alle jene Wunderdinge verrichtet, <lb/>ſo ſeltſam eine ſolche Behauptung auch auf den erſten Blick <lb/>erſcheinen mag. </s>
  <s xml:id="echoid-s8314" xml:space="preserve">Das Medium kann es durch ein einfaches <lb/>Straffſpannen der Muskeln während der Feſſelung, die ſchou <lb/>ſo wie ſo — um dem Medium nicht Schmerzen zu bereiten — <lb/>nie eine ſehr feſte ſein wird, leicht dahin bringen, daß es ohne <lb/>Mühe aus den Feſſeln herauszuſchlüpfen und vor allem die <lb/>Arme zu beſreien vermag, ebenſo wie es zum Schluß der <lb/>Produktion leicht wieder in die Feſſeln hineinſchlüpfen kann. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8315" xml:space="preserve">Damit iſt freilich ſchon alles gewonnen und alles erklärt, <lb/>denn wenn die Hände und Arme erſt frei beweglich ſind, kann <lb/>das Medium natürlich ſchon unglaublich viel Unfug anſtellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8316" xml:space="preserve"><lb/>Aber wo hat es die zahlloſen Gegenſtände her, mit denen es <lb/>warf, und die es doch nicht etwa alle vorher auf ſeinem Leibe <lb/>verſteckt gehabt haben kann? </s>
  <s xml:id="echoid-s8317" xml:space="preserve">Nun, da giebt es verſchiedene <lb/>Möglichkeiten: </s>
  <s xml:id="echoid-s8318" xml:space="preserve">die einfachſte iſt die, daß ſich in den Stoff-<lb/>wänden des Bettſchirms und des Vorhangs geheime Taſchen <lb/>finden, welche allerlei ſchöne Dinge beherbergen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8319" xml:space="preserve">Voilà c’est <lb/>tout!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8320" xml:space="preserve">Du machſt ein bedenkliches Geſicht, lieber Leſer? </s>
  <s xml:id="echoid-s8321" xml:space="preserve">Die <lb/>Erklärung erſcheint Dir doch ein bißchen gar zu geſucht und <lb/>unwahrſcheinlich? </s>
  <s xml:id="echoid-s8322" xml:space="preserve">Du kannſt Dir erſtens mal nicht recht vor-<lb/>ſtellen, daß das regelrecht gefeſſelte Medium wirklich ſo einfach <lb/>aus ſeinen Banden herauskommt und ſich nachher gar ohne <lb/>weiteres wieder hineinbegeben kann, und zweitens meinſt Du, <lb/>aus obiger Erklärung würde ſich doch die Folgerung ergeben, <lb/>daß alle Spiritiſten Schwindler und Betrüger ſein müßten, <lb/>und das will Dir denn doch nicht recht in den Kopf; </s>
  <s xml:id="echoid-s8323" xml:space="preserve">nicht <lb/>wahr? </s>
  <s xml:id="echoid-s8324" xml:space="preserve">Nun, was den erſten Punkt anbetrifft, ſo kannſt Du’s <lb/>ganz ruhig glauben, daß ein geſchicktes Medium nach einiger <lb/>Übung eine erſtaunliche Fertigkeit darin erlangt, mit größter
<pb o="144" file="0604" n="604"/>
Schnelligkeit die Feſſeln abzuſtreifen und wieder anzulegen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8325" xml:space="preserve">Gerade in den letzten Jahren ſind in zahlreichen deutſchen <lb/>Städten des öfteren durch ein Ehepaar <emph style="sp">Homes-Fey</emph> in Ver-<lb/>bindung mit einem Fräulein <emph style="sp">Davenport</emph> ſogenannte anti-<lb/>ſpiritiſtiſche Soiréen gegeben worden, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s8326" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s8327" xml:space="preserve">Vorſtellungen, in <lb/>denen mit vollendeter Geſchicklichkeit dem Publikum alle mög-<lb/>lichen ſpiritiſtiſchen Erſcheinungen vorgeführt wurden — aber <lb/>mit der ausdrücklichen Erklärung, daß alles auf natürlichem <lb/>Wege ausgeführt werde, zuweilen ſogar mit einer Erklärung <lb/>der vorgeführten “Wunder”. </s>
  <s xml:id="echoid-s8328" xml:space="preserve">Und eins von dieſen Wundern <lb/>war eben auch das oben geſchilderte, und das Publikum konnte <lb/>ſich bei einigen Soiréen, wo die Produktionen bei offenem <lb/>Vorhang ſtattfanden, mit eigenen Augen davon überzeugen, <lb/>wie das Medium ſich von den feſſelnden Stricken losmachte <lb/>und ſie ſich nachher ſelbſt wieder anlegte. </s>
  <s xml:id="echoid-s8329" xml:space="preserve">Sollteſt Du, lieber <lb/>Leſer, mal Gelegenheit haben, die außerordenlich intereſſanten <lb/>und höchſt dankenswerten Vorführungen von Homes-Fey ſehen <lb/>zu können, ſo laſſe ſie ja nicht ungenutzt vorübergehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8330" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8331" xml:space="preserve">“Hm! Das muß ich ja dann wohl allerdings glauben — <lb/>aber es iſt doch einfach nicht denkbar, daß alle die zahlloſen <lb/>Spiritiſten ganz gewöhnliche Schwindler und Betrüger ſind!”, <lb/>ſo wirſt Du ausrufen, und Dein Zweifel hat entſchieden Be-<lb/>rechtigung. </s>
  <s xml:id="echoid-s8332" xml:space="preserve">Uns liegt auch nichts ferner, als gegen jeden <lb/>Spiritiſten einen ſo ſchweren Vorwurf zu ſchleudern: </s>
  <s xml:id="echoid-s8333" xml:space="preserve">aber <lb/>rund heraus wollen wir’s ausſprechen, daß wir die angeblichen <lb/>ſpiritiſtiſchen “<emph style="sp">Medien</emph>“, deren Zahl ja nur eine geringe iſt, <lb/>allerdings <emph style="sp">ausnahmslos</emph> für Taſchenſpieler und Schwindler <lb/>halten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8334" xml:space="preserve">Eine ſo ſchwerwiegende Beſchuldigung verlangt aller-<lb/>dings erſt eine eingehende und vorſichtige Begründung. </s>
  <s xml:id="echoid-s8335" xml:space="preserve">Wir <lb/>glauben aber den Beweis für unſere Behauptung vollauf er-<lb/>bringen zu können und wollen uns daher, ehe wir uns den <lb/>übrigen ſpiritiſtiſchen Phänomenen zuwenden, in einem beſon-<lb/>deren Kapitel mit den Medien der Spiritiſten beſchäftigen und
<pb o="145" file="0605" n="605"/>
den wunderbaren Erfahrungen, die man bisher mit ihnen ſchon <lb/>gemacht hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s8336" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div196" type="section" level="1" n="172">
<head xml:id="echoid-head193" xml:space="preserve"><emph style="bf">VII. Von den ſpiritiſtiſchen Medien.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8337" xml:space="preserve">Wir wollen uns alſo keineswegs auf den Standpunkt der-<lb/>jenigen ſtellen, welche alle Spiritiſten von vornherein für <lb/>Betrüger oder Dummköpfe erklären. </s>
  <s xml:id="echoid-s8338" xml:space="preserve">Wir wiſſen ſehr wohl, <lb/>daß die Spiritiſten höchſt achtbare, ja ſogar recht geiſtreiche <lb/>und kluge Menſchen ſein können. </s>
  <s xml:id="echoid-s8339" xml:space="preserve">Sind doch ſelbſt einige der <lb/>glänzendſten Namen naturwiſſenſchaftlicher Forſchung in den <lb/>Reihen der Spiritiſten zu finden, der des berühmten engliſchen <lb/>Phyſikers Crookes, des hervorragenden italieniſchen Aſtro-<lb/>nomen Schiaparelli, des geiſtvollen italieniſchen Anthro-<lb/>pologen Lombroſo, des hochbedeutenden engliſchen Zoologen <lb/>Ruſſel – Wallace, ebenſo von verſtorbenen deutſchen Natur-<lb/>wiſſenſchaftlern die bekannten Namen Zöllner, Fechner und <lb/>Wilhelm Weber. </s>
  <s xml:id="echoid-s8340" xml:space="preserve">Schon darin liegt ein Beweis, daß man <lb/>dem Spiritismus mit hoher Achtung zu begegnen hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s8341" xml:space="preserve">aller-<lb/>dings wiſſen wir heut mit Beſtimmtheit, daß die Mehrzahl <lb/>der genannten Forſcher Opfer von Schwindlern geweſen iſt, <lb/>daß die Produktionen, welche ſie zum Spiritismus bekehrten, <lb/>ganz raffinierte Taſchenſpielerkunſtſtücke geweſen ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s8342" xml:space="preserve">wir <lb/>kommen darauf noch einmal zurück. </s>
  <s xml:id="echoid-s8343" xml:space="preserve">Was aber jenen paſſiert <lb/>iſt, iſt Tauſenden von anderen Perſonen ebenfalls begegnet, <lb/>Perſonen, die nach beſtem Wiſſen und Gewiſſen zu der Anſicht <lb/>gelangten, die Phänomene, welche ſie erblickt hatten, ließen auf <lb/>natürlichem Wege eine Erklärung nicht zu, weshalb ſie — oft <lb/>vielleicht wider Willen — die Exiſtenz von Geiſtern fortan <lb/>zuzugeben gezwungen waren. </s>
  <s xml:id="echoid-s8344" xml:space="preserve">Und wenn Du, lieber Leſer, das <lb/>vielleicht nicht begreifen kannſt und meinſt, die betreffenden</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8345" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s8346" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s8347" xml:space="preserve">Volksbücher XV.</s>
  <s xml:id="echoid-s8348" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="146" file="0606" n="606"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8349" xml:space="preserve">Perſonen müßten doch wohl etwas leichtgläubig geweſen ſein, <lb/>ſo können wir Dir verſichern, daß jeder, der den Soiréen des <lb/>oben erwähnten Ehepaares Homes-Fey einmal beigewohnt hat, <lb/>ebenfalls rettungslos mit Haut und Haaren dem Spiritismus <lb/>verfallen und fortan auf die Exiſtenz von Geiſtern und In-<lb/>telligenzen ſchwören würde — wenn er nicht eben fortwährend <lb/>die Verſicherung erhielte, es ginge alles mit natürlichen <lb/>Dingen zu. </s>
  <s xml:id="echoid-s8350" xml:space="preserve">Um wieviel mehr wird alſo jemand von der <lb/>Wirklichkeit und Zuverläſſigkeit der geſchauten Wunder über-<lb/>zeugt ſein müſſen, wenn er ſich in einer richtigen ſpiritiſtiſchen <lb/>Sitzung befindet, wo Dunkelheit und Gläubigkeit der übrigen <lb/>Anweſenden die Sache doppelt geheimnisvoll und unheimlich <lb/>erſcheinen laſſen! Ein einziger geſchickter Betrüger vermag <lb/>durch ſeine Produktion Hunderte und Tauſende begeiſterter An-<lb/>hänger des Spiritismus zu ſchaffen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8351" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8352" xml:space="preserve">Du ſchüttelſt den Kopf, lieber Leſer, und willſt nicht <lb/>glauben, daß jemand eine Taſchenſpielerkunſt ſo mißbrauchen <lb/>wird, daß er zahlloſen Menſchen die Köpfe verdreht und die <lb/>Weltanſchauung verwirrt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8353" xml:space="preserve">Aber Du denkſt zu gut von der <lb/>Welt: </s>
  <s xml:id="echoid-s8354" xml:space="preserve">wo’s Geld zu verdienen gab, da fanden ſich noch immer <lb/>Schwindler in reicher Anzahl ein, denen es gleichgültig war, <lb/>was ſie für Unheil mit ihrer Beſchäftigung anrichteten, wenn <lb/>dieſe nur für ſie ſelbſt recht einträglich war. </s>
  <s xml:id="echoid-s8355" xml:space="preserve">Und Geld haben <lb/>die bisherigen Medien alle in ſchwerer Menge verdient, bis <lb/>ſie eines ſchönen Tages vom Schickſal ereilt und als Schwindler <lb/>entlarvt wurden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8356" xml:space="preserve">Es iſt ein bedenkliches Zeichen für die Lehren <lb/>des Spiritismus, daß unter allen bisher aufgetretenen, be-<lb/>kannteren Medien — groß iſt deren Zahl übrigens keineswegs — <lb/>kaum eines zu finden ſein dürfte, das nicht ſchließlich als <lb/>Betrüger gebrandmarkt worden wäre, nachdem es jahrelang <lb/>mit ſeinen ſtaunenswerten Wundern die ſpiritiſtiſche Welt in <lb/>Atem gehalten hatte.</s>
  <s xml:id="echoid-s8357" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8358" xml:space="preserve">Da iſt z. </s>
  <s xml:id="echoid-s8359" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s8360" xml:space="preserve">das berühmteſte aller Medien, <emph style="sp">Slade</emph>, das in
<pb o="147" file="0607" n="607"/>
den 80 er Jahren ſein Weſen trieb, und deſſen Produktionen <lb/>auch unſre genannten großen, deutſchen Forſcher Fechner, <lb/>Wilhelm Weber und Zöllner zum Spiritismus bekehrten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8361" xml:space="preserve">Mit <lb/>Slade ſchien die Sache des Spiritismus zu ſiegen, denn in <lb/>zahlloſen Sitzungen, die mit ihm veranſtaltet wurden, geſchahen <lb/>Wunder über Wunder, und auch die unbefangenſten Zuſchauer <lb/>erklärten, das, was ſie dort geſehen hätten, ginge über den <lb/>Rahmen des Natürlichen hinaus und könne unmöglich auf <lb/>bloße Betrügerei zurückgeführt werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8362" xml:space="preserve">Niemand vermochte <lb/>Slade irgend eine Unregelmäßigkeit nachzuweiſen, bis er <lb/>ſchließlich von kompetenteſter Seite, von ſeinem eigenen Diener <lb/>und Gehilfen, entlarvt wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s8363" xml:space="preserve">Als dieſer ſich aus irgend einem <lb/>Anlaß mit ſeinem Herrn überworfen hatte, rächte er ſich an <lb/>ihm, indem er die Künſte, die er Slade im Laufe der Zeit <lb/>abgelernt hatte, gemeinſam mit ſeiner Frau in antiſpiritiſtiſchen <lb/>Sitzungen nachmachte und erklärte. </s>
  <s xml:id="echoid-s8364" xml:space="preserve">Auch veröffentlichte die <lb/>Frau des genannten Gehilfen, Hildegard Nilsſon, in Fritz <lb/>Mauthners Zeitſchrift “Deutſchland” ſeinerzeit eine Reihe von <lb/>Aufſätzen, in denen ſie Slades Betrügereien vollſtändig enthüllte. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8365" xml:space="preserve">Ähnlich erging es dem kaum weniger berühmten Medium <lb/>Home.</s>
  <s xml:id="echoid-s8366" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8367" xml:space="preserve">Nachdem ſo Slade und Home abgethan waren, war es <lb/>beſonders eine Italienerin, <emph style="sp">Euſapia Paladino</emph>, welche Jahre <lb/>hindurch von ſich reden machte und lange Zeit als das vorzüg-<lb/>lichſte Medium galt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8368" xml:space="preserve">Als eine Amerikanerin, Mrs. </s>
  <s xml:id="echoid-s8369" xml:space="preserve">Williams, <lb/>die eine mit großem Trara angekündigte ſpiritiſtiſche Tournée <lb/>durch die europäiſchen Hauptſtädte unternehmen wollte, am <lb/>31. </s>
  <s xml:id="echoid-s8370" xml:space="preserve">Oktober 1894 zu Paris als Betrügerin entlarvt wurde und <lb/>man aus dieſem Vorkommnis vielfach Kapital gegen den <lb/>Spiritismus ſchlug, da wies die europäiſche ſpiritiſtiſche Preſſe, <lb/>um ſich zu verteidigen, ganz beſonders auf die Paladino hin <lb/>und erklärte: </s>
  <s xml:id="echoid-s8371" xml:space="preserve">ja, über die Mrs. </s>
  <s xml:id="echoid-s8372" xml:space="preserve">Williams könne ſie kein Urteil <lb/>abgeben, aber bevor man dem Spiritismus etwas am Zeuge
<pb o="148" file="0608" n="608"/>
flickte, ſollte man doch erſt einmal der Euſapia Paladino einen <lb/>Schwindel nachweiſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s8373" xml:space="preserve">dazu würde aber niemand imſtande ſein. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8374" xml:space="preserve">Nun, es dauerte nur ein Jahr, und auch die vielgefeierte <lb/>Euſapia, die Euſapia, welche einen Schiaparelli und einen <lb/>Lombroſo zum Spiritismus bekehrt hatte, wurde in England <lb/>ebenfalls als Betrügerin entlarvt und iſt ſeitdem in der Ver-<lb/>ſenkung der Zeitgeſchichte verſchwunden.</s>
  <s xml:id="echoid-s8375" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8376" xml:space="preserve">So erging es den berühmteſten und kompetenteſten ſpiri-<lb/>tiſtiſchen Medien! Man wird demnach wohl zugeben, daß <lb/>es eine heikle Sache iſt mit den Beweiſen des Spiritismus, <lb/>zumal wenn man bedenkt, wieviel andere, weniger berühmte <lb/>und gefeierte Medien im Lauf der Zeit ebenfalls entlarvt <lb/>wurden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8377" xml:space="preserve">Die letzte derartige Entlarvung, die des “Mediums” <lb/><emph style="sp">Bernhard</emph>, fand erſt vor Kurzem in Köln ſtatt; </s>
  <s xml:id="echoid-s8378" xml:space="preserve">zwar <lb/>wurde von ſpiritiſtiſcher Seite, wie immer in derartigen Fällen, <lb/>energiſch beſtritten, daß hier ein Betrug vorgekommen ſei, aber <lb/>als die Gegenpartei das gewiß berechtigte Verlangen ſtellte, <lb/>Bernhard ſolle ſeine Produktionen vor einer erleſenen Kom-<lb/>miſſion von ſtrengen Naturforſchern nochmals vorführen, da-<lb/>mit endlich Klarheit in die Sache gebracht würde, ging man <lb/>bezeichnenderweiſe auf dieſen Vorſchlag nicht ein. </s>
  <s xml:id="echoid-s8379" xml:space="preserve">Der unbe-<lb/>fangene Leſer mag ſich danach ſelbſt ein Bild machen, wie es <lb/>um die Glaubwürdigkeit der Medien beſtellt iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s8380" xml:space="preserve">zum mindeſten <lb/>wird er die Stellungnahme der ſtrengen Naturforſchung ver-<lb/>ſtehen, welche ſich den Medien und den durch ſie herbeigeführten <lb/>Geiſterkundgebungen gegenüber ſchroff ablehnend verhält, ſo-<lb/>lange nicht mindeſtens eine einzige Thatſache vorliegt, die <lb/>unbedingt auf Zuverläſſigkeit Anſpruch machen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s8381" xml:space="preserve">Und <lb/>unter allen bisherigen Medien — das kann man ohne Vor-<lb/>eingenommenheit behaupten — iſt auch noch nicht <emph style="sp">eines</emph> <lb/>geweſen, das mit ſeinen “Wundern” <emph style="sp">jeder</emph> Kritik trotzen und <lb/><emph style="sp">jeder</emph> eingehenden Unterſuchung ſtandhalten konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s8382" xml:space="preserve">Man <lb/>darf es alſo wahrlich der Naturforſchung nicht verübeln, wenn
<pb o="149" file="0609" n="609"/>
ſie nach ſo ſchlimmen Erfahrungen vom Spiritismus nichts <lb/>wiſſen will: </s>
  <s xml:id="echoid-s8383" xml:space="preserve">Gründe genug hat ſie dazu!</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div197" type="section" level="1" n="173">
<head xml:id="echoid-head194" xml:space="preserve"><emph style="bf">VIII. Die Geiſtererſcheinungen und Geiſter-</emph> <lb/><emph style="bf">photographieen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8384" xml:space="preserve">Wenn ſomit nun der Leſer auch mit uns zu der Anſicht <lb/>gekommen ſein wird, daß alles, was mit den ſpiritiſtiſchen <lb/>Medien zuſammenhängt, ein wenig anrüchig iſt, ſo wollen wir <lb/>doch noch kurz einige der weſentlichſten Produktionen derartiger <lb/>Medien beſprechen, teils damit der Leſer vorkommendenfalls <lb/>Beſcheid weiß, woran er iſt, teils damit er erkenne, auf was <lb/>für wunderlichen Grundlagen die ſpiritiſtiſche Lehre ruht.</s>
  <s xml:id="echoid-s8385" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8386" xml:space="preserve">Da haben wir nun als wichtigſte Thatſachen die Geiſter-<lb/>erſcheinungen und alles, was drum und dran hängt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8387" xml:space="preserve">Die <lb/>Geiſter nämlich begnügen ſich nicht immer mit dem in jeder <lb/>Beziehung ſo ungemein “intelligenten” Klopfen, um mit den <lb/>Menſchen in Verkehr zu treten, ſondern manchmal laſſen ſie <lb/>ſich auch herbei, in höchſteigener Geſtalt ſich den Blicken der <lb/>Sterblichen zu zeigen und, wenn ſie beſonders gut gelaunt <lb/>ſind, ſogar mit dem Publikum einige mehr oder weniger “geiſt-<lb/>reiche” Worte zu wechſeln — freilich thun ſie das alles nur, <lb/>wenn erſtens ein “Medium” anweſend iſt, welches die Kunſt <lb/>verſteht, ſie anzulocken, zweitens abſolute Dunkelheit herrſcht <lb/>und drittens das Publikum durch eine angemeſſene Entfernung <lb/>gehindert iſt, ihnen zu nahe auf den Leib zu rücken, wogegen <lb/>ſie ſehr empfindlich zu ſein pflegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8388" xml:space="preserve">Leicht hat man’s alſo <lb/>abſolut nicht, wenn man mal “eines Geiſtes einen Hauch ver-<lb/>ſpüren” will; </s>
  <s xml:id="echoid-s8389" xml:space="preserve">im Gegenteil: </s>
  <s xml:id="echoid-s8390" xml:space="preserve">es iſt ſogar niederträchtig ſchwer.</s>
  <s xml:id="echoid-s8391" xml:space="preserve">
<pb o="150" file="0610" n="610"/>
Die Geiſter ſind nämlich, wie die Spiritiſten ſagen, mißtrauiſch, <lb/>folgen gewöhnlich beim erſten Ruf noch nicht, auch bei den <lb/>folgenden meiſt noch lange nicht, und müſſen erſt langſam, “mit <lb/>Höflichkeit und Ausdauer” gewonnen werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8392" xml:space="preserve">Auch verlangen <lb/>ſie, daß das Zimmer “behaglich und zugfrei” ſei und daß die <lb/>“phyſiſche Atmoſphäre Harmonie erlangt” hat (ſo zu leſen im <lb/>“Spiritismus” S. </s>
  <s xml:id="echoid-s8393" xml:space="preserve">29. </s>
  <s xml:id="echoid-s8394" xml:space="preserve">— Preisfrage: </s>
  <s xml:id="echoid-s8395" xml:space="preserve">wer verſteht’s?) </s>
  <s xml:id="echoid-s8396" xml:space="preserve">In der-<lb/>ſelben Schrift “Der Spiritualismus” ſtand nun aber, wie wir <lb/>oben erfahren haben, (ſiehe S. </s>
  <s xml:id="echoid-s8397" xml:space="preserve">137), daß den Geiſtern ſehr viel <lb/>daran liegt, die Aufmerkſamkeit der Menſchen auf ſich zu <lb/>lenken, alſo mit den Erdenſöhnen in Verkehr zu treten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8398" xml:space="preserve">Wie <lb/>ſich das zuſammenreimt, mag ein andrer entſcheiden; </s>
  <s xml:id="echoid-s8399" xml:space="preserve">wir <lb/>fühlen uns nicht imſtande, ſo was zu begreifen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8400" xml:space="preserve">So viel ſteht <lb/>jedenfalls feſt: </s>
  <s xml:id="echoid-s8401" xml:space="preserve">wenn ein ernſter Forſcher ſich die Mühe giebt <lb/>ſie zu rufen und alle Vorbedingungen nach beſtem Wiſſen und <lb/>Gewiſſen erfüllt hat, ſo kommen ſie nicht; </s>
  <s xml:id="echoid-s8402" xml:space="preserve">mag er auch noch ſo <lb/>ausdauernd, beharrlich und langmütig ſein, ſie kommen nicht <lb/>nur beim erſten Ruf nicht, ſondern auch bei keinem folgenden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8403" xml:space="preserve"><emph style="sp">Wilhelm Bölſche</emph> klagt auch: </s>
  <s xml:id="echoid-s8404" xml:space="preserve">“Lieber Gott, ich bin auch be-<lb/>harrlich geweſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8405" xml:space="preserve">Ich habe, mit gefalteten Händen oder auch <lb/>in die des Nachbars verſchränkt, Stunden um Stunden ge-<lb/>ſeſſen und, wenn man Geiſter ſchwitzen könnte, wäre es ge-<lb/>ſchehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8406" xml:space="preserve">” “Ja,” ſagt der Spiritiſt, “dann ſind eben die Geiſter <lb/>mißtrauiſch geweſen!” Mißtrauiſch; </s>
  <s xml:id="echoid-s8407" xml:space="preserve">aber du lieber Himmel, <lb/>gegen was denn! Etwa dagegen, daß ſich mal ein vorurteils-<lb/>loſer Menſch daran machte zu ſehen, wie es mit ihnen ſtände? </s>
  <s xml:id="echoid-s8408" xml:space="preserve"><lb/>Sie ſollten doch froh ſein, wenn überhaupt mal ein natur-<lb/>wiſſenſchaftlicher Kopf Zeit und Mühe daran wendet ſich mit <lb/>ihnen abzugeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8409" xml:space="preserve">Oder ſchenken ſie ihr Vertrauen nur ſolchen <lb/>Perſonen, die von vornherein feſt und unerſchütterlich an ſie <lb/>glauben? </s>
  <s xml:id="echoid-s8410" xml:space="preserve">Dann freilich möchte eine Verſtändigung ſchwer <lb/>ſein, und die Geiſter dürften auf eine Anerkennung ſeitens <lb/>der naturwiſſenſchaftlichen Forſchung nie zu rechnen haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s8411" xml:space="preserve">
<pb o="151" file="0611" n="611"/>
“Nein,” ſagt der Spiritiſt, “aber du weißt ja doch, daß die <lb/>Geiſter prinzipiell nur dann kommen, wenn unter denen, <lb/>die ſie heraufbeſchwören, ſich ein Medium befindet.</s>
  <s xml:id="echoid-s8412" xml:space="preserve">” Ein <lb/>Medium? </s>
  <s xml:id="echoid-s8413" xml:space="preserve">Ah ſo, pardon, daran hatte ich freilich nicht ge-<lb/>dacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8414" xml:space="preserve">Aber wenn ſie bloß <emph style="sp">ſolchen</emph> Leuten ihr “Vertrauen” <lb/>ſchenken, dann werden ſie uns ſchon geſtatten müſſen, daß wir <lb/>ſie auch ferner ignorieren und als Luft behandeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s8415" xml:space="preserve">Geſchieht <lb/>ihnen ganz recht!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8416" xml:space="preserve">Meinſt Du das nicht auch, lieber Leſer? </s>
  <s xml:id="echoid-s8417" xml:space="preserve">Wenn die Geiſter <lb/>was von uns Naturwiſſenſchaftlern wollen, dann können ſie ja <lb/>zu uns kommen, nicht wahr? </s>
  <s xml:id="echoid-s8418" xml:space="preserve">Wir werden ihnen wahrhaftig <lb/>nicht nachlaufen, wir werden auch ohne ſie fertig, ſogar viel <lb/>beſſer als mit ihnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8419" xml:space="preserve">Haben ſie das Bedürfnis zu exiſtieren <lb/>bezw. </s>
  <s xml:id="echoid-s8420" xml:space="preserve">uns Menſchenkindern von ihrer Exiſtenz Kunde zu geben, <lb/>dann mögen ſie dies auf eine verſtändige Art und Weiſe thun, <lb/>wie man es von halbwegs geſitteten Weſen erwarten darf. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8421" xml:space="preserve">Wenn ſie aber ſich einen Sport daraus machen, die Menſchen <lb/>an der Naſe herumzuführen und — wie die Schulbuben ihren <lb/>Lehrer — aus unkontrollierbarem Hinterhalt mit allerlei Spek-<lb/>takel (Tiſchklopfen, Glockentöne u. </s>
  <s xml:id="echoid-s8422" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s8423" xml:space="preserve">w.) </s>
  <s xml:id="echoid-s8424" xml:space="preserve">und Schabernack <lb/>(fliegende Tiſche, Schinkenknochen, Kartoffeln u. </s>
  <s xml:id="echoid-s8425" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s8426" xml:space="preserve">w.) </s>
  <s xml:id="echoid-s8427" xml:space="preserve">zu <lb/>foppen, ſo ſei die Bemerkung geſtattet, daß man dergleichen <lb/>zum mindeſten nicht gerade als ein Zeichen von Bildung be-<lb/>zeichnen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s8428" xml:space="preserve">Und wenn ſie ſchon mal etwas ernſthafter <lb/>werden und in ſichtbarer Geſtalt ſich den Menſchen produ-<lb/>zieren (ſich “materialiſieren”), ſo geſchieht dies ſtets in ſolcher <lb/>Form, daß jeder geſchickte Schwindler ihnen mit Leichtig-<lb/>keit ihre Künſte nachmachen kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s8429" xml:space="preserve">Und wie oft iſt das ſchon <lb/>geſchehen!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8430" xml:space="preserve">Zahllos ſind die Geſchichten, wo man in irgend einem Geiſt, <lb/>der in vorgeſchriebener Weiſe ins dunkle Zimmer zu ſchweben <lb/>geruhte, irgend einen guten Bekannten entdeckte, der vorher, <lb/>als die Sitzung begann, “Medium” oder “Publikum” geweſen
<pb o="152" file="0612" n="612"/>
war. </s>
  <s xml:id="echoid-s8431" xml:space="preserve">Slade ließ z. </s>
  <s xml:id="echoid-s8432" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s8433" xml:space="preserve">Geiſterhände erſcheinen, indem er ſeine <lb/>entblößten Füße bald hier, bald dort erſcheinen ließ (er war <lb/>in ſeiner Jugend Schlangenmenſch geweſen), da ſeine Hände <lb/>meiſt einer ſcharfen Kontrolle unterlagen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8434" xml:space="preserve">Andre Medien <lb/>machten’s ebenſo: </s>
  <s xml:id="echoid-s8435" xml:space="preserve">man erzählt ſich von Napoleon III. </s>
  <s xml:id="echoid-s8436" xml:space="preserve">eine <lb/>Geſchichte, wonach er in einer ſpiritiſtiſchen Dunkelſitzung die <lb/>ihn berührende eiskalte “Geiſterhand” ſeiner Mutter in höchſt <lb/>pietätloſer Weiſe packte und feſthielt, bis Licht herbeigeſchafft <lb/>war und er ſich überzeugen konnte, daß er den nackten Fuß <lb/>des Entrepreneurs in der Hand hielt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8437" xml:space="preserve">Leicht iſt’s aber, wie <lb/>geſagt, nicht, jemanden, der “Geiſt” markiert, zu entlarven, <lb/>da das “Berühren der Gegenſtände ſtreng unterſagt” und <lb/>meiſt ohne weiteres von vornherein unmöglich gemacht iſt, <lb/>und auf Fragen antworten die Geiſter nur ſehr ſelten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8438" xml:space="preserve">Sie <lb/>können dabei auch gar zu leicht hereinfallen, wie z. </s>
  <s xml:id="echoid-s8439" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s8440" xml:space="preserve">jener <lb/>Geiſt, der auf die Fragen ſeiner im Publikum ſitzenden Witwe <lb/>getreulich antwortete, trotzdem er im Leben immer ſtocktaub <lb/>geweſen war.</s>
  <s xml:id="echoid-s8441" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8442" xml:space="preserve">Wo hat ſich jemals der Fall ereignet, daß eine ſtatt-<lb/>findende Geiſtererſcheinung über jeden Verdacht des Betruges <lb/>erhaben war? </s>
  <s xml:id="echoid-s8443" xml:space="preserve">Wo hat jemals eine Geiſtererſcheinung einer <lb/>ſtrengen naturwiſſenſchaftlichen Unterſuchung ſtand gehalten? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8444" xml:space="preserve">Nie und nirgends! “Halt,” ſagt wieder der Spiritiſt, “haſt <lb/>Du denn nicht davon gehört, daß man zuweilen ſogar auf <lb/>photographiſchen Platten ſolche Geiſtererſcheinungen hat ab-<lb/>bilden und fixieren können? </s>
  <s xml:id="echoid-s8445" xml:space="preserve">daß in gewöhnlichen photographi-<lb/>ſchen Gruppenaufnahmen ſich zuweilen Umriſſe von ganz un-<lb/>geheuren Rieſen-Weſen mit menſchlichen Formen zeigen, deren <lb/>Entſtehung ſich kein Menſch auf natürliche Weiſe erklären <lb/>kann? </s>
  <s xml:id="echoid-s8446" xml:space="preserve">Willſt Du etwa dieſe “Geiſterphotographieen” auch als <lb/>Produkte menſchlichen Betrugs hinſtellen?</s>
  <s xml:id="echoid-s8447" xml:space="preserve">” Ja, die Geiſter-<lb/>photographieen! Es thut uns furchtbar leid, aber wir können <lb/>allerdings auch dieſe nur als Ergebniſſe von Irrtum oder
<pb o="153" file="0613" n="613"/>
Schwindel betrachten, und wir können dieſe Anſicht ebenfalls <lb/>durch einen Hinweis auf vorliegende Thatſachen begründen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8448" xml:space="preserve">Es iſt wirklich zu ſonderbar, daß auch dieſe Art von Geiſter-<lb/>offenbarung durch jeden Photographen künſtlich nachgeahmt <lb/>werden kann, indem er eine ſchon gebrauchte Platte in be-<lb/>ſtimmter Weiſe nochmals verwendet. </s>
  <s xml:id="echoid-s8449" xml:space="preserve">Manchmal mag eine <lb/>ſolche zweimalige Benutzung lediglich aus Verſehen ſtattge-<lb/>funden haben . </s>
  <s xml:id="echoid-s8450" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s8451" xml:space="preserve">. </s>
  <s xml:id="echoid-s8452" xml:space="preserve">da haben wir ſchon eine lächerlich banale <lb/>Erklärung für das “Wunder.</s>
  <s xml:id="echoid-s8453" xml:space="preserve">” Aber auch hier hat mehr als <lb/>einmal der Schwindel ſeine Rechnung gefunden und mit voller <lb/>Abſicht das Publikum dupiert, ſo neben einer Reihe von <lb/>amerikaniſchen Geiſterphotographen der Franzoſe <emph style="sp">Buguet</emph> in <lb/>Paris, welcher 1875 vor Gericht den ganzen Schwindel ein-<lb/>geſtand. </s>
  <s xml:id="echoid-s8454" xml:space="preserve">Auch eine der Hauptleuchten des Spiritismus, der <lb/>ruſſiſche Staatsrat <emph style="sp">Akſakow</emph>, welcher auf Grund eigner Er-<lb/>fahrungen und Erlebniſſe ſich ſeinerzeit für die Echtheit der <lb/>Geiſterphotographieen gar ſehr ins Zeug legte, iſt dabei von <lb/>dem bekannten Medium <emph style="sp">Eglinton</emph> in der jämmerlichſten Weiſe <lb/>beſchwindelt worden.</s>
  <s xml:id="echoid-s8455" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div198" type="section" level="1" n="174">
<head xml:id="echoid-head195" xml:space="preserve"><emph style="bf">IX. Zur Vermeidung von Mißverſtändniſſen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8456" xml:space="preserve">Und nun betrachten wir einmal alles in allem! Was <lb/>bleibt von dem ganzen Spiritismus an Beweiskraft und Zu-<lb/>verläſſigkeit übrig? </s>
  <s xml:id="echoid-s8457" xml:space="preserve">Wo iſt unter den zahlloſen “Wundern” <lb/>des Spiritismus auch nur ein einziges, das nicht eine natür-<lb/>liche Erklärung gefunden hätte, ſobald ihm ein verſtändiger <lb/>Menſch energiſch zu Leibe ging? </s>
  <s xml:id="echoid-s8458" xml:space="preserve">Gewiß, es giebt ja noch <lb/>andre Erſcheinungen, die der Spiritismus als Beweiſe für ſich <lb/>in Anſpruch nimmt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8459" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="154" file="0614" n="614"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8460" xml:space="preserve">Wir haben noch nicht geſprochen von den Erſcheinungen <lb/>des Hellſehens und den Ahnungen, welche die heutige Natur-<lb/>wiſſenſchaft ebenfalls leugnet, für die aber doch ſo viele, be-<lb/>achtenswerte Zeugniſſe vorliegen, daß der vorſichtige Beobachter <lb/>ein Urteil darüber ablehnen und ſich auf den Standpunkt <lb/>ſtellen wird: </s>
  <s xml:id="echoid-s8461" xml:space="preserve">Die Akten darüber ſind noch nicht geſchloſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8462" xml:space="preserve"><anchor type="note" xlink:href="" symbol="*)"/>
Wir haben auch nicht geſprochen von dem ſogenannten <lb/>“Gedankenleſen”, welches ebenfalls auf ſehr einfache und <lb/>intereſſante Weiſe erklärt werden kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s8463" xml:space="preserve">Wir konnten uns hier <lb/>nur auf diejenigen Gebiete einlaſſen, welche mit der Lehre <lb/>von der Exiſtenz der “Geiſter” unmittelbar zuſammenhängen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8464" xml:space="preserve">aber das ſind auch gerade diejenigen Gebiete, mit denen der <lb/>ganze Spiritismus ſteht und fällt, denn wenn man ihm ſeine <lb/>Lehre vom Weben und Wirken der “Geiſter” nimmt, ſo <lb/>bleibt nichts allzu Bemerkenswertes mehr von ihm übrig. </s>
  <s xml:id="echoid-s8465" xml:space="preserve"><lb/>Ihm liegt im weſentlichen nur daran zu beweiſen, daß die <lb/>Seele nach dem Tode des Menſchen fortlebt, und zwar in <lb/>einer höheren, reineren, geläuterten Sphäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s8466" xml:space="preserve">Wie’s aber mit <lb/>dieſen Beweiſen ausſieht, haben wir nun geſehen, und wir <lb/>können nur unſre Verwunderung darüber ausſprechen, daß <lb/>die verklärten Seelen der Verſtorbenen, die erhaben ſind über <lb/>alle niedrigen Triebe des Menſchen, ſich nicht verſtändiger <lb/>ſollten benehmen und offenbaren können, als auf die oben <lb/>genannte Art und Weiſe.</s>
  <s xml:id="echoid-s8467" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8468" xml:space="preserve">Wir haben die wichtigſten Lehren des Spiritismus zu-<lb/>weilen in humoriſtiſchem und ſpottendem Tone behandelt und <lb/>als unhaltbar oder mindeſtens als unbewieſen von A bis Z <lb/>hinzuſtellen verſucht; </s>
  <s xml:id="echoid-s8469" xml:space="preserve">wir möchten aber nicht, daß uns daraus <lb/>der Vorwurf der Befangenheit oder Leichtfertigkeit des Urteils <lb/>
<anchor type="note" xlink:label="note-0614-01a" xlink:href="note-0614-01"/>
<pb o="155" file="0615" n="615"/>
gemacht werde. </s>
  <s xml:id="echoid-s8470" xml:space="preserve">Der Leſer wird auch wohl erkannt haben, <lb/>daß andre Gründe die Urſache dafür waren: </s>
  <s xml:id="echoid-s8471" xml:space="preserve">der waſchechte <lb/>Spiritismus ſtrotzt eben derartig von naiver und abſolut <lb/>kritikloſer Wundergläubigkeit, von kindlichen Widerſprüchen, <lb/>daß der Naturwiſſenſchaftler, wenn er ein bißchen Sinn <lb/>für Humor hat, unmöglich dabei ernſt bleiben kann, mag er <lb/>auch ſonſt jeder gegneriſchen Anſicht mit noch ſo viel Achtung <lb/>begegnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8472" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div198" type="float" level="2" n="1">
<note symbol="*)" position="foot" xlink:label="note-0614-01" xlink:href="note-0614-01a" xml:space="preserve"> Nur nebenbei kann bemerkt werden, daß — ſelbſt die Möglichkeit <lb/>von Ahnungen zugegeben — daraus durchaus noch nicht unbedingt folgen <lb/>würde: hier iſt eine “natürliche” Erklärung unmöglich.</note>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8473" xml:space="preserve">Wir wollen gern zugeben, daß im Seelenleben des <lb/>Menſchen noch außerordentlich viele Rätſel zu finden ſind, daß <lb/>es — um das beliebteſte Schlagwort der Spiritiſten zu ge-<lb/>brauchen — noch viele Dinge zwiſchen Himmel und Erde <lb/>giebt, welche die Schulweisheit ſich nicht träumen läßt, aber <lb/>wir meinen, daß man dieſe mannigfachen Rätſel <emph style="sp">nur</emph> ver-<lb/>mittelſt der ſchrittweiſen Forſchungsmethode der exakten Natur-<lb/>wiſſenſchaft wird nach und nach löſen können, nicht aber da-<lb/>durch, daß man ohne weiteres für alles, worauf man ſich <lb/>“keinen Vers machen” kann, eine übernatürliche Erklärung <lb/>ſucht und ſich dann damit zufrieden giebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8474" xml:space="preserve">Der gewiſſenhafte <lb/>und gründliche Forſcher wird einſehen, daß eine derartige be-<lb/>queme Methode ein Rätſel nur dadurch erklärt und beſeitigt, <lb/>daß ſie mindeſtens zwei neue an deſſen Stelle ſetzt; </s>
  <s xml:id="echoid-s8475" xml:space="preserve">und wer nicht <lb/>gar zu oberflächlich denkt, erkennt bald, daß er damit der <lb/>Forſchung nicht, wie er hofft, den Weg ebnet, ſondern dieſen <lb/>mit den Trümmern eines glücklich hinweggeräumten Hinder-<lb/>niſſes nur noch mehr verrammelt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8476" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8477" xml:space="preserve">Selbſtverſtändlich wird die Naturwiſſenſchaft, wenn ſie <lb/>dem Spiritismus entgegentritt, nun nicht übereilt behaupten <lb/>wollen: </s>
  <s xml:id="echoid-s8478" xml:space="preserve">die Exiſtenz von Geiſtern (im Sinne des Spiritismus) <lb/>iſt <emph style="sp">unmöglich</emph>. </s>
  <s xml:id="echoid-s8479" xml:space="preserve">Zu einer derartig kategoriſchen Behauptung <lb/>reichen unſre immerhin mangelhaften Kenntniſſe bei weitem <lb/>noch nicht aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s8480" xml:space="preserve">Aber das eine kann ſie mit vollſter Zuverſicht <lb/>und beſtem Gewiſſen ausſprechen: </s>
  <s xml:id="echoid-s8481" xml:space="preserve">unſere bisherigen, reichen
<pb o="156" file="0616" n="616"/>
Erfahrungen berechtigen uns in keiner, aber auch in gar keiner <lb/>Weiſe dazu, die Lehren des Spiritismus für einigermaßen <lb/><emph style="sp">wahrſcheinlich</emph>, für mehr als ganz willkürliche Phantaſie-<lb/>gebilde zu halten, die nur im Wunderbedürfnis und in der <lb/>Selbſtliebe der Menſchen ihre Nahrung finden und auch noch lange <lb/>finden werden, die aber mit ſtrenger Forſchung nichts zu thun <lb/>haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8482" xml:space="preserve">Das feſtgegründete, wunderherrliche Gebäude des Wiſſens, <lb/>das die neuere Naturwiſſenſchaft zu errichten begonnen hat, mag, <lb/>ſoweit es bisher vollendet iſt, noch an manchen Stellen ver-<lb/>beſſerungsbedürftig und vervollkommnungsfähig ſein; </s>
  <s xml:id="echoid-s8483" xml:space="preserve">nirgends <lb/>aber in dem ganzen, großen Rieſenbau zeigt ſich bisher eine <lb/>Lücke, ein Riß, der ſich nur mit dem Kitt übernatürlicher Ver-<lb/>legenheitstheorieen ausſtopfen ließe. </s>
  <s xml:id="echoid-s8484" xml:space="preserve">Sollten die vorgeblichen <lb/>Geiſter der Verſtorbenen wirklich, wie die Spiritiſten ihnen <lb/>nachſagen, das Bedürfnis haben, mit der Menſchenwelt in <lb/>Verkehr zu treten, ſo wird die Naturwiſſenſchaft ſich gewiß <lb/>dieſem Verkehr nicht entziehen, aber ihn aufzuſuchen, hat ſie <lb/>keinerlei Grund; </s>
  <s xml:id="echoid-s8485" xml:space="preserve">und ſollte es einſt dahin kommen, daß die <lb/>Geiſter unwiderlegliches Zeugnis für ihre Exiſtenz beizubringen <lb/>vermögen, ſo wird ſicher die geſchmähte “Schulwiſſenſchaft” die <lb/>erſte ſein, welche als begeiſterter Jünger die neue Lehre kündet <lb/>und den einmal erſchloſſenen Ausblick nach allen Richtungen <lb/>zu erweitern und zu vertiefen ſucht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8486" xml:space="preserve">Bevor aber nicht etwas <lb/>Derartiges geſchehen iſt, muß die exakte Forſchung die Hy-<lb/>potheſe von Geiſtern und “Intelligenzen" aufs ſchärfſte ab-<lb/>lehnen und bekämpfen, da bisher auch nicht der Schatten eines <lb/>Beweiſes für die Zuläſſigkeit einer ſolchen Theorie vorliegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8487" xml:space="preserve">— <lb/>Wie einſt der römiſche Geſandte dem nach langen Beratungen <lb/>noch immer unſchlüſſigen karthagiſchen Senat die ſtolzen Worte <lb/>zurief: </s>
  <s xml:id="echoid-s8488" xml:space="preserve">“Ich trage in den Falten meiner Toga Krieg und <lb/>Frieden; </s>
  <s xml:id="echoid-s8489" xml:space="preserve">wählt!” genau ebenſo ſteht die moderne Natur-<lb/>wiſſenſchaft den vom Spiritismus ſo energiſch verteidigten <lb/>Geiſtern gegenüber und ruft ihnen zu: </s>
  <s xml:id="echoid-s8490" xml:space="preserve">“In Eurer Hand liegt’s,
<pb o="157" file="0617" n="617"/>
wie ich mich zu euch ſtellen ſoll; </s>
  <s xml:id="echoid-s8491" xml:space="preserve">mir iſt es gleich. </s>
  <s xml:id="echoid-s8492" xml:space="preserve">Wenn Ihr <lb/>es wünſcht, ſo können wir Freunde ſein; </s>
  <s xml:id="echoid-s8493" xml:space="preserve">wenn nicht, ſo bleiben <lb/>wir Feinde, und ich bekämpfe und leugne Euch nach wie vor. </s>
  <s xml:id="echoid-s8494" xml:space="preserve">— <lb/><emph style="sp">Ich trage bei mir Krieg und Frieden; wählt</emph>!”</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div200" type="section" level="1" n="175">
<head xml:id="echoid-head196" xml:space="preserve"><emph style="bf">X. Die Urſachen der ſpiritiſtiſchen Bewegung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8495" xml:space="preserve">Die alten Götter ſinken, eine neue Weltanſchauung ringt <lb/>ſich ſiegend aus dem Schoße der wankenden Kirche hervor; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8496" xml:space="preserve">das Wiſſen verdrängt den Glauben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8497" xml:space="preserve">Mit unerbittlicher Kon-<lb/>ſequenz zieht die Wiſſenſchaft ihre unerſchütterlichen, felſenfeſten <lb/>Schlüſſe, Konzeſſionen kann und will ſie nicht machen und der <lb/>geängſtigte Dogma-Glaube, der eine ſchöne Illuſion nach der <lb/>andern fallen ſieht, flüchtet ſich, wohin er nur kann, jeder <lb/>Rettungsort iſt ihm recht; </s>
  <s xml:id="echoid-s8498" xml:space="preserve">überall aber fühlt er ſchon, wie ſein <lb/>Widerſtand erlahmt, und ſchließlich muß er ſich doch ergeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8499" xml:space="preserve"><lb/>Jetzt tobt der Kampf mit aller Kraft gerade um ſeine teuerſte <lb/>und liebſte Illuſion, das Leben nach dem Tode, das ewige <lb/>Leben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8500" xml:space="preserve">Mit Donnerſtimme verkündet die Wiſſenſchaft den <lb/>Menſchen: </s>
  <s xml:id="echoid-s8501" xml:space="preserve">“Euer Leben iſt begrenzt, einmal nur könnt ihr <lb/>leben, mit dem Tode iſt alles vorbei; </s>
  <s xml:id="echoid-s8502" xml:space="preserve">nicht erſt nach langer <lb/>Seelenwanderung, wie die altindiſchen Philoſophen glaubten, <lb/>ſondern ſogleich am Ende eures Einen Lebens umfängt euch <lb/>das Nichts, das Urvergeſſen, das 'Nirwâna.</s>
  <s xml:id="echoid-s8503" xml:space="preserve">’ Nicht hinter <lb/>den Wolken ſucht das Paradies, ſucht es auf Erden!” Doch <lb/>hier widerſteht der Glaube verzweifelter, als irgend wo anders, <lb/>von dieſer Illuſion will er nicht laſſen, alle anderen läßt er <lb/>fallen, dieſe Eine will er ſich retten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8504" xml:space="preserve">Er bedenkt nicht, <lb/>daß das “Nirwâna” ſchöner und beſſer iſt als das ewige
<pb o="158" file="0618" n="618"/>
Leben, er will nicht bedenken, nur leben will er, leben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8505" xml:space="preserve">An dieſem Punkte treibt ihn der mächtigſte Faktor, den <lb/>es giebt, die Furcht vor dem Tod, vor dem ewigen Tod. </s>
  <s xml:id="echoid-s8506" xml:space="preserve"><lb/>Daher wird auch dieſer “Kampf ums Daſein” weit länger <lb/>dauern, als der Kampf um die übrigen Illuſionen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8507" xml:space="preserve">Wenn der <lb/>Glaube alle andern hat fahren laſſen, wird er ſich an dieſe <lb/>eine Poſition noch klammern und ſie mit allen Mitteln ver-<lb/>teidigen, ſo lange er nur irgend noch kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s8508" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8509" xml:space="preserve">Hoffentlich iſt der Sinn dieſer allegoriſchen Darſtellung <lb/>verſtändlich. </s>
  <s xml:id="echoid-s8510" xml:space="preserve">Es giebt ſeit einigen Jahrzehnten, beſonders <lb/>ſeit Darwins großer That, mit der eine neue Ära begann, eine <lb/>ſtets wachſende, große Zahl von Menſchen, welche dem alten <lb/>Glauben entwachſen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s8511" xml:space="preserve">Aber nicht alle ringen ſich durch zur <lb/>“naturwiſſenſchaftlichen Weltanſchauung,” viele ſchrecken zurück <lb/>vor den letzten Konſequenzen und ſuchen anderweitigen Erſatz <lb/>für das verlorene Paradies über den Wolken, ſie können ſich <lb/>nicht mit dem — bei näherer Betrachtung eigentlich äußerſt <lb/>wohlthuenden und ſympathiſchen — Gedanken vertraut machen, <lb/>daß ihr Leben mit dem Tode aufhört; </s>
  <s xml:id="echoid-s8512" xml:space="preserve">ewig wollen ſie <lb/>ſein, ewig ſich weiter entwickeln, ewig die Freude am Sein <lb/>genießen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s8513" xml:space="preserve">So erſcheint ihnen denn die ſpiritiſtiſche <lb/>(“theoſophiſche”) Lehre als eine wahre Erlöſung: </s>
  <s xml:id="echoid-s8514" xml:space="preserve">ſie geſtattet <lb/>ihnen, alles, was die Wiſſenſchaft erforſcht hat, anzuerkennen <lb/>und bietet ihnen dennoch die Erfüllung ihres Lieblingswunſches <lb/>dar, zerſtört nicht ganz die dem Kinde lieb gewordenen Hoff-<lb/>nungen, von denen ſich der Erwachſene ungern trennen <lb/>möchte: </s>
  <s xml:id="echoid-s8515" xml:space="preserve">und neu ermutigt geben ſie ſich voll froher Zuverſicht <lb/>der Bewegung hin, welche ihnen ſo wohlthuende Lehren kündet <lb/>und wie ein Rettungsſtern ihre alten, lieben Illuſionen neu <lb/>belebt; </s>
  <s xml:id="echoid-s8516" xml:space="preserve">und die Stimme der Kritik ſchweigt ihnen, aber ſie <lb/>wollen ſie auch gar nicht vernehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8517" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8518" xml:space="preserve">Es iſt zweifellos, daß die ſpiritiſtiſche oder theoſophiſche <lb/>Weltanſchauung noch eine ungeheure Verbreitung und Be-
<pb o="159" file="0619" n="619"/>
deutung gewinnen, noch einen ungeahnten Aufſchwung nehmen <lb/>wird, aber nicht auf Koſten der Wiſſenſchaft — ſondern der Re-<lb/>ligion. </s>
  <s xml:id="echoid-s8519" xml:space="preserve">Auf die Dauer aber wird auch ſie nicht Beſtand haben, <lb/>auch ſie wird ſinken, wie alle anderen Lehren, die der unauf-<lb/>haltſam weiterſchreitenden Naturwiſſenſchaft in den Weg traten, <lb/>denn dieſe kann nicht überwunden und nicht geſchwächt werden, <lb/>da ſie mit einer Siegwaffe kämpft, der keine andere gleich-<lb/>kommt: </s>
  <s xml:id="echoid-s8520" xml:space="preserve"><emph style="sp">der exakten Forſchung</emph>.</s>
  <s xml:id="echoid-s8521" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div201" type="section" level="1" n="176">
<head xml:id="echoid-head197" xml:space="preserve">Druck von G. Bernſtein in Berlin.</head>
<pb file="0620" n="620"/>
<pb file="0621" n="621"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div202" type="section" level="1" n="177">
<head xml:id="echoid-head198" xml:space="preserve"><emph style="bf">Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher</emph> <lb/>von <lb/><emph style="bf">A. Bernſtein.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head199" xml:space="preserve"><emph style="bf">Fünfte, reich illuſtrierte Auflage.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head200" xml:space="preserve">Durchgeſehen und verbeſſert <lb/>von <lb/><emph style="bf">H. Dotonié</emph> und <emph style="bf">R. Hennig.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head201" xml:space="preserve">Sechzehnter Teil.</head>
  <figure>
    <image file="0621-01" xlink:href="http://echo.mpiwg-berlin.mpg.de/zogilib?fn=/permanent/library/xxxxxxxx/figures/0621-01"/>
  </figure>
</div>
<div xml:id="echoid-div203" type="section" level="1" n="178">
<head xml:id="echoid-head202" xml:space="preserve"><emph style="bf">Berſin.</emph> <lb/>Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.</head>
<pb file="0622" n="622"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div204" type="section" level="1" n="179">
<head xml:id="echoid-head203" xml:space="preserve">Das Necht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.</head>
<pb file="0623" n="623"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div205" type="section" level="1" n="180">
<head xml:id="echoid-head204" xml:space="preserve"><emph style="bf">Inhaltsverzeichnis.</emph></head>
<note position="right" xml:space="preserve"> <lb/># # Seite <lb/>## <emph style="bf">Die Bewegung im Sonnenſyſtem.</emph> <lb/>I. # Von der Ebene des Planetenſyſtems . . . . . . # 1 <lb/>II. # Eine Vorſtellung vom Sonnenſyſtem . . . . . . # 3 <lb/>III. # Wie die Planetenbewegung uns erſcheint und wie ſie <lb/># wirklich iſt . . . . . . . . . . . . . . # 7 <lb/>IV. # Ein Beiſpiel für den ſcheinbaren Lauf des Planeten Venus # 14 <lb/>V. # Ein Beiſpiel von der Bewegung des Planeten Mars . # 19 <lb/>VI. # Die Bewegungen von Weſt nach Oſt . . . . . . # 23 <lb/>VII. # Verſuch einer Geſamtüberſicht . . . . . . . . . # 27 <lb/>VIII. # Die Erde und der Mond . . . . . . . . . . # 30 <lb/>IX. # Merkwürdiger Lauf des Mondes . . . . . . . . # 33 <lb/>X. # Non Mars und den kleinen Planeten . . . . . . # 35 <lb/>XI. # Von Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun . . . . # 38 <lb/>XII. # Zur Erklärung einer wunderbaren Entdeckung . . . # 43 <lb/>XIII. # Die Hauptſtütze der Leverrier’ſchen Entdeckung . . . # 46 <lb/>XIV. # Die großartige Entdeckung . . . . . . . . . . # 48 <lb/>## <emph style="bf">Eine Phantaſie-Reiſe im Weltall.</emph> <lb/>I. # Die Abreiſe . . . . . . . . . . . . . . . # 54 <lb/>II. # Auf der Station zwiſchen Erde und Mond . . . . # 57 <lb/>III. # Wir langen auf dem Monde an . . . . . . . . # 61 <lb/>IV. # Auf dem Monde . . . . . . . . . . . . . # 64 <lb/>V. # Was beginnen wir auf dem Monde? . . . . . . # 68 <lb/>VI. # Etwas wiſſenſchaftliche Schwärmerei . . . . . . . # 71 <lb/>VII. # Ein paar Reiſe-Gedanken . . . . . . . . . . # 73 <lb/>VIII. # Kleine Reiſe-Begegnungen . . . . . . . . . . # 76 <lb/>IX. # Weitere Reiſe-Abenteuer . . . . . . . . . . . # 79 <lb/>X. # Die Oberfläche der Sonne . . . . . . . . . . # 82 <lb/>XI. # Wir ſuchen uns ein Abſteige-Quartier . . . . . . # 85 <lb/>XII. # Die Größe der Sonne . . . . . . . . . . . # 88 <lb/>XIII. # Allen Reſpekt vor einer Kubik-Meile . . . . . . . # 91 <lb/>XIV. # Wir bekommen noch mehr Reſpekt vor der Sonne . . # 94 <lb/>XV. # Die Raumverſchwendung im Sonnen-Syſtem . . . . # 98 <lb/>XVI. # Ein Sonnen-Syſtem im Kleinen . . . . . . . . # 101 <lb/>XVII. # Wie das Modell ſtimmt . . . . . . . . . . # 104 <lb/>XVIII. # Was wir zuweilen am Himmel ſehen können . . . . # 107 <lb/>XIX. # Auf dem Mars . . . . . . . . . . . . . # 110 <lb/>XX. # Die kleinen Planeten . . . . . . . . . . . # 114 <lb/>XXI. # Die Bahnen der kleinen Rundläufer . . . . . . # 116 <lb/>XXII. # Zwei eigentümliche Kometen . . . . . . . . . # 119 <lb/>XXIII. # Ein wenig Kometen-Furcht . . . . . . . . . . # 122
<pb o="IV" file="0624" n="624"/>
# # Seite <lb/>XXIV. # Jupiter, der gewichtigſte der Planeten . . . . . # 124 <lb/>XXV. # Wie ſich’s auf Jupiter lebt . . . . . . . . . # 127 <lb/>XXVI. # Die Jupiters-Monde . . . . . . . . . . . # 129 <lb/>XXVII. # Saturn und ſein Ring . . . . . . . . . . # 131 <lb/>XXVIII. # Wie Saturn zu ſeinem Ring gekommen . . . . # 135 <lb/>XXIX. # Das Wohnen auf dem Saturn . . . . . . . # 139 <lb/>XXX. # Die etwaigen Bewohner des Saturn-Ringes . . . # 143 <lb/>XXXI. # Das Schickſal des Saturn-Ringes . . . . . . # 146 <lb/>XXXII. # Uranus . . . . . . . . . . . . . . . # 149 <lb/>XXXIII. # Neptun . . . . . . . . . . . . . . . # 153 <lb/>XXXIV. # Die Stellung der Kometen im Sonnenſyſtem . . . # 156 <lb/>XXXV. # Die berechneten und unberechneten Kometen . . . # 159 <lb/>XXXVI. # Die ſonderbare Beſchaffenheit der Kometen . . . # 162 <lb/>XXXVII. # Der Komet vom Jahre 1680 . . . . . . . . # 166 <lb/>XXXVIII. # Kometen aus den Jahren 1729 bis 1759 . . . . # 169 <lb/>XXXIX. # Kometen aus den Jahren 1769 und 1770 . . . # 173 <lb/>XL. # Kometen aus den Jahren 1807 bis 1811 . . . . # 177 <lb/>XLI. # Was im Halley’ſchen Kometen im Jahre 1835 vorging # 180 <lb/>XLII. # Die Kometen von 1843 und 1858 . . . . . . # 183 <lb/>XLIII. # Die Kometen von 1880 und 1882 . . . . . . # 185 <lb/>XLIV. # Sternſchnuppen und Meteore . . . . . . . . # 187 <lb/>XLV. # Aërolithenfälle . . . . . . . . . . . . . # 191 <lb/>XLVI. # Höhe und Maſſe der Meteore . . . . . . . . # 204 <lb/>XLVII. # Was wir heimbringen . . . . . . . . . . # 208 <lb/>## <emph style="bf">Über die Größe der Erdbahn.</emph> <lb/>I. # Der Zollſtock der Aſtronomie . . . . . . . . # 213 <lb/>II. # Die Venus-Durchgänge . . . . . . . . . . # 216 <lb/>III. # Ergebniſſe der Beobachtungen der Venus-Durchgänge # 220 <lb/>IV. # Die Störungen des Mondlaufs . . . . . . . # 223 <lb/>V. # Wie die Erde und der Mond um die Sonne wandern # 227 <lb/>VI. # Der Schwerpunkt der Erd- und Mondmaſſe . . . # 231 <lb/>VII. # Die Störungen der Planeten-Bahnen . . . . . # 234 <lb/>VIII. # Beobachtungen des Planeten Mars im Jahre 1862 # 238 <lb/>IX. # Die Geſchwindigkeit des Lichts . . . . . . . # 241 <lb/>X. # Bradley’s Entdeckung . . . . . . . . . . # 245 <lb/>XI. # Die Geſchwindigkeit des Lichts und die Größe der <lb/># Erdbahn . . . . . . . . . . . . . . # 249 <lb/>XII. # Wie man größte Räume durch kleinſte Zeitteilchen <lb/># meſſen kann . . . . . . . . . . . . . # 252 <lb/>XIII. # Fizeau’s Meſſungen der Geſchwindigkeit des Lichtes . # 256 <lb/>XIV. # Genauere Beſtimmung der Licht-Geſchwindigkeit . . # 260 <lb/>XV. # Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . # 263 <lb/></note>
<pb file="0625" n="625"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div206" type="section" level="1" n="181">
<head xml:id="echoid-head205" xml:space="preserve"><emph style="bf">Die Bewegung im Sonnenſyſtem.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head206" xml:space="preserve"><emph style="bf">I. Von der Ebene des Planetenſyſtems.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8522" xml:space="preserve">Jeder gebildete Menſch weiß und redet auch wohl einmal <lb/>davon, daß die Sonne ſich um ihre Axe dreht, daß die Pla-<lb/>neten ſich um die Sonne herumbewegen, daß die Monde um <lb/>die Planeten herumgehen, und dergleichen durch alle Schul-<lb/>bücher bereits geläufig gewordenen Dinge; </s>
  <s xml:id="echoid-s8523" xml:space="preserve">wenn’s aber dazu <lb/>kommt, daß ſie einem die Geſchichte, wie ſie iſt, einmal klar <lb/>machen ſollen, ſo merkt man bald, daß ſie das, wovon ſie ſo <lb/>geläufig reden, ſich ſelber nicht klar gemacht haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s8524" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8525" xml:space="preserve">Da giebt es viele, die man ganz gebildet nennen kann, <lb/>denn ſie leſen franzöſiſche, engliſche Bücher, ſprechen ein recht <lb/>vernünftiges Deutſch, wiſſen etwas von der Weltgeſchichte und <lb/>ſind überhaupt bekannt mit mannigfachen Dingen in der Welt, <lb/>ſo daß ſie ganz angenehme und auch nützliche Menſchen ſind. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8526" xml:space="preserve">Dieſe Leute wiſſen auch viel von den Dingen, die am Himmel <lb/>vorgehen, zu reden und ſprechen die Sachen auch ganz richtig <lb/>mit all ihren wiſſenſchaftlichen Bezeichnungen aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s8527" xml:space="preserve">Wenn <lb/>man ihnen aber einmal auf den Zahn fühlt, ſo ſieht man zu <lb/>ſeinem Erſtaunen, daß ſie gerade in der Aſtronomie über die <lb/>allereinfachſten Dinge ſtolpern und von all dem “Herumgehen” <lb/>und “Herumdrehen” und “Herumbewegen” ganz kopfverdreht <lb/>werden und bald eingeſtehen müſſen, daß ſie ſich von all dem <lb/>keine rechte Vorſtellung machen können.</s>
  <s xml:id="echoid-s8528" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8529" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s8530" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s8531" xml:space="preserve">Volksbücher XVI.</s>
  <s xml:id="echoid-s8532" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="2" file="0626" n="626"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8533" xml:space="preserve">Ich hatte einmal einen ſolchen gebildeten Menſchen <lb/>vor mir, der mir über eine halbe Stunde lang in den ſchul-<lb/>gerechteſten Ausdrücken von der Bewegung der Erde um die <lb/>Sonne ſprach, und mich dann endlich über einige Dinge um <lb/>Aufſchluß bat, aus denen mir erſt klar wurde, daß er ganz <lb/>verkehrte Vorſtellungen von den Dingen hatte und ſich ein-<lb/>bildete, die Sonne hänge im Raume oben, ſo wie ein Kron-<lb/>leuchter oben in der Mitte der Stube und die Erde laufe tief <lb/>unter ihr im Kreis herum, etwa ſo wie eine Kugel auf dem <lb/>Fußboden der Stube.</s>
  <s xml:id="echoid-s8534" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8535" xml:space="preserve">Aus ſolchen und ähnlichen verkehrten Grundvorſtellungen <lb/>entſteht die große Verwirrung über dieſe Dinge in ſelbſt ganz <lb/>guten Köpfen; </s>
  <s xml:id="echoid-s8536" xml:space="preserve">und es thut not, die Sache einmal ſo klar und <lb/>anſchaulich wie möglich zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8537" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8538" xml:space="preserve">Wenn Du, mein lieber Leſer, auch zu denen gehörſt, die <lb/>ſich das Ding nicht recht klar vorſtellen können, ſo will ich es <lb/>mit Dir ſo machen, wie ich es mit jenem Manne machte, der <lb/>ſich die Sonne wie einen Kronleuchter dachte, um den ſich die <lb/>Planeten in immer weiter und tiefer nach unten liegenden <lb/>Kreiſen herumbewegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8539" xml:space="preserve">Denn es gelang mir, ihm die Sache <lb/>in ſehr kurzer Zeit recht klar zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8540" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8541" xml:space="preserve">Ich fragte ihn: </s>
  <s xml:id="echoid-s8542" xml:space="preserve">Sagen Sie mir einmal, wenn es z. </s>
  <s xml:id="echoid-s8543" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s8544" xml:space="preserve">dem <lb/>lieben Gott heute einfiele, die Sonne und ſämtliche Planeten <lb/>und deren Monde, ohne dieſe in ihrem Lauf zu ſtören, in eine <lb/>recht paſſende Kiſte einzupacken, was für eine Form müßte <lb/>wohl dieſe Kiſte haben?</s>
  <s xml:id="echoid-s8545" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8546" xml:space="preserve">Nach einigem Nachdenken kam es denn heraus, daß ſein <lb/>Sonnenſyſtem, wie er ſich dies im Kopfe vorſtellte, in eine Kiſte <lb/>paſſen würde, die gebaut wäre wie eine Tüte für einen Hut <lb/>Zucker. </s>
  <s xml:id="echoid-s8547" xml:space="preserve">Nämlich oben an der Spitze, wo der Zucker bekanntlich <lb/>recht hart iſt, da müßte die Sonne ſein, ein Stückchen weiter <lb/>herunter, wo der Umfang ſchon etwas größer wird, da liefe <lb/>der erſte Planet Merkur, weiter nach unten, wo der Kreis noch
<pb o="3" file="0627" n="627"/>
größer iſt, liefe Venus, noch weiter abwärts in einem größern <lb/>Kreis machte die Erde ihre Runde und dann ſo fort, bis denn <lb/>endlich die große Zuckertüte fertig daſtand.</s>
  <s xml:id="echoid-s8548" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8549" xml:space="preserve">Als ich ihn ſo weit gebracht hatte, da ſagte ich ihm: </s>
  <s xml:id="echoid-s8550" xml:space="preserve">“Nun <lb/>mein Lieber, das iſt ganz und gar falſch! Wenn der liebe <lb/>Gott das Sonnenſyſtem verpacken will, ohne es im Gange zu <lb/>ſtören, ſo wird er dazu eine ſehr breite, aber recht flache <lb/>Schnupftabaksdoſe wählen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8551" xml:space="preserve">”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8552" xml:space="preserve">Und glaube mir, mein lieber Leſer, ich erzähle Dir eine <lb/>wahre Thatſache: </s>
  <s xml:id="echoid-s8553" xml:space="preserve">durch dieſen Scherz gelang es mir, jenem <lb/>Manne zum erſtenmal in ſeinem Leben die richtige Anſchauung <lb/>des Dinges, wie es iſt, zu geben, und nachdem er einmal den <lb/>richtigen Anfang der Sache hatte, wurde es ihm leicht, ſich ſo <lb/>weit einen richtigen Überblick zu verſchaffen, wie ihn jeder ver-<lb/>nünftige Menſch haben ſoll. </s>
  <s xml:id="echoid-s8554" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8555" xml:space="preserve">Und wahr iſt es, das Sonnenſyſtem, das heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s8556" xml:space="preserve">die Sonne <lb/>ſamt ſämtlichen Bahnen der Planeten und ihrer Monde paßt <lb/>ganz gut hinein in eine runde Doſe, die ungefähr die Form <lb/>einer Schnupftabaksdoſe hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s8557" xml:space="preserve">Nur muß man hierbei von den <lb/>Kometen abſehen, denn dieſe machen ihren Lauf auch ſeitwärts <lb/>nach den verſchiedenſten Richtungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8558" xml:space="preserve">Die Kometen ſind über-<lb/>haupt Weſen, die in dem Himmelsraum etwas unordentlich <lb/>herumſtreichen und ganz kurioſe Läufe unternehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8559" xml:space="preserve">Dahin-<lb/>gegen ſind Planeten und Monde ſehr ſolide und machen ihren <lb/>Umlauf in faſt gleicher Richtung, in faſt gleicher Ebene und in <lb/>faſt regelmäßigen Kreiſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8560" xml:space="preserve">—</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div207" type="section" level="1" n="182">
<head xml:id="echoid-head207" xml:space="preserve"><emph style="bf">II. Eine Vorſtellung vom Sonnenſyſtem.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8561" xml:space="preserve">Willſt Du Dir nun eine richtige Vorſtellung vom Sonnen-<lb/>ſyſtem verſchaffen, ſo will ich es verſuchen, ob ich es Dir <lb/>deutlich machen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s8562" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="4" file="0628" n="628"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8563" xml:space="preserve">Denke Dir auf Deinem Tiſch eine Kugel, etwa ſo groß <lb/>wie ſie zum Billard gebraucht wird, und ſtelle Dir vor, daß <lb/>dies die Sonne iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8564" xml:space="preserve">Nun kannſt Du Dir ein Sandkörnchen <lb/>denken, etwa einen Fuß weit von jener Kugel entfernt, und <lb/>dies Sandkörnchen hat die beſondere Eigenſchaft, daß es einen <lb/>Kreis um jene Kugel beſchreibt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8565" xml:space="preserve">Warum es dies thut, das <lb/>mag vorerſt unerörtert bleiben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8566" xml:space="preserve">Aber dieſen Kreis denke Dir <lb/>ſo, daß das Handkörnchen von der Tiſchplatte ſich aufhebt und <lb/>im Bogen hinüberſchwebt, bis es grade einen Fuß hoch über <lb/>der Kugel ſteht, dann geht es weiter und zwar abwärts im <lb/>Bogen, bis es auf der andern Seite und zwar wiederum einen <lb/>Fuß weit ab von der Kugel die Tiſchplatte erreicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8567" xml:space="preserve">— Allein <lb/>das Körnchen iſt noch nicht fertig, ſondern denke Dir, es hat <lb/>auch die Kraft, durch die Tiſchplatte durchzuwandern, und nun <lb/>geht es unter der Tiſchplatte immer einen Fuß weit von der <lb/>Kugel entfernt abwärts, bis es grade unter der Kugel ſteht, <lb/>ſo wie es früher über der Kugel geſtanden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8568" xml:space="preserve">Nun geht es in <lb/>derſelben Kreisrichtung weiter und ſteigt wiederum aufwärts <lb/>zur Tiſchplatte, bis es wieder durch die Tiſchplatte hindurch <lb/>aufſteigt und grade auf dem Punkt ankommt, von wo es ſeinen <lb/>Lauf angefangen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8569" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8570" xml:space="preserve">Das iſt nun bisher ſehr einfach. </s>
  <s xml:id="echoid-s8571" xml:space="preserve">Das Sandkörnchen hat <lb/>einen wirklichen Kreis um die Kugel durchlaufen und hat <lb/>einmal auf der einen Seite, einmal auf der andern Seite, ein-<lb/>mal über, einmal unter der Kugel geſtanden — und ſo macht <lb/>es auch ein Planet.</s>
  <s xml:id="echoid-s8572" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8573" xml:space="preserve">Nun kommt aber das, was eigentlich viele Leute ſo ſehr <lb/>verwirrt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8574" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8575" xml:space="preserve">Wenn ſie ſich nämlich einen zweiten Planeten dazu denken <lb/>ſollen, der etwa zweimal ſo weit ab von der Sonne iſt, und <lb/>es auch ſo macht, ſo denken ſie dieſen zweiten Planeten nach <lb/>rechts oder links ab von dem Weg des erſten Planeten; </s>
  <s xml:id="echoid-s8576" xml:space="preserve">aber <lb/>das iſt eben nicht der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s8577" xml:space="preserve">Sondern der Weg des zweiten
<pb o="5" file="0629" n="629"/>
Planeten liegt nicht rechts und nicht links ab; </s>
  <s xml:id="echoid-s8578" xml:space="preserve">ſondern er liegt <lb/>ganz in derſelben Lage, wie der Weg des erſten Planeten.</s>
  <s xml:id="echoid-s8579" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8580" xml:space="preserve">Damit ich aber ſicher bin, daß Du mich recht verſtanden <lb/>haſt, ſo muß ich Dich bitten, wieder einmal zu Kugel und <lb/>Sandkörnchen auf Deinem Tiſch zurückzukehren. </s>
  <s xml:id="echoid-s8581" xml:space="preserve">Mach Dir <lb/>einmal eine grade Linie von der Kugel zum Sandkörnchen <lb/>hin; </s>
  <s xml:id="echoid-s8582" xml:space="preserve">dieſe Linie wird einen Fuß lang ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s8583" xml:space="preserve">Nun mache die-<lb/>ſelbe grade Linie noch länger, bis ſie drei Fuß lang iſt und <lb/>dort, wo die Linie jetzt aufhört, da denke Dir das zweite <lb/>Sandkörnchen hin. </s>
  <s xml:id="echoid-s8584" xml:space="preserve">Dieſes zweite Sandkörnchen, mußt Du Dir <lb/>wiederum denken, erhebt ſich von der Tiſchplatte und macht <lb/>eine Bewegung im Bogen, die der Bewegung des erſten Sand-<lb/>körnchens ganz ähnlich iſt, bis es endlich auch einmal oben <lb/>über der Kugel ſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8585" xml:space="preserve">Dann geht es eben ſo wie jenes ab-<lb/>wärts und dann auch durch den Tiſch unten herum, bis es <lb/>wieder da ankommt, wo es zuerſt gelegen hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s8586" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8587" xml:space="preserve">Nun ſtelle Dir einmal dieſe zwei Wege, die die Sand-<lb/>körnchen durchlaufen haben, ordentlich vor. </s>
  <s xml:id="echoid-s8588" xml:space="preserve">Der eine iſt zwar <lb/>viel kleiner als der andere; </s>
  <s xml:id="echoid-s8589" xml:space="preserve">aber ſie haben viel Gleiches mit <lb/>einander. </s>
  <s xml:id="echoid-s8590" xml:space="preserve">Erſtens bleibt jedes Sandkörnchen, wo es ſich auch <lb/>befunden haben mag, ſtets in der Entfernung von der Kugel, <lb/>die es anfangs hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s8591" xml:space="preserve">Das eine war immer einen Fuß, das <lb/>andere immer drei Fuß von der Kugel entfernt, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s8592" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s8593" xml:space="preserve">ſie haben <lb/>richtige Kreiſe um die Kugel gemacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8594" xml:space="preserve">Zweitens gingen beide <lb/>Sandkörnchen in <emph style="sp">einer Richtung</emph>, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s8595" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s8596" xml:space="preserve">es kam nie dazu, <lb/>daß das eine dem andern unter oder über der Tiſchplatte be-<lb/>gegnete, wie etwa zwei Menſchen ſich begegnen, wenn der eine <lb/>grade dorthin geht, wo der andere herkommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8597" xml:space="preserve">Vielmehr liefen <lb/>ſie immer, wenn ſie ſich nahe waren, nach einer und derſelben <lb/>Gegend hin. </s>
  <s xml:id="echoid-s8598" xml:space="preserve">Endlich drittens, ihre Laufbahnen liegen nicht <lb/>quer durcheinander, ſondern die kleinere Bahn liegt flach in <lb/>der größern drin. </s>
  <s xml:id="echoid-s8599" xml:space="preserve">Das heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s8600" xml:space="preserve">die beiden Bahnen <emph style="sp">liegen in <lb/>derſelben Ebene</emph>.</s>
  <s xml:id="echoid-s8601" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="6" file="0630" n="630"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8602" xml:space="preserve">Nun denke Dir einmal den Tiſch, worauf die Kugel liegt, <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0630-01a" xlink:href="fig-0630-01"/>
ganz fort, und ſtelle Dir <lb/>vor, daß die Kugel durch <lb/>irgend welches Kunſt-<lb/>ſtück in der Luft ſchweben <lb/>bleibt, und daß die Sand-<lb/>körnchen ſich immer im <lb/>angegebenen Kreiſe um <lb/>die Kugelherumbewegen, <lb/>ſo haſt Du eine nahe <lb/>richtige Vorſtellung vom <lb/>Sonnenſyſtem, in wel-<lb/>chem die Kugel die <lb/>Sonne vorſtellt, und die <lb/>Sandkörnchen zwei Pla-<lb/>neten, die um dieſelbe <lb/>im Kreis herumlaufen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8603" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div207" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0630-01" xlink:href="fig-0630-01a">
<caption xml:id="echoid-caption29" xml:space="preserve">Fig. 1.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables14" xml:space="preserve">O S 1 2 3 4 5 W N</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8604" xml:space="preserve">Die Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s8605" xml:space="preserve">1 mag Dir die <lb/>Vorſtellung noch etwas <lb/>erleichtern, und Du wirſt <lb/>ſchon einſehen, was ich <lb/>damit ſagen wollte, daß <lb/>dies ganze Syſtem in <lb/>einer ſehr flachen Doſe <lb/>Platz hat, die wie eine <lb/>runde Tabaksdoſe aus-<lb/>ſieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8606" xml:space="preserve">In der Mitte un-<lb/>ſerer Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s8607" xml:space="preserve">1 ſehen wir die <lb/>Sonne und die durch die <lb/>perſpektiviſche Zeichnung <lb/>ellipſenförmig erſcheinen-<lb/>den Kreiſe ſind die Bah-<lb/>nen der Planeten.</s>
  <s xml:id="echoid-s8608" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="7" file="0631" n="631"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div209" type="section" level="1" n="183">
<head xml:id="echoid-head208" xml:space="preserve"><emph style="bf">III. Wie die Planetenbewegung uns erſcheint und</emph> <lb/><emph style="bf">wie ſie wirklich iſt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8609" xml:space="preserve">Zwar habe ich Dir bis jetzt nur ein Bild von der Sonne <lb/>und zwei Planeten gegeben; </s>
  <s xml:id="echoid-s8610" xml:space="preserve">nun weißt Du ſchon, und ich <lb/>werde noch ſpäter darauf zurückkommen, daß es viele hundert <lb/>Planeten giebt; </s>
  <s xml:id="echoid-s8611" xml:space="preserve">aber ich bitte Dich, kümmere Dich vorerſt nicht <lb/>drum. </s>
  <s xml:id="echoid-s8612" xml:space="preserve">Denn wenn Du Dir nicht vollkommen klar darüber <lb/>biſt, wie es um ein Syſtem von zwei Planeten ausſieht, ſo <lb/>wirſt Du nur um ſo verworrener, wenn Du Dich mit den <lb/>übrigen Planeten zugleich plagſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8613" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8614" xml:space="preserve">Zudem brauchſt Du das auch gar nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8615" xml:space="preserve">Denn was Du <lb/>von den zwei Bahnen geſehen, das kannſt Du vorerſt ganz <lb/>ohne Gefahr von den Bahnen aller andern Planeten annehmen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8616" xml:space="preserve">Denke Dir nur, daß die Bahnen alle Kreiſe ſeien, daß ſich die <lb/>Planeten alle in einer Richtung bewegen, und daß die Bahnen <lb/>alle in einer Fläche liegen, und Du wirſt Dir dadurch eine <lb/>richtige Vorſtellung verſchaffen; </s>
  <s xml:id="echoid-s8617" xml:space="preserve">und darauf kommt es zuerſt <lb/>an. </s>
  <s xml:id="echoid-s8618" xml:space="preserve">— Später, dann werde ich Dir’s ſchon ſagen, daß das <lb/>Alles nicht ſo ganz genau richtig iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s8619" xml:space="preserve">für jetzt aber bitte ich <lb/>Dich, die Sache ſo zu nehmen, wie ich’s Dir vorgeſtellt habe, <lb/>denn das Ding wird verwickelt genug, wenn ich Dich einen <lb/>kleinen Schritt weiter führe.</s>
  <s xml:id="echoid-s8620" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8621" xml:space="preserve">Für jetzt habe ich Dir das Sonnenſyſtem in der bewußten <lb/>Tabaksdoſe gezeigt, wo es ganz gemütlich Platz hat und im <lb/>Gange bleiben kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s8622" xml:space="preserve">Um Dir nun einen Begriff davon zu <lb/>geben, wie das Ding iſt, und wie es uns, die wir auf der <lb/>Erde leben, ganz anders <emph style="sp">erſcheint</emph>, bin ich genötigt, Dich, <lb/>mein lieber Leſer, mit in die bewußte Tabaksdoſe einzuſperren; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8623" xml:space="preserve">und dadurch wird das Ding wieder etwas verworren.</s>
  <s xml:id="echoid-s8624" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8625" xml:space="preserve">Du mutzt nämlich wiſſen, daß wir auf der Erde leben, <lb/>und daß dieſe Erde ſelber ein Planet iſt, und daß ſie auch ſo
<pb o="8" file="0632" n="632"/>
gut, wie die andern Planeten, um die Sonne läuft. </s>
  <s xml:id="echoid-s8626" xml:space="preserve">Und <lb/>ſchon das allein macht die Sache wirklich ſo verwickelt, daß <lb/>ſich unter Zehntauſenden, die all das wiſſen, kaum einer <lb/>findet, der ſich daraus am wirklichen Sternenhimmel zurecht-<lb/>finden kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s8627" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8628" xml:space="preserve">Wenn wir nämlich nicht auf der Erde lebten und auch <lb/>nicht auf einem andern Planeten oder der Soune, ſondern auf <lb/>irgend einer Stelle ſeitwärts vom Sonnenſyſteme, ſo könnte <lb/>man das ganze Sonnenſyſtem den Kindern zeigen und es <lb/>ihnen leichter erklären, als man ein Spielzeug erklärt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8629" xml:space="preserve">Denn <lb/>ſo iſt es einmal, wer nicht tanzt, der kann all die Paare, die <lb/>in einem großen Saale herum tanzen, ſehr gut überſehen, <lb/>wenn er ſich ein gutes Plätzchen zum Zuſehen auswählt; </s>
  <s xml:id="echoid-s8630" xml:space="preserve">wer <lb/>aber mitten drin in den tanzenden Paaren ſich bewegt, dem <lb/>erſcheinen die Bewegungen ſehr verwickelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8631" xml:space="preserve">Drum wiſſen auch <lb/>unzählige Leute, die vortreffliche Bücher über die Natur leſen, <lb/>weit mehr Richtiges von den Nebelſternen, von den Fix-<lb/>ſternen, von den Doppelſternen und dergleichen, was außer-<lb/>halb des Sonnenſyſtems vorgeht, als von dem, was in dem <lb/>Sounenſyſtem los iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8632" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8633" xml:space="preserve">Alſo nimm mir’s nicht übel: </s>
  <s xml:id="echoid-s8634" xml:space="preserve">Du mußt in die Tabaksdoſe <lb/>hinein.</s>
  <s xml:id="echoid-s8635" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8636" xml:space="preserve">Aber ich will Dir ein gutes Plätzchen anweiſen, damit Du <lb/>Alles möglich bequem ſehen kannſt, was Du eigentlich zu <lb/>ſehen haſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8637" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8638" xml:space="preserve">Die Erde iſt von der Sonne aus gerechnet der dritte <lb/>Planet, denn zuerſt geht Merkur um die Sonne, dann kommt <lb/>Venus und dann erſt die Erde. </s>
  <s xml:id="echoid-s8639" xml:space="preserve">Da aber das Ding über-<lb/>ſichtlicher iſt, wenn man nur einen Planeten betrachtet, ſo <lb/>wollen wir uns den Planeten Merkur ganz wegdenken und an-<lb/>nehmen, die Erde hätte zwiſchen ſich und der Sonne nur den <lb/>einzigen Planeten Venus.</s>
  <s xml:id="echoid-s8640" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8641" xml:space="preserve">Und nun ſetze ich Dich in die Doſe und zwar auf die
<pb o="9" file="0633" n="633"/>
Erde und mit dem Geſicht zur Sonne, ſo daß Du die Sonne <lb/>und Venus vor Dir haſt und ſie mit dem Blick verfolgen <lb/>kannſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8642" xml:space="preserve">Um Dir nun alle möglichen Vorteile zu bieten, will <lb/>ich erſtens annehmen, daß ſich die Erde mit Dir gar nicht <lb/>fortbewegt, zweitens magſt Du Dir vorſtellen, daß Du unge-<lb/>niert vom Sonnenlicht in die Sonne zu ſehen vermagſt, und <lb/>drittens, daß Du auch trotz des hellen Sonnenlichts Venus <lb/>auf allen ihren Bewegungen mit dem Auge verfolgen kannſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8643" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8644" xml:space="preserve">Nun will ich Dir nur ſagen, daß Du Dich um all’ das, <lb/>was an den Seitenwänden vorgeht, nicht zu bekümmern brauchſt, <lb/>denn Du weißt ja, das Sonnenſyſtem iſt ungemein flach ge-<lb/>baut. </s>
  <s xml:id="echoid-s8645" xml:space="preserve">Drum blicke alſo nur auf Venus und die Sonne, und <lb/>gieb acht, was Du zu ſehen bekommſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8646" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8647" xml:space="preserve">Gewiß glaubſt Du, daß Du es nun einmal recht deutlich <lb/>ſehen wirſt, wie Venus in einem Kreis um die Sonne geht; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8648" xml:space="preserve">aber es thut mir leid, Du bekommſt nichts davon zu ſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8649" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8650" xml:space="preserve">Vor allem darfſt Du nämlich nicht vergeſſen, daß die <lb/>Erde ſich nicht ſeitwärts nach rechts oder nach links hin von <lb/>der Venus-Bahn, ſondern daß ſie ſich hinter der Venus-Bahn <lb/>befindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s8651" xml:space="preserve">Der Kreis, in dem Venus wirklich geht, ſteht nicht <lb/>vor Dir, wie etwa der Umfang eines Rades, wenn Du neben <lb/>der Droſchke ſtehſt, ſondern der Kreis liegt in einer ſolchen <lb/>Lage vor Dir, wie etwa das Rad einer Droſchke, die Dir auf <lb/>der Straße weit voraus iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8652" xml:space="preserve">Wenn Du Dich weit hinter einer <lb/>Droſchke befindeſt, ſo erblickſt Du vom Rade nur die ſcharfe <lb/>Kante. </s>
  <s xml:id="echoid-s8653" xml:space="preserve">Das runde Rad erſcheint Dir in ſolcher Stellung nur <lb/>wie ein aufrecht ſtehender, gerader Strich.</s>
  <s xml:id="echoid-s8654" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8655" xml:space="preserve">Um Dir das noch deutlicher zu machen, magſt Du Dir <lb/>vorſtellen, daß irgend ein Künſtler ein ſehr großes Rad an-<lb/>gefertigt hat, das ganz allein die Straße entlang laufen kann. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8656" xml:space="preserve">Nimm nun an, es laufe eine große Strecke vor Dir her, und <lb/>Du ſiehſt ihm von hinten nach, ſo wird es Dir wie eine <lb/>Stange erſcheinen, die ſich fortbewegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8657" xml:space="preserve">— Freilich, wenn es
<pb o="10" file="0634" n="634"/>
eine Wendung machen würde, um quer über die Straße von <lb/>einem Bürgerſteig zum andern zu laufen, dann wirſt Du <lb/>ſofort ſehen, daß dies ein Rad iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s8658" xml:space="preserve">aber ſobald Du hinter dem <lb/>Rade biſt, oder richtiger, weun Du Dich in der verlängerten <lb/>Ebene des Rades befindeſt, ſo ſiehſt Du ſtatt des runden Um-<lb/>fanges nur einen geraden Strich.</s>
  <s xml:id="echoid-s8659" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8660" xml:space="preserve">Nun aber weißt Du ſchon, daß die Kreiſe aller Planeten <lb/>in nahe einer Ebene liegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8661" xml:space="preserve">Die Erde alſo iſt ſo hinter die <lb/>Venus-Bahn geſtellt, daß Du ganz was anders ſehen wirſt, <lb/>als Du Dir anfangs vorgeſtellt haben magſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8662" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8663" xml:space="preserve">Jetzt könnte ich Dir alſo ſchon eher zeigen, was Du von <lb/>der Erde aus erblicken würdeſt, wenn Du Deinen angewieſenen <lb/>Platz einnimmſt und Sonne und Venus vor Dir haſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8664" xml:space="preserve">Allein, <lb/>nimm mir’s nicht übel — ich muß Dich noch mit einem kleinen, <lb/>aber wichtigen Umſtand bekannt machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8665" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8666" xml:space="preserve">Wenn wir zwei Gegenſtände auf der Erde in der Ferne <lb/>ſehen, ſo giebt es viele Merkmale, durch die wir imſtande <lb/>ſind zu ſagen, welcher von ihnen uns näher und welcher uns <lb/>entfernter iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8667" xml:space="preserve">Dahingegen können wir Gegenſtände in der <lb/>Luft oder gar am Sternenhimmel nicht ſo abſchätzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8668" xml:space="preserve">Von <lb/>zwei Wölkchen, die in der Luft ſchweben, weiß man dem <lb/>Augenmaß nach meiſt nicht anzugeben, welches uns näher und <lb/>welches uns entfernter iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s8669" xml:space="preserve">noch weniger kann man ohne ſcharf-<lb/>ſinnig erdachte Meſſungen wiſſen, welcher von zwei Himmels-<lb/>körpern, die man ſieht, uns näher iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8670" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8671" xml:space="preserve">Und nun ſind wir ſo weit, es mit anzuſehen, was Du von <lb/>Deinem Sitze auf der Erde aus erblicken wirſt, wenn Du <lb/>Sonne und Venus vor Dir haſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8672" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8673" xml:space="preserve">Nehmen wir an, Du beginnſt Deine Beobachtung grade <lb/>um die Zeit, wo ungefähr Venus zwiſchen der Erde und der <lb/>Sonne ſteht, ſo wirſt Du ſehen, daß ſie anfängt in die Höhe <lb/>zu ſteigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8674" xml:space="preserve">Nun weißt Du zwar, daß Venus Dir näher als <lb/>die Son@e und daß ſie in einem Kreis um die Sonne zu
<pb o="11" file="0635" n="635"/>
gehen ſich anſchickt; </s>
  <s xml:id="echoid-s8675" xml:space="preserve">aber mit dem Auge ſiehſt Du davon nichts. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8676" xml:space="preserve">Dir wird es vielmehr erſcheinen, als ob Venus in der Sonne <lb/>geſteckt hätte und nun von ihr nach oben wie ein kleiner Luft-<lb/>ballon in die Höhe ſteigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8677" xml:space="preserve">Erſt ſchnell, dann langſamer und <lb/>endlich ganz langſam, bis zuletzt Venus eine tüchtige Strecke <lb/>von der Sonne ganz ſtille ſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8678" xml:space="preserve">Dann aber ſiehſt Du, daß <lb/>Venus ſehr langſam zu ſinken anfängt, dann immer ſchneller <lb/>ſinkt, bis dieſer Stern wieder mit der Sonne zuſammentrifft. </s>
  <s xml:id="echoid-s8679" xml:space="preserve"><lb/>Nun weißt Du zwar, daß ſich Venus jetzt jenſeits der Sonne <lb/>befindet; </s>
  <s xml:id="echoid-s8680" xml:space="preserve">allein Deinem Auge wird es nicht anders erſcheinen, <lb/>als ob Venus wirklich wieder in die Sonne hineingefallen iſt, <lb/>aus der ſie früher hinauf ſtieg.</s>
  <s xml:id="echoid-s8681" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8682" xml:space="preserve">Nun aber warteſt Du eine Weile, und dann wirſt Du <lb/>Venus wieder crblicken und zwar jetzt unter der Soune, als <lb/>ob die Sonne dieſen Stern hinunterfallen ließe. </s>
  <s xml:id="echoid-s8683" xml:space="preserve">Er fällt nun <lb/>jetzt ganz ſo, wie er früher emporgeſtiegen iſt, bis er dann an-<lb/>fängt, ſehr langſam hinunter zu wandern, endlich hält er nach <lb/>und nach wieder an, wenn er ſich eben ſo weit unten befindet, <lb/>wie er früher nach oben geſtanden, und bald darauf würdeſt <lb/>Du merken, daß er ſich wieder zu heben anfängt und immer <lb/>ſchneller auf die Sonne zu wandert, bis er richtig wieder in <lb/>die Sonne hineinkehrt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8684" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8685" xml:space="preserve">Dies Spiel wiederholt ſich nun in einem fort und es wird <lb/>Deinem Auge ſo erſcheinen, als ob die Sonne mit Venus auf <lb/>eine merkwürdige Art Fangeball ſpielt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8686" xml:space="preserve">Bald wirft ſie ihn <lb/>nach oben und läßt ihn wieder zu ſich herabfallen, bald wirft <lb/>ſie ihn nach unten und zieht ihn auf wunderbare Art wieder <lb/>zu ſich hinauf.</s>
  <s xml:id="echoid-s8687" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8688" xml:space="preserve">Jetzt, wo Du ſchon weißt, daß das Ding nicht wirklich ſo <lb/>iſt, wie es erſcheint, jetzt kannſt Du Dir mit wenig Nachdenken <lb/>die Erſcheinung erklären. </s>
  <s xml:id="echoid-s8689" xml:space="preserve">Venus iſt in Wirklichkeit nur in <lb/>einem Kreis um die Sonne gegangen und iſt der Sonne nie-<lb/>mals ſo nahe gekommen, wie es Dir erſchienen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8690" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="12" file="0636" n="636"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8691" xml:space="preserve">Daher haben Jahrtauſende lang die Menſchen ſich auch <lb/>ganz falſche Vorſtellungen von den Planeten gemacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8692" xml:space="preserve">Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s8693" xml:space="preserve">2 <lb/>zeigt Dir, wie man ſich die Sache vorſtellte, als man noch <lb/>glaubte, die Erde ſei der Mittelpunkt des Weltalls, um den <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0636-01a" xlink:href="fig-0636-01"/>
ſich Sonne und Mond, Planeten und Fixſterne drehten, <lb/>während Dir Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s8694" xml:space="preserve">3 zeigt, wie die Dinge in Wirklichkeit <lb/>liegen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8695" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div209" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0636-01" xlink:href="fig-0636-01a">
<caption xml:id="echoid-caption30" xml:space="preserve"><emph style="bf">Fig. 2.</emph></caption>
<description xml:id="echoid-description8" xml:space="preserve">Fixstern Sphäre<lb/>Saturn<lb/>Jupiter<lb/>Mars<lb/>Sonne<lb/>Venus<lb/>Merkur<lb/>Mond<lb/>Feuermeer<lb/>Lufthulle<lb/>Erde<lb/>Urkraft oder Primum mobile oder Weltrad.</description>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8696" xml:space="preserve">Verſetze Dich nun einmal in die Zeit zurück, wo die <lb/>Menſchen ſolche Vorſtellungen hatten, dann wirſt Du ſchon <lb/>Reſpekt vor dem Manne bekommen, der zuerſt auf den richtige
<pb o="13" file="0637" n="637"/>
Gedanken kam, und dieſer Manu hieß <emph style="sp">Kopernicus</emph>. </s>
  <s xml:id="echoid-s8697" xml:space="preserve">(1473 <lb/>bis 1543.)</s>
  <s xml:id="echoid-s8698" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8699" xml:space="preserve">Aber ich muß es Dir nur ſagen, dieſer Mann hatte es <lb/>nicht ſo leicht wie Du.</s>
  <s xml:id="echoid-s8700" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8701" xml:space="preserve">Denke Dir nur, daß Kopernicus ſich das Ding nicht <lb/>unter ſo günſtigen Umſtänden anſehen konnte, wie Du; </s>
  <s xml:id="echoid-s8702" xml:space="preserve">und <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0637-01a" xlink:href="fig-0637-01"/>
was die Hauptſache iſt, kein Menſch konnte ihm zu Gefallen <lb/>die Erde einſtweilen ſtille ſtehen laſſen, bis Venus einen <lb/>ſolchen Umlauf gemacht hat, der eben in der Wirklichkeit <lb/>224 Tage dauert, daß alſo der Mann ein ganz eignes Hinder-<lb/>nis hatte, in dem Lauf der Venus einen einfachen Kreis zu <lb/>erkeunen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8703" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div210" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-0637-01" xlink:href="fig-0637-01a">
<caption xml:id="echoid-caption31" xml:space="preserve"><emph style="bf">Fig. 3.</emph></caption>
<description xml:id="echoid-description9" xml:space="preserve">Saturn<lb/>Jupiter<lb/>Mars<lb/>Erde u. Mond<lb/>Venus<lb/>Merkur<lb/>Sonne</description>
</figure>
</div>
<pb o="14" file="0638" n="638"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8704" xml:space="preserve">Wenn Du Dir ein wahres Seelenvergnügen bereiten willſt, <lb/>das Dich mehr amüſieren wird, als ein Dutzend Romane, ſo <lb/>ſcheue nicht die Mühe, Dir die Verwirrung anzuſehen, die die <lb/>einfache Erſcheinung des Umlaufs der Venus verurſacht, wenn <lb/>man ſich die Erde, worauf wir ja nun einmal leben, gleich-<lb/>falls in Bewegung denkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8705" xml:space="preserve">Du wirſt dadurch den Nutzen haben, <lb/>Dir mannigfache Erſcheinungen vom Himmel dadurch erklärlich <lb/>machen zu können. </s>
  <s xml:id="echoid-s8706" xml:space="preserve">— Alſo, laß Dich die Mühe nicht ver-<lb/>dreießen, die Dir vielleicht das Folgende verurſacht; </s>
  <s xml:id="echoid-s8707" xml:space="preserve">ich will <lb/>mich’s auch nicht verdrießen laſſen, Dir Alles ſo deutlich zu <lb/>machen, als es mir nur menſchenmöglich erſcheint.</s>
  <s xml:id="echoid-s8708" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div212" type="section" level="1" n="184">
<head xml:id="echoid-head209" xml:space="preserve"><emph style="bf">IV. Ein Beiſpiel für den ſcheinbaren Lauf des</emph> <lb/><emph style="bf">Planeten Veuus.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8709" xml:space="preserve">Ich muß aber wieder eine kleine Bemerkung voran-<lb/>ſchicken, die Dir nicht viel Mühe machen, Dir aber ſehr nütz-<lb/>lich ſein wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s8710" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8711" xml:space="preserve">Der Bau unſeres Auges iſt ſo, daß Alles, was wir <lb/>über uns erblicken, uns in dem großen Gewölbe vorzugehen <lb/>ſcheint, das wir Himmel nennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8712" xml:space="preserve">Die Wolken ſind von uns <lb/>zumeiſt keine Meile hoch entfernt, wenn wir aber des Nachts <lb/>den Mond zwiſchen Wolken ſehen, ſo erſcheint es uns ſo, als <lb/>ob der Mond wirklich mitten drin unter den Wolken ſtäke, ob-<lb/>gleich der Mond mehr als fünfzigtauſend Meilen von uns <lb/>entfernt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8713" xml:space="preserve">Eben ſo erſcheint es unſerm Auge, als ob der <lb/>Mond unter den Fixſternen herumwandelte, obgleich dieſe von <lb/>uns ſo weit ſind, daß wir, wenn wir in jeder Sekunde einen <lb/>Sprung thun könnten, ſo lang wie von der Erde zum Mond, <lb/>wir mehr als drei Jahre ſo fort ſpringen müßten, um nur <lb/>den nächſten Fixſtern zu erreichen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8714" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="15" file="0639" n="639"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8715" xml:space="preserve">Gleichwohl ſieht es ſich ſo an, als ob der Mond zwiſchen <lb/>Sternen ſtände, und im Altertum hat man auch die Sterne <lb/>für Dingerchen betrachtet, die dem Mond des Spaßes halber <lb/>beigegeben ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s8716" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8717" xml:space="preserve">Hiernach wirſt Du es auch einſehen, daß Du den Weg, <lb/>den Venus in ihrem Umlauf um die Sonne macht, nicht an-<lb/>ders als auf dem großen Hintergrund des Himmelsraumes <lb/>ſehen wirſt, woſelbſt ſich auch andere Sterne, die Fixſterne, <lb/>befinden.</s>
  <s xml:id="echoid-s8718" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8719" xml:space="preserve">Und nun bitte ich Dich, einmal den Blick auf die um-<lb/>ſtehende Figur 4 zu richten, und nicht vor den vielen Linien <lb/>zu erſchrecken. </s>
  <s xml:id="echoid-s8720" xml:space="preserve">Das Ding iſt gar nicht ſo verwickelt, wie es <lb/>ausſieht.</s>
  <s xml:id="echoid-s8721" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8722" xml:space="preserve">Du erblickſt in einem kleinen Kreis einen Punkt mit <lb/>dem Buchſtaben S bezeichnet, denke Dir, daß dieſer Punkt <lb/>die Sonne vorſtellt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8723" xml:space="preserve">Um dieſen Punkt ſiehſt Du den Kreis, <lb/>der mit den römiſchen Zahlen I II III IV gezeichnet iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8724" xml:space="preserve">Denke Dir, dies ſei die Bahn, welche Venus um die Sonne <lb/>macht.</s>
  <s xml:id="echoid-s8725" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8726" xml:space="preserve">Nun erblickſt Du weiter unten einen kleinen Bogen mit <lb/>den Zahlen 1 bis 4. </s>
  <s xml:id="echoid-s8727" xml:space="preserve">— Denke Dir, dies iſt ein Stückchen von <lb/>der Bahn, welche die Erde um die Sonne macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8728" xml:space="preserve">Und endlich <lb/>erblickſt Du oben das Stück eines großen Kreiſes, woſelbſt die <lb/>Zahlen ein wenig verworrener unter einander ſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8729" xml:space="preserve">Dies <lb/>Stück ſtellt den Teil des Himmelsgewölbes vor, wo man den <lb/>Lauf der Venus ſehen wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s8730" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8731" xml:space="preserve">Und nun ſind wir ſo weit, uns einmal den Lauf der Venus <lb/>anzuſehen, erſtens wie er wirklich iſt, ſodann aber wie er am <lb/>Himmel erſcheint, wenn während ihres Umlaufs die Erde <lb/>nicht ſtille ſteht, ſondern auch noch ein Stück ihrer Bahn <lb/>zurücklegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8732" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8733" xml:space="preserve">Die Bahn der Venus, wie ſie wirklich iſt, ſiehſt Du in <lb/>dem kleinen Kreis, der ganz regelmäßig iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8734" xml:space="preserve">Während der
<pb o="16" file="0640" n="640"/>
Zeit, daß Venus von I nach II und III und IV herumgeht, <lb/>geht die Erde auf ihrer Bahn von 1 nach 2 nach 3 und nach <lb/>4. </s>
  <s xml:id="echoid-s8735" xml:space="preserve">In Wirklichkeit alſo iſt das alles ſehr einfach und regel-<lb/>mäßig. </s>
  <s xml:id="echoid-s8736" xml:space="preserve">Allein, Du wirſt ſofort ſehen, wie verworren dies ein-<lb/>fache Ding <emph style="sp">erſcheint</emph>.</s>
  <s xml:id="echoid-s8737" xml:space="preserve"/>
</p>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption32" xml:space="preserve"><emph style="bf">Fig. 4.</emph></caption>
<description xml:id="echoid-description10" xml:space="preserve">Himmelsbogen<lb/>Erdbahn</description>
<variables xml:id="echoid-variables15" xml:space="preserve">3 1 4 2 III IV S II I</variables>
</figure>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8738" xml:space="preserve">Denke Dir, daß Venus dort ſteht, wo die römiſche Zahl I <lb/>ſteht, und die Erde ſich zur ſelben Zeit da befindet, wo auf <lb/>dem kleinen Bogen gleichfalls 1 verzeichnet iſt, ſo erblickt Dein <lb/>Auge von der Erde aus Venus oben am Himmelsgewölbe an <lb/>der Stelle, wo gleichfalls die Zahl 1 ſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8739" xml:space="preserve">Nach einiger Zeit <lb/>iſt die Erde auf dem untern Bogen das Stück von 1 nach 2 <lb/>gegangen, und in derſelben Zeit iſt Venus in ihrem Kreis von
<pb o="17" file="0641" n="641"/>
I nach II gegangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8740" xml:space="preserve">Nunmehr wird Dein Auge von der Erde <lb/>aus Venus am Himmelsbogen dort ſehen, wo oben im großen <lb/>Bogen die Zahl 2 ſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8741" xml:space="preserve">Wenn Du Dir nun den Lauf der <lb/>Venus merken willſt, ſo wirſt Du finden, daß ſie ſich am Himmel <lb/>von der Linken zur Rechten bewegt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s8742" xml:space="preserve">Nun aber geht die <lb/>Erde weiter von 2 nach 3, und auch Venus geht in ihrem <lb/>Kreiſe von II nach III. </s>
  <s xml:id="echoid-s8743" xml:space="preserve">Willſt Du aber ſehen, wo Venus <lb/>jetzt ſteht, ſo wirſt Du eine Linie ziehen müſſen von 3, wo die <lb/>Erde ſteht, durch III, wo Venus ſteht, nach dem Himmels-<lb/>gewölbe, und wie Du auf der Zeichnung ſehen kannſt, erſcheint <lb/>Venus in dieſer Zeit am Himmelsbogen bei 3, das heißt, ſie <lb/>iſt ſcheinbar, ſtatt wie früher von links nach rechts zu gehen, <lb/>in 2 ſtehen geblieben und fing dann an, immer ſchneller und <lb/>ſchneller zurückzulaufen nach 1, bis ſie weit hinauskam über <lb/>dieſe Stelle, wo ſie anfangs ſtand. </s>
  <s xml:id="echoid-s8744" xml:space="preserve">Sie befindet ſich jetzt oben <lb/>am Himmelsbogen in 3, alſo links von 1 und eine tüchtige <lb/>Strecke davon entfernt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8745" xml:space="preserve">Sie hat alſo ſcheinbar erſt einen kleinen <lb/>Weg nach rechts hin unter den Sternen gemacht, dann beſann <lb/>ſie ſich und lief recht eilig wieder rückwärts ein großes Stück <lb/>nach links hin.</s>
  <s xml:id="echoid-s8746" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8747" xml:space="preserve">Geht nun Venus weiter von III nach IV und die Erde <lb/>gleichzeitig auch von 3 nach 4, ſo ſieht man von der Erde aus <lb/>Venus am Himmelsbogen bei 4, alſo noch ein tüchtig Stück <lb/>weiter nach links. </s>
  <s xml:id="echoid-s8748" xml:space="preserve">— Wollten wir den wirklichen und ſchein-<lb/>baren Lauf weiter verfolgen, ſo würden wir ſehen, daß Venus <lb/>alsbald wieder in ihrem Lauf nach links hin inne hält und <lb/>zurückzulaufen anfängt nach rechts, ſo daß ſie einen ganz <lb/>wunderlichen Weg am Himmelsbogen unter den Fixſternen zu <lb/>nehmen ſcheint, der auch nicht die entfernteſte Ähnlichkeit mit <lb/>einem Kreis hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s8749" xml:space="preserve">— Und doch iſt Venus in Wirklichkeit in <lb/>einem regelmäßigen Kreis gegangen, und die große Verworren-<lb/>heit ihres Laufes iſt nur ſcheinbar und rührt nur daher, daß <lb/>die Erde, der Standpunkt, von welchem aus wir ſie beobachten,</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8750" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s8751" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s8752" xml:space="preserve">Volksbücher XVI.</s>
  <s xml:id="echoid-s8753" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="18" file="0642" n="642"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8754" xml:space="preserve">nicht ſtille ſteht, ſondern während der Zeit ebenfalls ein Stück <lb/>ihres Umlaufs um die Sonne macht! —</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8755" xml:space="preserve">Vielleicht ahneſt Du nunmehr, wie ſchwierig es ſein mußte, <lb/>aus einem ſolchen verworrenen Lauf es herauszukriegen, daß es <lb/>ein wirklicher einfacher Kreislauf ſei, daß ſeine Verwirrung <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0642-01a" xlink:href="fig-0642-01"/>
nur ſcheinbar ſei, und nur daher rühre, daß die Erde ſelber <lb/>ein Planet iſt, der um die Sonne geht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8756" xml:space="preserve">Lange Zeit hielt man <lb/>daher auch die verzwickten Bahnen, welche die Planeten nur <lb/><emph style="sp">ſcheinbar</emph> durchlaufen, für thatſächlich vorhandene und glaubte, <lb/>daß z. </s>
  <s xml:id="echoid-s8757" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s8758" xml:space="preserve">Jupiter und Saturn ſolche Schnörkel beſchrieben, <lb/>wie Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s8759" xml:space="preserve">5 zeigt, während man ſich bei den noch wunder-<lb/>licheren Bewegungen der näheren Planeten überhaupt nicht zu
<pb o="19" file="0643" n="643"/>
helfen wußte. </s>
  <s xml:id="echoid-s8760" xml:space="preserve">— Und alle dieſe Schwierigkeit hat ein deutſcher <lb/>Denker, Nikolaus Kopernicus, gelöſt, der trotz tauſendfacher <lb/>Vorurteile und vorgefaßter Meinungen ſeines Zeitalters mit <lb/>ungeheurer Klarheit das Richtige herausfand und den erſten <lb/>Anſtoß gab, die Menſchheit aus dem Joch des trügeriſchen <lb/>Scheins zu erlöſen und ſie auf die Bahn der wirklichen Wahr-<lb/>heit zu führen!</s>
</p>
<div xml:id="echoid-div212" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0642-01" xlink:href="fig-0642-01a">
<caption xml:id="echoid-caption33" xml:space="preserve"><emph style="bf">Fig. 5.</emph></caption>
<description xml:id="echoid-description11" xml:space="preserve">Bahn des Staurn<lb/>Bahn des Jupiter<lb/>Sonnenbabn<lb/>Erde</description>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8761" xml:space="preserve">Nicht umſonſt wurde die Lehre des Kopernicus von Rom <lb/>aus gar eifrig verbannt, und nicht umſonſt feiern wir das <lb/>Andenken dieſes großen Denkers, dieſes großen Erlöſers der <lb/>Menſchheit!</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div214" type="section" level="1" n="185">
<head xml:id="echoid-head210" xml:space="preserve"><emph style="bf">V. Ein Beiſpiel von der Bewegung des Planeten</emph> <lb/><emph style="bf">Mars.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8762" xml:space="preserve">Und nun, mein freundlicher Leſer, kann ich Dich noch <lb/>nicht laſſen, ſondern ich muß Dich noch auf eine kurze Weile <lb/>in Deiner merkwürdigen Stellung in der bewußten Doſe be-<lb/>laſſen, denn ich habe Dir etwas zu zeigen, was hinter Deinem <lb/>Rücken inzwiſchen vorgegangen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8763" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8764" xml:space="preserve">Du haſt bisher mit dem Geſicht zur Sonne gekehrt ge-<lb/>ſeſſen und haſt den Lauf eines Planeten geſehen, der wie <lb/>Venus der Sonne näher ſteht, als die Erde der Sonne nahe <lb/>iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8765" xml:space="preserve">— Ich muß Dich umdrehen, das heißt, ich muß Dich mit <lb/>dem Rücken zur Sonne ſetzen und Dir einmal zeigen, was Du <lb/>da zu ſehen bekommſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8766" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8767" xml:space="preserve">Ein tüchtiges Stück hinter der Erde bewegen ſich noch eine <lb/>ganze Maſſe von Planeten in großen Kreiſen um die Sonne <lb/>herum. </s>
  <s xml:id="echoid-s8768" xml:space="preserve">Aber auch dieſe Kreiſe liegen nicht rechts und nicht <lb/>links ab von den Bahnen der übrigen Planeten, ſondern auch <lb/>die Bewegungen dieſer Planeten gehen in derſelben Ebene vor
<pb o="20" file="0644" n="644"/>
ſich. </s>
  <s xml:id="echoid-s8769" xml:space="preserve">Auch hier brauchſt Du Dich nicht darum zu kümmern, <lb/>was rechts oder links vorgeht, denn da iſt vom Sonnenſyſtem <lb/>nichts zu ſehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s8770" xml:space="preserve">es ſei denn, daß einmal ein Komet auge-<lb/>wandert kommt, der dieſe Räume durchſchweift. </s>
  <s xml:id="echoid-s8771" xml:space="preserve">Du brauchſt <lb/>nur immer in der Linie geradeaus zu blicken, und da wirſt Du <lb/>ſchon auf Planeten ſtoßen, die Dein Auge feſſeln werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s8772" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8773" xml:space="preserve">Von der Sonne aus gezählt iſt die Erde der dritte Planet; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8774" xml:space="preserve">der vierte, alſo der erſte Planet, der hinter der Erde die Sonne <lb/>umläuft, iſt Mars. </s>
  <s xml:id="echoid-s8775" xml:space="preserve">— Er iſt etwa anderthalb mal ſo weit ent-<lb/>fernt von der Sonne als die Erde. </s>
  <s xml:id="echoid-s8776" xml:space="preserve">Sein Lauf geht auch in <lb/>derſelben Richtung um die Sonne, wie der jedes andern <lb/>Planeten. </s>
  <s xml:id="echoid-s8777" xml:space="preserve">Das heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s8778" xml:space="preserve">Wenn z. </s>
  <s xml:id="echoid-s8779" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s8780" xml:space="preserve">Sonne, Erde und Mars <lb/>in einer Linie hintereinander ſtehen, ſo bewegen ſich Erde und <lb/>Mars nicht etwa ſo, daß der eine aufwärts geht, während der an-<lb/>dere nach unten ſeinen Lauf nimmt, ſondern ſie gehen beide <lb/>nach einer und derſelben Gegend hin. </s>
  <s xml:id="echoid-s8781" xml:space="preserve">Die Erde freilich in <lb/>einem kleinern, Mars in einem größern Kreis, die Erde durch-<lb/>läuft ihren Kreis in 365 Tagen, während Mars faſt noch ein-<lb/>mal ſo viel Zeit braucht, nämlich 686 Tage, ehe er herum und <lb/>auf dieſelbe Stelle kommt, wo er ſeinen Kreis vollendet.</s>
  <s xml:id="echoid-s8782" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8783" xml:space="preserve">Wir wollen nun einmal die Erſcheinung ſeines Laufes <lb/>etwas näher kennen lernen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8784" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8785" xml:space="preserve">Nehmen wir an, Du haſt jetzt die Sonne gerade im Rücken <lb/>hinter Dir, und vor Dir ſteht Mars, ſo iſt dies eine Stellung, <lb/>in welcher Du Venus niemals geſehen haſt und niemals ſehen <lb/>wirſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8786" xml:space="preserve">In dieſer Stellung ſteht Mars gerade der Sonne ent-<lb/>gegengeſetzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8787" xml:space="preserve">Wenn Du die Sonne hinter Dir haſt, ſo haſt Du <lb/>Mars vor Dir; </s>
  <s xml:id="echoid-s8788" xml:space="preserve">wenn Du Dich umkehrſt, ſo haſt Du die <lb/>Sonne vor Dir und Mars hinter Dir. </s>
  <s xml:id="echoid-s8789" xml:space="preserve">Man nenut dieſe <lb/>Stellung die <emph style="sp">Oppoſition</emph> oder den <emph style="sp">Gegenſchein</emph>. </s>
  <s xml:id="echoid-s8790" xml:space="preserve">Das <lb/>will ſoviel ſagen, Mars ſteht in Oppoſition mit der Sonne, <lb/>der eine ſteht vorne, wenn der andere hinten ſteht, oder er iſt <lb/>im <emph style="sp">Gegenſchein</emph>, das heißt, wenn das Licht des einen dem
<pb o="21" file="0645" n="645"/>
Beobachter ins Geſicht ſcheint, ſo fällt das Licht des andern <lb/>auf den Rücken des Beobachters.</s>
  <s xml:id="echoid-s8791" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8792" xml:space="preserve">Nun beginnt Mars ſeinen Lauf, während gleichzeitig auch <lb/>die Erde um die Sonne läuft. </s>
  <s xml:id="echoid-s8793" xml:space="preserve">Obgleich nun der Lauf des <lb/>Mars wiederum ein Kreis iſt, ſo wird er dennoch durch die <lb/>Bewegung der Erde ſo verworren, daß der Kreis noch ſchwie-<lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0645-01a" xlink:href="fig-0645-01"/>
riger aus der Erſcheinung <lb/>zu erkennen iſt, als der <lb/>Kreis der Venus; </s>
  <s xml:id="echoid-s8794" xml:space="preserve">nament-<lb/>lich wenn Mars etwa ſeinen <lb/>halben Weg zurückgelegt hat <lb/>und jetzt ſich von der Erde <lb/>aus geſehen ſcheinbar in der <lb/>Nähe der Sonne befindet.</s>
  <s xml:id="echoid-s8795" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div214" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0645-01" xlink:href="fig-0645-01a">
<caption xml:id="echoid-caption34" xml:space="preserve"><emph style="bf">Fig. 6.</emph></caption>
<description xml:id="echoid-description12" xml:space="preserve">Himmelsbogen<lb/>Marsbahn</description>
<variables xml:id="echoid-variables16" xml:space="preserve">4 3 2 5 1 5 4 3 2 1 III IV S II V I</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8796" xml:space="preserve">Wenn es mir gelungen <lb/>iſt, Dir die obige Zeich-<lb/>nung vom Lauf der Venus <lb/>verſtändlich zu machen, ſo <lb/>wird Dir die nebenſtehende <lb/>Zeichnung vom Lauf des <lb/>Mars ſehr leicht verſtänd-<lb/>lich ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s8797" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8798" xml:space="preserve">Denken wir uns wieder <lb/>in der nebenſtehenden Zeich-<lb/>nung (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s8799" xml:space="preserve">6) S als die <lb/>Sonne. </s>
  <s xml:id="echoid-s8800" xml:space="preserve">Der Kreis, der mit den römiſchen Zahlen I bis V <lb/>bezeichnet iſt, ſoll der Kreis ſein, in dem die Erde um die <lb/>Sonne läuft. </s>
  <s xml:id="echoid-s8801" xml:space="preserve">Der über dem Kreis ſtehende kleine Bogen, in <lb/>welchem die Zahlen von 1 bis 5 ſich befinden, mag ein Stück <lb/>der Bahn bezeichnen, die Mars in ſeinem Umlauf um die <lb/>Sonne macht, während der obere Bogen, wo die Zahlen in ver-<lb/>worrener Ordnung ſtehen, den Himmelsraum vorſtellen mag, in <lb/>welchem Mars ſcheinbar zwiſchen den Fixſternen umherwandelt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8802" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="22" file="0646" n="646"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8803" xml:space="preserve">Setzen wir nun den Fall, daß die Erde ſich in ihrer <lb/>Kreisbahn befindet, wo die römiſche Zahl I iſt, und Mars <lb/>ſich auf ſeiner Bahn dort befindet, wo die gewöhnliche Zahl 1 <lb/>ſteht, ſo wird Dein Auge, wenn Du Dich auf der Erde be-<lb/>findeſt, den Mars oben am Himmelsbogen erblicken, dort <lb/>wo die Zahl 1 ſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8804" xml:space="preserve">Nun geht die Erde von I nach II, <lb/>und Mars geht in derſelben Zeit von 1 nach 2. </s>
  <s xml:id="echoid-s8805" xml:space="preserve">Wenn Du <lb/>nun nach Mars ſuchſt, ſo wirſt Du ihn am Himmelsbogen <lb/>in der geraden Linie finden, die oben mit 2 bezeichnet iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8806" xml:space="preserve">Alſo Du wirſt daraus ſchließen, daß Mars in der Zwiſchen-<lb/>zeit am Himmel den Weg von 1 nach 2 zurückgelegt hat, er <lb/>iſt alſo von rechts nach links gegangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8807" xml:space="preserve">Wenn Du nun wieder <lb/>eine Zeit warteſt und Mars aufſuchſt, ſo iſt inzwiſchen die <lb/>Erde von II nach III und Mars in ſeiner Bahn von 2 nach <lb/>3 gegangen; </s>
  <s xml:id="echoid-s8808" xml:space="preserve">allein er wird unter den Fixſternen einen ganz <lb/>ſonderbaren Weg gemacht haben, denn Du wirſt ihn am <lb/>Himmelsbogen bei 3 ſehen, alſo mußt Du ſchließen, er ſei <lb/>während der Zeit zurückgelaufen, das heißt, er habe in 2 inne <lb/>gehalten und ſei rechts gelaufen, um wieder nach 1 zurück-<lb/>zukehren. </s>
  <s xml:id="echoid-s8809" xml:space="preserve">— Nach einiger Zeit ſuchſt Du wiederum Mars auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s8810" xml:space="preserve"><lb/>Die Erde iſt aber inzwiſchen von III nach IV und auch Mars <lb/>iſt in ſeiner wirklichen Bahn von 3 nach 4 gegangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8811" xml:space="preserve">Nun <lb/>ſiehſt Du wieder Mars am Himmelsbogen, wie er in 3 auf-<lb/>gehört hat, rechts zu gehen und in der ganzen Zeit ſich äußerſt <lb/>langſam das kleine Stückchen von 3 nach 4 und zwar wieder <lb/>links bewegt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s8812" xml:space="preserve">Endlich willſt Du nach einiger Zeit wiederum <lb/>nachſehen, wo Mars jetzt ſteht, da iſt inzwiſchen die Erde von <lb/>IV nach V und auch Mars in der wirklichen Bahn von 4 nach <lb/>5 gegangen, und Du nimmſt nun wahr, daß Mars am Himmels-<lb/>bogen wieder mit einem Male einen ganz gewaltigen Lauf <lb/>von 4 nach 5 gemacht hat, und zwar in derſelben Zeit, in <lb/>welcher er früher das kleine Stückchen von 3 nach 4 durch-<lb/>lief. </s>
  <s xml:id="echoid-s8813" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<pb o="23" file="0647" n="647"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8814" xml:space="preserve">Gewiß wird nun jedermann einſehen, daß der wirkliche <lb/>Weg, den Mars hier lief, ein ſehr regelmäßiger Weg auf <lb/>ſeiner Bahn geweſen iſt, daß aber durch die Bewegung der <lb/>Erde eine ſcheinbare Unregelmäßigkeit in dieſer Bewegung <lb/>hervortritt, ein bald ſchnellerer, bald langſamerer, ein bald <lb/>rechts, bald links liegender Weg, der denjenigen Zeitaltern, <lb/>die es nicht ahnten, daß ſie ſich mitſamt der Erde um die Sonne <lb/>bewegen, auch die Wege aller anderen Planeten rein unerklär-<lb/>lich machen mußte. </s>
  <s xml:id="echoid-s8815" xml:space="preserve">— Und auch hier war es Nikolans Koperni-<lb/>cus, deſſen großer Geiſt dieſes Dunkel lichtete und der Menſch-<lb/>heit die Lehre gab, zwiſchen Schein und Wahrheit zu unter-<lb/>ſcheiden.</s>
  <s xml:id="echoid-s8816" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8817" xml:space="preserve">Somit, mein verehrter Leſer, habe ich Dir erſtens die <lb/>Lage, zweitens die wirkliche Bewegung, drittens die Schein-<lb/>bewegung eines Planeten gezeigt, der wie Venus nicht ſo weit <lb/>ab von der Sonne ſteht, als die Erde. </s>
  <s xml:id="echoid-s8818" xml:space="preserve">Sodann habe ich Dir <lb/>die Lage, die wirkliche und die Scheinbewegung eines Planeten <lb/>gezeigt, der, wie Mars, von der Sonne noch entfernter iſt, als <lb/>die Erde. </s>
  <s xml:id="echoid-s8819" xml:space="preserve">Wenn es mir gelungen iſt, all’ das Geſagte Dir <lb/>recht deutlich und anſchaulich zu machen, ſo wirſt Du Dir von <lb/>der Lage des ganzen Sonnenſyſtems ſehr leicht eine richtige <lb/>Grundanſchauung verſchaffen können.</s>
  <s xml:id="echoid-s8820" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div216" type="section" level="1" n="186">
<head xml:id="echoid-head211" xml:space="preserve"><emph style="bf">VI. Die Bewegungen von Weſt nach Oſt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8821" xml:space="preserve">Wir wollen ſofort zu dieſer Geſamtüberſicht kommen, ſo-<lb/>bald ich Dir nur noch eine Thatſache mitgeteilt haben werde.</s>
  <s xml:id="echoid-s8822" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8823" xml:space="preserve">Die Sonne ſelbſt, die in der Mitte all’ der Kreiſe ihrer <lb/>Planeten ſteht, macht eine Bewegung um ſich ſelber. </s>
  <s xml:id="echoid-s8824" xml:space="preserve">Man <lb/>nennt das im gewöhnlichen Sinne: </s>
  <s xml:id="echoid-s8825" xml:space="preserve">ſie dreht ſich um ihre
<pb o="24" file="0648" n="648"/>
Axe. </s>
  <s xml:id="echoid-s8826" xml:space="preserve">Das heißt, man ſtellt ſich das ſo vor, als ob mitten <lb/>durch die große Sonnenkugel, gerade vom Nord- zum Süd-<lb/>pol eine Stange durchgeſteckt wäre, wie man etwa eine Strick-<lb/>nadel durch einen Apfel durchſteckt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8827" xml:space="preserve">Nimmt man nun die <lb/>beiden Enden der Stricknadel in beide Hände und dreht dieſe <lb/>zwiſchen den Fingern, ohne die Hände ſelber fortzubewegen, <lb/>ſo wird die Oberfläche des Apfels ebenfalls eine Drehung <lb/>machen, und dieſe Art der Drehung neunt man eine Drehung <lb/>um ſich ſelber, oder um ſeine eigene Axe, oder mit dem wiſſen-<lb/>ſchaftlichen Ausdruck, eine Rotation.</s>
  <s xml:id="echoid-s8828" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8829" xml:space="preserve">Wenn man aber auch weiß, daß die Sonne ſolch eine <lb/>Drehung macht — und das weiß wohl ſchon jeder Schul-<lb/>knabe, — ſo kommt es doch hauptſächlich für eine richtige <lb/>Grundanſchauung vom Sonnenſyſtem darauf an, daß man es <lb/>ſich deutlich mache, in welcher Richtung und in welcher Ebene <lb/>dieſe Drehung vor ſich geht?</s>
  <s xml:id="echoid-s8830" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8831" xml:space="preserve">Stelle Dir nur noch einmal recht lebhaft vor Augen, daß <lb/>ſämtliche Planeten in Kreiſen um die Sonne gehen, daß ſämt-<lb/>liche Kreiſe faſt in einer und derſelben Ebene liegen, ſo daß, <lb/>wie wir ja bereits wiſſen, ſämtliche Kreiſe der Planeten in eine <lb/>flache Doſe eingeſperrt werden können. </s>
  <s xml:id="echoid-s8832" xml:space="preserve">Ferner verliere es nicht <lb/>aus den Augen, daß ſämtliche Planeten ſich ſtets in gleicher <lb/>Richtung bewegen; </s>
  <s xml:id="echoid-s8833" xml:space="preserve">das heißt, daß ſich niemals zwei Planeten <lb/>begegnen, indem der eine her- und der andere hingeht, ſondern <lb/>daß ſie, wie die Zeiger einer Uhr ſtets nach gleicher Gegend <lb/>hin in Bewegung ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s8834" xml:space="preserve">Und nun denke Dir die Sonne in <lb/>der Mitte dieſer Kreiſe, die eine Drehung um ſich ſelber, oder, <lb/>wie man es gewöhnlich ſagt, um ihre Axe macht, und es wird <lb/>Dir leichter verſtändlich ſein, wenn ich Dir ſage, daß auch <lb/>dieſe Drehung der Sonnenkugel um ſich ſelber in derſelben <lb/>Richtung und in derſelben Ebene erfolgt, wie die Umläufe und <lb/>Bewegungen der Planeten.</s>
  <s xml:id="echoid-s8835" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8836" xml:space="preserve">Um ganz ſicher zu ſein, daß wir uns nicht mißverſtehen,
<pb o="25" file="0649" n="649"/>
ſo bitte ich Dich, daß Du Dich wieder in jene merkwürdige <lb/>Doſe verſetzeſt, worin das Sonnenſyſtem eingeſperrt werden <lb/>kann, und meinetwegen magſt Du jetzt Deinen Standpunkt, <lb/>der Abwechſelung wegen, auf Merkur nehmen, der der nächſte <lb/>Planet iſt an der Sonne. </s>
  <s xml:id="echoid-s8837" xml:space="preserve">Von dort wirſt Du an dunkeln <lb/>Flecken, die ſich oft auf der Oberfläche der Sonne bilden, be-<lb/>merken, daß die Sonnenoberfläche eine Umdrehung macht, ganz <lb/>ſo, als ob ſie auf einer Axe beweglich wäre, und zwar geht <lb/>die Bewegung eben ſo wenig, wie die der Planeten von rechts <lb/>nach links, oder von links nach rechts, ſondern die Kugel wälzt <lb/>ſich um ſich ſelber herum; </s>
  <s xml:id="echoid-s8838" xml:space="preserve">und die Drehung ſelber erfolgt ſo, <lb/>daß ein Punkt auf der Oberfläche der Kugel nicht dem Lauf <lb/>des Merkur <emph style="sp">entgegen kommt</emph>, ſondern ſich nach <emph style="sp">gleicher <lb/>Gegend</emph> hin bewegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8839" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8840" xml:space="preserve">Man kann alſo ſagen: </s>
  <s xml:id="echoid-s8841" xml:space="preserve">Die Planeten bewegen ſich um die <lb/>Sonne in gleicher Richtung und in gleicher Ebene, wie die <lb/>Sonne ſelber ſich um die Axe dreht.</s>
  <s xml:id="echoid-s8842" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8843" xml:space="preserve">Nun aber wiſſen wir auch, daß die Planeten ſich gleich-<lb/>falls um ihre Axen drehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8844" xml:space="preserve">Auch hier kann die Lage der <lb/>Axen und alſo auch die Drehung in ſehr verſchiedener Richtung <lb/>und in Ebenen vor ſich gehen, die von der Richtung und der <lb/>Ebene der Sonnenumdrehung oder der Lage und Richtung der <lb/>Planetenumläufe verſchieden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8845" xml:space="preserve">Allein auch dies iſt nicht <lb/>der Fall.</s>
  <s xml:id="echoid-s8846" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8847" xml:space="preserve">So weit man die Umdrehung der Planeten um ihre Axe <lb/>mit Sicherheit beobachtet hat, iſt dieſe faſt immer ein wahres <lb/>Abbild von der Umdrehung der Sonne.</s>
  <s xml:id="echoid-s8848" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8849" xml:space="preserve">Da wir nun bis zur Umdrehung der Planeten um ihre <lb/>Axe gekommen ſind und auch alle Welt weiß, daß die Erde <lb/>ein Planet iſt, und außer ihrem Umlauf um die Sonne in <lb/>365 Tagen noch in 24 Stunden eine Umdrehung um ihre Axe <lb/>macht, ſo können wir jetzt einen beſtimmten Ausdruck für die <lb/>Richtung und die Ebene aller Bewegungen im Sonnenſyſtem
<pb o="26" file="0650" n="650"/>
finden, wenn wir einen kurzen Blick auf die Umdrehung der <lb/>Erde um ihre Axe werfen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8850" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8851" xml:space="preserve">Wenn man ſich die Gegend merkt, wo die Sonne im <lb/>Herbſt oder im Frühjahr aufgeht und ſich mit dem Geſicht <lb/>nach dieſer Gegend hinſtellt, ſo hat man vor ſich die Himmels-<lb/>gegend, die man Oſten nennt; </s>
  <s xml:id="echoid-s8852" xml:space="preserve">im Rücken hat man dann <lb/>Weſten, oder die Gegend, wo die Sonne untergeht; </s>
  <s xml:id="echoid-s8853" xml:space="preserve">zur Rechten <lb/>hat man Süden, und zur Linken hat man dann Norden.</s>
  <s xml:id="echoid-s8854" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8855" xml:space="preserve">Scheinbar macht die ganze Himmelskugel ſamt allen <lb/>Sternen in 24 Stunden eine Bewegung um eine Axe, die von <lb/>Norden nach Süden geht, und zwar ſieht dieſe Bewegung ſo <lb/>aus, als ob ſich die Himmelskugel von Oſten nach Weſten <lb/>drehen würde. </s>
  <s xml:id="echoid-s8856" xml:space="preserve">Allein, es iſt ſchon allbekannt, daß dies nur <lb/>ein trügeriſcher Schein iſt und daher rührt, daß die Erde ſelber <lb/>eine Umdrehung in umgekehrter Richtung macht, das heißt, daß <lb/>ſie ſich, wie alle andern Planeten um ihre Axe dreht, und zwar <lb/>in umgekehrter Richtung, wie die ſcheinbare der Himmelskugel. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8857" xml:space="preserve">Die Erde dreht ſich in 24 Stunden von <emph style="sp">Weſten nach Oſten</emph>.</s>
  <s xml:id="echoid-s8858" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8859" xml:space="preserve">Hältſt Du nun, mein verehrter Leſer, dieſe eine Thatſache <lb/>feſt, ſo haſt Du eine untrügliche Grundlage, um Dir ein Bild <lb/>vom ganzen Sonnenſyſtem zu verſchaffen, wie es für den An-<lb/>fang vollkommen ausreichend iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s8860" xml:space="preserve">und dieſes nahezu richtige <lb/>Bild für den Anfang iſt in allen Dingen die Hauptſache.</s>
  <s xml:id="echoid-s8861" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8862" xml:space="preserve">Du brauchſt eben nur den ganz leicht faßlichen Gedanken <lb/>feſtzuhalten, daß hauptſächlich alle Bewegungen, die im Sonnen-<lb/>ſyſtem vorkommen, in ihrer Richtung und Ebene nahe ſo ſind, <lb/>wie die Richtung und Ebene der Erdumdrehung, das heißt, <lb/><emph style="sp">von Weſt nach Oſt</emph>, und dies allein genügt, um mannigfache <lb/>Irrtümer zu beſeitigen und ſich auch am wirklichen Himmel <lb/>ein wenig zurechtzufinden.</s>
  <s xml:id="echoid-s8863" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8864" xml:space="preserve">Und nun wollen wir zu der Geſamtüberſicht des Sonnen-<lb/>ſyſtems kommen, denn es wird uns jetzt äußerſt leicht und <lb/>überſichtlich werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s8865" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="27" file="0651" n="651"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div217" type="section" level="1" n="187">
<head xml:id="echoid-head212" xml:space="preserve"><emph style="bf">VII. Verſuch einer Geſamtüberſicht.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8866" xml:space="preserve">Denke Dir in dem unendlichen Weltranm eine grade Weſt-<lb/>Oſt-Linie gezogen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8867" xml:space="preserve">Den Raum, der <emph style="sp">über</emph> dieſer Linie liegt, <lb/>wollen wir mit <emph style="sp">oben</emph> bezeichnen; </s>
  <s xml:id="echoid-s8868" xml:space="preserve">den Raum, der unter der <lb/>Linie liegt, wollen wir mit <emph style="sp">unten</emph> bezeichnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8869" xml:space="preserve">Und nun ſtelle <lb/>Dir in der Mitte dieſes ungeheuren, leeren Raumes die <lb/>Sonnenkugel vor, die einen Durchmeſſer von 185 000 Meilen hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s8870" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8871" xml:space="preserve">Denke Dir, daß dieſe Sonnenkugel für den erſten Augen-<lb/>blick ruht, und daß ſie dann erſt ihre Umwälzung um ihre Axe <lb/>beginnt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8872" xml:space="preserve">So lange ſie ruht, wird ein Punkt der Kugel nach <lb/>Weſt hinblicken, ein Punkt nach Oſt, ein Punkt nach oben, ein <lb/>Punkt nach unten, ein Punkt nach Norden, ein Punkt nach <lb/>Süden, auf den Du grade hinblicken magſt, ſo daß er für Dich <lb/>ſcheinbar im Mittelpunkt der Sonne liegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8873" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8874" xml:space="preserve">Soll dieſe nun ihre Umwälzung beginnen, ſo ſtelle Dir vor, <lb/>daß der weſtliche Punkt der Oberfläche nach oben hin ſich be-<lb/>wegt, der öſtlichſte wird ſich dann nach unten hin bewegen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8875" xml:space="preserve">Bald wird der Punkt, der früher im Weſten war, ganz oben <lb/>und der öſtliche wird ſodann ganz unten liegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8876" xml:space="preserve">Alsdann geht <lb/>der ehemals weſtliche Punkt immer weiter nach unten, bis er <lb/>die unterſte Stelle einnimmt, durch dieſe hindurch geht und <lb/>wieder dort ankommt, wo er beim Anfang der Bewegung ge-<lb/>weſen war.</s>
  <s xml:id="echoid-s8877" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8878" xml:space="preserve">Dies iſt eine Umdrehung oder eine Rotation der Sonne, <lb/>und dies nennt man eine Umdrehung von Weſt nach Oſt, ob-<lb/>gleich ſich ja gleichzeitig der Punkt, der im Oſten liegt, ſtets <lb/><emph style="sp">unten herum</emph> nach Weſt begiebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8879" xml:space="preserve">Wenn man daher von <lb/>einer Umdrehung von Weſt nach Oſt ſpricht, ſo muß man ſich <lb/>ja nicht irre machen und ſtets dabei die Vorſtellung feſt <lb/>halten, daß dies ſo viel ſagen will: </s>
  <s xml:id="echoid-s8880" xml:space="preserve">wie von Weſt nach Oſt <lb/><emph style="sp">oben herum</emph>, wenn Du Dich gegenüber dem Südpol befindeſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8881" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="28" file="0652" n="652"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8882" xml:space="preserve">Dieſe Umdrehung geſchieht bei der Sonne fort und fort, <lb/>ohue Unterlaß, und zwar um eine gedachte Axe; </s>
  <s xml:id="echoid-s8883" xml:space="preserve">und dieſe Axe <lb/>liegt in ihrer Richtung von Nord nach Süd. </s>
  <s xml:id="echoid-s8884" xml:space="preserve">Eine einmalige <lb/>Umdrehung dauert 25 Tage, weshalb wir denn durch Fern-<lb/>röhre, vor die man ein geſchwärztes Glas anbringt, damit <lb/>man in die Sonne hineinſehen kann, etwaige Sonnenflecke um <lb/>die Sonnenkugel herum wandern ſehen können, und wenn ein <lb/>Fleck ſich nicht ſehr verändert hat, ſo wird man ihn nach <lb/>25 Tagen an derſelben Stelle der Sonnenkugel ſehen, wo man <lb/>ihn früher geſehen hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s8885" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8886" xml:space="preserve">Der nächſte Planet zur <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0652-01a" xlink:href="fig-0652-01"/>
Sonne heißt Merkur. </s>
  <s xml:id="echoid-s8887" xml:space="preserve">Er iſt <lb/>etwa 7 {1/2} Millionen Meilen <lb/>von der Sonne entfernt und <lb/>hat einen Durchmeſſer von <lb/>nur 600 Meilen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8888" xml:space="preserve">Denken wir <lb/>uns vorerſt, daß dieſer Planet <lb/>im Weſten der Sonne ſteht, <lb/>das heißt, daß er noch weiter <lb/>nach Weſt ſteht, als die Sonne. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8889" xml:space="preserve">Um alle Irrungen zu meiden, <lb/>wollen wir uns auch dieſen <lb/>Planeten vorerſt in abſoluter Ruhe denken und uns vorſtellen, <lb/>er beginne ſich um ſeine Axe zu drehen, ehe er noch um die <lb/>Sonne ſeinen Kreis macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8890" xml:space="preserve">Es iſt dies nun ſehr leicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8891" xml:space="preserve"><lb/>Merkurs Umdrehung um ſeine Axe iſt ganz ſo wie die Axen-<lb/>drehung der Sonne. </s>
  <s xml:id="echoid-s8892" xml:space="preserve">Sie erfolgt auch von Weſt nach Oſt <lb/><emph style="sp">oben herum</emph>, und die Axe ſeiner Drehung liegt ungefähr mit <lb/>der Sonnenaxe in ganz gleicher Lage. </s>
  <s xml:id="echoid-s8893" xml:space="preserve">Er vollendet ſeine Um-<lb/>drehung in etwa 24 Stunden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8894" xml:space="preserve">— Und ſo ſich um ſeine Axe <lb/>drehend, ſo mögen wir uns denken, daß er ſeinen Lauf be-<lb/>ginnt um die Sonne. </s>
  <s xml:id="echoid-s8895" xml:space="preserve">Er erhebt ſich nun von ſeinem Stand-<lb/>punkt im Weſten und geht oben herum in einem Bogen nach
<pb o="29" file="0653" n="653"/>
Oſten, um von unten herum wieder von Oſten nach Weſten zu <lb/>kommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8896" xml:space="preserve">— Dieſen Umlauf um die Sonne vollendet er in <lb/>88 Tagen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8897" xml:space="preserve">Er macht alſo zwei Bewegungen, eine um ſeine <lb/>Axe und eine um die Sonne; </s>
  <s xml:id="echoid-s8898" xml:space="preserve">aber beide Bewegungen ſtören <lb/>weder einander, noch befördern ſie einander, denn ſie würden <lb/>in dem einen oder dem andern Falle nicht gleichmäßig fort-<lb/>dauern können.</s>
  <s xml:id="echoid-s8899" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div217" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0652-01" xlink:href="fig-0652-01a">
<caption xml:id="echoid-caption35" xml:space="preserve"><emph style="bf">Fig. 7.</emph></caption>
<variables xml:id="echoid-variables17" xml:space="preserve">C E M B A D</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8900" xml:space="preserve">Ich habe oben davon <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0653-01a" xlink:href="fig-0653-01"/>
geſprochen, daß die Bewe-<lb/>gung der Planeten um die <lb/>Sonne in <emph style="sp">Kreiſen</emph> geſchähe. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8901" xml:space="preserve">Das iſt an ſich nicht richtig, <lb/>denn die Bahn eines Pla-<lb/>neten um die Sonne iſt eine <lb/>Ellipſe, und ich darf jetzt <lb/>dies nicht unerwähnt laſſen, <lb/>da Merkur grade zu den <lb/>Planeten gehört, deren Bahn <lb/>am meiſten von einem Kreis <lb/>abweicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8902" xml:space="preserve">Eine Ellipſe iſt <lb/>ein nach einer Richtung etwas <lb/>in die Länge gezogener, alſo <lb/>etwa ein eiförmiger Kreis, <lb/>wie Du ihn erhältſt, wenn <lb/>Du in Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s8903" xml:space="preserve">8 den Kegel A B D <lb/>in der Richtung M N durch-<lb/>ſchneideſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8904" xml:space="preserve">Bei den Plancten iſt die Abweichung vom Kreis nur <lb/>eine außerordentlich geringe, wie etwa in Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s8905" xml:space="preserve">7 die Abweichung <lb/>der punktierten Linie vom Kreiſe A B C. </s>
  <s xml:id="echoid-s8906" xml:space="preserve">Daher iſt es für den <lb/>Anfang, wo man ſich nur eine richtige <emph style="sp">Anſchauung</emph> verſchaffen <lb/>will, beſſer, wenn man die Abweichung einer Ellipſe vom <lb/>Kreis ganz außer acht läßt, zumal ſich das genaue Weſen der <lb/>Ellipſe nicht leicht allgemein verſtändlich wiedergeben läßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8907" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div218" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-0653-01" xlink:href="fig-0653-01a">
<caption xml:id="echoid-caption36" xml:space="preserve"><emph style="bf">Fig. 8.</emph></caption>
<variables xml:id="echoid-variables18" xml:space="preserve">A P M N B O D</variables>
</figure>
</div>
<pb o="30" file="0654" n="654"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8908" xml:space="preserve">Ganz ſo wie man ſich Merkurs Umdrehung um ſeine Axe <lb/>und ſeinen Umlauf um die Sonne vorſtellt, ganz ſo hat man <lb/>es ſich bei dem von der Sonne aus zweiten Planeten, bei <lb/>Venus, zu denken. </s>
  <s xml:id="echoid-s8909" xml:space="preserve">Venus iſt 15 Millionen Meilen von der <lb/>Sonne entfernt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8910" xml:space="preserve">Sie bewegt ſich um ihre Axe in 23 Stunden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8911" xml:space="preserve">Außer dieſer Bewegung macht ſie noch einen Umlauf um die <lb/>Sonne in einem faſt gleichförmigen Kreiſe, und zwar dauert <lb/>dieſe Umlaufszeit 224 Tage. </s>
  <s xml:id="echoid-s8912" xml:space="preserve">Der Durchmeſſer von Venus iſt <lb/>faſt dem Durchmeſſer der Erde gleich und beträgt nahe an <lb/>1650 Meilen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8913" xml:space="preserve">Die Richtung ihres Umlaufs iſt gleichfalls von <lb/>Weſt nach Oſt <emph style="sp">oben herum</emph>.</s>
  <s xml:id="echoid-s8914" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div220" type="section" level="1" n="188">
<head xml:id="echoid-head213" xml:space="preserve"><emph style="bf">VIII. Die Erde und der Mond.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8915" xml:space="preserve">In einer noch weitern Entfernung von der Sonne bewegt <lb/>ſich die Erde um dieſelbe. </s>
  <s xml:id="echoid-s8916" xml:space="preserve">Sie iſt an 20 Millionen Meilen <lb/>von der Sonne entfernt und macht ihren Umlauf in 365 Tagen <lb/>und ungefähr 6 Stunden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8917" xml:space="preserve">Von dieſer Umlaufszeit hängt die <lb/>Dauer unſeres Jahres ab, und da man nicht in der Mitte emes <lb/>Tages ein neues Jahr beginnen mag, ſo hat man die Über-<lb/>einkunft getroffen, die 6 Stunden gewöhnlich unberückſichtigt <lb/>zu laſſen und dafür alle vier Jahre, wo die aufgeſammelten <lb/>6 Stunden aus jedem Jahr faſt genau 24 Stunden betragen, <lb/>ein Jahr von 366 Tagen zu zählen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8918" xml:space="preserve">Dieſer 366 ſte Tag iſt der <lb/>eingeſchaltete 29. </s>
  <s xml:id="echoid-s8919" xml:space="preserve">Februar, nach welchem das Jahr ein Schalt-<lb/>jahr genannt wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s8920" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8921" xml:space="preserve">Außer dieſer Bewegung macht die Erde gleichfalls eine <lb/>Umdrehung um ſich ſelber oder um ihre Axe; </s>
  <s xml:id="echoid-s8922" xml:space="preserve">durch dieſe Um-<lb/>drehung geſchieht es, daß abwechſelnd bald die eine, bald die <lb/>andere Seite der Erdkugel der Sonne zugekehrt iſt, wodurch
<pb o="31" file="0655" n="655"/>
Tag und Nacht entſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8923" xml:space="preserve">Die ganze Umdrehungszeit hat man <lb/>in 24 Stunden eingeteilt, ſo daß eine Stunde nichts weiter <lb/>bedeutet, als daß die Erde ein Vierundzwanzigſtel ihrer Um-<lb/>drehung vollendet hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s8924" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8925" xml:space="preserve">Auch beim Umlauf der Erde um die Sonne und der Um-<lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0655-01a" xlink:href="fig-0655-01"/>
drehung der Erde um ihre eigene Axe gilt das allgemeine Ge-<lb/>ſetz, daß die Bewegungen von Weſt nach Oſt oben herum ge-<lb/>ſchehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8926" xml:space="preserve">Allein ganz genau iſt dieſes nicht der Fall, ſondern <lb/>wenn wir uns die Bahn der Erde um die Sonne als eine <lb/>Ebene denken, ſo liegt die zweite Ebene, welche ſämtliche Punkte <lb/>der Erdoberfläche in ihrer Umwälzung um die Erdaxe machen, <lb/>in einer geneigten Lage zu jener erſten Ebene, wodurch die auf
<pb o="32" file="0656" n="656"/>
der Erde herrſchenden Jahreszeiten: </s>
  <s xml:id="echoid-s8927" xml:space="preserve">Frühling, Sommer, Herbſt <lb/>und Winter entſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8928" xml:space="preserve">Die Größe dieſer Neigung zeigt die <lb/>nachgebildete Erdkugel in Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s8929" xml:space="preserve">9.</s>
  <s xml:id="echoid-s8930" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div220" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0655-01" xlink:href="fig-0655-01a">
<caption xml:id="echoid-caption37" xml:space="preserve"><emph style="bf">Fig. 9.</emph></caption>
<variables xml:id="echoid-variables19" xml:space="preserve">Z D N b N a Q S’ L’ B Q’ D H V R N’ Z T W</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8931" xml:space="preserve">Indem es mir in dieſem Aufſatz nur darum zu thun iſt, <lb/>ein überſichtliches Bild von dem geſamten Sonnenſyſtem zu <lb/>geben, bitte ich Dich, mein verehrter Leſer, für jetzt von dieſer <lb/>eben erwähnten Abweichung abzuſehen, um für jetzt nur noch <lb/>einen Moment bei der Erde zu verweilen und eine neue Er-<lb/>ſcheinung hier vorzuführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8932" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8933" xml:space="preserve">Die Erde wird in ihrem Umlauf um die Sonne von einem <lb/>Himmelskörper begleitet, der ſcheinbar ſo groß iſt wie die <lb/>Sonne ſelber. </s>
  <s xml:id="echoid-s8934" xml:space="preserve">Dies iſt der Mond. </s>
  <s xml:id="echoid-s8935" xml:space="preserve">Allein ſeine ſcheinbare <lb/>Größe wird nur durch ſeine verhältnismäßige Nähe veranlaßt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8936" xml:space="preserve">Er iſt 51 800 Meilen von der Erde entfernt, iſt alſo faſt <lb/>viertauſendmal der Erde näher, als es die Sonne iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8937" xml:space="preserve">Er <lb/>iſt in einem fortwährenden Umlauf um die Erde begriffen <lb/>und vollendet dieſen Umlauf, wenn man ſich die Erde in-<lb/>zwiſchen ſtillſtehend denkt, in 27 Tagen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8938" xml:space="preserve">Allein er iſt auch <lb/>zugleich der Begleiter der Erde, er läuft mit der Erde um die <lb/>Sonne; </s>
  <s xml:id="echoid-s8939" xml:space="preserve">und da während der 27 Tage die Erde ein Stück in <lb/>ihrer Bahn um die Sonne gegangen iſt, ſo dauert es länger <lb/>als 27 Tage, ehe der Mond wieder dieſelbe Stellung zur Erde <lb/>und zur Sonne einnimmt, die er vorher eingenommen hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s8940" xml:space="preserve"><lb/>Er muß gewiſſermaßen in jedem Augenblick der Erde in ihrer <lb/>Bahn nachlaufen, wodurch ſeine Umlaufszeit um mehr als zwei <lb/>Tage verläugert wird, ſo daß er erſt in 29 und einem halben <lb/>Tag dieſelbe Stellung zur Erde und Sonne einnimmt, die er <lb/>vor ſeinem letzten Umlauf eingenommen hatte.</s>
  <s xml:id="echoid-s8941" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8942" xml:space="preserve">Man kann ſich hiervon eine richtige Vorſtellung machen, <lb/>wenn man ſich denkt, daß eine Lokomotive, die im Fahren <lb/>begriffen iſt, von einer Weſpe, die bekanntlich außerordentlich <lb/>ſchnell fliegen kann, umkreiſt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s8943" xml:space="preserve">Die Weſpe wird offenbar <lb/>weit mehr Zeit brauchen, um die Lokomotive herum zu
<pb o="33" file="0657" n="657"/>
kommen, wenn dieſe ſehr ſchnell fährt, als wenn ſie langſam <lb/>fährt oder gar ſtill ſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8944" xml:space="preserve">Denn ſo oft ſie hinten an der Lo-<lb/>komotive iſt, muß ſie nicht nur das Stück vom Hinterteil der <lb/>Lokomotive nach dem Vorderteil fliegen, ſondern ſobald die <lb/>Lokomotive im Fahren begriffen iſt, hat ſie außerdem noch <lb/>einen beſondern Flug zu machen, der gleich iſt dem Lauf der <lb/>Lokomotive. </s>
  <s xml:id="echoid-s8945" xml:space="preserve">Es iſt wohl nun Jedem klar, daß die Weſpe <lb/>deshalb eine längere Zeit braucht, um herum zu kommen, als <lb/>wenn die Lokomotive langſamer geht oder gar ſtill ſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s8946" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div222" type="section" level="1" n="189">
<head xml:id="echoid-head214" xml:space="preserve"><emph style="bf">IX. Merkwürdiger Lauf des Mondes.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8947" xml:space="preserve">Dieſes Beiſpiel iſt vollkommen ausreichend und auch zu-<lb/>treffend, um die angeführte Verzögerung der Umlaufszeit des <lb/>Mondes ſich deutlich zu machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8948" xml:space="preserve">Ich muß aber noch einen <lb/>Augenblick bei dieſem Beiſpiel verweilen, weil es geeignet iſt, <lb/>die merkwürdige Bahn, die der Mond macht, der Anſchauung <lb/>näher zu bringen.</s>
  <s xml:id="echoid-s8949" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8950" xml:space="preserve">Stelle Dir nun einmal die Lokomotive vor, wie ſie im <lb/>Fahren begriffen iſt, und die Weſpe, die ſie umkreiſt, ſo wirſt <lb/>Du ſofort merken, daß es ein ganz wunderlicher Weg iſt, den <lb/>ſie wirklich fliegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8951" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8952" xml:space="preserve">Denken wir uns, die Wespe befindet ſich jetzt vorne vor <lb/>dem Schornſtein, und ſie will nun nach dem Hinterteil der <lb/>Lokomotive, ſo iſt es klar, daß ſie ſich gar nicht anzuſtrengen <lb/>braucht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8953" xml:space="preserve">Sie wird nur ein wenig zur Seite fliegen und die <lb/>Lokomotive wird vor ihr vorbei eilen, wodurch die Weſpe ſich <lb/>von ſelber am Hinterraum der Lokomotive befindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s8954" xml:space="preserve">Jetzt <lb/>freilich muß ſie ſich beeilen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8955" xml:space="preserve">Sie muß von der einen Seite <lb/>ſchnell hinüberfliegen zur andern und dabei zugleich der Loko-</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8956" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s8957" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s8958" xml:space="preserve">Volksbücher XVI.</s>
  <s xml:id="echoid-s8959" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="34" file="0658" n="658"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8960" xml:space="preserve">motive nacheilen, ja ihr voranjagen, um wieder vor den Schorn-<lb/>ſtein zu kommen und ihren Rundflug zu vollenden.</s>
  <s xml:id="echoid-s8961" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8962" xml:space="preserve">Stellen wir uns nun den Lokomotivführer vor, der die <lb/>Weſpe beobachtet — und ſich vielleicht wundert, wie ſo ein <lb/>kleines Weſen noch beſſer von der Natur mit Bewegungskraft <lb/>ausgeſtattet iſt als die hohe Menſchenkunſt ſeine Maſchine aus-<lb/>ſtatten konnte, — der Lokomotivführer wird in dem Flug der <lb/>Weſpe einen wirklichen, länglichen Kreis ſehen, denn er hat ſie <lb/>von der einen Seite nach hinten und dann von der andern nach <lb/>vorn fliegen, alſo in Bezug auf ſeinen Standpunkt einen läng-<lb/>lichen Kreis machen ſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8963" xml:space="preserve">Dahingegen wird jemand, der nicht <lb/>auf der Lokomotive, ſondern ruhig neben der Bahn ſteht, den <lb/>Flug der Weſpe ganz anders ſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8964" xml:space="preserve">Denn er wird bemerken, <lb/>daß die Weſpe eigentlich niemals zurückgeflogen ſei, ſondern nur <lb/>die Lokomotive ſich von der einen Seite vorüber eilen ließ und <lb/>nur auf der andern Seite der Lokomotive voranzueilen ſuchte. </s>
  <s xml:id="echoid-s8965" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8966" xml:space="preserve">Ganz in ähnlicher Weiſe verhält es ſich mit dem Umlauf <lb/>des Mondes um die Erde, während ſich die Erde um die <lb/>Sonne bewegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8967" xml:space="preserve">— In der That, von irgend einem Punkt des <lb/>Weltraumes aus betrachtet, ſieht man die Bahn des Mondes <lb/>als keinen geſchloſſenen, ſondern als einen weitgeöffneten Kreis, <lb/>eine Bahn, die man Cykloide nennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8968" xml:space="preserve">Eine Art von Sprung-<lb/>linie, die ſich auf der Linie der Erdbahn wie Figur 10 aus-<lb/>nimmt.</s>
  <s xml:id="echoid-s8969" xml:space="preserve"/>
</p>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption38" xml:space="preserve"><emph style="bf">Fig. 10.</emph></caption>
<variables xml:id="echoid-variables20" xml:space="preserve">I 1 IV 4 III 3 2 II 1 I IV 4 III 3 2 II 1 I</variables>
</figure>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8970" xml:space="preserve">Will man ſich alſo die Bewegung des Mondes im Sonnen-<lb/>ſyſtem mit der gleichzeitigen Bewegung der Erde vorſtellen, ſo <lb/>hat man ſich zu denken, daß der Mond in jedem Monat von
<pb o="35" file="0659" n="659"/>
29 {1/2} Tag eine Art Sprung in jenem hier aufgezeichneten <lb/>Halbbogen von der römiſchen Zahl I nach der nächſten römi-<lb/>ſchen Zahl I macht, während zu gleicher Zeit die Erde in <lb/>ihrer einfachen Bahn, wo die gewöhnlichen Zahlen ſtehen, von <lb/>1 nach 1 geht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8971" xml:space="preserve">Für Denjenigen, der ſich die näheren Umſtände <lb/>dieſes merkwürdigen Laufes anſchaulich machen will, habe ich <lb/>die Zahlen 2, 3 und 4 und II, III, IV in beiden Bahnlinien <lb/>hingeſtellt, die andeuten, daß ſich die Erde immer im Punkt, <lb/>wo die gewöhnliche Zahl iſt, befindet, wenn der Mond in der <lb/>Stelle ſeiner Sprungbahn iſt, wo die gleiche römiſche Zahl <lb/>ſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8972" xml:space="preserve">— Hieraus aber leuchtet ſchon ein, daß auch der Mond <lb/>im Lauf nach Oſten begriffen iſt, und die Beobachtung lehrt, <lb/>daß dieſer Lauf faſt in derſelben Ebene liegt, wie der Lauf <lb/>der Erde ſelber.</s>
  <s xml:id="echoid-s8973" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div223" type="section" level="1" n="190">
<head xml:id="echoid-head215" xml:space="preserve"><emph style="bf">X. Von Mars und den kleinen Planeten.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8974" xml:space="preserve">Entfernter als die Erde von der Sonne iſt Mars (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s8975" xml:space="preserve">11) <lb/>von dieſer. </s>
  <s xml:id="echoid-s8976" xml:space="preserve">In einem Abſtand von 30 Millionen Meilen bewegt <lb/>ſich Mars in einer ziemlich länglichen Bahn um die Sonne, <lb/>und außerdem hat er gleichfalls eine Bewegung um ſich ſelbſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8977" xml:space="preserve">Den Umlauf um die Sonne vollendet er in 687 Tagen, <lb/>während er die Umwälzung um ſeine Axe in etwas mehr als <lb/>24 Stunden macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s8978" xml:space="preserve">Beide Bewegungen aber, ſowohl die um <lb/>ſeine Axe als die um die Sonne geſchehen zwar nicht in einer <lb/>und derſelben Ebene, aber trotzdem tritt auch hier entſchieden <lb/>der Charakter der Bewegung als der des ganzen Sonnen-<lb/>ſyſtems hervor, denn ſie ſind beide, wie wir ſie bereits oben <lb/>näher bezeichnet haben, von Weſt nach Oſt oben herum.</s>
  <s xml:id="echoid-s8979" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8980" xml:space="preserve">Bis Ende des vorigen Jahrhunderts war der Planet <lb/>Jupiter als der nächſte angeſehen, der hinter Mars die Sonne <lb/>umkreiſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8981" xml:space="preserve">Allein die Wahrnehmung, daß zwiſchen Mars und
<pb o="36" file="0660" n="660"/>
Jupiter ein verhältnismäßig weit größerer Zwiſchenraum iſt, als <lb/>man ihn nach den Abſtänden der andern Planeten von einander <lb/>vermuten ſollte, hat es vielen Denkern wahrſcheinlich gemacht, <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0660-01a" xlink:href="fig-0660-01"/>
daß zwiſchen Mars und Jupiter noch ein Planet vorhanden <lb/>ſei. </s>
  <s xml:id="echoid-s8982" xml:space="preserve">— Dieſe Vermutung, obgleich ſie auf keinem wiſſenſchaft-<lb/>lichen, klaren Grund beruhete, hat ſich glänzend beſtätigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s8983" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<div xml:id="echoid-div223" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0660-01" xlink:href="fig-0660-01a">
<caption xml:id="echoid-caption39" xml:space="preserve"><emph style="bf">Fig. 11.</emph></caption>
<description xml:id="echoid-description13" xml:space="preserve">Mars.<lb/>Süd<lb/>Nord</description>
</figure>
</div>
<pb o="37" file="0661" n="661"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8984" xml:space="preserve">Am 1. </s>
  <s xml:id="echoid-s8985" xml:space="preserve">Januar 1801, in der erſten Nacht dieſes Jahr-<lb/>hunderts, wurde ein kleiner Planet entdeckt, der in ſeiner Ent-<lb/>fernung dort etwa ſteht, wo man den Planeten vermutete. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8986" xml:space="preserve">Seiner Kleinheit wegen war er bis dahin überſehen worden, <lb/>als man aber erſt ſeine Aufmerkſamkeit auf dieſe Lücke richtete, <lb/>entdeckten die Aſtronomen bald in den darauf folgenden Jahren <lb/>noch drei andere kleine Planeten, die in nahe gleicher Ent-<lb/>fernung von der Sonne ihren Umlauf um dieſelbe machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8987" xml:space="preserve">— <lb/>So kannte man denn von 1807 bis 1845 vier kleine Planeten, <lb/>die hinter Mars ihre Bahn haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s8988" xml:space="preserve">Von dieſem Jahre ab <lb/>und bis zum Jahre 1898 ſind aber in dieſer Gegend des <lb/>Sonnenſyſtems alljährlich neue Planeten entdeckt worden, ſo daß <lb/>eine große Zahl kleiner Himmelskörper bekannt iſt, welche <lb/>in wenig abweichender Entfernung von der Sonne ihren <lb/>Umlauf um dieſelbe vollenden. </s>
  <s xml:id="echoid-s8989" xml:space="preserve">Merkwürdiger Weiſe war man <lb/>ſehr galant gegen dieſe neuen Gäſte; </s>
  <s xml:id="echoid-s8990" xml:space="preserve">während man bisher nur <lb/>einem Planeten, der ganz beſonders ſchön leuchtet, einen weib-<lb/>lichen Namen, den Namen der griechiſchen Liebesgöttin: </s>
  <s xml:id="echoid-s8991" xml:space="preserve">Venus <lb/>gegeben hatte, erhielten die bisher neu entdeckten 400 kleinen <lb/>Planeten weibliche Namen, ſo daß den Namen nach eine Art <lb/>Weiberwirtſchaft im Sonnenſyſtem herrſcht.</s>
  <s xml:id="echoid-s8992" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s8993" xml:space="preserve">Wir wollen uns begnügen, hier die Namen der erſten <lb/>24 herzuſetzen, und zwar der Reihe nach, wie ſie in den Ent-<lb/>fernungen von der Sonne ſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s8994" xml:space="preserve">Sie heißen: </s>
  <s xml:id="echoid-s8995" xml:space="preserve">1) Flora; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s8996" xml:space="preserve">2) Melpomene; </s>
  <s xml:id="echoid-s8997" xml:space="preserve">3) Victoria; </s>
  <s xml:id="echoid-s8998" xml:space="preserve">4) Veſta; </s>
  <s xml:id="echoid-s8999" xml:space="preserve">5) Iris; </s>
  <s xml:id="echoid-s9000" xml:space="preserve">6) Metis; </s>
  <s xml:id="echoid-s9001" xml:space="preserve"><lb/>7) Hebe; </s>
  <s xml:id="echoid-s9002" xml:space="preserve">8) Parthenope; </s>
  <s xml:id="echoid-s9003" xml:space="preserve">9) Fortuna; </s>
  <s xml:id="echoid-s9004" xml:space="preserve">10) Maſſalia; </s>
  <s xml:id="echoid-s9005" xml:space="preserve">11) Lutetia; </s>
  <s xml:id="echoid-s9006" xml:space="preserve"><lb/>12) Thetis; </s>
  <s xml:id="echoid-s9007" xml:space="preserve">13) Egeria; </s>
  <s xml:id="echoid-s9008" xml:space="preserve">14) Aſträa; </s>
  <s xml:id="echoid-s9009" xml:space="preserve">15) Irene; </s>
  <s xml:id="echoid-s9010" xml:space="preserve">16) Eunomia; </s>
  <s xml:id="echoid-s9011" xml:space="preserve"><lb/>17) Thalia; </s>
  <s xml:id="echoid-s9012" xml:space="preserve">18) Juno; </s>
  <s xml:id="echoid-s9013" xml:space="preserve">19) Ceres; </s>
  <s xml:id="echoid-s9014" xml:space="preserve">20) Pallas; </s>
  <s xml:id="echoid-s9015" xml:space="preserve">21) Calliope; </s>
  <s xml:id="echoid-s9016" xml:space="preserve"><lb/>22) Pſyche; </s>
  <s xml:id="echoid-s9017" xml:space="preserve">23) Hygiea; </s>
  <s xml:id="echoid-s9018" xml:space="preserve">24) Phocäa u. </s>
  <s xml:id="echoid-s9019" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s9020" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s9021" xml:space="preserve">Sie ſind ſämt-<lb/>lich von ſo kleinem Durchmeſſer, daß man ihre Größe nicht <lb/>mit Sicherheit hat beſtimmen können; </s>
  <s xml:id="echoid-s9022" xml:space="preserve">die Bahnen aber, in <lb/>welchen ſie ſich um die Sonne bewegen, ſind bereits mit ziem-<lb/>licher Genauigkeit beſtimmt und bieten untereinander ſo viel
<pb o="38" file="0662" n="662"/>
Verſchiedenheit dar, daß man die ehemals herrſchende Vor-<lb/>ſtellung, als ob ſie die Stücke eines großen, geſprengten <lb/>Planeten ſeien, ziemlich aufgegeben hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s9023" xml:space="preserve">Man nimmt vielmehr <lb/>an, daß ſie in dieſer Himmelsgegend urſprünglich ſich nur als <lb/>kleine Planeten gebildet haben und daß ſie eine Art demokra-<lb/>tiſches Reich im großen Sonnenſyſtem bilden, das in ſeiner <lb/>Verfaſſung ſonſt mehr eine monarchiſche Regierung hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s9024" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div225" type="section" level="1" n="191">
<head xml:id="echoid-head216" xml:space="preserve"><emph style="bf">XI. Von Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9025" xml:space="preserve">In faſt noch einmal ſo großer Entfernung als die kleinen <lb/>Planeten von der Sonne wandert Jupiter ſeine Bahn um dieſelbe. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9026" xml:space="preserve">Jupiter (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s9027" xml:space="preserve">12) iſt nächſt Venus der leuchtendſte Stern am <lb/>Himmel und iſt deshalb ſehr leicht aufzufinden, zumal wenn <lb/>man ſich’s merkt, daß das Licht aller Planeten ein ruhiges <lb/>und nicht ein flimmerndes iſt, wie das der Fixſterne, wodurch <lb/>man nicht leicht das Anſehen des Jupiter mit irgend einem <lb/>Fixſtern erſter Größe verwechſelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9028" xml:space="preserve">Wenn man ein mäßiges <lb/>Taſchen-Fernrohr von guter Lichtſtärke auf dieſen Stern richtet, <lb/>ſo ſieht man nicht nur eine volle Kugelgeſtalt desſelben, ſondern <lb/>man nimmt auch bei ruhiger Luft ſchon wahr, daß er an den <lb/>Polen etwas abgeplattet iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9029" xml:space="preserve">Intereſſanter noch iſt es, wahr-<lb/>zunehmen, daß er von fünf Monden in ſeiner Bahn begleitet <lb/>wird, die Jupiter ganz in derſelben Weiſe umkreiſen wie unſer <lb/>Mond die Erde, und deren letzter erſt am 9. </s>
  <s xml:id="echoid-s9030" xml:space="preserve">September 1892 <lb/>entdeckt wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s9031" xml:space="preserve">Die Bewohner des Jupiter haben daher eine <lb/>Mondſcheinbeleuchtung ganz eigener Art, indem bei ihnen fünf <lb/>Monde dieſen Dienſt verſehen, den bei uns der eine leiſtet. </s>
  <s xml:id="echoid-s9032" xml:space="preserve">— <lb/>So intereſſant die Betrachtung an ſich über dieſe fünf Monde <lb/>iſt, ſo ſehr wird ſie doch von der Wichtigkeit aufgewogen, die <lb/>dieſe fünf Monde Jupiters für uns haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s9033" xml:space="preserve">Denn dieſe Monde
<pb o="39" file="0663" n="663"/>
eben waren es, deren Betrachtung und Beobachtung uns die <lb/>Geſchwindigkeit des Lichtes lehrte, und ſie ſind noch jetzt die <lb/>ſicherſten Zeichen zur Beſtimmung aller Entfernungen auf der <lb/>Erde. </s>
  <s xml:id="echoid-s9034" xml:space="preserve">Wir haben es bereits an einer anderen Stelle aus-<lb/>einandergeſetzt, wie das zugeht, daß man erſt aus den Monden <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0663-01a" xlink:href="fig-0663-01"/>
Jupiters genau erfahren kann, wie weit es z. </s>
  <s xml:id="echoid-s9035" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s9036" xml:space="preserve">von Berlin <lb/>bis London iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9037" xml:space="preserve">Wir würden dieſe Entfernung, die man nicht <lb/>mit dem Zollſtock ausmeſſen kann, unmöglich ſo genau wiſſen, <lb/>wenn man nicht die Verfinſterung der Monde Jupiters ſo <lb/>genau ſtudiert und berechnet hätte, und wenn nicht deren gleich-<lb/>zeitige Beobachtung in Berlin und London einen geiſtigen
<pb o="40" file="0664" n="664"/>
Maßſtab geben würde, durch den man ſehr genau die Ent-<lb/>fernung der beiden Städte von einander abmeſſen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s9038" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div225" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0663-01" xlink:href="fig-0663-01a">
<caption xml:id="echoid-caption40" xml:space="preserve">Fig. 12.</caption>
<description xml:id="echoid-description14" xml:space="preserve">Jupiter.</description>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9039" xml:space="preserve">Die Entfernung Jupiters von der Sonne beträgt 103 Mill. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9040" xml:space="preserve">Meilen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9041" xml:space="preserve">Er iſt an 1300 mal größer als unſere Erde. </s>
  <s xml:id="echoid-s9042" xml:space="preserve">Seine <lb/>Umlaufszeit um die Sonne dauert nahe an 12 Erdjahre. </s>
  <s xml:id="echoid-s9043" xml:space="preserve">Dabei <lb/>dreht er ſich in zehn Stunden um ſeine Axe, ſodaß die Tage <lb/>und ebenſo die Nächte auf Jupiter nur je 5 Stunden lang ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s9044" xml:space="preserve"><lb/>Auch der Umlauf Jupiters um die Sonne geſchieht in der-<lb/>ſelben Richtung, wie die der anderen Planeten und ſeine Bahn <lb/>liegt faſt in derſelben Ebene; </s>
  <s xml:id="echoid-s9045" xml:space="preserve">desgleichen umkreiſen ihn die fünf <lb/>Monde ebenfalls in derſelben Richtung und derſelben Ebene, <lb/>und auch ganz dasſelbe iſt mit der Umdrehung Jupiters um <lb/>ſeine Axe der Fall, da auch hier Umdrehung und Ebene dem <lb/>allgemeinen Geſetz im Sonnenſyſtem folgen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9046" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9047" xml:space="preserve">Intereſſanter noch als der Anblick Jupiters iſt der des <lb/>Saturn, wenn man Gelegenheit hat, ihn durch ein gutes Fern-<lb/>rohr zu ſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9048" xml:space="preserve">Er iſt etwa 700 mal größer als die Erde und <lb/>erſcheint am Himmel als ein ziemlich heller, aber keineswegs <lb/>ſtark leuchtender Stern. </s>
  <s xml:id="echoid-s9049" xml:space="preserve">Durch Fernröhre geſehen, zeigt er <lb/>aber eine Erſcheinung, die einzig am Himmel iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9050" xml:space="preserve">Seine <lb/>Kugelgeſtalt iſt nämlich von einem weiten, breiten Ring ein-<lb/>geſchloſſen, und wenn man ihn in einer Zeit beobachtet, wo <lb/>der Ring am deutlichſten zu ſehen, was nicht immer der Fall <lb/>iſt, dann kann man ſich des Staunens nicht enthalten, ſelbſt <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0664-01a" xlink:href="fig-0664-01"/>
wenn man dieſen Anblick öfter gehabt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s9051" xml:space="preserve">Die Figuren 13 <lb/>bis 16 zeigen den Anblick des Saturn in verſchiedenen Stel-
<pb o="41" file="0665" n="665"/>
lungen zur Erde und zur Sonne. </s>
  <s xml:id="echoid-s9052" xml:space="preserve">— Wie dieſer Ring ent-<lb/>ſtanden ſein mag, iſt eine Frage, die viele Antworten hervor-<lb/>gerufen hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s9053" xml:space="preserve">Die wahrſcheinlichſte iſt immer, daß einſt Saturn <lb/>ſo groß war, daß ſein Durchmeſſer dem des Ringes gleich <lb/>kam, daß ferner Saturn eben wie alle Planeten eine Um-<lb/>drehung um die Axe hatte, wie man ſolche auch noch jetzt an <lb/>ihm wahrnimmt; </s>
  <s xml:id="echoid-s9054" xml:space="preserve">daß aber zugleich auch eine Verdichtung und <lb/>Verkleinerung des Planeten ſtattgefunden, während ſein Äquator <lb/>bereits erhärtet war, ſo daß dieſer ſich nicht verkleinerte und <lb/>als Ring verblieb, indes der Planet ſelber zu einer kleinen <lb/>Kugel in ſeiner Mitte ſich zuſammen zog. </s>
  <s xml:id="echoid-s9055" xml:space="preserve">Wie dem aber auch <lb/>geweſen ſein mag, es iſt eine Thatſache, daß die Geſtaltungen <lb/>und Formen auch in der Planetenwelt manigfaltig ſind und <lb/>ſein können, und der Ring des Saturn, wie die bedeutend an-<lb/>gewachſene Zahl der kleinen Planeten, die ſchwerlich Bruch-<lb/>ſtücke von einem einzigen Planeten ſind, lehren uns, wie leicht <lb/>man irrt, wenn man im voraus die ganze Natur ſo ſich denkt, <lb/>wie gerade dasjenige Stückchen erſcheint, das wir überſehen <lb/>können. </s>
  <s xml:id="echoid-s9056" xml:space="preserve">Denn trotz allen Philoſophierens und kühnen <lb/>Weisſagens über die Natur hat doch kein Menſch an einen <lb/>Planeten mit einem ſolchen Ring um den Leib und an eine <lb/>Sammlung kleiner Planeten ſtatt eines großen gedacht, ehe <lb/>nicht das Fernrohr unſern Blick geſchärft und die Natur ſelber <lb/>ſprechen ließ über die Mannigfaltigkeit ihrer Schöpfungen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9057" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div226" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-0664-01" xlink:href="fig-0664-01a">
<caption xml:id="echoid-caption41" xml:space="preserve">Fig. 13.<lb/>Fig. 14.<lb/>Fig. 15.<lb/>Fig. 16.<lb/>Saturn in verſchiedenen Stellungen.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9058" xml:space="preserve">Auch die Bewegungen des Saturn, der faſt noch einmal <lb/>ſo weit entfernt iſt von der Sonne als der Jupiter und 9 {1/2} mal <lb/>ſo weit von ihr als die Erde und faſt dreißig Jahre braucht, <lb/>um ſeinen Umlauf um die Sonne zu vollenden, ſind ganz in <lb/>derſelben Weiſe wie die ſämtlichen Planeten, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s9059" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s9060" xml:space="preserve">von Weſt <lb/>nach Oſt oben herum. </s>
  <s xml:id="echoid-s9061" xml:space="preserve">Außer ſeinem Ring, der ſich um ihn <lb/>mit einer Schnelligkeit dreht, als ob jeder einzelne Punkt des-<lb/>ſelben ein Mond wäre, bewegen ſich noch 8 Monde um ihu, <lb/>die nur durch ſehr große Fernröhre ſichtbar ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s9062" xml:space="preserve">und ihre Be-
<pb o="42" file="0666" n="666"/>
wegungen ſind gleichfalls denen gleich, die im Sonnenſyſtem <lb/>vorherrſchen, ſo daß die Richtung der Bewegung dem allgemein <lb/>herrſchenden Geſetze unterworfen ſcheint.</s>
  <s xml:id="echoid-s9063" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9064" xml:space="preserve">Bis zum Jahre 1781 glaubte man, daß mit Saturn das <lb/>Sonnenſyſtem abgeſchloſſen ſei, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s9065" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s9066" xml:space="preserve">daß ſich kein Planet in <lb/>noch größerer Entfernung von der Sonne um dieſe bewege. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9067" xml:space="preserve">Allein der große Aſtronom William Herſchel entdeckte am <lb/>13. </s>
  <s xml:id="echoid-s9068" xml:space="preserve">März jenes Jahres einen neuen Planeten, den man <lb/>Uranus nannte, und der in einer Entfernung von 380 Millionen <lb/>Meilen von der Sonne ſeinen Umlauf um dieſelbe macht, wozu <lb/>er mehr als 84 Jahre braucht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9069" xml:space="preserve">Obwohl man ihn ſeit der <lb/>Zeit fleißig beobachtete, hat man doch Näheres über ſein Um-<lb/>drehen um ſeine Axe noch nicht bemerken können, woran die <lb/>große Entfernung von uns ſchuld iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9070" xml:space="preserve">Es bewegen ſich auch <lb/>ſechs Monde um ihn herum; </s>
  <s xml:id="echoid-s9071" xml:space="preserve">allein ſie gehören zu den ſchwie-<lb/>rigſten Gegenſtänden des Himmels und ſind mit den beſten <lb/>Fernröhren oft nicht zu ſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9072" xml:space="preserve">— Hier bei dieſem Planeten <lb/>und ſeinen Monden zeigt ſich eine eigentümliche Merk-<lb/>würdigkeit der Bewegung. </s>
  <s xml:id="echoid-s9073" xml:space="preserve">Während der Planet ſelber ſich in <lb/>der Richtung und der Ebene ganz ſo bewegt, wie die übrigen <lb/>Bewegungen im Sonnenſyſtem ſind, bewegen ſich wenigſtens zwei <lb/>ſeiner Monde von Oſt nach Weſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9074" xml:space="preserve">Hier alſo zeigt es ſich zum <lb/>erſtenmal, daß eine Bewegung im Sonnenſyſtem der allgemeinen <lb/>Richtungen der Bewegungen nicht entſpricht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9075" xml:space="preserve">Es lehrt uns <lb/>dies wieder, wie gefährlich es iſt, allgemeingültige Geſetze aus <lb/>vielfach wiederholten Erſcheinungen feſtzuſtellen, wenn man die <lb/>innern Gründe der Geſetze nicht kennt! Offenbar liegt der <lb/>Übereinſtimmung in den Bewegungen der Himmelskörper, in <lb/>Richtung und Ebene ein Geſetz zu Grunde; </s>
  <s xml:id="echoid-s9076" xml:space="preserve">daß es aber kein <lb/>unumſtößlich allgemeines ſein kann, geht aus den Bewegungen <lb/>der Uranusmonde hervor, die dem Geſetze widerſprechen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9077" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9078" xml:space="preserve">Wir kommen zum Reptun, dem letzten Körper des Sonnen-<lb/>ſyſtems; </s>
  <s xml:id="echoid-s9079" xml:space="preserve">aber was wir über ſeine Entdeckung aufzuführen
<pb o="43" file="0667" n="667"/>
haben, iſt eine Thatſache, die unſerm Jahrhundert Urſache <lb/>giebt, mit größtem Stolz auf eine der bewundernswerteſten <lb/>Thaten menſchlichen Scharfſinns zurückzublicken. </s>
  <s xml:id="echoid-s9080" xml:space="preserve">Wir wollen <lb/>ſie daher unſern Leſern etwas ausführlicher vorführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9081" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div228" type="section" level="1" n="192">
<head xml:id="echoid-head217" xml:space="preserve"><emph style="bf">XII. Zur Erklärung einer wunderbaren Entdeckung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9082" xml:space="preserve">Es wundern ſich oft viele, daß, wenn ein neuer Planet <lb/>entdeckt wird, — und dies iſt in den letzten Jahren oft der <lb/>Fall geweſen — man ſchon nach wenig Tagen zu beſtimmen <lb/>weiß, wie weit er von der Sonne entfernt iſt, und in wie viel <lb/>Jahren er ſeinen Umlauf um dieſelbe macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9083" xml:space="preserve">— Wie iſt es <lb/>möglich, meinen ſie, den neuen, unbekannten Gaſt ſchon nach <lb/>kurzer Bekanntſchaft ſo genau zu kontrolieren, daß man <lb/>ſeinen Weg und die Zeit, die er dazu braucht, auf Jahre <lb/>voraus genau beſtimmen kann?</s>
  <s xml:id="echoid-s9084" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9085" xml:space="preserve">In Wahrheit aber kann man das; </s>
  <s xml:id="echoid-s9086" xml:space="preserve">und es ſteht feſt, daß <lb/>keine Poſt und keine Eiſenbahn ſo ſicher ihre Ankunft an einer <lb/>Station auf die Stunde anzugeben imſtande iſt, als die Aſtro-<lb/>nomen die Aukunft eines Himmelskörpers, den ſie, wenn auch <lb/>nur kurze Zeit, beobachtet haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s9087" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9088" xml:space="preserve">Aber es geſchieht zuweilen noch mehr. </s>
  <s xml:id="echoid-s9089" xml:space="preserve">Jm Jahre 1846 hat <lb/>ein Pariſer Naturforſcher, <emph style="sp">Leverrier</emph>, ohne in den Himmel <lb/>zu ſehen, ohne Beobachtungen anzuſtellen, rein durch Rechnung <lb/>herausgebracht, daß 600 Millionen Meilen von uns entfernt <lb/>ein Planet vorhanden ſein muß, den kein Menſch noch geſehen <lb/>hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s9090" xml:space="preserve">daß dieſer Planet in 60 238 Tagen und 11 Stunden <lb/>ſeinen Umlauf um die Sonne macht; </s>
  <s xml:id="echoid-s9091" xml:space="preserve">daß er 24 {1/2} mal ſchwerer <lb/>iſt, als unſere Erde, und zu einer beſtimmten Stunde an einer <lb/>beſtimmten Stelle am Himmel aufgefunden werden würde, <lb/>wenn man nur ſo gute Fernröhre hätte, um ihn ſehen zu können. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9092" xml:space="preserve">Iſt das nicht ſtaunenswert?</s>
  <s xml:id="echoid-s9093" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="44" file="0668" n="668"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9094" xml:space="preserve">Leverrier zeigte all’ dies der Akademie der Wiſſenſchaften <lb/>in Paris an; </s>
  <s xml:id="echoid-s9095" xml:space="preserve">und die Akademie der Wiſſenſchaften ſagte nicht, <lb/>der Mann iſt thöricht, wie kann er wiſſen, was 600 Millionen <lb/>Meilen weit vorgeht, da er nicht einmal weiß, was morgen <lb/>für Wetter ſein wird? </s>
  <s xml:id="echoid-s9096" xml:space="preserve">Die Akademie ſagte nicht: </s>
  <s xml:id="echoid-s9097" xml:space="preserve">der Mann <lb/>will uns täuſchen, da er Dinge behauptet, von denen ihm niemand <lb/>beweiſen kann, daß ſie unwahr ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s9098" xml:space="preserve">Die Akademie ſagte auch <lb/>nicht: </s>
  <s xml:id="echoid-s9099" xml:space="preserve">der Mann iſt ein Betrüger, denn er wird wohl den <lb/>Planeten ſchon geſehen haben und thut ſo, als ob nur ſeine <lb/>Weisheit deſſen Daſein ausfindig gemacht hat, ſondern die <lb/>Akademie nahm ſeine Arbeit mit großem Ernſt auf, denn man <lb/>kannte Leverrier als großen Naturforſcher und hatte auch von <lb/>ihm erfahren, auf welchem Wege er zu ſeiner Eutdeckung ge-<lb/>kommen, und welche guten Gründe er hatte, ſeine Behauptungen <lb/>für wahr zu halten.</s>
  <s xml:id="echoid-s9100" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9101" xml:space="preserve">Und der Erfolg krönte ſeine Entdeckungen in der glänzendſten <lb/>Weiſe.</s>
  <s xml:id="echoid-s9102" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9103" xml:space="preserve">Im Januar 1846 hatte er dieſe Anzeige der Akademie <lb/>gemacht; </s>
  <s xml:id="echoid-s9104" xml:space="preserve">am 31. </s>
  <s xml:id="echoid-s9105" xml:space="preserve">Auguſt teilte er nähere Beſtimmungen über <lb/>den neuen, noch ungeſehenen Planeten mit, und wie ſich denken <lb/>läßt, erweckte dies Erſtaunen und Verwunderung aller Forſcher <lb/>und Lächeln und Unglauben aller Halbgebildeten.</s>
  <s xml:id="echoid-s9106" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9107" xml:space="preserve">Am 23. </s>
  <s xml:id="echoid-s9108" xml:space="preserve">September desſelben Jahres erhielt <emph style="sp">Galle</emph>, — <lb/>ſpäter langjähriger Direktor der Breslauer Sternwarte, da-<lb/>mals Gehülfe an der Berliner Sternwarte, jetzt in Potsdam <lb/>lebend, — der ſich durch glückliche Entdeckungen bereits aus-<lb/>gezeichnet hatte, ein Schreiben von Leverrier mit der Aufforde-<lb/>rung, an der genau bezeichneten Stelle am Himmel dem neuen <lb/>Planeten aufzulauern. </s>
  <s xml:id="echoid-s9109" xml:space="preserve">Die Berliner, die Königsberger und <lb/>die Dorpater Sternwarte beſaßen nämlich damals die beſten <lb/>Fernröhre; </s>
  <s xml:id="echoid-s9110" xml:space="preserve">Berlin aber hatte von den genannten Orten die <lb/>günſtigſte Lage zur Beobachtung des Himmels, weil es nicht <lb/>ſo weit nördlich wie dieſe liegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9111" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="45" file="0669" n="669"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9112" xml:space="preserve">Und noch an demſelben Abend beobachtete Galle den <lb/>Himmel an der angegebenen Stelle und fand wirklich den <lb/>Planeten, und zwar nur außerordentlich wenig entfernt von <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0669-01a" xlink:href="fig-0669-01"/>
dem Punkt, den Leverrier angegeben hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s9113" xml:space="preserve">Wie außerordent-<lb/>lich gering die Abweichung der wirklichen Neptunsbahn von <lb/>der durch Leverrier errechneten iſt, zeigt Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s9114" xml:space="preserve">17.</s>
  <s xml:id="echoid-s9115" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div228" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0669-01" xlink:href="fig-0669-01a">
<caption xml:id="echoid-caption42" xml:space="preserve">Fig. 17.</caption>
</figure>
</div>
<pb o="46" file="0670" n="670"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9116" xml:space="preserve">Mit Recht nennt man dieſe Entdeckung Leverrier’s den <lb/>größten Triumph, den jemals eine Forſchung erlebt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s9117" xml:space="preserve">Der-<lb/>gleichen iſt in der That noch niemals dageweſen, und unſer <lb/>Jahrhundert hat Urſache ſtolz darauf zu ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s9118" xml:space="preserve">— Aber, mein <lb/>verehrter Leſer, wer in ſolcher großen Zeit lebt, und ſich gar <lb/>keinen Begriff davon machen kann, auf welchem Wege ſolche <lb/>Entdeckungen gemacht werden, der verdient faſt nicht, ein Ge-<lb/>noſſe dieſer Zeit zu ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s9119" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9120" xml:space="preserve">Jch will Dich nicht zu einem Aſtronomen machen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9121" xml:space="preserve">aber <lb/>ich hoffe, daß es mir gelingen wird, Dir das Wunder dieſer <lb/>Entdeckung erklären zu können.</s>
  <s xml:id="echoid-s9122" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div230" type="section" level="1" n="193">
<head xml:id="echoid-head218" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIII. Die Hauptſtütze der Leverrierſchen</emph> <lb/><emph style="bf">Entdeckung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9123" xml:space="preserve">Als Leverrier auf ſeine große Entdeckung ausging, betrat <lb/>er nicht einen neuen, ſondern einen bereits durch die Wiſſen-<lb/>ſchaft gebahnten Weg und ſtützte ſich hierbei auf ein großes <lb/>Naturgeſetz, das die Grundlage aller aſtronomiſchen Kennt-<lb/>niſſe iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9124" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9125" xml:space="preserve">Es iſt dies das Geſetz von der Anziehungskraft der <lb/>Himmelskörper, welches der große Newton entdeckt hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s9126" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9127" xml:space="preserve">Diejenigen Leſer, die ſich das vollkommen klar gemacht, <lb/>was wir an einer früheren Stelle vom Licht geſagt haben und <lb/>von der Art und Weiſe, wie es abnimmt mit der Entfernung, <lb/>werden jetzt leicht das begreifen, was wir in der Hauptſache <lb/>von der Anziehung ſagen wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9128" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9129" xml:space="preserve">Jeder Himmelskörper beſitzt eine Anziehungskraft und <lb/>zieht den andern auch wirklich an, ganz ſo, wie ein Magnet <lb/>Eiſen anzieht.</s>
  <s xml:id="echoid-s9130" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="47" file="0671" n="671"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9131" xml:space="preserve">Wären die Himmelskörper, alſo alle Planeten, z. </s>
  <s xml:id="echoid-s9132" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s9133" xml:space="preserve">nicht <lb/>in Bewegung, ſo würden ſie in der That einander immer <lb/>näher und näher kommen, und da die Sonne eine ſo überaus <lb/>ſtarke Anziehungskraft hat, ſo würden ſie alle der Sonne <lb/>zuſtürzen und ſich mit ihr zu einem einzigen Körper vereinigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9134" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9135" xml:space="preserve">Nur dadurch, daß ſie alle eine eigene Bewegung haben, <lb/>bewirkt die Anziehung nur eine Veränderung des Laufes, und <lb/>dieſe eigene Bewegung der Planeten in Verbindung mit der <lb/>Anziehungskraft der Sonne bewirkt es, daß ſie ſich um die <lb/>Sonne herum in Kreiſen bewegen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9136" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9137" xml:space="preserve">Man kann ſich hiervon leicht eine Vorſtellung machen, <lb/>wenn man ſich Folgendes denkt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9138" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9139" xml:space="preserve">Nehmen wir an, daß in der Mitte des Tiſches ein großer, <lb/>ſtarker Magnet liegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9140" xml:space="preserve">Legt nun jemand eine eiſerne Kugel auf <lb/>den Tiſch hin, ſo wird die Kugel geraden Weges auf den Magnet <lb/>zulaufen, wenn aber jemand die Kugel rollt, ſo daß ſie an dem <lb/>Magnet vorüberlaufen müßte, ſo würde die Kugel in gerader <lb/>Linie über den Tiſch hinlaufen, da aber der Magnet ſie in jedem <lb/>Augenblicke anzieht, ſo wird ſie von der geraden Linie ab-<lb/>weichen und ſtatt deſſen einen Umlauf um den Magneten machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9141" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9142" xml:space="preserve">Dieſer Umlauf rührt alſo von zwei Kräften her, erſtens <lb/>von der Kraft der Hand, welche die Kugel in gerader Linie <lb/>fortrollen wollte, und zweitens von der Anziehung des Mag-<lb/>neten, der die Kugel in jedem Augenblicke ihres Laufes zu ſich <lb/>heranziehen will.</s>
  <s xml:id="echoid-s9143" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9144" xml:space="preserve"><emph style="sp">Newton</emph> (1642—1727) hat nachgewieſen, daß alle Um-<lb/>läufe der Planeten um die Sonne von eben ſolchen zwei <lb/>Kräften hervorgerufen werden, nämlich von einer Bewegungs-<lb/>kraft der Planeten, die ihnen inne wohnt, und die ſie in <lb/>gerader Linie durch den Weltraum treiben würde, und von <lb/>einer Anziehungskraft der Sonne, welche dieſen geradlinigen <lb/>Lauf fortwährend ſtört und die Planeten zwingt, einen Umlauf <lb/>um die Sonne zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9145" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="48" file="0672" n="672"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9146" xml:space="preserve">Newton hat aber noch mehr entdeckt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9147" xml:space="preserve">Er hat durch Rech-<lb/>nungen nachgewieſen, daß man genau aus der Umlaufszeit <lb/>eines Planeten beweiſen kann, wie ſtark die Anziehungskraft <lb/>der Sonne auf ihn wirkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9148" xml:space="preserve">Iſt nämlich die Anziehungskraft <lb/>ſtark, ſo wird ſein Umlauf ſchnell ſein; </s>
  <s xml:id="echoid-s9149" xml:space="preserve">iſt die Anziehungs-<lb/>kraft ſchwach, ſo wird ein Planet langſamer um die Sonne <lb/>laufen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9150" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9151" xml:space="preserve">Wenn z. </s>
  <s xml:id="echoid-s9152" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s9153" xml:space="preserve">die Sonne mit einem Male einen Teil ihrer <lb/>Anziehungskraft verlieren würde, ſo würde die Erde weit <lb/>langſamer um die Sonne laufen, und das Jahr, das jetzt <lb/>365 Tage hat, würde dann viel mehr Tage haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s9154" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9155" xml:space="preserve">Endlich aber hat Newton nachgewieſen — und das iſt für <lb/>uns jetzt die Hauptſache — daß die Anziehungskraft der Sonne <lb/>in ihrer Nähe ſtark iſt und in ihrer Entfernung ſchwächer <lb/>wird, daß alſo die entfernten Planeten ſchwächer von der <lb/>Sonne angezogen werden, als die ihr nahen, und zwar nimmt <lb/>die Anziehungskraft mit der Entfernung ganz in derſelben <lb/>Weiſe ab, wie wir es beim Licht geſehen haben, nämlich: </s>
  <s xml:id="echoid-s9156" xml:space="preserve">im <lb/>Quadrat der Entfernung. </s>
  <s xml:id="echoid-s9157" xml:space="preserve">Das heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s9158" xml:space="preserve">ein Planet, der zwei-<lb/>mal ſo weit entfernt iſt von der Sonne, als die Erde, wird <lb/>viermal, einer der dreimal ſo weit entfernt iſt, wird neunmal <lb/>ſchwächer von ihr angezogen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9159" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9160" xml:space="preserve">Dieſes große, durch die ganze Natur gehende Geſetz <lb/>iſt, ſo zu ſagen, die Grundlage der Aſtronomie, und war auch <lb/>die Hauptſtütze für die großartige Entdeckung des Naturforſchers <lb/>Leverrier.</s>
  <s xml:id="echoid-s9161" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div231" type="section" level="1" n="194">
<head xml:id="echoid-head219" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIV. Die großartige Entdeckung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9162" xml:space="preserve">Jedem denkenden Menſchen muß wohl ſchon die Frage <lb/>nahe gelegen haben: </s>
  <s xml:id="echoid-s9163" xml:space="preserve">wenn es wahr iſt, daß die Himmelskörper
<pb o="49" file="0673" n="673"/>
einander anziehen, warum zieht nicht ein Planet den andern <lb/>ſo an, daß ſie um und durch einander herumlaufen?</s>
  <s xml:id="echoid-s9164" xml:space="preserve"/>
</p>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption43" xml:space="preserve">Fig. 18. <lb/> Größenverhältniſſe der Planeten untereinander.</caption>
</figure>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9165" xml:space="preserve">Dieſe Frage hat ſich auch bereits Newton vorgelegt und <lb/>hat auch die Antwort darauf gegeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s9166" xml:space="preserve">Die Anziehungskraft <lb/>hängt ab von der größeren oder geringeren Maſſe der Himmels-</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9167" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s9168" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s9169" xml:space="preserve">Volksbücher XVI.</s>
  <s xml:id="echoid-s9170" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="50" file="0674" n="674"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9171" xml:space="preserve">körper. </s>
  <s xml:id="echoid-s9172" xml:space="preserve">Im Sonnenſyſtem hat nun die Sonne eine ſo große <lb/>überwiegende Maſſe gegen alle Planeten, daß ſie die Haupt-<lb/>anziehung und darum den Umlauf der Planeten um die Sonne <lb/>bewirkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9173" xml:space="preserve">Würde die Sonne einmal verſchwinden, ſo würde <lb/>wirklich die Einwirkung der Planeten auf einander ungeheuer <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0674-01a" xlink:href="fig-0674-01"/>
ſein, und namentlich würden alle einen neuen Umlauf um den <lb/>Planeten Jupiter machen, der unter den Planeten die größte <lb/>Maſſe hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s9174" xml:space="preserve">— So iſt z. </s>
  <s xml:id="echoid-s9175" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s9176" xml:space="preserve">die Sonne eine Maſſe, die 319 500 <lb/>mal ſchwerer iſt, als die Erde, wohingegen Jupiter nur <lb/>305 mal ſchwerer als die Erde iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9177" xml:space="preserve">Es iſt klar, daß die Maſſe <lb/>der Sonne an tauſendmal die des Jupiter überwiegt, und
<pb o="51" file="0675" n="675"/>
deshalb auch die Erde, ſo lange die Sonne exiſtiert, niemals <lb/>um Jupiter ſich bewegen wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s9178" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div231" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0674-01" xlink:href="fig-0674-01a">
<caption xml:id="echoid-caption44" xml:space="preserve">Fig. 19. <lb/> Größenverhältniſſe der Planeten zur Sonne.</caption>
<description xml:id="echoid-description15" xml:space="preserve"><emph style="bf">Merkur</emph><lb/><emph style="bf">Venus</emph><lb/><emph style="bf">Erde</emph><lb/><emph style="bf">Mars</emph><lb/><emph style="bf">Jupiter</emph><lb/><emph style="bf">Saturn</emph><lb/><emph style="bf">Uranus</emph><lb/><emph style="bf">Neptun</emph><lb/><emph style="bf">Vierter Theil der Sonnenscheibe</emph></description>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9179" xml:space="preserve">Allein trotz alledem zieht dennoch Jupiter die Erde an; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9180" xml:space="preserve">aber wenn er auch dieſelbe nicht aus der Bahn um die Sonne <lb/>reißen kann, iſt er doch nicht ohne Einfluß auf den Lauf der <lb/>Erde, und wirklich haben Beobachtung und Rechnung gezeigt, <lb/>daß durch die Anziehung des Jupiters auf die Erde ihr Lauf <lb/>um die Sonne etwas verändert, oder was man ſo nennt: </s>
  <s xml:id="echoid-s9181" xml:space="preserve">“ge-<lb/>ſtört” wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s9182" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9183" xml:space="preserve">Und wie das mit Jupiter und der Erde der Fall iſt, ſo <lb/>iſt es auch mit allen Planeten der Fall, ihre gegenſeitigen An-<lb/>ziehungen ſtören wirklich ihre Bahnen um die Sonne, und <lb/>jeder Planet geht wirklich in einer anderen Bahn um dieſelbe, <lb/>als er ohne dieſe Störung gehen müßte.</s>
  <s xml:id="echoid-s9184" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9185" xml:space="preserve">Dieſe Störungen zu berechnen iſt die größte Schwierigkeit <lb/>in der Aſtronomie, und erfordert die ausdauerndſten und aller-<lb/>ſcharfſinnigſten Studien, die jemals im Gebiet der Natur-<lb/>wiſſenſchaften gemacht worden ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s9186" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9187" xml:space="preserve">Freilich wird ſich jeder von ſelbſt fragen, ob nicht Störungen <lb/>mit der Länge der Zeit ſo groß werden können, daß ſie das <lb/>ganze Sonnenſyſtem in Verwirrungen bringen? </s>
  <s xml:id="echoid-s9188" xml:space="preserve">Und dieſe <lb/>Frage hat ſich auch wirklich der große Mathematiker <emph style="sp">Laplace</emph> <lb/>(1749—1827) vorgelegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9189" xml:space="preserve">Er hat aber in einem unſterblichen <lb/>Werke: </s>
  <s xml:id="echoid-s9190" xml:space="preserve">“die Mechanik des Himmels” den Beweis geliefert, <lb/>daß alle Störungen nur eine beſtimmte Zeitdauer haben, und <lb/>daß das Sonnenſyſtem ſo konſtruiert iſt, daß gerade durch die <lb/>Anziehungen, die die Störungen veranlaßt haben, wieder nach <lb/>beſtimmten Zeiten eine Regulierung eintritt, ſo daß für die <lb/>Dauer die Ordnung immer wieder hergeſtellt wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s9191" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9192" xml:space="preserve">Nunmehr wird es jedem klar ſein, daß, wenn irgend ein <lb/>Planet unſichtbar wäre, er dennoch den Naturforſchern ſein <lb/>Daſein verraten würde, und zwar durch die Störungen, die <lb/>er. </s>
  <s xml:id="echoid-s9193" xml:space="preserve">im Lauf der anderen Planeten veranlaßt, ſobald ſeine Maſſe
<pb o="52" file="0676" n="676"/>
nicht gar zu gering und alſo ſeine Anziehungskraft nicht gar <lb/>zu unbemerkbar iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9194" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9195" xml:space="preserve">Und nun ſind wir ſo weit, daß wir zu unſerem Haupt-<lb/>thema kommen können.</s>
  <s xml:id="echoid-s9196" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9197" xml:space="preserve">Bis zum Jahre 1846, wo Leverrier ſeine große Entdeckung <lb/>machte, glaubte man, daß der Planet Uranus der letzte Planet <lb/>ſei, der um die Sonne läuft. </s>
  <s xml:id="echoid-s9198" xml:space="preserve">Uranus ſelber wurde erſt im <lb/>Jahre 1781 von Herſchel in England entdeckt, und da er <lb/>84 Jahre braucht, um ſeinen Umlauf um die Sonne zu <lb/>vollenden, ſo hatte man im Jahre 1846 noch nicht einmal <lb/>einen ganzen Umlauf des Uranus beobachtet gehabt; </s>
  <s xml:id="echoid-s9199" xml:space="preserve">trotzdem <lb/>aber berechnete man ſeinen Lauf ſehr genau, weil man die <lb/>Anziehungskraft der Sonne kannte und auch die Störungen in <lb/>Rechnung brachte, welche die bekannten Planeten auf ihn aus-<lb/>üben.</s>
  <s xml:id="echoid-s9200" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9201" xml:space="preserve">Aber aller Sorgfalt der Rechnung zum Trotz wollte der <lb/>wirkliche Lauf des Uranus nicht mit dem berechneten überein-<lb/>ſtimmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9202" xml:space="preserve">Man kam alſo ſchon vor Leverrier’s Entdeckung auf <lb/>den Gedanken, daß jenſeits des Uranus, in einer Region, <lb/>wohin unſer Auge ſelbſt mit Hilfe der Fernröhre nichts ent-<lb/>decken konnte, wohl noch ein Planet vorhanden ſein müßte, der <lb/>den Lauf des Uranus ändere. </s>
  <s xml:id="echoid-s9203" xml:space="preserve">Der leider für die Wiſſenſchaft <lb/>zu früh verſtorbene <emph style="sp">Beſſel</emph> (1784—1846) in Königsberg war <lb/>ſchon hinterher, durch Rechnung den unbekannten Störer her-<lb/>auszufinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9204" xml:space="preserve">Er ſtarb aber kurz vor Leverrier’s Entdeckung. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9205" xml:space="preserve">Ja ſchon im Jahre 1840 ſchrieb Mädler in Dorpat ein ſehr <lb/>ſchönes Kapitel in ſeiner populären Aſtronomie über dieſen <lb/>ungeſehenen Störer. </s>
  <s xml:id="echoid-s9206" xml:space="preserve">— Leverrier aber ging ans Werk, er <lb/>rechnete mit einem von Kennern bewunderten Scharfſinn. </s>
  <s xml:id="echoid-s9207" xml:space="preserve">Er <lb/>forſchte nach, wo dieſer Störer am Himmel ſtehen muß, wenn <lb/>er den Uranus ſo und ſo zu ſtören vermag? </s>
  <s xml:id="echoid-s9208" xml:space="preserve">Wie ſchnell be-<lb/>wegt ſich dieſer Störer ſelber in ſeiner Bahn? </s>
  <s xml:id="echoid-s9209" xml:space="preserve">Und wie groß iſt <lb/>ſeine Maſſe? </s>
  <s xml:id="echoid-s9210" xml:space="preserve">— Und ſo haben wir den Triumph der Wiſſen-
<pb o="53" file="0677" n="677"/>
ſchaft erlebt, daß ein Leverrier mit dem geiſtigen Auge, nur <lb/>durch Rechnungen einen Planeten entdeckte, der 600 Millionen <lb/>Meilen weit von ihm entfernt war.</s>
  <s xml:id="echoid-s9211" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9212" xml:space="preserve">Darum: </s>
  <s xml:id="echoid-s9213" xml:space="preserve">Ehre dieſer Wiſſenſchaft! Ehre den Männern, <lb/>die ſie pflegen! Und Ehre dem Menſchengeiſt, der ſchärfer <lb/>blickt, als das Menſchenauge!</s>
</p>
<pb file="0678" n="678"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div233" type="section" level="1" n="195">
<head xml:id="echoid-head220" xml:space="preserve"><emph style="bf">Eine Phantaſie-Reiſe im Weltall.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head221" xml:space="preserve"><emph style="bf">I. Die Abreiſe.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9214" xml:space="preserve">Wer bereit iſt, mit uns einen Ausflug in den Weltraum <lb/>zu machen, der ſchnüre ſein Bündel, verſehe ſich mit einer Paß-<lb/>karte und verſorge ſich mit etwas Proviant; </s>
  <s xml:id="echoid-s9215" xml:space="preserve">denn unſere Reiſe <lb/>wird zwar ſehr ſchnell gemacht, aber dafür ſehr weit in den <lb/>Raum hinausgehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9216" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9217" xml:space="preserve">Was aber wollen wir ins Bündel thun? </s>
  <s xml:id="echoid-s9218" xml:space="preserve">Was ſoll in <lb/>der Paßkarte ſtehen? </s>
  <s xml:id="echoid-s9219" xml:space="preserve">und was müſſen wir im Proviant-Beutel <lb/>mitführen?</s>
  <s xml:id="echoid-s9220" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9221" xml:space="preserve">Im Bündel wollen wir unſere Gedanken beiſammenhalten. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9222" xml:space="preserve">In der Paßkarte wollen wir uns die Stationen vorſchreiben <lb/>laſſen, und in den Proviant-Beutel wollen wir unſere ganze <lb/>Unterhaltungs-Gabe einpacken.</s>
  <s xml:id="echoid-s9223" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9224" xml:space="preserve">Reiſen wir zu Waſſer? </s>
  <s xml:id="echoid-s9225" xml:space="preserve">zu Pferde? </s>
  <s xml:id="echoid-s9226" xml:space="preserve">per Eiſenbahn?</s>
  <s xml:id="echoid-s9227" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9228" xml:space="preserve">Nichts von dem! Wir reiſen mit Hilfe eines elektriſchen <lb/>telegraphiſchen Apparats!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9229" xml:space="preserve">Die alten Griechen haben ſich zwar die Phantaſie durch <lb/>ein Pferd mit Flügeln zu verſinnlichen geſucht; </s>
  <s xml:id="echoid-s9230" xml:space="preserve">die alten <lb/>Hebräer haben ſich ſogar die göttliche Allmacht auf Sturmes-<lb/>Fittigen einherfahrend gedacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9231" xml:space="preserve">Hätten die Griechen eine <lb/>Lokomotive und die Hebräer einen Luftballon gekannt, ſo <lb/>würden ſie genötigt geweſen ſein, für Phantaſie und Allmacht <lb/>andere Reiſegelegenheiten zu erſinnen, und hätten ſie wie wir
<pb o="55" file="0679" n="679"/>
elektriſche Telegraphen gehabt, ſo würden ſie jene Vorſtellungen <lb/>wahrſcheinlich durch einen Metalldraht verſinnlicht und würden <lb/>vielleicht alle verketzert haben, die ſolchem Draht ſamt Gutta-<lb/>Percha-Überzug keine begeiſterte Verehrung zollen mochten.</s>
  <s xml:id="echoid-s9232" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9233" xml:space="preserve">Wir aber ſind in dieſem Sinne wenigſtens keine Ketzer; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9234" xml:space="preserve">ja wir gehen noch ein Stückchen weiter. </s>
  <s xml:id="echoid-s9235" xml:space="preserve">Wir wollen uns zur <lb/>Phantaſie-Reiſe einen elektriſchen Telegraphen phantaſieren, der <lb/>zunächſt von der Erde zum Mond, unſerm nächſten Nachbar <lb/>am Himmel, führt, und uns die noch ſchönere Phantaſie vor-<lb/>phantaſieren, daß man auf ſolchem Draht nicht nur Packete, <lb/>ſondern auch Paſſagiere, mindeſtens Gedanken-Paſſagiere, be-<lb/>fördern kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s9236" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9237" xml:space="preserve">Alſo friſch auf! Wir treten die Reiſe an!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9238" xml:space="preserve">Doch halt! Wir müſſen für diejenigen, die noch mit-<lb/>wollen, auch den Ort bezeichnen, wo wir von dem Erdenrund <lb/>abfahren, da möglicherweiſe viele Zweifel hierüber entſtehen <lb/>könnten. </s>
  <s xml:id="echoid-s9239" xml:space="preserve">Der Ort, den wir meinen, wird bald gefunden ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s9240" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9241" xml:space="preserve">Wer einen Globus oder eine Landkarte vor ſich hat, <lb/>worauf die ganze Erde abgemalt iſt, der wird zugeben, daß <lb/>die Erde eine Kugel iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9242" xml:space="preserve">Dieſe Kugel, das iſt ausgemacht, <lb/>dreht ſich in vierundzwanzig Stunden um ihre Axe, deren beide <lb/>Enden als zwei Pole bekannt ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s9243" xml:space="preserve">Rings um die Mitte dieſer <lb/>Kugel, ſozuſagen um den Bauch der Erde, iſt auf Globus und <lb/>Landkarte ein dicker Strich, ein Gürtel zu ſehen, den man <lb/>“Äquator” nennt, und da wir zu gutgeſinnt ſind, um uns nach <lb/>irgend einer Seite hin entſchieden zu halten, wollen wir uns <lb/>auf dieſer Mittel-Linie einen Punkt zur Abfahrt auswählen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9244" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9245" xml:space="preserve">Der Punkt iſt gleichfalls ſchnell gefunden.</s>
  <s xml:id="echoid-s9246" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9247" xml:space="preserve">Auf Globus und Landkarte wird jedermann ſchon geſehen <lb/>haben, wie da von einem Pol zum andern feine Linien ge-<lb/>zeichnet ſind, die quer durch den Äquator laufen, ſogenannte <lb/>Meridiane. </s>
  <s xml:id="echoid-s9248" xml:space="preserve">Die Linien ſind numeriert, und da wir die erſten <lb/>Paſſagiere auf unſerer Phantaſie-Reiſe ſind, wollen wir die
<pb o="56" file="0680" n="680"/>
Linie, die mit Nummer Null bezeichnet iſt und welche in ihrem <lb/>weiteren Verlauf grade durch die berühmte, alte Sternwarte <lb/>in Greenwich bei London geht (Greenwicher Meridian), ins <lb/>Auge faſſen, und den Punkt zur Abreiſe wählen, wo dieſe von <lb/>Pol zu Pol laufende Linie den Gürtel quer durchkreuzt, ob-<lb/>gleich dieſer Punkt mitten im Meere liegt und ſchwerlich ein <lb/>Konſtabler da iſt, um unſere Reiſe zu legitimieren.</s>
  <s xml:id="echoid-s9249" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9250" xml:space="preserve">Und nun: </s>
  <s xml:id="echoid-s9251" xml:space="preserve">Adieu! Der Zug geht ab!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9252" xml:space="preserve">Wohin?</s>
  <s xml:id="echoid-s9253" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9254" xml:space="preserve">Unſere erſte Station wird der Mond ſein; </s>
  <s xml:id="echoid-s9255" xml:space="preserve">zunächſt jedoch <lb/>wollen wir oben ein paar tauſend Meilen von der Erde ab ein <lb/>wenig Halt machen und einmal ſehen, wie es unſerer Erdkugel <lb/>ohne uns ergeht.</s>
  <s xml:id="echoid-s9256" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9257" xml:space="preserve">Unter uns liegt dieſe Erdkugel von einer Lufthülle um-<lb/>geben. </s>
  <s xml:id="echoid-s9258" xml:space="preserve">Die Lufthülle iſt dunſtig, wolkig und läßt ſich nicht <lb/>durchblicken; </s>
  <s xml:id="echoid-s9259" xml:space="preserve">über uns iſt der Himmel merkwürdig klar, eher <lb/>ſchwarz als blau, und die Sterne, die ſonſt durch die bewegte <lb/>Luft geſehen ſo ſehr funkeln, leuchten jetzt in nie geſehenem, <lb/>ruhigen Glanze. </s>
  <s xml:id="echoid-s9260" xml:space="preserve">Wären wir gewöhnliche Paſſagiere, ähnlich <lb/>denen, die ſich in Luftballons ein Stückchen von der Erde ent-<lb/>fernen, ſo würden wir wie dieſe von der Erde nichts ſehen, <lb/>als Dunſt und Nebel. </s>
  <s xml:id="echoid-s9261" xml:space="preserve">Da wir aber Phantaſie-Reiſende ſind, <lb/>ſo wollen wir unſer Gedanken-Bündel vornehmen und mit <lb/>Hilfe von Gedanken, die bekanntlich zollfrei ſind, uns dieſe <lb/>Dünſte und Nebel fortwiſchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9262" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9263" xml:space="preserve">Ah! Da ſehen wir richtig die Erde!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9264" xml:space="preserve">Sie iſt wirklich eine Kugel und dreht ſich ſo, daß der <lb/>Punkt, von wo wir abgereiſt ſind, ſchon nicht mehr unter uns <lb/>liegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9265" xml:space="preserve">Er hat ſich fortgewendet nach der Richtung, die man <lb/>da unten Oſten nennt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9266" xml:space="preserve">Eigentlich iſt ungeheuer viel Waſſer, <lb/>und nur ſehr wenig Erde auf der Erde. </s>
  <s xml:id="echoid-s9267" xml:space="preserve">Das, was die <lb/>Menſchen da unten Erde oder gar Welt nennen, ſind nur <lb/>Inſeln, die das Waſſer nicht bedeckt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s9268" xml:space="preserve">Wie nichtig klein iſt
<pb o="57" file="0681" n="681"/>
dort links Europa! Da nehmen ſich Aſien und Afrika ſchon <lb/>ganz reſpektabel dagegen aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s9269" xml:space="preserve">“Wo iſt des Deutſchen Vater-<lb/>land?</s>
  <s xml:id="echoid-s9270" xml:space="preserve">” Wahrhaftig, wir können es von hier nicht einmal <lb/>finden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9271" xml:space="preserve">Heſſen-Darmſtadt iſt ſogar mit dem Mikroſkop kaum <lb/>aufzuſpüren.</s>
  <s xml:id="echoid-s9272" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9273" xml:space="preserve">Doch halt! hier ſehen wir etwas Neues, das müſſen wir <lb/>uns näher betrachten!</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div234" type="section" level="1" n="196">
<head xml:id="echoid-head222" xml:space="preserve"><emph style="bf">II. Auf der Station zwiſchen Erde und Mond.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9274" xml:space="preserve">Die eine Halbkugel iſt von der Sonne beleuchtet; </s>
  <s xml:id="echoid-s9275" xml:space="preserve">aber <lb/>wir ſtehen glücklicherweiſe auf unſerer Phantaſie-Station ſo, <lb/>daß wir auch noch ein Stück unbeleuchtete Erde ſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9276" xml:space="preserve">— <lb/>Welch’ ein herrlicher Saum von Dämmerlicht grenzt den lichten <lb/>von dem dunkeln Teil der Erde ab. </s>
  <s xml:id="echoid-s9277" xml:space="preserve">Auch der dunkele Teil iſt <lb/>nicht völlig finſter und unſichtbar, denn die durchleuchtete Luft <lb/>ſenkt milde, matte, aber doch wirkſame Sonnenſtrahlen nieder <lb/>zur Erde. </s>
  <s xml:id="echoid-s9278" xml:space="preserve">Dazu kommt noch, daß ein großes Stück der Mond-<lb/>ſcheibe von der Sonne beleuchtet iſt und ſomit der dunkle Teil <lb/>der Erde vom Mondſchein erleuchtet wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s9279" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9280" xml:space="preserve">Auf unſerer Station haben wir nicht nur Sonnenlicht, <lb/>ſondern auch Mondlicht und obendrein auch Erdlicht; </s>
  <s xml:id="echoid-s9281" xml:space="preserve">denn die <lb/>beleuchtete Erde beleuchtet auch den Weltraum. </s>
  <s xml:id="echoid-s9282" xml:space="preserve">Das Sonnenlicht <lb/>kommt von der ſtets vollen Sonnenſcheibe. </s>
  <s xml:id="echoid-s9283" xml:space="preserve">Das Mondlicht kommt <lb/>nur von dem Stück beleuchteter Mondoberfläche, das ſich uns <lb/>gerade zugewendet hat, das Erdlicht ebenfalls nur von einer zum <lb/>Teil beleuchteten Oberfläche der Erdkugel, welcher wir zugewendet <lb/>ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s9284" xml:space="preserve">Wir Phantaſie-Reiſende, die wir uns auf einer Station <lb/>zwiſchen Erde und Mond befinden, ſehen dieſe zwei Kugeln <lb/>von dem fernen Sonnenlicht erleuchtet und merken dabei, daß
<pb o="58" file="0682" n="682"/>
wenn von der Erde ein großes Stück erleuchtet iſt, vom Monde <lb/>nur ein kleiner erleuchteter Teil uns ſichtbar ſein kann; </s>
  <s xml:id="echoid-s9285" xml:space="preserve">würden <lb/>wir vom Mond viel erleuchtet ſehen, ſo würde die Erdkugel <lb/>uns nur ein kleines Stückchen ihrer erleuchteten Oberfläche zu-<lb/>wenden können.</s>
  <s xml:id="echoid-s9286" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9287" xml:space="preserve">Doch das iſt eigentlich nicht das Merkwürdige, das wir <lb/>ins Auge faſſen wollen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9288" xml:space="preserve">wir werden, wenn wir erſt auf dem <lb/>Mond angekommen ſind, noch Gelegenheit haben, die Wunder-<lb/>lichkeiten des Erdlichtes dort zu beobachten; </s>
  <s xml:id="echoid-s9289" xml:space="preserve">für jetzt nimmt <lb/>uns etwas Anderes in Anſpruch, das an der Erde ſichtbar iſt, <lb/>von dem wir auf der Erde lebend nichts Rechtes geſehen <lb/>haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s9290" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9291" xml:space="preserve">Um die beiden Pole der Erde ſchwebt ein eigenes Licht <lb/>und dieſes Licht, das ſich über der Luftſchicht befindet, flammt <lb/>wunderbar von Zeit zu Zeit auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s9292" xml:space="preserve">Es ſcheint, als ob es über <lb/>den Polen der Erde entſteht, und als ob das Licht des einen <lb/>Pols das des andern Pols anzieht, ſodaß ſich Lichtſtröme von <lb/>den beiden Polen entfernen, und gegencinander ſtrömend ſich <lb/>über dem Äquator der Erde vereinigen, und dabei zugleich er-<lb/>löſchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9293" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9294" xml:space="preserve">Daß dieſe Polar-Lichter dasſelbe ſind, was man dort unten <lb/>auf Erden “Nordlicht” nennt (ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s9295" xml:space="preserve">Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s9296" xml:space="preserve">20), iſt ganz unzweifelhaft. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9297" xml:space="preserve">Die armen Menſchen da unten auf der Erde haben bisher nur <lb/>wenig Gelegenheit gehabt, dasſelbe Polarlicht am ſüdlichen Pol <lb/>kennen zu lernen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9298" xml:space="preserve">Es darf uns auch nicht Wunder nehmen, <lb/>daß die Menſchen, die auf dem Grund und Boden des Luft-<lb/>meeres herumwandeln, ſich einbilden, daß das Nordlicht nur <lb/>da iſt, um die monatelangen Nächte des Nordens zu erleuchten. </s>
  <s xml:id="echoid-s9299" xml:space="preserve"><lb/>Das Nordlicht iſt — wir ſehen das von hier aus beſſer — <lb/>auch dann vorhanden, wenn die Sonne monatelang den Nord-<lb/>pol beleuchtet und den halbjährigen Tag dort veranlaßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9300" xml:space="preserve">Die <lb/>Menſchen aber beachten das nicht, was ihnen nicht nötig zu <lb/>ſein ſcheint. </s>
  <s xml:id="echoid-s9301" xml:space="preserve">Am Tage iſt ihnen ein Nordlicht gleichgültig, und
<pb o="59" file="0683" n="683"/>
weil ſie es nicht ſehen, behaupten ſie auch ſteif und feſt, es ſei <lb/>nicht vorhanden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9302" xml:space="preserve">— Gleichwohl iſt es da, und wären wir nicht <lb/>Phantaſie-Reiſende, denen man nicht viel glauben wird, ſo <lb/>würden wir behaupten, daß es unausgeſetzt an beiden Polen <lb/>erſteht, und unausgeſetzt von Zeit zu Zeit von den beiden <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0683-01a" xlink:href="fig-0683-01"/>
Richtungen her hinüberwallt zum Äquator, um daſelbſt ſich <lb/>wieder zu vereinigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9303" xml:space="preserve"><anchor type="note" xlink:href="" symbol="*)"/></s>
</p>
<div xml:id="echoid-div234" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0683-01" xlink:href="fig-0683-01a">
<caption xml:id="echoid-caption45" xml:space="preserve">Fig. 20. <lb/>Polarlicht.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9304" xml:space="preserve">Woher kommt dieſes Licht?</s>
  <s xml:id="echoid-s9305" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9306" xml:space="preserve">Ja, das wiſſen wir Phantaſie-Reiſende auch nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9307" xml:space="preserve">Es iſt <lb/>
<anchor type="note" xlink:label="note-0683-01a" xlink:href="note-0683-01"/>
<pb o="60" file="0684" n="684"/>
elektriſcher Natur; </s>
  <s xml:id="echoid-s9308" xml:space="preserve">Elektrizität aber iſt eine Art Geheimnis, <lb/>von dem ſich nur Philoſophen einbilden, es zu wiſſen, und <lb/>da wir trotz der reichen Phantaſie der Philoſophen keinen <lb/>ſolchen auf unſerer Reiſe mitgenommen haben, ſo müſſen wir <lb/>auch unſere Unwiſſenheit eingeſtehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9309" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div235" type="float" level="2" n="2">
<note symbol="*)" position="foot" xlink:label="note-0683-01" xlink:href="note-0683-01a" xml:space="preserve"> Polarlichter am Tage ſind auch in unſeren Breiten wirklich beob-<lb/>achtet worden.</note>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9310" xml:space="preserve">Nur ſo viel wiſſen wir, daß die Erde eine Art großer <lb/>Magnet iſt, daß alle kleinen Magnetnadeln, die man auf der <lb/>Erde wie einen Wagebalken hin- und her-, auf- und abſchwingen <lb/>läßt, ſich endlich von dem großen Erd-Magneten oder dem <lb/>Erd-Magnetismus dirigieren laſſen, und jeder der kleinen <lb/>Magnete eine ganz beſtimmte Stellung auf jedem Punkte der <lb/>Erde einnimmt, wie es der Erd-Magnetismus gebietet.</s>
  <s xml:id="echoid-s9311" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9312" xml:space="preserve">Da es jedoch für Phantaſie-Reiſende nicht ziemt, gar zu <lb/>gelehrt zu ſein, wie es dem Gelehrten nicht anſteht, ſich mit <lb/>Phantaſien zu beſchäftigen, ſo wollen wir nur ſagen, daß dieſes <lb/>Polar-Licht mit den elektriſchen Strömen in Zuſammenhang <lb/>zu ſtehen ſcheint, welche in der Richtung des Äquators um die <lb/>Erde herumwirbeln, und daß wir uns dabei nicht ſo lange auf-<lb/>halten können; </s>
  <s xml:id="echoid-s9313" xml:space="preserve">denn wir ſehen eben, wie ſich die Erde ſo ge-<lb/>dreht hat, daß wir jetzt das Feſtland von Amerika erblicken, <lb/>und mit der größten Leichtigkeit von der Ferne das ſchauen, <lb/>was die Menſchen durch Jahrtauſende in ihrer Nähe nicht ent-<lb/>deckt haben, bis Columbus den glücklichen Griff that. </s>
  <s xml:id="echoid-s9314" xml:space="preserve">So iſt <lb/>es aber dort unten auf der Erde. </s>
  <s xml:id="echoid-s9315" xml:space="preserve">Sie ſehen zuweilen, was <lb/>ihnen nahe liegt, weniger klar, als das, was ſie von der Ferne <lb/>aus überſehen können.</s>
  <s xml:id="echoid-s9316" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9317" xml:space="preserve">Doch genug jetzt; </s>
  <s xml:id="echoid-s9318" xml:space="preserve">wir wollen nach dem Mond und da er <lb/>wahrhaftig nicht ſtille ſteht, ſo iſt es Zeit zur Abfahrt von der <lb/>Station.</s>
  <s xml:id="echoid-s9319" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9320" xml:space="preserve">Demnach: </s>
  <s xml:id="echoid-s9321" xml:space="preserve">auf Wiederſehen!</s>
</p>
<pb o="61" file="0685" n="685"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div237" type="section" level="1" n="197">
<head xml:id="echoid-head223" xml:space="preserve"><emph style="bf">III. Wir langen auf dem Monde an.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9322" xml:space="preserve">Alſo gehts jetzt nach dem Monde? </s>
  <s xml:id="echoid-s9323" xml:space="preserve">— Ja!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9324" xml:space="preserve">Aber unterwegs müſſen wir uns die Zeit zu vertreiben <lb/>ſuchen, da es eine bekannte Erfahrung iſt, daß man ſich auf den <lb/>ſchnellſten Dampfreiſen mehr langweilen kann, als einſt bei den <lb/>langſamſten Poſt- und Stellwagen-Fahrten. </s>
  <s xml:id="echoid-s9325" xml:space="preserve">Bei den ſchnellſten <lb/>Phantaſie-Reiſen muß man demnach erſt recht für Unterhaltung <lb/>ſorgen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9326" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9327" xml:space="preserve">Zum Glück haben wir die Unterhaltung leicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9328" xml:space="preserve">Wir <lb/>brauchen nur bald vorwärts, bald rückwärts zu blicken, und <lb/>wir ſehen dann mit jedem Tauſend von Meilen, das wir hinter <lb/>uns bekommen, wie die Erde immer kleiner und der Mond <lb/>immer größer und größer erſcheint. </s>
  <s xml:id="echoid-s9329" xml:space="preserve">Es wird nicht lange <lb/>dauern, ſo wird uns die Erde gar nicht mehr wie ein irdiſcher, <lb/>ſondern wie ein himmliſcher Wohnſitz erſcheinen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9330" xml:space="preserve">Wären Dichter <lb/>mit uns auf der Reiſe, ſie würden wahrſcheinlich die Erde zu <lb/>beſingen anfangen, mehr noch als den “guten Mond,” der “ſo <lb/>ſtille geht;</s>
  <s xml:id="echoid-s9331" xml:space="preserve">” wären Religionsmacher unter unſern Reiſegefährten, <lb/>ſie würden für die Erdkugel, die jetzt wie ein ungeheuer großer <lb/>Stern ausſieht, einen Kultus erfinden und vielleicht jedweden <lb/>verketzern, der dieſes erhabene, geſtirnartige Weſen für einen <lb/>Erdkoloß anſieht.</s>
  <s xml:id="echoid-s9332" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9333" xml:space="preserve">Wir aber wiſſen’s beſſer. </s>
  <s xml:id="echoid-s9334" xml:space="preserve">Da oben iſt keineswegs der <lb/>Himmel auf Erden, ſondern wir ſehen es, die Erde iſt im <lb/>Himmel. </s>
  <s xml:id="echoid-s9335" xml:space="preserve">Je weiter wir uns von ihr entfernen, deſto mehr <lb/>nimmt ſie das Anſehen eines Geſtirnes an, eines ſehr großen <lb/>Geſtirnes, das ſelbſt auf halbem Wege zum Monde faſt als <lb/>eine zehnmal ſo große Kugel erſcheint, wie uns hier die <lb/>Sonne.</s>
  <s xml:id="echoid-s9336" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9337" xml:space="preserve">Und nun wollen wir uns einen kleinen Scherz erlauben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9338" xml:space="preserve">Einer aus unſerer ehrenwerten Reiſegeſellſchaft mag ſo gut
<pb o="62" file="0686" n="686"/>
ſein, einmal ſeinen Hut auf die Erde fallen zu laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9339" xml:space="preserve">Da <lb/>oben auf dem Erdenrund würde er zum Fenſter des erſten <lb/>Stockes blickend ihn kaum loslaſſen, und ſofort würde der Hut <lb/>in der erſten Sekunde 10 Meter fallen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9340" xml:space="preserve">Den Hut loslaſſen <lb/>und ihn wiedererhaſchen, iſt da unten ein Kunſtſtück. </s>
  <s xml:id="echoid-s9341" xml:space="preserve">Hier auf <lb/>unſerer Reiſe iſt es ein Spaß.</s>
  <s xml:id="echoid-s9342" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9343" xml:space="preserve">Wir befinden uns nämlich ſo weit ab von der Erde, daß <lb/>ihre Anziehungskraft bedeutend geſchwächt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9344" xml:space="preserve">Wir ſind auf <lb/>halbem Wege ſechsundzwanzigtauſend Meilen vom Mittelpunkt <lb/>der Erde entfernt, das iſt ſo ungefähr dreißigmal entfernter <lb/>von dieſem Mittelpunkt, als wir ſonſt auf der Oberfläche der <lb/>Erde herumwandelnd waren. </s>
  <s xml:id="echoid-s9345" xml:space="preserve">In der dreißigmaligen Ent-<lb/>fernung iſt aber die Anziehungskraft der Erde nicht bloß <lb/>dreißigmal ſchwächer geworden, ſondern — das hat ein <lb/>Menſch Namens Newton bereis vor zweihundert Jahren <lb/>richtig herausgerechnet — die Anziehung iſt um 30 mal 30, <lb/>das iſt um 900 mal ſchwächer geworden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9346" xml:space="preserve">Fiel unten der Hut <lb/>in der erſten Sekunde 10 Meter, ſo fällt er hier, wie uns der <lb/>Verſuch zeigt, 900 mal weniger in der erſten Sekunde, und das <lb/>iſt nur wenig mehr als ein Centimeter, ein ſolch kleines Stück-<lb/>ſchen, daß wir faſt Zeit haben, dreimal zu nieſen, ehe wir die <lb/>Hand auszuſtrecken und den fallenden Hut einzufangen brauchen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9347" xml:space="preserve">— Das hat nun ſein Gutes, aber auch ſein Übles; </s>
  <s xml:id="echoid-s9348" xml:space="preserve">denn <lb/>wollten wir hier einen Nagel mit einem Hammer einſchlagen, <lb/>um irgendwo ein Loch in die Natur zu machen, ſo würden <lb/>wir den Hammer zwar federleicht heben können; </s>
  <s xml:id="echoid-s9349" xml:space="preserve">aber er würde, <lb/>wenn wir ihn ſinken laſſen, äußerſt matt den Nagel auf den <lb/>Kopf treffen und ihm ſicherlich ſo gut wie gar keinen Schlag <lb/>verſetzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9350" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9351" xml:space="preserve">Wir merken hierbei aber noch etwas. </s>
  <s xml:id="echoid-s9352" xml:space="preserve">Wir befinden uns <lb/>nämlich zwiſchen Erde und Mond. </s>
  <s xml:id="echoid-s9353" xml:space="preserve">Nun aber hat der Mond <lb/>auch eine Anziehungskraft, wie wir uns aus einem Spazier-<lb/>gang auf dem Monde überzeugen werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9354" xml:space="preserve">Dort auf Erden,
<pb o="63" file="0687" n="687"/>
52 000 Meilen vom Monde entfernt, merkt man nichts von <lb/>dieſer Anziehungskraft des Mondes, außer an der Ebbe und <lb/>Flut, daß das Waſſer ſich hinter dem Mondlauf aufſtaut. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9355" xml:space="preserve">Hier oben auf halbem Wege iſt es ſchon ein wenig anders; </s>
  <s xml:id="echoid-s9356" xml:space="preserve">hier <lb/>kann man ſchon bemerken, daß der Mond ungefähr ein achtzigſtel <lb/>von der Anziehungskraft der Erde beſitzt, und da es Phantaſie-<lb/>Reiſenden nicht an Phantaſie fehlen kann, ſo können wir uns <lb/>recht gut ein Inſtrument zuſammenſtellen, das dieſe Mond-<lb/>anziehung recht deutlich macht.</s>
  <s xml:id="echoid-s9357" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9358" xml:space="preserve">Doch wir wollen nicht auf halbem Mege ſtehen bleiben; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9359" xml:space="preserve">denn wir haben nur noch eine kleine Strecke von einigen <lb/>tauſend Meilen zu machen, um eine neue Unterhaltung zu <lb/>finden.</s>
  <s xml:id="echoid-s9360" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9361" xml:space="preserve">An dieſem Punkte iſt die Erde ſo klein und der Mond ſo <lb/>groß geworden, daß ſie beide in gleicher Größe erſcheinen, und <lb/>gar nicht weit von dieſer Stelle iſt ein Punkt vorhanden, der <lb/>uns ſehr viel Spaß macht.</s>
  <s xml:id="echoid-s9362" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9363" xml:space="preserve">Wir meinen nämlich den Punkt, wo die Erd-Anziehung <lb/>und die Mond-Anziehung gleich groß ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s9364" xml:space="preserve">Der Punkt liegt <lb/>dem Mond ſchon ſehr nahe. </s>
  <s xml:id="echoid-s9365" xml:space="preserve">Es ſind nur etwa noch wenige <lb/>tauſend Meilen bis zum Monde. </s>
  <s xml:id="echoid-s9366" xml:space="preserve">Der nahe Mond iſt hier in <lb/>der Anziehung genau eben ſo ſtark, wie die entfernte Erde, und <lb/>wir benutzen dieſen Punkt, um Toilette zu machen, da wir bald <lb/>auf dem Mond ankommen, dort auch anſtändig erſcheinen und <lb/>den etwaigen Konſtablern, die uns nach unſern Päſſen fragen, <lb/>nicht als Vagabunden vorkommen wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9367" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9368" xml:space="preserve">Wir legen nun unſer ganzes Gepäck auf dieſen neutralen <lb/>Punkt und überzeugen uns, wie gut doch die Neutralität in <lb/>allen Fällen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9369" xml:space="preserve">Was wir auch hier hinlegen, bleibt ruhig <lb/>und unbeweglich ſtehen oder hängen oder ſchweben oder liegen, <lb/>wie man das nennen will. </s>
  <s xml:id="echoid-s9370" xml:space="preserve">Die Erde zieht es hin, der Mond <lb/>zieht es mit gleicher Kraft her, und wir freuen uns, daß <lb/>beide Seiten gleich ſtark ziehen und wir in echter Neutralität
<pb o="64" file="0688" n="688"/>
gar nichts zu thun und uns nicht vom Fleck zu rühren brauchen, <lb/>um unſer Gepäck feſtzuhalten, damit es nicht fällt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9371" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9372" xml:space="preserve">Doch wir dürfen uns nicht aufhalten. </s>
  <s xml:id="echoid-s9373" xml:space="preserve">Und ſomit Adieu, <lb/>Neutralität! — und mit einem Ruck langen wir auf dem <lb/>Monde an.</s>
  <s xml:id="echoid-s9374" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div238" type="section" level="1" n="198">
<head xml:id="echoid-head224" xml:space="preserve"><emph style="bf">IV. Auf dem Monde.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9375" xml:space="preserve">Willkommen auf dem Monde!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9376" xml:space="preserve">Wir ſetzen kaum den Fuß auf den Mond, ſo greifen wir <lb/>auch ſchon wie gutgeſinnte, legitimierte Erdbewohner eines <lb/>deutſchen Vaterlandes nach unſern Paßkarten; </s>
  <s xml:id="echoid-s9377" xml:space="preserve">aber niemand <lb/>empfängt uns. </s>
  <s xml:id="echoid-s9378" xml:space="preserve">Wir blicken um uns; </s>
  <s xml:id="echoid-s9379" xml:space="preserve">wir ſind in einer ge-<lb/>birgigen Einöde. </s>
  <s xml:id="echoid-s9380" xml:space="preserve">Wir rufen: </s>
  <s xml:id="echoid-s9381" xml:space="preserve">Holla! Heda! aber zu unſerem <lb/>Schrecken hören wir unſer eigenes Wort nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9382" xml:space="preserve">Wir ſind taub, <lb/>total taub, und wir merken’s auch ſchon, woher dies kommt; </s>
  <s xml:id="echoid-s9383" xml:space="preserve">es <lb/>iſt keine Luft da, welche den Schall des Wortes fortpflanzt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9384" xml:space="preserve">Der Mond iſt nicht von einer Lufthülle umgeben wie die Erde, <lb/>oder wie andere Planeten, die wir noch beſuchen werden; </s>
  <s xml:id="echoid-s9385" xml:space="preserve">und <lb/>ſomit fehlt auf dem Monde dasjenige, was von jedem Schall, <lb/>jedem Ton, jedem Laut in Schwingungen verſetzt wird und <lb/>an das Trommelfell des Ohres ſchlägt, um es hören zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9386" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9387" xml:space="preserve">Wären wir nicht Phantaſie-Reiſende, ſo würden wir hier <lb/>gar nicht leben können; </s>
  <s xml:id="echoid-s9388" xml:space="preserve">ja wir würden bereits bei der Abfahrt <lb/>von der Erde und nur 1 {1/2} Meilen von ihrer Oberfläche ent-<lb/>fernt in der dort dünner werdenden Luft die Beſchwerden <lb/>gefühlt haben, die gewöhnliche Luftſchiffer dort empfinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9389" xml:space="preserve">Da <lb/>wir aber die Phantaſie nicht allzuweit treiben dürfen, ſo iſt es <lb/>genug, wenn wir das Leben hier oben auf dem Monde er-<lb/>halten, und es wäre zu viel, wenn wir uns noch gar Luft vor-<lb/>phantaſierten, um eine Unterhaltung führen zu können.</s>
  <s xml:id="echoid-s9390" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="65" file="0689" n="689"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9391" xml:space="preserve">Jſt aber keine Luft auf dem Monde — und die Aſtronomen <lb/>da oben auf der Erde wiſſen das eben ſo gut wie wir — ſo <lb/>folgt daraus, daß auch kein Waſſer hier ſein kann; </s>
  <s xml:id="echoid-s9392" xml:space="preserve">denn im <lb/>luftleeren Raum verdunſtet Waſſer vollſtändig. </s>
  <s xml:id="echoid-s9393" xml:space="preserve">— Jſt aber <lb/>auch kein Waſſer vor-<lb/>handen, ſo nimmt es <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0689-01a" xlink:href="fig-0689-01"/>
uns nicht Wunder, <lb/>daß wir hier ſonſt <lb/>gar keine Flüſſigkeit <lb/>entdecken können und <lb/>hier auf dem Monde <lb/>derart aufs Trockene <lb/>geraten ſind, wie man <lb/>ſich dies auf Erden <lb/>gar nicht vorſtellen <lb/>kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s9394" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div238" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0689-01" xlink:href="fig-0689-01a">
<caption xml:id="echoid-caption46" xml:space="preserve">Fig. 21. <lb/>“Letztes Viertel” im Fernrohr.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9395" xml:space="preserve">Unterſolchen Um-<lb/>ſtänden ſind wir leider <lb/>genötigt, auf Vieles <lb/>zu verzichten, was <lb/>uns unſere Phantaſie <lb/>auf Erden vom Leben <lb/>im Monde vorgeſpie-<lb/>gelt hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s9396" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9397" xml:space="preserve">So weit unſer <lb/>Auge reicht, ſehen wir <lb/>um uns Gebirge und <lb/>Thäler, wie ſie die <lb/>Mond-Karten von deutſchen und engliſchen Aſtronomen abge-<lb/>malt enthalten (ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s9398" xml:space="preserve">Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s9399" xml:space="preserve">21). </s>
  <s xml:id="echoid-s9400" xml:space="preserve">Wir ſehen an der Oberfläche der-<lb/>ſelben noch gar viele Dinge, aber wir wiſſen nicht, was ſie <lb/>ſein ſollen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9401" xml:space="preserve">Vielleicht ſind es Pflanzen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9402" xml:space="preserve">aber Pflanzen in <lb/>unſerem Sinne und nach unſeren Begriffen können hier nicht</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9403" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s9404" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s9405" xml:space="preserve">Volksbücher XVI.</s>
  <s xml:id="echoid-s9406" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="66" file="0690" n="690"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9407" xml:space="preserve">ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s9408" xml:space="preserve">Die Pflanze lebt von Luft und Waſſer und andern <lb/>luftartigen und waſſerförmigen Speiſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9409" xml:space="preserve">hier aber iſt nichts <lb/>derart vorhanden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9410" xml:space="preserve">Hier iſt kein Sauerſtoff, kein Waſſerſtoff, <lb/>kein Stickſtoff und am allerwenigſten Kohlenſtoff, der auch <lb/>auf Erden faſt nur als Pflanzenreſt exiſtiert, ſelbſt wenn er <lb/>als Graphit gefunden wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s9411" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9412" xml:space="preserve">Iſt aber keine Pflanze in unſerem Sinne und nach unſeren <lb/>Begriffen hier zu finden, wovon ſollen Tiere oder gar <lb/>Menſchen hier leben.</s>
  <s xml:id="echoid-s9413" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9414" xml:space="preserve">Sollten aber nicht doch vernunftbegabte Weſen hier zu <lb/>finden ſein?</s>
  <s xml:id="echoid-s9415" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9416" xml:space="preserve">Wohl iſt dies möglich; </s>
  <s xml:id="echoid-s9417" xml:space="preserve">allein es iſt platterdings unmög-<lb/>lich, ſie als ſolche zu erkennen, ſelbſt wenn wir ſie hier vor <lb/>uns hätten.</s>
  <s xml:id="echoid-s9418" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9419" xml:space="preserve">Sprechen können wir mit ihnen nicht, denn ohne Luft giebt <lb/>es keinen Laut, und da ſie unter ſolchen Umſtänden natürlich <lb/>auch keine Ohren haben würden, ſo würde es uns auch nichts <lb/>helfen, wenn wir uns auch ein paar Ballons mit Luft mit-<lb/>genommen hätten, wie es die Taucher thun, welche in die Tiefe <lb/>des Meeres hinabſteigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9420" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9421" xml:space="preserve">Riechen können die Mondbewohner auch nicht, denn ohne <lb/>Luftarten giebt es keinen Geruch; </s>
  <s xml:id="echoid-s9422" xml:space="preserve">was nicht gasförmig wird, <lb/>riecht nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9423" xml:space="preserve">Da es aber ohne Gaſe keine Flüſſigkeiten giebt, <lb/>ſo iſt es ausgemacht, daß die Mondbewohner auch nicht <lb/>ſchmecken können in unſerem Sinne; </s>
  <s xml:id="echoid-s9424" xml:space="preserve">denn geſchmeckt kann <lb/>nur dasjenige von den Speiſen werden, was ſich zwiſchen <lb/>Zunge und Gaumen in eine Flüſſigkeit verwandelt oder ſich in <lb/>der Mundflüſſigkeit auflöſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9425" xml:space="preserve">Wo es keine Flüſigkeit giebt, da <lb/>giebt es auch keinen Geſchmacksſinn.</s>
  <s xml:id="echoid-s9426" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9427" xml:space="preserve">Haben aber die Mondbewohner keinen Geſchmacksſinn, ſo <lb/>haben ſie auch ſicherlich keine Zunge, und haben ſie keine Luft <lb/>zum Atmen, ſo haben ſie natürlich auch keine Lunge, und des-<lb/>halb auch höchſt wahrſcheinlich keinen Mund. </s>
  <s xml:id="echoid-s9428" xml:space="preserve">— Giebt’s hier
<pb o="67" file="0691" n="691"/>
keine Flüſſigkeit, ſo giebt’s auch kein Blut. </s>
  <s xml:id="echoid-s9429" xml:space="preserve">Haben die Mond-<lb/>bewohner kein Blut, ſo haben ſie auch ſchwerlich ein Herz im <lb/>Leibe, und mit einem Weſen, das kein Herz im Leibe hat, <lb/>da hört alles auf.</s>
  <s xml:id="echoid-s9430" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9431" xml:space="preserve">Alſo kein Ohr, keine Naſe, kein Mund, keine Lunge, keine <lb/>Bruſt, kein Blut, kein Herz, da erkenne einmal jemand ein <lb/>Ding, das mit den Erdgeſchöpfen noch Ähnlichkeit hat!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9432" xml:space="preserve">Aber Licht herrſcht hier. </s>
  <s xml:id="echoid-s9433" xml:space="preserve">Es giebt hier Sonnenlicht, Erd-<lb/>licht und Sternenlicht, und deshalb ſuchen wir umher, ob wir <lb/>nicht ein Weſen entdecken, das, wie es auch geſchaffen ſein <lb/>mag, ein Auge oder ein Organ beſitzt, das als Auge dienen <lb/>kann? </s>
  <s xml:id="echoid-s9434" xml:space="preserve">Und doch iſt unſere Mühe vergeblich. </s>
  <s xml:id="echoid-s9435" xml:space="preserve">Wiſſen wir es <lb/>ja von der Erde her, daß das Auge tieriſcher und menſchlicher <lb/>Weſen auch nur vermittelſt der in demſelben exiſtierenden <lb/>Flüſſigkeiten für Licht empfänglich iſt, und die Erfahrung hat <lb/>uns auf Erden ſchon gelehrt, daß die Einwirkung des Lichtes <lb/>auf Pflanzen und vollkommen lebloſe Dinge vorhanden iſt, ob-<lb/>ſchon ſie kein Auge haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s9436" xml:space="preserve">Demnach kann das Daſein von <lb/>Licht noch keineswegs darauf ſchließen laſſen, daß hier auf <lb/>dem Monde Weſen mit Augen ſeien.</s>
  <s xml:id="echoid-s9437" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9438" xml:space="preserve">Hat aber ein Mondbewohner ohne Mund, Naſe und Ohren <lb/>auch kein Auge, ſo ſehen wir nicht ein, wozu er einen Kopf <lb/>braucht, und da er auch kein Herz, keine Bruſt, kein Blut und <lb/>keinen Leib hat, ſo könnten wir höchſtens das Vergnügen haben, <lb/>ein paar Hände und Füße als neue Menſchen zu begrüßen, <lb/>und da wir Phantaſie-Reiſenden fürchten müſſen, daß beim An-<lb/>blick eines ſolchen Weſens uns die Phantaſie ſtockt, und ſo die <lb/>Reiſegelegenheit in die Brüche geht, die uns noch weiter in <lb/>den Weltraum und endlich wieder in die liebe Heimat führen <lb/>ſoll, ſo wollen wir uns nur nicht weiter den Kopf zerbrechen, <lb/>ob es Mond-”Menſchen” giebt oder nicht und uns die Zeit <lb/>auf dem Monde ſelbſt zu vertreiben ſuchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9439" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="68" file="0692" n="692"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div240" type="section" level="1" n="199">
<head xml:id="echoid-head225" xml:space="preserve"><emph style="bf">V. Was beginnen wir auf dem Monde?</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9440" xml:space="preserve">Wir müſſen alſo auf menſchliche Unterhaltung im Monde <lb/>gänzlich verzichten, und ſo gut es geht, uns anderweitig er-<lb/>bauen, und da wir aus Mangel an Luft vollſtändig taub ſind, <lb/>ſo wollen wir wenigſtens Hände und Beine, die einzigen Or-<lb/>gane, die ſich möglicherweiſe hier heimatlich fühlen können, <lb/>nach Herzensluſt verwenden.</s>
  <s xml:id="echoid-s9441" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9442" xml:space="preserve">Und dies gelingt gar prächtig.</s>
  <s xml:id="echoid-s9443" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9444" xml:space="preserve">Vor allem fühlen wir uns ſo leicht, daß wir uns eher <lb/>wie Vögel als wie Menſchen vorkommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9445" xml:space="preserve">Die Anziehungskraft <lb/>auf der Oberfläche des Mondes iſt ſechsmal ſchwächer als die <lb/>auf der Erdoberfläche. </s>
  <s xml:id="echoid-s9446" xml:space="preserve">Unſere Glieder können wir daher mit <lb/>einer Leichtigkeit heben, die uns wahrhaftig wie eine Fabel <lb/>vorkommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9447" xml:space="preserve">Wäre es nur möglich, hier Muſik zu machen <lb/>— ohne Luft giebt’s aber keine Muſik — ſo würden wir tanzen <lb/>und Sprünge machen, daß ſelbſt die geſchickteſte Ballet-Tänzerin <lb/>über dieſe unſere Poeſie der Beine den Kopf verlieren müßte. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9448" xml:space="preserve">Jeder von uns, der unten auf Erden mit einem Satz auf einen <lb/>Tiſch ſpringen könnte, ſpringt hier mit gleicher Anſtrengung <lb/>auf einen kleinen Hügel von 7 Meter Höhe. </s>
  <s xml:id="echoid-s9449" xml:space="preserve">Wenn wir unſere <lb/>Kinder herſchicken könnten, um zu turnen, ſo würden ſie mit <lb/>einer Schnelligkeit Rännten, um zu turnen, ſo würden ſie mit <lb/>anſehen könnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s9450" xml:space="preserve">Kopfſtehen iſt hier ein Privat-Vergnügen, <lb/>denn das Blut wird ſo wenig nach unten gezogen, daß man <lb/>erſt recht bei Sinnen iſt, wenn man die Beine zum Himmel <lb/>ſtreckt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9451" xml:space="preserve">Einen Nebenmenſchen in die Taſche ſtecken und mit <lb/>ihm davon laufen, iſt eine Kleinigkeit, denn er wiegt hier nur <lb/>ſo ſchwer, wie auf Erden zwanzig Pfund. </s>
  <s xml:id="echoid-s9452" xml:space="preserve">Berge beſteigen iſt <lb/>hier ein Spaß.</s>
  <s xml:id="echoid-s9453" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9454" xml:space="preserve">Was das Gehen betrifft, ſo müſſen wir leider ſagen, daß <lb/>unſere Beine viel zu kurz ſind, um recht ausholen zu könuen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9455" xml:space="preserve">
<pb o="69" file="0693" n="693"/>
Wir ſetzen mit Leichtigkeit über einen Abgrund, der ſieben <lb/>Meter breit iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9456" xml:space="preserve">Beim Laufen ſchweben wir faſt, und wären <lb/>hier nicht gar zu unmäßig hohe Gebirge, ſo könnten wir in <lb/>wenigen Tagen um den ganzen Mond herum rennen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9457" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9458" xml:space="preserve">Unter ſolchen Umſtänden könnte man ſich freilich einbilden, <lb/>daß es auf dem Monde ein wahrhaft himmliſches Leben gebe. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9459" xml:space="preserve">Sind die Glieder unſeres Leibes an ſechsmal leichter als auf <lb/>Erden, ſo folgt daraus, daß wir an einem Tage ſechsmal ſo <lb/>viel verrichten können als auf unſerem irdiſchen Wohnſitz und <lb/>deshalb auch wahrſcheinlich ſechsmal weniger Ruhe und Schlaf <lb/>bedürfen, um uns zu ſtärken. </s>
  <s xml:id="echoid-s9460" xml:space="preserve">Allein wie alles in der Welt <lb/>ſeine Schattenſeite hat, ſo iſt es auch hier der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s9461" xml:space="preserve">Was <lb/>hilft es uns, daß die Anziehung des Mondes uns ſechsmal <lb/>weniger ſchwer macht als die der Erde und darum unſere <lb/>Arbeitsfähigkeit um ſechsmal ſteigert, wenn der Tag auf dem <lb/>Monde volle zwei Wochen dauert, alſo die Zeit der Arbeit <lb/>vierzehnmal länger iſt als auf Erden!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9462" xml:space="preserve">Volle zwei Wochen?</s>
  <s xml:id="echoid-s9463" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9464" xml:space="preserve">Ja, volle zwei Wochen und ſogar noch achtzehn Stunden <lb/>drüber!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9465" xml:space="preserve">Der Mond nämlich, davon überzeugen wir uns hier voll-<lb/>kommen, dreht ſich nicht in vierundzwanzig Stunden um ſeine <lb/>Axe. </s>
  <s xml:id="echoid-s9466" xml:space="preserve">Wenn man will, kann man faſt ſagen, er mache gar <lb/>keine eigentliche Umdrehung. </s>
  <s xml:id="echoid-s9467" xml:space="preserve">Er läuft, wie man das längſt <lb/>weiß, in ungefähr einem Monat in einem großen Kreis um <lb/>die Erde, deren ſteter, treuer Begleiter er iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9468" xml:space="preserve">Bei dieſem Um-<lb/>lauf wendet der Mond immer und ewig nur die eine Kugel-<lb/>Hälfte zur Erde; </s>
  <s xml:id="echoid-s9469" xml:space="preserve">wie die andere Hälfte des Mondes ausſieht, <lb/>das hat noch kein Menſchenkind geſehen, und das werden wir <lb/>auch nie ſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9470" xml:space="preserve">Er gleicht jenen unterthänigſten Dienern <lb/>großer Herren, die dieſen ſtets das Geſicht zukehren und nie-<lb/>mals den Rücken zeigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9471" xml:space="preserve">Während die Erde ſich täglich um-<lb/>dreht, und deshalb vom Monde aus von allen Seiten beſehen
<pb o="70" file="0694" n="694"/>
werden kann, geht der Mond um die Erde, als ob er auf <lb/>einer Stange angeſpießt wäre, und läßt ſich von den Erd-<lb/>bewohnern ſtets nur von der einen Seite beſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9472" xml:space="preserve">Hier-<lb/>durch aber erwächſt ihm die große Unbequemlichkeit, daß er <lb/>ſeinen ganzen Umlauf um die Erde vollenden muß, um ſich <lb/>von der Sonne von allen Seiten beleuchten zn laſſen, und da <lb/>dies an 29 {1/2} Tag dauert, ſo iſt ein Tag und eine Nacht auf <lb/>dem Monde beiſammen ſo lang, wie 29 Tage und 29 Nächte <lb/>auf der Erde ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s9473" xml:space="preserve">— Und das iſt wirklich langweilig!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9474" xml:space="preserve">Einen Tag von 14 Tagen und 18 Stunden Länge ließe <lb/>man ſich noch gefallen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9475" xml:space="preserve">aber eine Nacht, die eben ſo lang iſt, <lb/>und auf einem Wohnſitz, wo es keine Maskenbälle, kein Theater, <lb/>keine Bierhalle, ja nicht einmal eine Nachtdroſchke giebt, da iſt <lb/>es nicht auszuhalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s9476" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9477" xml:space="preserve">Was fangen wir in ſolcher Nacht an? </s>
  <s xml:id="echoid-s9478" xml:space="preserve">Nun wir ſchwärmen! <lb/>Zwar nicht wie Verliebte im Mondſchein, denn wir ſind auf <lb/>dem Monde; </s>
  <s xml:id="echoid-s9479" xml:space="preserve">aber dafür im Erdſchein, und der iſt wahrhaftig <lb/>nicht übel.</s>
  <s xml:id="echoid-s9480" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9481" xml:space="preserve">Im Gegenteil, es iſt ein herrlicher, himmliſcher Anblick! <lb/>Wenn wir auf dem Monde Nacht haben, ſo ſtehen wir zwiſchen <lb/>Sonne und Erde, und ſehen dieſe, die Erde, aufs prachtvollſte <lb/>im Sonnenlicht glänzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9482" xml:space="preserve">Die Erdſcheibe iſt von hier geſehen <lb/>ſo groß, daß ſie an 14 mal größer erſcheint, als der Mond auf <lb/>Erden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9483" xml:space="preserve">Dabei dreht ſich dieſe Erde in einer Mondnacht 14 mal <lb/>in der Runde. </s>
  <s xml:id="echoid-s9484" xml:space="preserve">Wir ſehen ſie alſo von hier als ein mächtiges, <lb/>milde leuchtendes Geſtirn, das viel pompöſer ausſieht als die <lb/>Sonne. </s>
  <s xml:id="echoid-s9485" xml:space="preserve">Dies Geſtirn iſt ſo freundlich, unſere Nächte zu er-<lb/>hellen, und beim Umdrehen auch alle Abwechſelungen zu <lb/>bieten, die die Erdkugel in ihrer Verſchiedenheit an Land und <lb/>Waſſer zeigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9486" xml:space="preserve">Regt aber ſchon der Mondſchein zum Schwärmen <lb/>an, wie viel mehr muß das der Erdſchein thun, und darum <lb/>wollen wir ein klein wenig Schwärmerei betreiben.</s>
  <s xml:id="echoid-s9487" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="71" file="0695" n="695"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div241" type="section" level="1" n="200">
<head xml:id="echoid-head226" xml:space="preserve"><emph style="bf">VI. Etwas wiſſenſchaftliche Schwärmerei.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9488" xml:space="preserve">Unſere Schwärmerei ſoll nicht verliebter, ſondern ein wenig <lb/>wiſſenſchaftlicher Natur ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s9489" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9490" xml:space="preserve">Wenn die Menſchen ſtatt auf der Erde auf dem Monde <lb/>lebten, was würden dieſe für ſonderbare Begriffe von der Welt <lb/>bekommen haben?</s>
  <s xml:id="echoid-s9491" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9492" xml:space="preserve">Der Mond, das wiſſen wir Erdbewohuer, geht in einem <lb/>Kreiſe allmonatlich rings um die Erde; </s>
  <s xml:id="echoid-s9493" xml:space="preserve">würden die Menſchen <lb/>dies auch gewußt haben, wenn ſie Mondbewohner wären? </s>
  <s xml:id="echoid-s9494" xml:space="preserve">— <lb/>Es läßt ſich Tauſend gegen Eins wetten, daß dies nicht der <lb/>Fall wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s9495" xml:space="preserve">Auf dem Monde — das können wir verſichern — <lb/>verſpürt man nicht das mindeſte davon, daß die Mondkugel <lb/>auf Reiſen begriffen iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s9496" xml:space="preserve">im Gegenteil, wenn man den Mond <lb/>mit der ſich ſtets um ihre Axe drehenden Erde vergleicht, ſo <lb/>gerät man auf die natürliche Vermutung, daß der Mond ein <lb/>feſter, unbeweglicher Wohnſitz ſei, während alles andere in Be-<lb/>wegung iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9497" xml:space="preserve">Nichts ſcheint von hier aus natürlicher, als daß <lb/>die Erde es iſt, welche den Mond umkreiſt, daß die Erde ſo <lb/>zu ſagen nur geſchaffen iſt, um die Nächte des Mondes zu <lb/>beleuchten, ganz ſo wie manche Menſchen auf Erden ſich ein-<lb/>bilden, daß der Mond nur da ſei, um der Erde als Fackel-<lb/>träger zu dienen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9498" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9499" xml:space="preserve">Vom Mond aus erſcheint aber die Erde an vierzehnmal <lb/>größer als die Sonne. </s>
  <s xml:id="echoid-s9500" xml:space="preserve">Sicherlich würde eine Bibel, auf dem <lb/>Monde geſchrieben, die Erde das große und die Sonne das <lb/>kleine Geſtirn genannt haben, und ganz ohne Zweifel würden <lb/>die Religionsmacher auf dem Monde die Weisheit der Vor-<lb/>ſehung geprieſen haben, daß ſie das kleine Geſtirn, die Sonne, <lb/>ſtark leuchtend und wärmend, in beſcheidene Ferne hingeſtellt <lb/>hat, um den Mond zu bedienen, während das große Geſtirn, die <lb/>Erde, mit ihrem milden Lichte ſich der Nähe des Mondes erfreut,
<pb o="72" file="0696" n="696"/>
welcher, wie ſich’s von ſelbſt verſteht, der wichtigſte Punkt des <lb/>Weltalls ſein muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s9501" xml:space="preserve">— Würde nicht jeder verketzert, gepeinigt <lb/>und geſteinigt worden ſein, der fromme Thorheiten ſolcher Art <lb/>bei ihrem rechten Namen zu nennen wagte, und würde man es <lb/>nicht als die ſchändlichſte Bosheit ausgeſchrieen haben, wenn <lb/>jemand es unternehmen wollte zu beweiſen, daß die Erde viel <lb/>kleiner ſei als die Sonne, und der Mond noch kleiner als die <lb/>Erde, und keineswegs der Weltmittelpunkt ſei, für welchen er <lb/>ausgegeben wird?</s>
  <s xml:id="echoid-s9502" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9503" xml:space="preserve">Wenn wir dies bedenken, ſo ſcheint es uns recht gut, daß <lb/>hier auf dem Monde keine Menſchen zu entdecken ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s9504" xml:space="preserve">ihr <lb/>Wohnſitz wäre noch weniger geeignet, den menſchlichen Geiſt <lb/>über die Welt aufzuklären, und es iſt eine bekannte Erfahrung: <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9505" xml:space="preserve">je trüber die Einſicht der Menſchen über die Dinge in der <lb/>Natur iſt, deſto eingebildeter ſind ſie, deſto unverträglicher, <lb/>herrſchſüchtiger, abergläubiſcher, verketzernder und grauſamer.</s>
  <s xml:id="echoid-s9506" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9507" xml:space="preserve">Da man aber nicht wiſſen kann, ob nicht der Mond <lb/>— der wahrſcheinlich jünger iſt als die Erde — noch einmal <lb/>menſchenähnliche Weſen erhält oder früher gehabt hat, ſo <lb/>wollen wir uns wenigſtens die Freiheit nehmen zu betrachten, <lb/>was ſie von der Erde zu ſehen imſtande ſind, wenn ſie ſo <lb/>große Fernröhre beſitzen werden wie wir.</s>
  <s xml:id="echoid-s9508" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9509" xml:space="preserve">Richten wir daher einmal vom Mond aus ein Fernrohr <lb/>auf die Erde.</s>
  <s xml:id="echoid-s9510" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9511" xml:space="preserve">Man ſollte es gar nicht glauben, was doch die Lufthülle, <lb/>die um die Erde liegt, ſtörend iſt, wenn wir durch unſer <lb/>Fernrohr den Blick auf dieſe werfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9512" xml:space="preserve">Wir ſind wirklich ge-<lb/>nötigt, ganze Partien Wolken fortzuwiſchen, um nur einiger-<lb/>maßen hindurchſehen zu können. </s>
  <s xml:id="echoid-s9513" xml:space="preserve">Da aber die Luft ſich trotz <lb/>all unſerer hilfreichen Phantaſie fortwährend bewegt, ſo er-<lb/>blicken wir alle Punkte der Erde in einem fortwährenden <lb/>Schwanken und Schweben, ſo daß es ſich von hier aus an-<lb/>ſieht, als ob auf Erden ganze Weltteile Ballet-Tänze aufführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9514" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="73" file="0697" n="697"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9515" xml:space="preserve">Nach ſorgſamer Beobachtung gelingt es uns dennoch, bei <lb/>einer 1200 maligen Vergrößerung zu ſehen, daß Paris, London, <lb/>Wien, Berlin und Petersburg noch auf dem alten Flecke <lb/>ſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9516" xml:space="preserve">Auch Städte mittlerer Größe ſind zu erkennen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9517" xml:space="preserve">Einen <lb/>prachtvollen Anblick gewährt es uns, die Pole der Erde im <lb/>Winterſchnee, die Äquator-Gegenden in Sonnenglut leuchtend <lb/>zu finden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9518" xml:space="preserve">Wenn ſich die Erde dreht und Europa für uns <lb/>unſichtbar wird, ſo ſehen wir von hier aus das Feſtland <lb/>von Amerika vor uns. </s>
  <s xml:id="echoid-s9519" xml:space="preserve">New-York iſt nicht minder klar zu er-<lb/>kennen wie die größten Städte Europas. </s>
  <s xml:id="echoid-s9520" xml:space="preserve">Der Miſſiſſippi ſieht <lb/>ſich ganz prächtig an. </s>
  <s xml:id="echoid-s9521" xml:space="preserve">Die Erde dreht ſich weiter, und wir <lb/>erblicken auch Californien. </s>
  <s xml:id="echoid-s9522" xml:space="preserve">Dann beſehen wir uns ganz ſtill <lb/>den ſtillen Ozean, bis das Feſtland von Aſien ſichtbar wird, <lb/>dem die neueſte Welt Auſtralien wie “ein Tropfen am Eimer” <lb/>anhängt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9523" xml:space="preserve">Chiua, Indien und das ungeheuer große Rußland <lb/>fällt uns ins Auge. </s>
  <s xml:id="echoid-s9524" xml:space="preserve">Ein Seitenblick zeigt uns Afrika wieder, <lb/>das in ſeinen Wüſten viel Platz zu einer ſchönen Gegend hat, <lb/>bis wir endlich den Punkt auch vor uns ſehen, wo wir ab-<lb/>gereiſt ſind, und dies uns mahnt, daß wir uns ſputen müſſen, <lb/>um weiter in der Welt fortzukommen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9525" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9526" xml:space="preserve">Machen wir uns alſo fertig zur Weiterreiſe; </s>
  <s xml:id="echoid-s9527" xml:space="preserve">denn wir <lb/>gehen direkt zur Sonne, und das iſt ein ganz gewaltiges Stück <lb/>Weges.</s>
  <s xml:id="echoid-s9528" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div242" type="section" level="1" n="201">
<head xml:id="echoid-head227" xml:space="preserve"><emph style="bf">VII. Ein paar Reiſegedanken.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9529" xml:space="preserve">Friſchauf! Wir ſpannen unſeren Phantaſie-Telegraphen <lb/>wieder vor; </s>
  <s xml:id="echoid-s9530" xml:space="preserve">wir verlaſſen den Mond, an deſſen einſeitiger Be-<lb/>kanntſchaft wir nicht halb ſo viel gewonnen, als viele ſich vor-<lb/>geſtellt haben mögen, und nehmen von ihm nun eigentlich zwei <lb/>Rätſel mit, die unſer Nachdenken erregen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9531" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="74" file="0698" n="698"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9532" xml:space="preserve">Wir fahren zur Sonne hin, und auf dieſer langen Reiſe <lb/>ſoll uns ein wenig Nachdenken über dieſe zwei Mondrätſel die <lb/>Zeit vertreiben helfen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9533" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9534" xml:space="preserve">Warum hat der Mond keine Lufthülle, die, wie wir be-<lb/>ſtimmt wiſſen, andern Geſtirnen des Sonnenſyſtems nicht fehlt? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9535" xml:space="preserve">Weshalb wendet der Mond der Erde immer nur die eine Seite <lb/>zu und vermag ſich nicht eben ſo frei zu drehen, wie dies an-<lb/>dere Himmelskörper thun?</s>
  <s xml:id="echoid-s9536" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9537" xml:space="preserve">Die Gelehrten geben hierauf ſo gut wie gar keine Ant-<lb/>wort, und die Philoſophen, die für Alles eine Antwort bereit <lb/>haben, ſind ſelbſt für Phantaſie-Reiſende zu phantaſtiſch; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9538" xml:space="preserve">darum wollen wir uns ſelber helfen, ſo gut es geht, und in <lb/>einer Kürze, wie ſie ſolchen Schnellſeglern ziemt, eine Antwort <lb/>geben.</s>
  <s xml:id="echoid-s9539" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9540" xml:space="preserve">Die Anziehungskraft der Erde wirkt auf die ihr zugewen-<lb/>deten, nächſten Stellen des Mondes, welche der Erde an <lb/>234 Meilen näher ſind als der Mittelpunkt desſelben, ſo ſtark, <lb/>daß es einer beſonderen Kraft bedarf, um dieſe der Erde ein-<lb/>mal nahe Stelle von ihr zu entfernen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9541" xml:space="preserve">Wäre nun der Mond <lb/>eine vollkommen gleichmäßige Kugel, ſo würde dennoch die <lb/>leiſeſte Anregung hinreichen, ſie um die Axe zu drehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9542" xml:space="preserve">Denn <lb/>der Punkt des Mondes, der jetzt der Erde am nächſten iſt, <lb/>würde bei einer Störung ſeiner Stellung keineswegs wie ein <lb/>Pendel zur Erde zurückſchwingen, weil bei einer ganz gleich-<lb/>mäßigen Kugel ſofort ein anderer Punkt ganz dieſelbe An-<lb/>ziehungskraft erfahren würde, wenn er an die Stelle des <lb/>nächſten Punktes tritt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9543" xml:space="preserve">Da aber der Mond keine gleichmäßige <lb/>Kugel iſt, ſondern bedeutende Gebirge hat, ſo iſt die ſtärkere <lb/>Anziehungskraft der Erde auf den nächſten Punkt nicht in jeder <lb/>Stellung des Mondes gleich, und der Mond wird, ſelbſt wenn <lb/>er aus ſeiner Stellung für einen Moment geſtört wird, immer <lb/>wie ein Pendel in diejenige Lage zurückkehren, wo die An-<lb/>ziehung der Erde den größten Effekt ausübt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9544" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="75" file="0699" n="699"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9545" xml:space="preserve">Macht aber der Mond keine Umdrehung um ſeine Axe, <lb/>und gleicht er in dieſer Beziehung einer Kugel, welche, an das <lb/>Ende einer Stange aufgeſpießt, pendelartig in einem weiten Kreis <lb/>herumgeſchleudert wird, ſo läßt ſich leicht einſehen, daß der-<lb/>jenige Punkt, welcher der Erde am nächſten iſt, ſtets den kleinſten <lb/>Schwung beim Umlauf um die Erde hat, während der ent-<lb/>fernteſte Punkt die größte Schwungkraft erleidet. </s>
  <s xml:id="echoid-s9546" xml:space="preserve">In all ſolchen <lb/>Fällen aber hat — wie dies allbekannt iſt — jeder Punkt der <lb/>Kugel das Beſtreben, ſich vom Mittelpunkt des Kreiſes zu ent-<lb/>fernen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9547" xml:space="preserve">Die feſten Teile der Mondkugel können dies nun nicht, <lb/>während Luftarten und Flüſſigkeiten dieſem Beſtreben folgen <lb/>und ſomit mindeſtens jenſeits nach dem äußerſten Punkt des <lb/>Mondes hinfliehen müſſen, der von der Erde nicht geſehen <lb/>werden kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s9548" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9549" xml:space="preserve">Wollten wir nun unſerer Phantaſie die Zügel über das <lb/>Ziel wiſſenſchaftlicher Betrachtung hinaus ſchießen laſſen, ſo <lb/>wäre es uns ein leichtes, bei der Abfahrt zur Sonne uns die <lb/>Rückſeite des Mondes zu beſehen und unſern Leſern von der <lb/>Waſſer- und Luft-Flut, welche kegelartig wie ein Zuckerhut <lb/>dort aufgetürmt iſt, etwas vorzuphantaſieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s9550" xml:space="preserve">Da wir jedoch <lb/>unſere Phantaſie nicht überbieten wollen, ſo müſſen unſere <lb/>Leſer auch ihrem Wiſſensdurſt einen Zügel anlegen und ſich <lb/>mit einer flüchtigen Andeutung begnügen, wie wir ſie als flüch-<lb/>tige Reiſende hingeben.</s>
  <s xml:id="echoid-s9551" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9552" xml:space="preserve">Drum hinweg mit zu vielem Nachdenken! wir ſind auf der <lb/>Reiſe zur Sonne. </s>
  <s xml:id="echoid-s9553" xml:space="preserve">Schon liegen Mond und Erde hinter uns. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9554" xml:space="preserve">Die Erde wie ein Spielball, der Mond wie eine Erbſe, die <lb/>rings um den Spielball ſich im Kreiſe bewegt; </s>
  <s xml:id="echoid-s9555" xml:space="preserve">und beide in <lb/>Bewegung, um in einem großen Kreis von 120 Millionen <lb/>Meilen Umfang um die Sonne zu wandern. </s>
  <s xml:id="echoid-s9556" xml:space="preserve">Die Erde — das <lb/>können wir verſichern — greift ganz gehörig aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s9557" xml:space="preserve">Sie legt in <lb/>jeder Sekunde mehr als vier Meilen zurück, das heißt, ſie läuft <lb/>faſt zweitauſendmal ſchneller als eine Lokomotive. </s>
  <s xml:id="echoid-s9558" xml:space="preserve">Der Mond
<pb o="76" file="0700" n="700"/>
aber, der mitläuft, muß ſich noch mehr ſputen, denn er hat <lb/>außerdem während des Jahres mehr als zwölfmal um die Erde <lb/>zu laufen, wobei er freilich, wie wir dies hier recht gut merken <lb/>— ganz eigentümliche Bewegungen macht, die eigentlich Bogen-<lb/>ſprünge auf einem Kreiſe bilden, Bogenſprünge, welche es be-<lb/>wirken, daß der Mond auf der Bahn um die Sonne bald <lb/>hinter, bald vor der Erde ſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s9559" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9560" xml:space="preserve">Und ſo ſchnell dieſe Bewegungen ſind, ſo ſind ſie doch <lb/>viel zu langſam gegen die Geſchwindigkeit der Elektrizität und <lb/>des Lichtes. </s>
  <s xml:id="echoid-s9561" xml:space="preserve">Wenn man imſtande wäre, einen telegraphiſchen <lb/>Draht der Bahn der Erde entlang zu legen, ſo könnte man <lb/>die Ankunft der Erde auf jeder beliebigen Station voraus-<lb/>telegraphieren, wie man es mit den Eiſenbahn-Zügen macht. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9562" xml:space="preserve">Eine Depeſche würde nur etwa eine Stunde Zeit brauchen, um <lb/>den ganzen Kreis zu durchlaufen, zu dem die Erde ein Jahr <lb/>lang braucht, und da der Umlauf der Erde eigentlich die <lb/>Grundlage der Zeiteinteilung iſt, ſo würde eine ſolche Depeſche <lb/>der Zeit voraneilen und gewiſſermaßen der Ewigkeit ins Hand-<lb/>werk pfuſchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9563" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9564" xml:space="preserve">Doch, wo geraten wir hin? </s>
  <s xml:id="echoid-s9565" xml:space="preserve">Wir wollen nach der Sonne <lb/>und nicht ins trübe Meer der Philoſophie hineinfahren, und <lb/>darum ſehen wir hier lieber zu, ob uns auf dem Wege dahin <lb/>nichts Intereſſantes begegnet.</s>
  <s xml:id="echoid-s9566" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div243" type="section" level="1" n="202">
<head xml:id="echoid-head228" xml:space="preserve"><emph style="bf">VIII. Kleine Reiſe-Begegnungen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9567" xml:space="preserve">Schau! Da kommt uns der nächſte Nachbar-Planet in den <lb/>Lauf, der liebliche Morgen- und Abendſtern “Venus”, der der <lb/>Sonne um fünf Millionen Meilen — ein Katzenſprung im <lb/>Weltall — näher iſt als die Erde und ſich ſputen muß, um
<pb o="77" file="0701" n="701"/>
die Sonne herumzuſpazieren, weil es ihm ſchon die Rechnungen <lb/>des großen Newton vorgeſchrieben haben, daß er in 224 Tagen <lb/>ſeine Reiſe vollenden müſſe.</s>
  <s xml:id="echoid-s9568" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9569" xml:space="preserve">Kein Planet des Sonnenſyſtems iſt der Erde ähnlicher <lb/>als dieſer. </s>
  <s xml:id="echoid-s9570" xml:space="preserve">Seine Maſſe iſt faſt der der Erde gleich, ſeine <lb/>Kugelgeſtalt iſt der der Erde an Größe nahe. </s>
  <s xml:id="echoid-s9571" xml:space="preserve">Seine Ober-<lb/>fläche iſt von einer Lufthülle umgeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s9572" xml:space="preserve">Seine Umdrehung um <lb/>die Axe geſchieht in 23 Stunden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9573" xml:space="preserve">Auch Gebirge giebt es auf <lb/>dieſem Planeten, und ohue Zweifel Gewäſſer und Meere, und <lb/>wenn wir einen Spaziergang auf ſeiner Oberfläche verſuchten, <lb/>würden wir wahrnehmen, daß ſeine Anziehungskraft der Erde <lb/>faſt gleich iſt und ſomit weder eine weſentliche Erleichterung <lb/>noch eine Erſchwerung unſerer Bewegung zu Wege briugt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9574" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9575" xml:space="preserve">Sicherlich iſt dieſer Nachbar-Planet ein guter Duz-Bruder <lb/>der Erde, oder eine Duz-Schweſter, da man ihn mit weiblichem <lb/>Namen belegt, während die übrigen ordentlichen Planeten <lb/>Männernamen führen und nur die kleinen Herumtreiber zwiſchen <lb/>Mars und Jupiter die Ehre haben, daß man alle Weiber-<lb/>namen der griechiſchen Göttinnen ausbeutet, um ſie nicht un-<lb/>getauft und namenlos in der Welt herumlaufen zu laſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9576" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9577" xml:space="preserve">Nur in einem Punkte ſoll Venus eine kurioſe Marotte an <lb/>den Tag legen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9578" xml:space="preserve">ſie oder er — wir wiſſen nicht recht, wie man <lb/>einen Planeten mit einem Weibernamen tituliert — ſoll ſich, <lb/>wie einige Herren Aſtronomen geſehen haben wollen, um <lb/>eine Axe drehen, die äußerſt ſchief zu ihrer Bahn ſteht, ſo daß <lb/>Sommer und Winter auf Venus noch ſonderbarer abſtechen <lb/>müſſen als auf Erden.</s>
  <s xml:id="echoid-s9579" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9580" xml:space="preserve">Aber wenn Venus wirklich ein Frauenzimmer iſt, ſo müſſen <lb/>wir ihr ſchon einige Marotten verzeihen, zumal ſie ſtrahlend ſchön <lb/>iſt und an Lichtglanz alle andern Planeten übertrifft. </s>
  <s xml:id="echoid-s9581" xml:space="preserve">Wir <lb/>ſagen das nicht aus Schmeichelei, denn wir wollen aufrichtig <lb/>geſtehen, daß wir uns ihrer näheren Bekanntſchaft keineswegs <lb/>zu erfreuen haben, ſondern es iſt wirklich wahr. </s>
  <s xml:id="echoid-s9582" xml:space="preserve">Das Licht
<pb o="78" file="0702" n="702"/>
dieſes Planeten iſt blendend weiß, währeud Mars rot, Jupiter <lb/>gelb, Saturn blaßblau bleiern, und das Licht des Uranus und <lb/>Neptun ſo zu ſagen gar keinen Charakter hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s9583" xml:space="preserve">Das Licht der <lb/>Venus iſt ſo leuchtend, daß wir uns hier, wo wir ihr immer <lb/>näher und näher kommen, gar nicht wundern, wenn die Aſtro-<lb/>nomen, die mit ſtarken Vergrößerungen zu ihr aufblicken, ge-<lb/>blendet das Auge <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0702-01a" xlink:href="fig-0702-01"/>
ſchließen müſſen, wie <lb/>denn der Aſtronom <lb/>Mädler wirklich ſei-<lb/>nem Augenlicht außer-<lb/>ordentlich geſchadet <lb/>hat, als er einige <lb/>Jahre die Hörner der <lb/>Venus unterſuchte.</s>
  <s xml:id="echoid-s9584" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div243" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0702-01" xlink:href="fig-0702-01a">
<caption xml:id="echoid-caption47" xml:space="preserve">Fig. 22. <lb/>Die “Hörner” der Venus.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9585" xml:space="preserve">Wie? </s>
  <s xml:id="echoid-s9586" xml:space="preserve">Venus hat <lb/>Hörner? </s>
  <s xml:id="echoid-s9587" xml:space="preserve">Iſt dieſer <lb/>Duzbruder der Erde <lb/>gar ein Untier?</s>
  <s xml:id="echoid-s9588" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9589" xml:space="preserve">Keineswegs, aber <lb/>Hörner hat ſie oder <lb/>er. </s>
  <s xml:id="echoid-s9590" xml:space="preserve">Der Planet er-<lb/>ſcheint nämlich, wenn <lb/>er ungefähr zwiſchen <lb/>Erde und Sonne ſteht, ganz wie der Neumond als Sichel, <lb/>weil wir dann nur einen kleinen Teil der Kugel erleuchtet <lb/>ſehen (ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s9591" xml:space="preserve">Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s9592" xml:space="preserve">22); </s>
  <s xml:id="echoid-s9593" xml:space="preserve">und die Spitzen dieſer Sichel nennen die <lb/>Aſtronomen ſehr ungalant “Hörner” und beobachten dieſe <lb/>fleißig, um aus den Veränderungen derſelben, welche von <lb/>Gebirgsgegenden auf Venus herrühren, die Umdrehungszeit <lb/>dieſes Planeten um ſeine Axe kennen zu lernen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9594" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="79" file="0703" n="703"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div245" type="section" level="1" n="203">
<head xml:id="echoid-head229" xml:space="preserve"><emph style="bf">IX. Weitere Reiſe-Abenteuer.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9595" xml:space="preserve">Doch wir müſſen noch in zwei andern Punkten dem Pla-<lb/>neten Venus zugeſtehen, daß er die Erde übertrifft, obgleich <lb/>dies nicht ſein Verdienſt, ſondern von ſeiner nähern Stellung <lb/>zur Sonne abhängig iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9596" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9597" xml:space="preserve">Beleuchtung und Heizung, die man bekanntlich in jeder <lb/>Wirtſchaft nicht wenig in Auſpruch nimmt, ſind im Haushalt <lb/>des Sonnenſyſtems in ganz eigner Weiſe verteilt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9598" xml:space="preserve">Die Sonne <lb/>beleuchtet und heizt die Oberfläche eines Planeten viermal <lb/>ſtärker als einen audern, der noch einmal ſo weit entfernt von <lb/>ihr iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9599" xml:space="preserve">Iſt ein Planet dreimal entfernter von der Sonne als <lb/>ein anderer, ſo wird der dreimal entferntere neuumal (drei-<lb/>mal drei) ſchwächer geheizt und beleuchtet. </s>
  <s xml:id="echoid-s9600" xml:space="preserve">Das geht — wie <lb/>man ganz genau berechnen kann — ſo fort und iſt ſo wahr <lb/>wie das Einmaleins, das bekanntlich die unbeſtreitbarſte Wahr-<lb/>heit iſt, die man der Welt ohne Furcht vor Mißliebigkeit <lb/>lehren darf. </s>
  <s xml:id="echoid-s9601" xml:space="preserve">Da nun Venus nur 15 Millionen Meilen von <lb/>der Sonne entfernt iſt, ſo läßt es ſich kinderleicht ausrechnen, <lb/>daß es zweimal ſo hell und zweimal ſo heiß auf Venus iſt <lb/>als auf der Erde, deren Entfernung 20 Millionen Meilen <lb/>beträgt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9602" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9603" xml:space="preserve">Wer nun Luſt hat, einen kleinen Abſtecher auf den Planeten <lb/>Venus zu machen, der muß auf eine Beleuchtung gefaßt ſein, <lb/>wie ſie bei uns wäre, wenn zwei Sonnen gleichzeitig am <lb/>Himmel ſtänden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9604" xml:space="preserve">Bei klarem Sonnenſchein ſind wir ſchon auf <lb/>Erden genötigt, die Augen halb zu ſchließen, wenn wir auf <lb/>freier Straße ſind; </s>
  <s xml:id="echoid-s9605" xml:space="preserve">wie es uns ergehen würde, wenn ein dop-<lb/>pelt ſo ſtarkes Licht herrſchte, davon haben wir wirklich keinen <lb/>rechten Begriff. </s>
  <s xml:id="echoid-s9606" xml:space="preserve">Bedenken wir aber gar, daß die Blutwärme <lb/>des Menſchen ungefähr der Wärme gleich iſt, die in heißen <lb/>Erdgegenden herrſcht, und entnehmen wir hieraus als wahr-
<pb o="80" file="0704" n="704"/>
ſcheinlich, daß die Bewohner des Planeten Venus eine doppelte <lb/>Blutwärme haben könnten, die in heißen Venus-Gegenden vor-<lb/>handen iſt, ſo müſſen wir im voraus ſagen, daß hiernach das <lb/>Blut der Venus-Geſchöpfe an ſechzig Grad betragen werde, <lb/>und wir ihnen gegenüber ſo kalt erſcheinen würden, wie etwa <lb/>Fröſche und Schlangen im Vergleich mit uns.</s>
  <s xml:id="echoid-s9607" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9608" xml:space="preserve">So gern wir nun in unſerer Phantaſie-Reiſe auf Venus <lb/>Station machen möchten, ſo offen geſtehen wir, daß uns bei <lb/>der letzten Möglichkeit der Appetit danach vergeht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9609" xml:space="preserve">So ähn-<lb/>lich in aſtronomiſchen Beziehungen auch Venus der Erde iſt, <lb/>ſo ganz entſchieden anders werden die darauf wohnenden <lb/>Weſen ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s9610" xml:space="preserve">Für ein doppelt ſo ſtarkes Licht und eine doppelt <lb/>ſo große Portion Wärme geſchaffen, würden ſie ſicherlich ſehr <lb/>leicht in Hitze geraten, wenn ſie uns kalte Eindringlinge ge-<lb/>wahren, und erwägen wir gar, daß die Erde einſtmals, als ſie <lb/>noch wärmer war, Fröſche von der Größe unſerer jetzigen Kälber, <lb/>Eidechſen von der Größe unſerer Ochſen, Fiſche mit ſo langen <lb/>Hälſen, daß ſie Vögel in der Luft fingen, und friedliche <lb/>Grasfreſſer zur Welt brachte, bei denen ein jeder Zahn ſo <lb/>groß und breit war, wie bei uns jetzt ein Fünfgroſchen-Brot, <lb/>— erwägen wir dies Alles, ſo iſt es unſerer Phantaſie zu <lb/>viel zugemutet, wenn wir aus bloßer Wißbegierde uns dort <lb/>niederlaſſen ſollten.</s>
  <s xml:id="echoid-s9611" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9612" xml:space="preserve">Freuen wir uns alſo, vorerſt Venus von geriuger Ferne <lb/>her begrüßen zu können; </s>
  <s xml:id="echoid-s9613" xml:space="preserve">denn dieſer Planet ſieht herrlich aus. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9614" xml:space="preserve">Wir ſind eine kleine Strecke, circa 100 000 Meilen, von ihm <lb/>ab, und er erſcheint uns ſchon an ſiebenmal ſo groß wie die <lb/>Mondkugel auf Erden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9615" xml:space="preserve">Er leuchtet ſo ſtark, daß wir ihn ſelbſt <lb/>beim hellſten Sonnenlicht mit vollſter Klarheit betrachten <lb/>können; </s>
  <s xml:id="echoid-s9616" xml:space="preserve">was unſere Leſer uns glauben dürfen, da wir ihnen <lb/>verſichern können, daß man mit gutem Auge auch von der <lb/>Erde aus Venus am Tage ſehen kann, wenn ſie ſich in gün-<lb/>ſtiger Stellung zur Erde befindet.</s>
  <s xml:id="echoid-s9617" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="81" file="0705" n="705"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9618" xml:space="preserve">Manchmal aber, wenn Venus genau zwiſchen Sonne und <lb/>Erde ſteht, ſieht man Venus am Tage auch mitten in der <lb/>Sonnenſcheibe. </s>
  <s xml:id="echoid-s9619" xml:space="preserve">Da haben bereits unſere Aſtronomen am <lb/>9. </s>
  <s xml:id="echoid-s9620" xml:space="preserve">Dezember 1874 den Planeten Venus als ſchwarze Kugel <lb/>durch die Sonnenſcheibe wandern ſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9621" xml:space="preserve">Wer damals dieſes <lb/>Schauſpiel verſäumt hatte, der mußte warten bis zum <lb/>6. </s>
  <s xml:id="echoid-s9622" xml:space="preserve">Dezember 1882, wo dasſelbe Stück nochmals gegeben wurde. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9623" xml:space="preserve">Wer auch dieſen Termin unbenutzt vorüber gehen ließ, der <lb/>hat’s verſpielt, es ſei denn, daß er bis zum Jahre 2004, alſo <lb/>noch über 100 Jahre lebt, wo er am 8. </s>
  <s xml:id="echoid-s9624" xml:space="preserve">Juni das Verguügen <lb/>haben kann, mit unſern Ur-Eukeln das ſeltene Schauſpiel zu <lb/>genießen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9625" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9626" xml:space="preserve">Und ſo ſenden wir denn dieſem Liebesſtern unſern lieben <lb/>Gruß, und wollen nur ſagen, daß die Herren Aſtronomen <lb/>Fontana, Caſſini und Short, die im vorigen Jahrhundert <lb/>einen Mond um Venus herumlaufend geſehen haben wollen, <lb/>im Irrtum geweſen ſind, obgleich Friedrich der Große ſo feſt <lb/>an die Exiſtenz dieſes Mondes glaubte, daß er ihn zu Ehren <lb/>ſeines gelehrten Freundes, des Aſtronomen d’Alembert, mit <lb/>dem Namen desſelben benannt wiſſen wollte.</s>
  <s xml:id="echoid-s9627" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9628" xml:space="preserve">Wir fahren auf und davon, und immer weiter und weiter <lb/>der Sonne entgegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9629" xml:space="preserve">Die Flammenkugel wird immer größer, <lb/>immer leuchtender und blendender. </s>
  <s xml:id="echoid-s9630" xml:space="preserve">Aber noch ein kleines Be-<lb/>gebuis haben wir zu ſchildern, denn in der Nähe der Sonne, <lb/>nur 7 {1/2} Millionen Meilen von ihr entfernt, fliegt ein Planet <lb/>Merkur in einem Kreiſe um dieſelbe. </s>
  <s xml:id="echoid-s9631" xml:space="preserve">Er iſt der kleinſte der <lb/>großen Planeten und nicht viel größer als unſer Mond. </s>
  <s xml:id="echoid-s9632" xml:space="preserve">Er <lb/>iſt ſo verſteckt und verdeckt von der Nähe der Sonne, daß der <lb/>große Kopernicus noch auf dem Totenbette ſein Bedauern aus-<lb/>ſprach, ihu nie geſehen zu haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s9633" xml:space="preserve">Sein Gang um die Sonne <lb/>iſt wegen der Nähe und Anziehung derſelben ſehr raſch; </s>
  <s xml:id="echoid-s9634" xml:space="preserve">er <lb/>geht an 6 {1/2} Meile in der Sekunde, weshalb er denn in 88 Tagen <lb/>ſchon die Reiſe um die Sonne vollendet hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s9635" xml:space="preserve">Auch er hat</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9636" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s9637" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s9638" xml:space="preserve">Volksbücher XVI.</s>
  <s xml:id="echoid-s9639" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="82" file="0706" n="706"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9640" xml:space="preserve">offenbar eine Lufthülle um ſich; </s>
  <s xml:id="echoid-s9641" xml:space="preserve">aber ein Beſuch auf dem-<lb/>ſelben iſt keineswegs einladend, denn es iſt dort ſiebenmal <lb/>heller und ſiebenmal heißer als bei uns; </s>
  <s xml:id="echoid-s9642" xml:space="preserve">und das iſt keine <lb/>Kleinigkeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s9643" xml:space="preserve">Bei einem Spaziergang im Sonnenſchein würden <lb/>wir eine Hitze von 200 Grad zu ertragen haben, eine Hitze, <lb/>bei welcher uns die Blei- und Zinn-Knöpfe von den Bein-<lb/>kleidern ſchmelzen würden, was gewiß nicht angenehm iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9644" xml:space="preserve">Leben da Menſchen, ſo müſſen ſie aus Kalk oder Kieſel gebaut <lb/>ſein, uud wir haben ein weichherziges Entgegenkommen der-<lb/>ſelben ſchwerlich zu gewärtigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9645" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div246" type="section" level="1" n="204">
<head xml:id="echoid-head230" xml:space="preserve"><emph style="bf">X. Die Oberfläche der Sonne.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9646" xml:space="preserve">Wir nähern uns jetzt unſerm vorläufigen Reiſeziel, der <lb/>Sonne, welche in einer Größe und einem ſtrahlenden Lichte <lb/>vor uns prangt, die die Phantaſie aller Phantaſie-Reiſenden <lb/>überſteigt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9647" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9648" xml:space="preserve">Von der Entfernung aus, in welcher Merkur um die Sonne <lb/>wandert, erſcheint dieſes mächtige Geſtirn ſchon in einer ſieben-<lb/>mal größern Oberfläche als Sonne und Mond auf Erden; </s>
  <s xml:id="echoid-s9649" xml:space="preserve">da <lb/>wir uns jedoch der Sonne immer mehr nähern, und nur einige <lb/>Millionen Meilen zu durcheilen haben, um auf ihrer Ober-<lb/>fläche anzulangen, ſo dehnt ſich die Sonnenkugel immer <lb/>mächtiger aus und läßt uns ein Schauſpiel. </s>
  <s xml:id="echoid-s9650" xml:space="preserve">auf ihrem Rund <lb/>wahrnehmen, von dem man auf Erden erſt durch die ſorg-<lb/>fältigſten, unermüdlichſten Beobachtungen der Aſtronomen <lb/>Kunde erhalten hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s9651" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9652" xml:space="preserve">Die eigentliche Maſſe der Sonne ſcheint aus einer un-<lb/>geheuren, lichten, luftartigen Kugel zu beſtehen, deren An-<lb/>ziehungskraft ſämtliche Planeten und Kometen des Sonnen-
<pb o="83" file="0707" n="707"/>
ſyſtems zwingt, ihre Umläufe um dieſen Haupt-Himmelskörper <lb/>zu machen, und welche in noch nicht erklärter Weiſe Licht <lb/>und Wärme in ſich erzeugt und leuchtend und wärmend weit <lb/>hinaus in den unendlichen Raum wirkt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9653" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9654" xml:space="preserve">Wunderbar iſt die fortwährende, wallende Bewegung, <lb/>welche wir auf ihrer Oberfläche beobachten können. </s>
  <s xml:id="echoid-s9655" xml:space="preserve">Sie, die <lb/>von der Erde aus geſehen, ganz glatt erſcheint, zeigt ſich uns <lb/>bei näherer Betrachtung riſſig oder brüchig, von dunklen <lb/>Punkten und feinen Linien durchzogen, die wie Schlacken auf <lb/>geſchmolzenem Metall herumſchwimmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9656" xml:space="preserve">Es entſtehen und <lb/>vergehen dieſe Punkte und Linien, als ob ſie von der Tiefe <lb/>nach der Oberfläche ſtrömten, auf dieſer auftauchten, um nach <lb/>kurzer Zeit wieder von neuem verdrängt zu werden und unter-<lb/>zutauchen in die tiefere Schicht des Sonnenkörpers. </s>
  <s xml:id="echoid-s9657" xml:space="preserve">Es deutet <lb/>dies auf ein Auf- und Niederſtrömen hin, in welchem die <lb/>Sonnenatmoſphäre ſtets begriffen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9658" xml:space="preserve">Und ſtellen wir uns vor, <lb/>daß in der Tiefe ein höherer Grad der Wärme herrſcht, und <lb/>folglich luftartige Maſſen, welche durch die höhere Erwärmung <lb/>leichter werden, aufwärts ſteigen, ſo iſt es denkbar, daß dieſe <lb/>Maſſen an der Oberfläche, wo ſie Wärme ausſtrahlen, <lb/>wiederum kälter und alſo auch ſchwerer werden, und nachdem <lb/>ſie ſich zuſammengezogen und ſichtbar geworden, in die Tiefe <lb/>niedertauchen, um leichtere und wärmere Maſſen aufſteigen zu <lb/>laſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9659" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9660" xml:space="preserve">Außer dieſem Auf- und Niederwallen von der Tiefe zur <lb/>Höhe und der Höhe zur Tiefe zeigt die ganze Sonne eine <lb/>regelmäßige Umdrehung um eine Axe, eine Umdrehung, die <lb/>immer erſt in 25 Tagen und 6 Stunden vollendet iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9661" xml:space="preserve">Dieſe <lb/>Umdrehung iſt an ganz eigentümlichen, großen Flecken erkenn-<lb/>bar, welche auf der Oberfläche entſtehen und vergehen, Flecken, <lb/>die ſo groß ſind, daß man ſie zuweilen mit einem guten <lb/>Taſchenfernrohr von der Erde aus ſehen kann, ſobald man <lb/>die Sonne durch den Nebel des Abend- oder Morgenhimmels
<pb o="84" file="0708" n="708"/>
ohne Blendung beobachten kann, oder wenn man die blendenden <lb/>Sonnenſtrahlen durch ein ſchwarzes Glas oder ſonſt ein <lb/>anderes Mittel unſchädlich für das Auge gemacht hat (ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s9662" xml:space="preserve">Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s9663" xml:space="preserve">23).</s>
  <s xml:id="echoid-s9664" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9665" xml:space="preserve">Aber die Flecken ſind keine vereinzelt auftretende Er-<lb/>ſcheinung, ſondern ſie ſtehen mit anderen Erſcheinungen in <lb/>Zuſammenhang, welche ſich auf der Sonnenoberfläche zeigen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9666" xml:space="preserve">Wir beobachten nämlich in der Umgebung dieſer Flecken <lb/>ſtellenweis ein ſtärkeres <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0708-01a" xlink:href="fig-0708-01"/>
Leuchten der Hülle, und <lb/>ein Hervortreten von <lb/>beſonders lichten Stellen, <lb/>welche man Sonnen-<lb/>Fackeln genannt hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s9667" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div246" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0708-01" xlink:href="fig-0708-01a">
<caption xml:id="echoid-caption48" xml:space="preserve"><emph style="bf">Fig. 23.</emph> <lb/>Ein Sonnenfleck.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9668" xml:space="preserve">Was ſind dieſe <lb/>Flecken? </s>
  <s xml:id="echoid-s9669" xml:space="preserve">woher rühren <lb/>ſie?</s>
  <s xml:id="echoid-s9670" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9671" xml:space="preserve">Auf dieſe Fragen <lb/>wiſſen wir auch hier in <lb/>der Nähe der Sonne <lb/>nichts Beſſeres zu ant-<lb/>worten als die beob-<lb/>achtenden Aſtronomen <lb/>unten auf Erden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9672" xml:space="preserve">Die <lb/>Flecken ſind nichts an-<lb/>deres, als jene bereits <lb/>erwähnten, dunklen Streifen und Punkte, Teile der glühenden <lb/>Sonne, welche an der Oberfläche erkaltet, dichter geworden ſind <lb/>und ihre leuchtende Kraft verloren haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s9673" xml:space="preserve">Am paſſendſten ſind <lb/>ſie mit unſern Wolken zu vergleichen, welche ſich gleichfalls <lb/>hoch in luftiger Umgebung durch Abkühlung aus dem Luftmeere <lb/>bilden.</s>
  <s xml:id="echoid-s9674" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9675" xml:space="preserve">Auch in der glühenden Sonnenatmoſphäre entſtehen ſolche <lb/>Verdichtungen, die kälter und feſter als ihre Umgebung, Licht
<pb o="85" file="0709" n="709"/>
und Wärme der Sonne nicht durchtreten laſſen, und deshalb <lb/>als ſchwarze Flecken auf dem lichten Sonnenkörper erſcheinen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9676" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9677" xml:space="preserve">Die Schwungkraft der Umdrehung, die am Äquator größer <lb/>ſein muß als an den Polen, und die ungleichmäßige Ab-<lb/>kühlung veranlaßt auf der Sonne ähnliche Strömungen, wie <lb/>unſere Winde, und dieſe Winde jagen, zerteilen und ſammeln <lb/>die Sonnenwolken in gleicher Weiſe, wie ſie auf unſerer kleinen <lb/>Erde mit unſeren Waſſerwolken ihr Spiel treiben.</s>
  <s xml:id="echoid-s9678" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9679" xml:space="preserve">Doch wir dürfen uns hierbei nicht aufhalten, und müſſen <lb/>uns einen Ort ſuchen, von dem aus wir dieſem glühenden <lb/>Meer uns nähern können.</s>
  <s xml:id="echoid-s9680" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div248" type="section" level="1" n="205">
<head xml:id="echoid-head231" xml:space="preserve"><emph style="bf">XI. Wir ſuchen uns ein Abſteige-Quartier.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9681" xml:space="preserve">Ohne Zweifel wäre eine ſolche Sonnenwolke die aller-<lb/>ſchönſte Gelegenheit, uns auf der Sonne niederzulaſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9682" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9683" xml:space="preserve">An Platz würde es uns da durchaus nicht fehlen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9684" xml:space="preserve">Schon <lb/>im vorigen Jahrhundert wurde ein Sonnenfleck beobachtet, der <lb/>fünfmal größer war als die Erde. </s>
  <s xml:id="echoid-s9685" xml:space="preserve">Der berühmte Aſtronom <lb/>Herſchel (der Vater) ſah ſogar einen Sonnenfleck, der fünfzehn-<lb/>mal größer als die Erde war. </s>
  <s xml:id="echoid-s9686" xml:space="preserve">Aus den ſorgfältigen Beob-<lb/>achtungen des Aſtronomen Schwabe in Deſſau ging hervor, <lb/>daß die Wolken in der Atmoſphäre der Soune von der Größe <lb/>Europas zu den gewöhnlichſten Erſcheinungen gehören; </s>
  <s xml:id="echoid-s9687" xml:space="preserve">und <lb/>wenn es auch richtig iſt, daß dieſe Wolken zuweilen in kleine <lb/>Teile zerriſſen werden, ſo iſt doch nicht der mindeſte Zweifel <lb/>vorhanden, daß auf dem kleinſten Sonnenfleck jedes kleine <lb/>deutſche Vaterländchen aufs allerbequemſte Platz fände, und <lb/>es keiner Steuerkunſt ſeiner großen Diplomaten bedürfte, um <lb/>das Gleichgewicht zu erhalten.</s>
  <s xml:id="echoid-s9688" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="86" file="0710" n="710"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9689" xml:space="preserve">Gleichwohl hat das Niederlaſſen ſein Bedenkliches, und <lb/>wir hoffen, nicht für zaghaft verſchrieen zu werden, wenn wir <lb/>uns von ſolchem etwas fern halten.</s>
  <s xml:id="echoid-s9690" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9691" xml:space="preserve">Vor allem muß man wiſſen, daß ſelbſt die Mitte eines <lb/>Sonnenfleckes, wo er freilich weit dunkler iſt als am Rand, <lb/>immer noch ſtark leuchtet. </s>
  <s xml:id="echoid-s9692" xml:space="preserve">Im Vergleich zur Oberfläche der <lb/>Sonne, die blendende Strahlen ausſendet, erſcheint der Mittel-<lb/>punkt eines Sonnenfleckes freilich pechſchwarz; </s>
  <s xml:id="echoid-s9693" xml:space="preserve">aber ſo oft der <lb/>Planet Merkur vor der Sonnenſcheibe vorüberzieht und als <lb/>ſchwarzer Fleck auf derſelben erſcheint (und dies geſchieht in <lb/>einem Jahrhundert an die zwanzig Mal), ſo oft der Planet <lb/>Merkur alſo vor der Sonnenſcheibe als wirklich ſchwarzer <lb/>Fleck vorüberzieht, und zuweilen auch vor dem Kern eines <lb/>Sonnenfleckes ſteht, ſo bemerkt man, daß der Kern keineswegs <lb/>pechſchwarz, ſondern noch ſehr lichtſtark iſt, woraus folgt, daß <lb/>die Wolke noch ſo ungemein viel Wärme beſitzt, daß ein <lb/>Aufenthalt auf derſelben höchſt bedenklich erſcheint.</s>
  <s xml:id="echoid-s9694" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9695" xml:space="preserve">Sollten wir aber auch Mut faſſen, um dieſes Hindernis <lb/>zu überwinden, ſo wird man uns dennoch geſtatten müſſen, <lb/>daß wir uns erſt überlegen, welche Rolle wir auf der Sonne <lb/>ſpielen wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9696" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9697" xml:space="preserve">Sie kommt uns, aufrichtig geſtanden, ein wenig jammer-<lb/>voll vor.</s>
  <s xml:id="echoid-s9698" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9699" xml:space="preserve">Die Anziehungskraft der Sonne im Ganzen iſt 320000mal <lb/>ſtärker als die der Erde. </s>
  <s xml:id="echoid-s9700" xml:space="preserve">Mit welchem Ruck wir alſo auf der <lb/>Sonne anprallen würden, iſt für unſere Begriffe kaum faßbar. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9701" xml:space="preserve">Dieſer Ruck wird noch ſtärker ſein müſſen, wenn wir von <lb/>der Sonnenkugel die ſehr dicke Atmoſphäre abrechnen, und <lb/>den Kern der Sonne demnach noch maſſiger und dichter an-<lb/>nehmen müſſen, als es gewöhnlich geſchieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9702" xml:space="preserve">Auf der Ober-<lb/>fläche der Sonne fallen die Dinge in einer Sekunde mindeſtens <lb/>140 Meter und ſind auch mindeſtens an 30mal ſchwerer als <lb/>auf der Erde. </s>
  <s xml:id="echoid-s9703" xml:space="preserve">Würden wir nun auch mit ganzen Gliedern
<pb o="87" file="0711" n="711"/>
bis auf die Oberfläche der Sonne gelangen — was wir keines-<lb/>wegs beſchwören möchten — ſo iſt es doch ausgemacht, daß <lb/>jeder von uns ſich dreißigmal ſchwerer fühlen muß als auf <lb/>Erden, und das iſt — milde geſagt — ein bißchen zu viel für <lb/>unſere Phantaſie.</s>
  <s xml:id="echoid-s9704" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9705" xml:space="preserve">Selbſt ein Phantaſie-Reiſender wiegt mindeſtens einen <lb/>Zentner, und unſer Körper wird auf der Sonne ſo ſchwer <lb/>werden, als ob neunundzwanzig Zentner auf uns lägen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9706" xml:space="preserve">Schlagen wir das Gewicht unſeres Kopfes auch ganz gering <lb/>auf fünf Pfund an, ſo würde uns dort der Kopf wirklich <lb/>zentnerſchwer werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9707" xml:space="preserve">Das Herz, das etwa 400 Gramm <lb/>wiegt, würde auf der Sonne wie ein Stein von 10 Kilo ins <lb/>Gewicht fallen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9708" xml:space="preserve">Iſt es demnach ausgemacht, daß wir nur mit <lb/>ſehr ſchwerem Kopfe und außerordentlich ſchwerem Herzen dort <lb/>eine Luſtpartie unternehmen könnten, ſo iſt es doch wahr-<lb/>ſcheinlicher, daß wir uns dort platt auf den Boden hinlegen <lb/>müßten, und warten, ob wir auch Kräfte genug bekommen, <lb/>um auch nur ein einziges unſerer ſchwerer gewordenen Glieder <lb/>zu bewegen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9709" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9710" xml:space="preserve">Wir machen deshalb in einiger Entfernung von der Sonne <lb/>Halt, und werfen ungefähr 32 000 deutſche Meilen von ihr <lb/>entfernt Anker, und zwar an einer ſehr berühmten Stelle, an <lb/>der Stelle, wo der große Komet im Jahre 1680 der Sonne <lb/>am nächſten ſtand, und dann in einer merkwürdigen Wurflinie <lb/>wieder davon abging, um, wie der große Aſtronom Encke be-<lb/>rechnet hat, nach circa 8000 Jahren wieder zu kommen, <lb/>wieder die Sonne anzugucken oder ſich von ihr durchſcheinen <lb/>oder durchwärmen zu laſſen und dann wieder auf und davon <lb/>zu rennen, und zwar auf neue 8000 Jahre.</s>
  <s xml:id="echoid-s9711" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9712" xml:space="preserve">Hier machen wir Halt, und es ahnt uns ſo, daß wir auf <lb/>unſerer Reiſe noch irgend einem Kometen begegnen werden, <lb/>um ihm einen Gruß an den großen Herumtreiber von 1680 <lb/>aufzutragen, deſſen Landungsplatz wir inne haben, und auf dem
<pb o="88" file="0712" n="712"/>
wir’s uns gemütlich machen müſſen, da wir ſo manch In-<lb/>tereſſantes zu betrachten haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s9713" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div249" type="section" level="1" n="206">
<head xml:id="echoid-head232" xml:space="preserve"><emph style="bf">XII. Die Größe der Sonne.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9714" xml:space="preserve">Hier von unſerem berühmten Ruheplätzchen aus ſehen wir’s <lb/>ſo recht, wie groß die Sonne iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9715" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9716" xml:space="preserve">Wie groß iſt ſie denn?</s>
  <s xml:id="echoid-s9717" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9718" xml:space="preserve">Sie erſcheint uns hier ſo groß, daß ſie uns faſt die <lb/>Hälfte des Himmels verdeckt; </s>
  <s xml:id="echoid-s9719" xml:space="preserve">allein das will nicht viel ſagen, <lb/>denn wenn wir uns einen Groſchen dicht vors Auge halten, <lb/>verdeckt er uns auch faſt den ganzen Himmel. </s>
  <s xml:id="echoid-s9720" xml:space="preserve">Die ſcheinbare <lb/>Größe alſo vermag uns über die wirkliche Größe ſehr zu <lb/>täuſchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9721" xml:space="preserve">Wir wollen von der wirklichen Größe der Sonne <lb/>ſprechen, und zwar von der Größe der ganzen Kugel ſamt <lb/>ihrer Atmoſphäre, da wir die Dicke dieſer Hülle — aufrichtig ge-<lb/>ſtanden — nicht gut anzugeben wiſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9722" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9723" xml:space="preserve">Wollten wir der Sonne einen Spieß in den Bauch ſtecken, <lb/>der durch den Mittelpunkt der Kugel geht und auf der andern <lb/>Seite herauskommt, ſo würden wir, wenn wir uns einen <lb/>kleinen Kerb an jede Seite des Spießes machten, wo er aus <lb/>der Sonne hervorragt, ein ganz genaues Maß von der Dicke <lb/>der Sonne, oder was man ſo ſagt, von dem “Durchmeſſer” <lb/>der Sonne haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s9724" xml:space="preserve">— Und thun wir das, ſo ſehen wir, daß <lb/>die Aſtronomen ganz richtig gerechnet haben, denn der Durchmeſſer <lb/>iſt 185 200 Meilen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9725" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9726" xml:space="preserve">Wie viel ſind aber 185 200 Meilen?</s>
  <s xml:id="echoid-s9727" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9728" xml:space="preserve">Nun, davon wollen wir uns bald einen Begriff zu machen <lb/>verſuchen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9729" xml:space="preserve">Wenn wir ein Band von 185 200 Meilen Länge <lb/>haben, ſo können wir uns folgenden Spaß machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9730" xml:space="preserve">Wir <lb/>binden das eine Ende an den Eiffel-Turm, reiſen mit dem
<pb o="89" file="0713" n="713"/>
andern Ende nach dem Monde, wickeln dem Mond ſechsmal <lb/>das Band um den Bauch, und kommen mit dem Ende wieder <lb/>zurück zum Eiffel-Turm, umwickeln hier den Fuß des Turmes, <lb/>reiſen ſechsmal kreuz und quer um die Erde und wickeln <lb/>ebenfalls das Band ſechsmal um dieſelbe, und wenn wir bei <lb/>dieſer Gelegenheit gerade in der Meß-Zeit nach Leipzig <lb/>kommen, ſo haben wir noch ein Endchen Band übrig, das wir <lb/>zu Cotillon-Schleifen verkaufen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s9731" xml:space="preserve">Laſſen wir nun, “nicht <lb/>zum Schaden unſerer Konkurrenten, ſondern zum Vorteil <lb/>unſerer Käufer”, die Elle für nur einen Groſchen, ſo können wir <lb/>ſieben Wochen lang “wirklichen Ausverkauf wegen Aufgabe <lb/>des Geſchäfts” machen und täglich 1200 Ellen verkaufen, und <lb/>von dem Endchen mehr als 6000 Mark löſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9732" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9733" xml:space="preserve">Das ſind 185 200 Meilen!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9734" xml:space="preserve">Der Umfang der Sonne aber iſt gar ungefähr 555 600 <lb/>Meilen, das heißt, man brauchte ein Band von dieſer Länge, <lb/>wenn man dasſelbe einmal um die Sonne wickeln wollte. </s>
  <s xml:id="echoid-s9735" xml:space="preserve">Ein <lb/>Band von dieſer Länge kann man aber zehndoppelt nehmen <lb/>und einen Strick daraus drehen, und dieſer Strick wäre lang <lb/>genug, um damit den Mond an die Erde anzubinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9736" xml:space="preserve">— <lb/>— Wenn die Eiſenbahnen auf der Sonne auch 100 Meilen <lb/>den Tag zurücklegen, ſo dauert eine Reiſe um die Sonne <lb/>direkt per Dampf volle 16 Jahre, während eine gleiche Reiſe <lb/>um die Erde in zwei Monaten zurückgelegt wäre.</s>
  <s xml:id="echoid-s9737" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9738" xml:space="preserve">Wenn das nun vom Durchmeſſer und Umfang der Sonne <lb/>geſagt werden muß, ſo ſind wir wirklich in Verlegenheit, von <lb/>dem ganzen Inhalt dieſer Kugel ein Wort zu ſagen, denn wenn <lb/>wir verſicherten, daß ſie 3500 Billionen Kubikmeilen enthält, ſo <lb/>wäre das doch ein leeres Wort, ſolange wir uns nicht mindeſtens <lb/>einen Begriff von einer einzigen Kubikmeile verſchafften und <lb/>zugleich eine Ahnung davon, wie viel eine einzige Billion iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9739" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9740" xml:space="preserve">Wie groß iſt eine Kubikmeile? </s>
  <s xml:id="echoid-s9741" xml:space="preserve">und was iſt eine Billion? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9742" xml:space="preserve">das wollen wir gleich ſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9743" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="90" file="0714" n="714"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9744" xml:space="preserve">Wir wollen einmal eine Stange von einer Meile hinlegen, <lb/>und, nachdem das geſchehen iſt, wollen wir ſie grade aufrecht <lb/>in die Höhe ſtellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9745" xml:space="preserve">— Nun gucken wir einmal hinauf, um zu <lb/>ſehen, wie hoch ſie iſt!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9746" xml:space="preserve">Wie hoch? </s>
  <s xml:id="echoid-s9747" xml:space="preserve">das wiſſen wir ja: </s>
  <s xml:id="echoid-s9748" xml:space="preserve">eine Meile!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9749" xml:space="preserve">Freilich, wir wiſſen’s; </s>
  <s xml:id="echoid-s9750" xml:space="preserve">aber wir machen uns doch ſchwerlich <lb/>ein richtiges Bild davon, wenn wir uns nicht einiger Hilfs-<lb/>mittel dazu bedienen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9751" xml:space="preserve">Wir wollen uns deshalb vorſtellen, <lb/>daß neben dieſer Stange die gleich große Bildſäule eines <lb/>Menſchen hingeſtellt würde; </s>
  <s xml:id="echoid-s9752" xml:space="preserve">alſo eine Bildſäule, die eine <lb/>Meile groß iſt, und nun werden wir uns ſchon einigermaßen <lb/>richtigere Begriffe von dieſer Höhe machen können, wenn wir <lb/>folgende Betrachtung anſtellen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9753" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9754" xml:space="preserve">An einer Bildſäule von der Höhe einer Meile liegt das <lb/>Knie eine viertel Meile, alſo faſt 2000 Meter hoch, und da <lb/>der Eiffelturm nur 300 Meter hoch iſt, ſo müßte man 6 ſolcher <lb/>Türme übereinander ſtellen, um zum Knie zu gelangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9755" xml:space="preserve">— <lb/>Erwähnen wir nun noch, daß man 25 ägyptiſche Pyramiden <lb/>eine über die andere ſtellen müßte, um gleiche Höhe mit der <lb/>Hüfte dieſer Bildſäule zu erreichen, ſo iſt es klar, daß wir <lb/>ganze Gebirge nötig haben, um daran die Höhe der Figur zu <lb/>meſſen, denn nur ſehr wenige Berge auf Erden ſind eine Meile <lb/>hoch: </s>
  <s xml:id="echoid-s9756" xml:space="preserve">der höchſte von allen, der Mount Ewereſt im Himalaya, <lb/>iſt ein und eine ſechſtel Meile hoch. </s>
  <s xml:id="echoid-s9757" xml:space="preserve">— Hiernach läßt ſich’s <lb/>ungefähr bildlich begreifen, was eine Meile hoch ſagen will.</s>
  <s xml:id="echoid-s9758" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9759" xml:space="preserve">Nun aber kehren wir wieder zu der Stange zurück, die <lb/>wir ſenkrecht aufgerichtet haben, und denken uns geradeaus in <lb/>der Entfernung von einer Meile ebenfalls ſolch’ eine Stange <lb/>aufgerichtet und nageln wir uns einmal Bretter von der einen <lb/>Stange zur andern, ſodaß wir eine Bretterwand von der Länge <lb/>einer Meile bekommen, und da wir immer höher mit dem <lb/>Annageln der Bretter vorſchreiten, ſo bekommen wir endlich <lb/>eine Wand, die eine Meile lang und eine Meile hoch iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9760" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="91" file="0715" n="715"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9761" xml:space="preserve">Iſt das eine Kubik-Meile? </s>
  <s xml:id="echoid-s9762" xml:space="preserve">— I bewahre, noch lange <lb/>nicht, denn dieſe Wand iſt nur eine Quadrat-Meile.</s>
  <s xml:id="echoid-s9763" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div250" type="section" level="1" n="207">
<head xml:id="echoid-head233" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIII. Allen Reſpekt vor einer Kubik-Meile.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9764" xml:space="preserve">Denken wir uns nun eine ſolche Bretterwand von einer <lb/>Meile Länge und einer Meile Höhe wirklich gezogen, ſo wollen <lb/>wir nur beiläufig bemerken, daß durch dieſelbe die Witterung <lb/>in einer ganz fabelhaften Weiſe umgeſtaltet würde. </s>
  <s xml:id="echoid-s9765" xml:space="preserve">Die nörd-<lb/>liche Seite würde einen ungeheuer langen Winter, wäh-<lb/>rend die ſüdliche Seite einen ungemein frühen und langen <lb/>Sommer haben würde. </s>
  <s xml:id="echoid-s9766" xml:space="preserve">Man köunte im April auf der einen <lb/>Seite Waſſer-Korſo fahren, auf der andern Seite Schlittſchuh <lb/>laufen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9767" xml:space="preserve">— Allein das gehört nicht hierher und wir wollen uns <lb/>nicht weiter auf ſolche Vergnügungen einlaſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9768" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9769" xml:space="preserve">Was wir eigentlich ſagen wollen, iſt Folgendes:</s>
  <s xml:id="echoid-s9770" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9771" xml:space="preserve">Wir haben jetzt eine einzige Bretterwand aufrecht ſtehend. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9772" xml:space="preserve">Nun wollen wir uns aber vier ſolche Bretterwände denken und <lb/>wollen dieſe vier Wände zu einer Kiſte zuſammennageln und <lb/>da die Kiſte oben noch offen iſt, ſo wollen wir uns einen <lb/>Deckel, der gleichfalls wird eine Meile breit und lang ſein <lb/>müſſen, dazu zimmern und richtig aufſetzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9773" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9774" xml:space="preserve">Dieſe Kiſte würde den Raum einer Kubik-Meile einnehmen, <lb/>oder einfacher eine <emph style="sp">Würfel-Meile</emph> ſein, denn jeder wird zu-<lb/>geben, daß die Kiſte einen Würfel bildet, von dem jede Seite <lb/>eine Meile lang und hoch iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9775" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9776" xml:space="preserve">Da wir nun wiſſen, was eine Kubik-Meile iſt, wollen <lb/>wir einmal ſehen, was ſolch’ eine Kubikmeile zu ſagen hat, <lb/>oder einfacher, was ſolche Kubik-Meile in ſich hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s9777" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9778" xml:space="preserve">Zu dieſem Zweck wollen wir den Deckel, der jetzt noch
<pb o="92" file="0716" n="716"/>
eeren Kiſte öffuen und verſuchen, die Kiſte mit allem, was wir <lb/>zur Hand haben, vollzupacken. </s>
  <s xml:id="echoid-s9779" xml:space="preserve">Die Stadt Berlin liegt uns <lb/>ſo recht bequem, wir nehmen ſie wie ein Kinderſpielzeug <lb/>und werfen ſie in die Kiſte. </s>
  <s xml:id="echoid-s9780" xml:space="preserve">Darauf laufen wir ſchnell nach <lb/>Potsdam und nehmen beiläufig alle Dörferchen auf dem <lb/>Wege mit und packen alles zuſammen und werfen’s in die <lb/>Kiſte. </s>
  <s xml:id="echoid-s9781" xml:space="preserve">Da aber mit all’ dem nicht viel mehr als der <lb/>Boden der Kiſte bedeckt iſt, ſo müſſen wir weiter aus-<lb/>holen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9782" xml:space="preserve">Wir ergreifen ganz Paris mit allen Säulen, Türmen, <lb/>Triumphbogen und Kirchen und werfen’s hinein; </s>
  <s xml:id="echoid-s9783" xml:space="preserve">da aber all’ <lb/>das noch kaum zu merken iſt, müſſen wir auch ganz London <lb/>zuſchmeißen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9784" xml:space="preserve">Daß Wien mit hineingehört, verſteht ſich von <lb/>ſelbſt, und um den Frieden nicht zu ſtören, wollen wir auch <lb/>Petersburg zuthun. </s>
  <s xml:id="echoid-s9785" xml:space="preserve">Da aber all das noch nichts hilft, um die <lb/>Kiſte nur merklich zu bepacken, wollen wir anfangen, Provinzial-<lb/>ſtädte hineinzuthun, und um keinen Neid und Rangſtreit auf-<lb/>kommen zu laſſen, wollen wir alle Feſtungen, Dörfer, Schlöſſer, <lb/>Gehöfte beilegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9786" xml:space="preserve">Aber all’ das zieht noch nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9787" xml:space="preserve">Wir werfen <lb/>alles, was Menſchenhände in Europa gemacht haben, hinein; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9788" xml:space="preserve">aber das füllt kaum den vierten Teil der Kiſte. </s>
  <s xml:id="echoid-s9789" xml:space="preserve">Wir thun all <lb/>die Schiffe vom Meere dazu; </s>
  <s xml:id="echoid-s9790" xml:space="preserve">es hilft nichts. </s>
  <s xml:id="echoid-s9791" xml:space="preserve">Wir greifen nach <lb/>der alten und neuen Welt, und werfen Aegyptens Pyramiden <lb/>und Nord-Amerikas Eiſenbahnen und Maſchinen-Fabriken <lb/>hinein; </s>
  <s xml:id="echoid-s9792" xml:space="preserve">wir thun alles, was wir von Menſchenwerken in Afrika, <lb/>Aſien, Amerika und Auſtralien vorfinden, in die Kiſte — und <lb/>ſie wird kaum zur Hälfte gefüllt werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s9793" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9794" xml:space="preserve">Nun wollen wir die Kiſte ein bißchen ſchütteln, dann ſackt <lb/>ſich alles beſſer und legt ſich in Ordnung, und da wir’s uns <lb/>einmal in den Kopf geſetzt haben, die Kiſte vollzupacken, ſo <lb/>wollen wir verſuchen, ob wir ſie nicht mit Menſchen voll-<lb/>bekommen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9795" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9796" xml:space="preserve">Wir raffen nun alles Stroh zuſammen, das auf der <lb/>ganzen Erde zu haben iſt, und breiten dies in der Kiſte aus;</s>
  <s xml:id="echoid-s9797" xml:space="preserve">
<pb o="93" file="0717" n="717"/>
da es jedoch nicht ausreicht, um das Gerümpel darunter zu <lb/>bedecken, ſo müſſen wir Baumlaub zu Hilfe nehmen und ſtellen <lb/>ſomit eine weiche Schicht her, um Menſchen drauf packen zu <lb/>können.</s>
  <s xml:id="echoid-s9798" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9799" xml:space="preserve">Da wir für jeden Menſchen etwas über 60 Centimeter <lb/>Breite brauchen, ſo legen wir an die eine Wand der Kiſte, <lb/>die 7 500 Meter Länge hat, eine Reihe von 12,000 Menſchen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9800" xml:space="preserve">und da wir’s den Menſchen gern bequem machen, wollen <lb/>wir die Höhe der Menſchen zu faſt 2 Metern annehmen, <lb/>ſodaß wir auf das Strohlager 4 000 ſolche Reihen legen <lb/>können. </s>
  <s xml:id="echoid-s9801" xml:space="preserve">Nun weiß es aber jeder, daß 4 000 mal 12,000 <lb/>genau 48,000,000 macht, und da Deutſchland nicht viel <lb/>mehr als 48 Millionen Menſchen hat, ſo hat die Bevölkerung <lb/>des deutſchen Reiches in der unterſten Schicht ſo ziemlich <lb/>Platz.</s>
  <s xml:id="echoid-s9802" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9803" xml:space="preserve">Nun decken wir dieſe mit irgend einer weichen Schicht von <lb/>einem Fuß Höhe zu, und legen auf dieſes Lager die zwei <lb/>Millionen Menſchen, die in Auſtralien leben, und behalten <lb/>noch Platz, um 46 Millionen Menſchen aus Aſien neben ſie <lb/>hinzulagern. </s>
  <s xml:id="echoid-s9804" xml:space="preserve">Decken wir nun auch dieſe Schicht zu und <lb/>bereiten immer neue Lager, um immer weitere 48 Millionen <lb/>Menſchen einzupacken, ſo gehören kaum ſiebzehn Schichten <lb/>dazu, um die 800 Millionen Menſchen Aſiens hinzulagern. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9805" xml:space="preserve">Für Afrika, wo circa 210 Millionen Menſchen wohnen, brauchen <lb/>wir kaum fünf ſolche Schichten in unſerer Kiſte, und die <lb/>332 Millionen große europäiſche Menſchheit, für die ſonſt die <lb/>Welt zu klein iſt, nimmt in unſere Kiſte eingepackt kaum ſechs <lb/>Schichten ein.</s>
  <s xml:id="echoid-s9806" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9807" xml:space="preserve">Im ganzen alſo können wir in unſerer Kiſte nur <lb/>20 Schichten mit Menſchen vollpacken, und wenn wir für jede <lb/>Schicht nebſt Strohverpackung drei Fuß rechnen, ſo nimmt die <lb/>ganze Menſchheit des Erdballs in unſerer Kiſte nur 60 Fuß <lb/>Höhe weg, ſo daß wir 200 mal ſo viel Menſchen, als in der
<pb o="94" file="0718" n="718"/>
Welt exiſtieren, brauchen, um nur die halbvolle Kiſte ganz zu <lb/>füllen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9808" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9809" xml:space="preserve">Was bleibt uns nun übrig? </s>
  <s xml:id="echoid-s9810" xml:space="preserve">Wollten wir auch die Tier-<lb/>welt in die Kiſte einpacken, und Ochſen, Eſel, Schafe, Pferde, <lb/>Mauleſel, Kamele, Elephanten über die eingepackte Menſchheit <lb/>werfen, und darauf Geflügel und Fiſche und Schlangen und <lb/>alles, was kriecht und fliegt, ſie würde doch nicht voll, wenn <lb/>wir nicht noch zu Felſen und Gebirgen unſere Zuflucht nehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9811" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9812" xml:space="preserve">Und das alles iſt nur eine einzige Kubik-Meile! Gewiß <lb/>man bekommt Reſpekt vor einer Kubik-Meile.</s>
  <s xml:id="echoid-s9813" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div251" type="section" level="1" n="208">
<head xml:id="echoid-head234" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIV. Wir bekommen noch mehr Reſpekt vor der</emph> <lb/><emph style="bf">Sonne.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9814" xml:space="preserve">Iſt es denn aber auch wirklich wahr und richtig und <lb/>menſchenmöglich, daß eine einzige Kubikmeile ſo groß iſt? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9815" xml:space="preserve">Sollte man wirklich eine Kiſte, von der jede Wand eine Meile <lb/>lang und hoch iſt, gar nicht füllen können? </s>
  <s xml:id="echoid-s9816" xml:space="preserve">Wie, haben wir <lb/>nicht Maſchinen, die alles in der Welt machen, ſollten wir <lb/>nicht eine Maſchine herſtellen können, die auch dieſe Aufgabe <lb/>erfüllt?</s>
  <s xml:id="echoid-s9817" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9818" xml:space="preserve">Friſch auf! wir müſſen’s gleich probieren!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9819" xml:space="preserve">Wir bauen eine Ziegelbrennerei und wenden eine ſolche <lb/>Maſchinerie dabei an, daß in jeder Sekunde ein Ziegelſtein <lb/>fertig wird, der eine halbe Elle hoch und ebenſo dick und <lb/>ebenſo breit iſt, das heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s9820" xml:space="preserve">ein ziegelſteinerner Würfel von <lb/>einem Fuß. </s>
  <s xml:id="echoid-s9821" xml:space="preserve">Wir richten die Maſchine ferner ſo ein, daß ſie <lb/>Tag und Nacht im Gange bleibt, und zugleich bei der Fabri-<lb/>kation jeden fertigen Stein ordnungsmäßig in die Kiſte packt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9822" xml:space="preserve">Da müßte es denn doch kurios zugehen, wenn wir nicht bald <lb/>die Kiſte voll bekämen!</s>
</p>
<pb o="95" file="0719" n="719"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9823" xml:space="preserve">Wohlan, die Maſchine iſt fertig, und ſie arbeitet ſchon! <lb/>In jeder Sekunde — das iſt keine Kleinigkeit — liefert ſie <lb/>einen Stein und legt ihn — was noch mehr iſt, — ordentlich <lb/>in die Kiſte. </s>
  <s xml:id="echoid-s9824" xml:space="preserve">Das geht ſo ſchnell, daß unſer Auge kaum folgen <lb/>kann, darum wollen wir’s abwarten, denn ſie wird gewiß recht <lb/>bald damit fertig werden!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9825" xml:space="preserve">O ja, recht bald! Wir können’s ganz genau berechnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9826" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9827" xml:space="preserve">In jeder Sekunde macht ſie einen Ziegelſtein; </s>
  <s xml:id="echoid-s9828" xml:space="preserve">alſo in der <lb/>Minute 60; </s>
  <s xml:id="echoid-s9829" xml:space="preserve">in der Stunde 60mal ſo viel, alſo 3600; </s>
  <s xml:id="echoid-s9830" xml:space="preserve">und in <lb/>einem Tage 24 mal ſo viel, alſo 86,400. </s>
  <s xml:id="echoid-s9831" xml:space="preserve">Durch ein ganzes <lb/>Jahr gar macht ſie 365 mal ſo viel, und das giebt 31,536,000 <lb/>ſolcher Ziegelſteine.</s>
  <s xml:id="echoid-s9832" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9833" xml:space="preserve">Nun wollen wir einmal ſehen, wie viel ſolcher Ziegelſteine <lb/>in unſere Kiſte hineingehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9834" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9835" xml:space="preserve">Wir belegen erſt ordnungsmäßig reihenweiſe den Boden <lb/>der Kiſte. </s>
  <s xml:id="echoid-s9836" xml:space="preserve">Jede Reihe iſt eine Meile lang, folglich gehen auf <lb/>eine Reihe 24,000 Steine. </s>
  <s xml:id="echoid-s9837" xml:space="preserve">Da aber der Boden vierundzwanzig <lb/>ſolcher Reihen faßt, ſo müſſen wir 24,000mal 24,000 Steine <lb/>haben, um den Boden zu bedecken, und das ſind netto <lb/>576,000,000 Steine. </s>
  <s xml:id="echoid-s9838" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9839" xml:space="preserve">Da nun unſere Maſchine nur 31,536,000 jährlich liefert, <lb/>kann ſich’s jedes Kind ausrechnen, daß ſie in 18 Jahren, in <lb/>welchen ſie Tag und Nacht arbeitet, noch nicht einmal ſo weit <lb/>iſt, auch nur den Boden der Kiſte mit Steinen zu belegen!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9840" xml:space="preserve">Nun aber iſt unſere Kiſte auch eine Meile hoch, das heißt, <lb/>ſie braucht, um gefüllt zu werden, 24,000 ſolche Schichten, wie <lb/>die iſt, welche den Boden bedeckt, und wenn man eine kleine <lb/>Rechnung, die jeder Schulknabe machen kann, ausführen will, <lb/>wird man ſich überzeugen, daß unſere Maſchine doch nicht ſo <lb/>ſchnell mit ihrer Arbeit fertig wird, als wir es geglaubt haben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9841" xml:space="preserve">Sie wird Tag und Nacht, Jahr aus, Jahr ein ohne Unter-<lb/>brechung volle 438,356 Jahre, 58 Tage, 9 Stunden und <lb/>36 Minuten arbeiten müſſen, um ihre Aufgabe zu vollenden.</s>
  <s xml:id="echoid-s9842" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="96" file="0720" n="720"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9843" xml:space="preserve">Das iſt eine einzige Kubik-Meile, ein Würfel, der nur eine <lb/>Meile lang, eine Meile breit und eine Meile hoch iſt, und da <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0720-01a" xlink:href="fig-0720-01"/>
man aus der Erdkugel 2650 Millionen ſolcher Würfel ſchneiden <lb/>kann, ſo müſſen wir bei allem Reſpekt vor einem einzigen
<pb o="97" file="0721" n="721"/>
ſolchen Würfel, einen ganz beſondern Reſpekt vor der Erdkugel <lb/>bekommen!</s>
</p>
<div xml:id="echoid-div251" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0720-01" xlink:href="fig-0720-01a">
<caption xml:id="echoid-caption49" xml:space="preserve"><emph style="bf">Fig. 24.</emph></caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9844" xml:space="preserve">Und dabei müſſen wir bedenken, daß die Erde früher, als <lb/>ſie noch gasförmig war, einen ungeheuer vielmal größeren <lb/>Raum einnahm als jetzt, wo ſie erkaltet iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9845" xml:space="preserve">Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s9846" xml:space="preserve">24 zeigt <lb/>uns das damalige Volumen der Erde im Vergleich zur <lb/>heutigen Größe (a). </s>
  <s xml:id="echoid-s9847" xml:space="preserve">Nun mache man ſich eine Vorſtellung <lb/>von den Raumverhältniſſen in unſerm Sonnenſyſtem! — und <lb/>wie verſchwindend klein ſind dieſe Größenmaße wieder gegen-<lb/>über denen im geſamten Weltall!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9848" xml:space="preserve">Wir vergeſſen aber ganz und gar, daß wir eigentlich auf <lb/>unſerer Phantaſie-Reiſe vor der Sonne Station gemacht haben, <lb/>um die Größe der Sonne zu betrachten. </s>
  <s xml:id="echoid-s9849" xml:space="preserve">Wie bereits erwähut, <lb/>enthält die Sonne 3500 Billionen Kubikmeilen, und da wir <lb/>uns nun ungefähr ein Bild von einer einzigen Kubik-Meile <lb/>machen können, müſſen wir auch die Frage beantworten: </s>
  <s xml:id="echoid-s9850" xml:space="preserve">wie <lb/>viel iſt denn eigentlich eine <emph style="sp">Billion</emph>?</s>
  <s xml:id="echoid-s9851" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9852" xml:space="preserve">Eine Billion iſt eine Million mal Million und ſieht in <lb/>Zahlen geſchrieben ſo aus: </s>
  <s xml:id="echoid-s9853" xml:space="preserve">1,000,000,000,000. </s>
  <s xml:id="echoid-s9854" xml:space="preserve">Allein Zahlen-<lb/>reihen geben nicht die mindeſte Vorſtellung von der Menge, <lb/>welche ſie ausdrücken. </s>
  <s xml:id="echoid-s9855" xml:space="preserve">Unſer Auge — vielleicht auch unſer <lb/>Verſtand — iſt ſo beſchränkt in Auffaſſung von Mengen, daß wir <lb/>kaum mehr als drei Dinge mit einem Blick überſchauen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9856" xml:space="preserve">Wenn <lb/>wir die nebenſtehenden ſechs Gedankenſtriche (— — — — — —) <lb/>mit einem einzigen Blicke zählen wollen, ſo teilen wir ſie un-<lb/>willkürlich in zweimal drei oder in dreimal zwei ein und <lb/>faſſen ſie dann erſt als ſechs auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s9857" xml:space="preserve">Unſere beſten Karten-<lb/>ſpieler würden nicht ſo ſchnell eine Pik-fünf von einer Pik-ſechs <lb/>oder gar eine Pik-acht von einer Pik-zehn mit einem einzigen <lb/>Blick unterſcheiden können, wenn die Zeichen der Karten nicht <lb/>in der gewohnten Ordnung zu drei und drei und vier und <lb/>vier ſtänden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9858" xml:space="preserve">Größere Mengen lernen wir erſt nach vieler <lb/>Erfahrung ſchätzen, und von Mengen, über welche wir keine</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9859" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s9860" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s9861" xml:space="preserve">Volksbücher XVI.</s>
  <s xml:id="echoid-s9862" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="98" file="0722" n="722"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9863" xml:space="preserve">Erfahrungen haben, können wir uns auch gar keine Vorſtellung <lb/>machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9864" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9865" xml:space="preserve">Eine Billion iſt ſo viel, daß ein Menſch, der imſtande iſt, <lb/>in jeder Sekunde drei zu zählen, an zehntauſend Jahre Tag <lb/>und Nacht zählen müßte, um eine Billion auszählen zu können!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9866" xml:space="preserve">Da man nun aus der Sonne 3500 Billionen Würfel <lb/>ſchneiden kann, von denen jeder eine Meile hoch und lang <lb/>und breit iſt, ſo iſt es ganz unzweifelhaft, daß, wenn irgend <lb/>eine Hand es vermöchte, in jeder Sekunde drei ſolche Kubik-<lb/>Meilen von der Sonne abzureißen und fortzuſchleudern, ſie <lb/>volle 35 Millioneu Jahre zu thun hätte, um die ganze Sonne <lb/>zu vernichten.</s>
  <s xml:id="echoid-s9867" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9868" xml:space="preserve">Stellen wir uns vor, daß bei der Entſtehung der Sonne <lb/>ſich in jeder Sekunde eine Kubik-Meile dieſer Maſſe bildete — <lb/>was wahrhaftig ein bißchen ſehr übertrieben iſt — ſo hat es <lb/>106 Millionen Jahre gedauert, bevor die Sonne fertig wurde!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9869" xml:space="preserve">Unter ſolchen Umſtänden nehme man es uns Phantaſie-<lb/>Reiſenden nicht übel, wenn wir ungeheuren Reſpekt vor der <lb/>Sonne bekommen und von unſerer Reiſe-Station aus anfangen, <lb/>uns einmal in der Welt umzuſehen, welche von dieſem Natur-<lb/>Ungeheuer erwärmt und erleuchtet wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s9870" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div253" type="section" level="1" n="209">
<head xml:id="echoid-head235" xml:space="preserve"><emph style="bf">XV. Die Raumverſchwendung im Sonnen-Syſtem.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9871" xml:space="preserve">Welch’ ungeheure Größe auch die Sonne hat, hier von <lb/>unſerer Station aus vermögen wir doch nur zu ſagen, daß ſie <lb/>klein, unendlich klein iſt gegen den Raum, welcher ihr als Ge-<lb/>biet angewieſen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9872" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9873" xml:space="preserve">Wir erſchrecken vor der ungeheuren Maſſe, welche in der <lb/>Sonne angehäuft iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s9874" xml:space="preserve">aber wir entſetzen uns noch mehr vor der
<pb o="99" file="0723" n="723"/>
ungeheuren Leerheit im Raume, die rings um die Sonne <lb/>herrſcht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9875" xml:space="preserve">— Es bewegen ſich zwar eine Reihe von Planeten <lb/>um die Sonne, die wir recht bald die Ehre haben werden, <lb/>näher kennen zu lernen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9876" xml:space="preserve">allein ſie alle bewegen ſich in Kreiſen, <lb/>die faſt in einer und derſelben Ebene mit dem Äquator der <lb/>Sonne liegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9877" xml:space="preserve">Ein Menſch auf der Sonne, der ſich ſo hin-<lb/>ſtellt, daß ihm zur Rechten der eine und links der andere Pol <lb/>der Sonnenkugel liegt, und nun geradeaus in die Ferne blickt, <lb/>der wird ſämtliche Planeten um die Sonne laufen ſehen, als <lb/>ob ſie alle beiſammen eine gemeinſame, nur ſehr ſchmale Renn-<lb/>bahn hätten. </s>
  <s xml:id="echoid-s9878" xml:space="preserve">Keiner der Planeten weicht bedeutend nach rechts <lb/>oder links von dieſer Bahn ab. </s>
  <s xml:id="echoid-s9879" xml:space="preserve">Wendet dieſer Menſch aber <lb/>das Geſicht rechts oder links nach einem der Pole der Sonnen-<lb/>kugel und blickt hier hinaus in die Ferne, ſo blickt er weit, <lb/>weit hinein in einen leeren Raum, der ganz unbevölkert wäre, <lb/>wenn nicht Kometen die Güte hätten, von Zeit zu Zeit <lb/>Phantaſie-Reiſen in dieſe Einöde zu machen und ohne Ordnung <lb/>rechts und links und nach allen Weltgegenden ihren Umlauf <lb/>um die Sonnenkugel auszuführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9880" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9881" xml:space="preserve">Es iſt eigentümlich, wie ungeheuer weit das Sonnenſyſtem <lb/>in die Welt hinausreicht, und wie merkwürdig ſchmal dasſelbe <lb/>trotzdem iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9882" xml:space="preserve">Wollte man die Sonne mit ſamt allen Planeten <lb/>einpacken, ohne ſie im Lauf zu ſtören, ſo würde man, wie wir <lb/>ſchon wiſſen, dazu eine Kiſte brauchen, die die Form einer ge-<lb/>wöhnlichen, flachen, runden Schnupftabakdoſe hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s9883" xml:space="preserve">Die Weite <lb/>dieſer Doſe, in welcher Neptun, der letzte der jetzt bekannten <lb/>Planeten ſich noch in ſeinem Kreiſe um die Sonne bewegen <lb/>könnte, müßte 600 Millionen Meilen betragen, während die <lb/>Höhe der Doſe kaum eine Million Meilen zu ſein brauchte.</s>
  <s xml:id="echoid-s9884" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9885" xml:space="preserve">Sehen wir uns nun rechts und links von dieſem unſern <lb/>Standpunkt aus um, das heißt, blicken wir nach der Richtung <lb/>hin, nach welcher die Pole der Sonne zeigen, ſo finden wir <lb/>einen leeren Raum, der bis zu den Fixſternen geht, und
<pb o="100" file="0724" n="724"/>
wollten wir einen Beſuch bei einem der nächſten dieſer Fix-<lb/>ſterne machen, ſo würden wir eine Reiſe vor uns haben, die <lb/>ſelbſt auf dem elektriſchen Telegraphen, der uns als Phantaſie-<lb/>Reiſegelegenheit dient, nicht weniger als zwei und ein halbes <lb/>Jahr Zeit erfordert.</s>
  <s xml:id="echoid-s9886" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9887" xml:space="preserve">Daß dies eine Entfernung iſt, die jede Phantaſie über-<lb/>ſteigt, werden wohl Alle zugeben müſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9888" xml:space="preserve">Man wird uns <lb/>daher erlauben, daß wir uns in dieſem leeren Raum nur ein <lb/>Plätzchen ausſuchen, von wo aus wir das Sonnenſyſtem ſeit-<lb/>wärts anſehen können, und zu dieſem Zweck machen wir auf <lb/>unſerer Reiſetour von der Erde zur Sonne einen Abſtecher <lb/>rechts in den leeren Weltraum hinein, um dort das ganze <lb/>Sonnenſyſtem, das heißt die Sonne ſamt all’ den Kreiſen, in <lb/>welchen die Planeten um dieſelbe wandern, ſo recht vor Augen <lb/>zu haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s9889" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9890" xml:space="preserve">Damit wir indeſſen nicht allzuweit in dieſe leere Unend-<lb/>lichkeit hineingeraten, wollen wir auf unſeren Seiten-Abſtecher <lb/>nur {3/4} Stunden verwenden, und das heißt ungefähr ſo viel, <lb/>daß wir dort Halt machen wollen, wohin uns die Geſchwindig-<lb/>keit der Elektrizität in dreiviertel Stunden zu tragen imſtande <lb/>iſt, was beiläufig bemerkt ungefähr 108 Millionen Meilen aus-<lb/>macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s9891" xml:space="preserve">Und indem wir dies ſofort ausführen, befinden wir <lb/>uns ſchon außerhalb des Gebietes, wo die Planeten um die <lb/>Sonne kreiſen, und beſehen uns das Ding weit überſichtlicher <lb/>und anſchaulicher von der Ferne.</s>
  <s xml:id="echoid-s9892" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9893" xml:space="preserve">Allein ſo bequem und ungeſtört wir auch hier Platz nehmen, <lb/>ſo ſehr ſtört doch ein Umſtand unſern Plan, ein Umſtand, den <lb/>wir gar nicht zu bewältigen imſtande ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s9894" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9895" xml:space="preserve">Von hier aus geſehen erſcheint uns die Sonnenſcheibe <lb/>ſchon fünfmal kleiner, als wir ſie von der Erde aus ſehen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9896" xml:space="preserve">das will jedoch nicht allzuviel ſagen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9897" xml:space="preserve">Zu erkennen iſt ſie <lb/>trotzdem durch ihr noch immer ſehr helles Licht, das etwa <lb/>fünf und zwanzig Mal ſchwächer als auf Erden in unſer Auge
<pb o="101" file="0725" n="725"/>
ſtrahlt; </s>
  <s xml:id="echoid-s9898" xml:space="preserve">allein mit den Planeten iſt dies ein übel Ding, denn <lb/>unſere Erde ſieht von hier wie ein feines Pünktchen aus, das man <lb/>kaum recht ſehen kann, unſer Nachbar Mars verſchwindet faſt, <lb/>während die kleinen Planeten, die zwiſchen dieſem und Jupiter <lb/>ihren Rundlauf um die Sonne nehmen, vollkommen unſichtbar <lb/>ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s9899" xml:space="preserve">Wir überzeugen uns hier von einer etwas ſonderbar <lb/>klingenden Wahrheit, die aber leider nicht wegzuleugnen iſt, <lb/>von der Wahrheit nämlich, daß es im Weltraum keinen Punkt <lb/>giebt, von wo aus ein menſchliches Auge mit Bequemlichkeit <lb/>unſer Sonnenſyſtem überblicken könnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s9900" xml:space="preserve">In der Nähe dieſes <lb/>Syſtems ſind die Kreiſe ſo furchtbar groß, daß ſie ſich <lb/>nicht mit einem Blick umfaſſen laſſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9901" xml:space="preserve">in der Ferne von <lb/>demſelben iſt ein Teil der Planeten ſo klein, daß ſie ganz ver-<lb/>ſchwinden.</s>
  <s xml:id="echoid-s9902" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9903" xml:space="preserve">Von hier aus ſehen wir’s erſt recht, welch’ furchtbare <lb/>Raumverſchwendung im Sonnenſyſtem herrſcht, ſelbſt dort <lb/>herrſcht, wo es von den Planeten durchwandert iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9904" xml:space="preserve">Nimmt <lb/>man nur die Planeten als belebt an, während der Raum, <lb/>durch welchen ſie wandern, der unbelebte, leere Teil der Welt <lb/>iſt, ſo nimmt das Leben in einem unendlichen, großen Weltall <lb/>nur einzelne, äußerſt kleine Punkte ein, die neben der Größe <lb/>der Welt als die unſcheinbarſten Dinge ganz und gar dem <lb/>Auge verſchwinden.</s>
  <s xml:id="echoid-s9905" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div254" type="section" level="1" n="210">
<head xml:id="echoid-head236" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVI. Ein Sonnenſyſtem im Kleinen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9906" xml:space="preserve">Der Überſichtlichkeit wegen wollen wir uns nun ein <lb/>Sonnenſyſtem im Kleinen machen, und dabei zugleich die Größe <lb/>der Sonne und der Planeten wie deren Entfernung von ein-<lb/>ander in ſolchen Verhältniſſen darſtellen, wie ſie für unſere <lb/>Sinne am leichteſten faßlich ſein werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s9907" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="102" file="0726" n="726"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9908" xml:space="preserve">Denken wir uns alſo eine Kugel von {2/3} Meter Durch-<lb/>meſſer, die die Sonne vorſtellen ſoll. </s>
  <s xml:id="echoid-s9909" xml:space="preserve">Eine Kugel von dieſer <lb/>Größe iſt in der Nähe betrachtet ſchon recht anſehnlich; </s>
  <s xml:id="echoid-s9910" xml:space="preserve">ihr <lb/>Umfang iſt etwa dem eines Vorderrades einer Droſchke gleich; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9911" xml:space="preserve">eine ſolche Kugel vermag ſchon ein Menſch nicht zu umſpannen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9912" xml:space="preserve"><lb/>Dies alſo ſoll die Sonne vorſtellen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9913" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9914" xml:space="preserve">Wie groß müſſen wir Merkur, den nächſten Planeten, <lb/>machen, um ein richtiges Verhältnis herauszubekommen? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9915" xml:space="preserve">Eine einfache Rechnung zeigt, daß wir unter dieſen Um-<lb/>ſtänden den Merkur nicht größer als ein Senfkörnchen machen <lb/>dürfen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9916" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9917" xml:space="preserve">Wer ſich nun die Größe eines Senfkörnchens gegen die <lb/>einer Kugel von {2/3} Meter Durchmeſſer lebhaft vorſtellen kann, <lb/>der wird geſtehen, daß ſie für unſer Auge in gar keinem <lb/>ſchätzbaren Verhältnis zu einander ſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9918" xml:space="preserve">Wo ſoll man ſolch’ <lb/>ein Körnchen hinlegen, damit es für unſer Auge auch nur be-<lb/>merkbar iſt gegen die größere Kugel? </s>
  <s xml:id="echoid-s9919" xml:space="preserve">—</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9920" xml:space="preserve">Ein Körnchen, das unter unſerm Nagel hängen bleibt und <lb/>eine Kugel, die wir mit beiden Armen nicht umſpannen können, <lb/>laſſen ſich kaum gleichzeitig betrachten; </s>
  <s xml:id="echoid-s9921" xml:space="preserve">wollte man auch das <lb/>Körnchen der beſſern Beſchaulichkeit wegen, auf die Kugel <lb/>ſelber legen, ſo würde es bei dem gewöhulichen Anſehen ſo <lb/>wenig beachtet werden, ſo wenig wir ein Sandkörnchen beachten, <lb/>das am Wagenrade klebt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9922" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9923" xml:space="preserve">Wo aber müſſen wir das Senfkörnchen hinlegen, um unſer <lb/>kleines Sonnenſyſtem dem wirklichen nach Verhältnis ähnlich <lb/>zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9924" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9925" xml:space="preserve">Wir müſſen zu dieſem Zweck etwa 25 Meter abmeſſen, <lb/>und in ſolcher Entfernung von der größeren Kugel legen wir <lb/>das Senfkörnchen hin.</s>
  <s xml:id="echoid-s9926" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9927" xml:space="preserve">Wollen wir nun auch den zweiten Planeten, Venus, an <lb/>der paſſenden Stelle anbringen, ſo müſſen wir zu ſeiner Dar-<lb/>ſtellung ſchon eine Erbſe wählen, und wenn wir dieſe in einer
<pb o="103" file="0727" n="727"/>
Entfernung von 50 Meter von der Kugel ab hinlegen, ſo wird <lb/>dies unſerm Modell ſo ziemlich entſprechen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9928" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9929" xml:space="preserve">So groß wir kleinen Menſchen uns auch dünken, ſo klein <lb/>ſind wir bekanntlich gegen die Erdkugel, und dennoch dürfen <lb/>wir für unſer Modell nur eine zweite Erbſe wählen, um ſie <lb/>die Erde vorſtellen zu laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9930" xml:space="preserve">Legen wir dieſe Erbſe in einer <lb/>Entfernung von 65 Meter von der Kugel, ſo wird ſie an <lb/>dieſer Stelle unſerm Zwecke entſprechen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9931" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9932" xml:space="preserve">Für den Planeten Mars können wir nur ein Kügelchen <lb/>von halb ſo großem Durchmeſſer wie eine Erbſe brauchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9933" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9934" xml:space="preserve">Nunmehr müſſen wir gar zu etwa 400 äußerſt feinen <lb/>Stäubchen, die man mit bloßem Auge kaum ſehen kann, unſere <lb/>Zuflucht nehmen, um die vierhundert ſehr kleinen Planeten <lb/>darzuſtellen, welche hinter Mars ihren Umlauf um die Sonne <lb/>nehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9935" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9936" xml:space="preserve">Jetzt müſſen wir uns für den größten Planeten, für <lb/>Jupiter, eine paſſende Kugel ſuchen; </s>
  <s xml:id="echoid-s9937" xml:space="preserve">ſie iſt gegen die andern <lb/>ſchon ſehr beträchtlich; </s>
  <s xml:id="echoid-s9938" xml:space="preserve">im Verhältnis zu unſerm Modell jedoch <lb/>können wir für Jupiter höchſtens einen Pfirſich brauchen, und <lb/>dieſen müſſen wir ſchon etwa 350 Meter tragen, um ihn dort <lb/>ſeinen Platz anzuweiſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9939" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9940" xml:space="preserve">Hier müſſen wir nunmehr nachſinnen, wie wir uns den <lb/>Saturn darſtellen, der bekanntlich eine Kugel iſt, welche frei <lb/>in einem flachen Ringe ſchwebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s9941" xml:space="preserve">Eine Kirſche wird uns leicht <lb/>aus der Verlegenheit helfen, ihre Größe iſt für unſer Modell <lb/>ungefähr paſſend, und wenn wir zwei lange Stengel zu einem <lb/>Ring verwenden, den wir irgend wie haltbar um die Kirſche <lb/>legen, ſo können wir uns damit etwa 650 Meter weit be-<lb/>geben, um daſelbſt für ſie die paſſende Stelle ausfindig zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9942" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9943" xml:space="preserve">Für Uranus können wir eine recht kleine Haſelnuß nehmen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9944" xml:space="preserve">— Endlich brauchen wir für den erſt im Jahre 1846 entdeckten <lb/>Neptun eine Kugel von der Größe einer Quitte, und dieſe <lb/>legen wir 2 Kilometer entfernt nieder.</s>
  <s xml:id="echoid-s9945" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="104" file="0728" n="728"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9946" xml:space="preserve">Dies iſt ein ungefähr entſprechendes Modell für das <lb/>Sonnenſyſtem, wenn wir für die Sonne eine Kugel von {2/3} Meter <lb/>Durchmeſſer nehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9947" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9948" xml:space="preserve">Und an dieſem Modell, das wir auch in Bewegung <lb/>ſetzen müſſen, wollen wir verſuchen, das zu zeigen, was wir <lb/>im Weltraum, ſeitwärts ab vom Sonnenſyſtem ſchwebend, zu <lb/>ſehen bekommen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9949" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div255" type="section" level="1" n="211">
<head xml:id="echoid-head237" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVII. Wie das Modell ſtimmt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9950" xml:space="preserve">Bevor wir unſer Modell in Bewegung ſetzen, müſſen wir <lb/>uns eine kleine Bemerkung erlauben.</s>
  <s xml:id="echoid-s9951" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9952" xml:space="preserve">Was würde wohl jemand dazu ſagen, wenn er einen ſo <lb/>weiten Raum, mehr als {1/2} Meile, mit nichts weiter beſetzt <lb/>ſehen würde, als mit unſerer Kugel von {2/3} Meter Durchmeſſer <lb/>und all den kleinen Körnchen und Kügelchen, die wir für unſer <lb/>Modell gebraucht haben? </s>
  <s xml:id="echoid-s9953" xml:space="preserve">Gewiß, er würde vor allem über <lb/>die furchtbare Raumverſchwendung erſtaunt ſein; </s>
  <s xml:id="echoid-s9954" xml:space="preserve">und mit <lb/>Recht würde er ſich fragen, ob, wenn dies wirklich das Sonnen-<lb/>ſyſtem vorſtellen ſoll, nicht noch viel tauſendmal mehr <lb/>Kügelchen derart Platz hätten.</s>
  <s xml:id="echoid-s9955" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9956" xml:space="preserve">Wir glauben auch in der That, daß, wenn man einem <lb/>Menſchen dieſe Kugel ſamt den Körnchen und Kügelchen gäbe, <lb/>damit er ſie nach ſeinem Geſchmack und ſeinem Belieben <lb/>placiere, er ohne allen Zweifel ganz etwas anderes daraus ge-<lb/>macht haben würde, und ſind deshalb auch ernſtlich der Anſicht, <lb/>daß die Welt, das heißt das Sonnenſyſtem ganz anders aus-<lb/>ſehen würde, wenn irgend ein Menſch bei ſeiner Entſtehung <lb/>etwas drein zu ſprechen gehabt hätte.</s>
  <s xml:id="echoid-s9957" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9958" xml:space="preserve">Allein eben ſo aufrichtig wollen wir’s nur geſtehen, daß <lb/>wir nicht glauben, es würde irgend ein Menſchenkind das
<pb o="105" file="0729" n="729"/>
Sonnenſyſtem beſſer und, was die Hauptſache iſt, dauernder <lb/>eingerichtet haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s9959" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9960" xml:space="preserve">Unſerem Geſchmack, das iſt richtig, ſagt das Sonnenſyſtem <lb/>durchaus nicht zu; </s>
  <s xml:id="echoid-s9961" xml:space="preserve">aber nachdem wir wiſſen, daß es ſeine <lb/>Jahre ſchon gehalten hat, nachdem wir aus den Schlüſſen <lb/>der Naturforſcher gelernt haben, daß es vielleicht Billionen von <lb/>Jahren ſchon exiſtiert, und endlich gar, nachdem der ſcharf-<lb/>ſinnigſte der Aſtronomen, der franzöſiſche Naturforſcher Laplace <lb/>den unumſtößlichen Beweis geliefert hat, daß das Sonnen-<lb/>ſyſtem ſo ſolide eingerichtet iſt, daß es nach Billionen und <lb/>Billionen von Jahren noch haltbar ſein wird, und daß <lb/>eigentlich gar keine Zeit in Ausſicht ſteht, wo es einmal zu <lb/>Schanden geht, da bekommen wir einen Reſpekt vor dieſer <lb/>offenkundigen Weitläufigkeit, und haben umſomehr Urſache, <lb/>uns darüber zu beruhigen, weil wir’s doch einmal nicht zu <lb/>ändern imſtande ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s9962" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9963" xml:space="preserve">Und weil dem ſo iſt, wollen wir uns drein finden, und <lb/>an unſerm Modell auch zugleich die Bewegungen der wirklichen <lb/>Planeten betrachten.</s>
  <s xml:id="echoid-s9964" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9965" xml:space="preserve">Zu dieſem Zweck wollen wir uns die Reihe all’ der <lb/>Kugeln und Kügelchen in ihren Entfernungen von einander <lb/>recht lebhaft vorſtellen, und uns dabei alles andere fortdenken. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9966" xml:space="preserve">Wir nehmen alſo an, daß nichts als leerer Raum da iſt, <lb/>worin eben nur die eine größere Kugel ſamt den vierhundert <lb/>kleineren Kügelchen in den angegebenen Entfernungen exiſtiert. </s>
  <s xml:id="echoid-s9967" xml:space="preserve"><lb/>Denken wir uns dies recht lebhaft, ſo haben wir in vollſter <lb/>Wahrheit ein Sonnenſyſtemchen vor uns.</s>
  <s xml:id="echoid-s9968" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9969" xml:space="preserve">Denn im leeren Raum wird ganz unzweifelhaft die Maſſe <lb/>der größern Kugel all’ die andern, ſelbſt die entfernteſte an-<lb/>ziehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9970" xml:space="preserve">Sie würden ſich alſo in gerader Richtung wirklich <lb/>nach der großen Kugel hinbewegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9971" xml:space="preserve">Nun brauchen wir nur <lb/>jedem Kügelchen einen kleinen Stoß von unten zu verſetzen, <lb/>der dasſelbe mit ungefähr gleicher Kraft, wie die der An-
<pb o="106" file="0730" n="730"/>
ziehung aufwärts treibt, um ſämtliche Kügelchen in ewigen <lb/>und unendlichen Kreiſen um die große Kugel wandern zu <lb/>ſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s9972" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9973" xml:space="preserve">Das Senfkörnchen, das Merkur darſtellt, wird wirklich in <lb/>einem Kreis um die große Kugel gehen, und zwar in 88 Tagen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s9974" xml:space="preserve">ganz ſo wie der wirkliche Planet Merkur um die Sonne; </s>
  <s xml:id="echoid-s9975" xml:space="preserve">denn <lb/>unſere Kugel von zwei Fuß Durchmeſſer wird, vorausgeſetzt, <lb/>daß ſie aus dem Holz einer friſch gefällten Steineiche oder <lb/>aus einem gleich ſchweren Stoff angefertigt iſt, auf das <lb/>Senfköruchen, das 25 Meter von ihr entfernt ſich fortbewegt, <lb/>gerade ſo wirken, wie die große, mächtige Sonne auf den Pla-<lb/>neten Merkur.</s>
  <s xml:id="echoid-s9976" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9977" xml:space="preserve">Der Kreis, den das Senfkörnchen beſchreibt, wird, wenn <lb/>wir uns die Richtung, in welcher es gelegen, merken, nach <lb/>aufwärts gehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9978" xml:space="preserve">Nach zweiundzwanzig Tagen wird es 25 Meter <lb/>hoch gerade oben über der Kugel ſchweben, ſodann wird es <lb/>ſich auf der andern Seite nach abwärts wenden, und nach <lb/>neuen 22 Tagen wird es ſich in gerader Linie auf der andern <lb/>Seite der großen Kugel befinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s9979" xml:space="preserve">Nach wieder neuen 22 Tagen <lb/>wird es nach unten gegangen ſein, und ſich unter der Kugel <lb/>25 Meter von ihr entfernt bewegen, um nach neuen 22 Tagen <lb/>wieder dort zu ſein, wo wir ihm den kleinen Stoß verſetzt <lb/>haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s9980" xml:space="preserve">und ohne einen neuen Stoß zu erhalten, wird es den <lb/>jetzt vollendeten Kreis wiederum zu durchlaufen anfangen, und <lb/>richtiger und pünktlicher als alle Uhrwerke der Welt ſeinen <lb/>Rundlauf in der Ewigkeit vollführen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9981" xml:space="preserve">— Denn um eine Sonne <lb/>und einen Planeten zu machen, dazu gehört, wenn man von <lb/>vielen andern Dingen abſieht, in der That nicht viel; </s>
  <s xml:id="echoid-s9982" xml:space="preserve">und zwar <lb/>braucht man ein Stück leeren Raum, ferner eine Gegend, wo <lb/>eine andere Anziehungskraft nicht ſtörend einwirkt, und dazu <lb/>eine größere Kugel und eine kleinere, und endlich giebt man <lb/>der kleinern Kugel, die man entfernt von der großen hält, <lb/>einen ganz leichten Stoß, der ſie ſeitwärts treibt, und ſie
<pb o="107" file="0731" n="731"/>
wird von ſelber ſchon durch die Anziehung der großen Kugel <lb/>geleitet, im Kreiſe um dieſelbe wandern.</s>
  <s xml:id="echoid-s9983" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9984" xml:space="preserve">Und wie das Senfkörnchen getreu den Merkur in ſeiner <lb/>Wanderung nachahmen wird, ſo wird die Erbſe, welche Venus <lb/>darſtellt, nach einem leichten Stoß aufwärts wirklich die Be-<lb/>wegungen des Planeten Venus nachahmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9985" xml:space="preserve">Die Erbſe wird <lb/>in 224 Tagen ihren Kreis um die Kugel machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s9986" xml:space="preserve">Sie wird <lb/>ähulich, wie wir dies beim Senfkörnchen geſehen, nach 56 Tagen <lb/>oben über der Kugel ſo weit abſtehen, ſo weit ab wie wir ſie <lb/>hingelegt hatten. </s>
  <s xml:id="echoid-s9987" xml:space="preserve">Nach neuen 56 Tagen wird ſie ſich jenſeits <lb/>in gerader Linie mit der großen Kugel befinden; </s>
  <s xml:id="echoid-s9988" xml:space="preserve">nach weiteren <lb/>56 Tagen wird ſie unter der großen Kugel ſtehen, um nach <lb/>wiederum 56 Tagen an dem Punkt anzulangen, von wo ſie <lb/>ausging, und um weiter einen gleichen Kreis in Ewigkeit <lb/>herum zu wandern.</s>
  <s xml:id="echoid-s9989" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9990" xml:space="preserve">Wenn wir nun verſichern, daß die zweite Erbſe, welche <lb/>die Erde darſtellt, ein Jahr brauchen wird, um ihren Kreis <lb/>zu vollenden, daß ferner das kleine Kügelchen, welches Mars <lb/>bedeuten ſoll, in 687 Tagen ſeinen Rundlauf machen wird, <lb/>daß die feinen Stäubchen, welche die 400 kleinen Planeten <lb/>vorſtellen, in 1100 bis 2000 Tagen, je nach ihrer Entfernung, <lb/>ihren Spaziergang machen, daß auch der Pfirſich in 12 Jahren, <lb/>die Kirſche in 29, die kleine Haſelnuß in 84, und die Quitte <lb/>in 165 Jahren um die Kugel wandern werden, ganz ſo wie <lb/>es Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun machen, ſo wird <lb/>man geſtehen, daß das Modell ganz gut ſtimmt.</s>
  <s xml:id="echoid-s9991" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div256" type="section" level="1" n="212">
<head xml:id="echoid-head238" xml:space="preserve"><emph style="bf">XVIII. Was wir zuweilen am Himmel ſehen</emph> <lb/><emph style="bf">können.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9992" xml:space="preserve">Nehmen wir nun an, daß wir unſer kleines Sonnenſyſtem <lb/>wirklich in Bewegung geſetzt, und zwar daß wir zu gleicher
<pb o="108" file="0732" n="732"/>
Zeit dem Senfkörnchen, den beiden Erbſen und den übrigen <lb/>Kügelchen, Stäubchen u. </s>
  <s xml:id="echoid-s9993" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s9994" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s9995" xml:space="preserve">den Stoß verſetzt haben, der ſie <lb/>wandern läßt, ſo wird es ſich bald zeigen, daß die Kügelchen, <lb/>welche die Planeten vorſtellen, nicht immer in einer Linie <lb/>und auch nicht gemeinſam ſtets auf einer Seite der großen <lb/>Kugel verharren.</s>
  <s xml:id="echoid-s9996" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s9997" xml:space="preserve">Schon vierundzwanzig Tage nach dem Beginn der Be-<lb/>wegung ſteht Merkur jenſeits der Sonne, denn er hat ſeinen <lb/>halben Rundlauf gemacht; </s>
  <s xml:id="echoid-s9998" xml:space="preserve">Venus iſt auch ſchon ein tüchtiges <lb/>Stück vorwärts gerückt; </s>
  <s xml:id="echoid-s9999" xml:space="preserve">die Erde hat ſich gleichfalls gehoben <lb/>und um ein merkliches ihren Standpunkt verändert; </s>
  <s xml:id="echoid-s10000" xml:space="preserve">auch bei <lb/>den weiter ſtehenden Planeten war dies in den 44 Tagen der <lb/>Fall, wenngleich ihre Orts-Veränderung unmerklicher wird, je <lb/>weiter ab ſie von der Sonne ſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10001" xml:space="preserve">Denken wir uns nun, daß <lb/>unſer künſtliches Sonnenſyſtem auch nur ein paar Jahrhunderte <lb/>Beſtand hat, und während dieſer Zeit alle Planeten unbekümmert <lb/>um einander ihre Bahn in den vorgeſchriebenen Zeiten wandern, <lb/>ſo wird es natürlich kommen, daß, wenn wir zu irgend einer <lb/>Zeit einmal nachſehen, wie es mit unſerm Kunſtwerk ſteht, wir <lb/>finden werden, daß die Planeten ſich auf allen Seiten in ſehr <lb/>verſchiedenen Stellungen zur Sonne befinden, daß der eine <lb/>rechts, der andere links, der eine ſeinen oberſten, der andere <lb/>ſeinen unterſten Stand erreicht hat, und mit einem Worte, alle <lb/>ſich ſo gruppiert haben, wie es die bisher verlaufene Zeit <lb/>ihrer Bewegung mit ſich bringt, ohne Rückſicht darauf, ob ſie <lb/>ehedem alle in einer Linie und nach einer Seite hin geſtanden <lb/>haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s10002" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10003" xml:space="preserve">Da man aber den Lauf der Planeten kennt und ihn im <lb/>voraus berechnen kann, ſo kann man den Zeitpunkt ſehr leicht <lb/>angeben, wo drei oder auch vier beliebige Planeten einmal in <lb/>einer geraden Linie ſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10004" xml:space="preserve">Bei den Planeten, die der Sonne <lb/>nahe ſind, alſo einen ſchnelleren Umlauf um dieſelbe haben, <lb/>wird der Fall zwar öfter vorkommen, als bei den entfernten
<pb o="109" file="0733" n="733"/>
Planeten, die ſich nur äußerſt langſam bewegen; </s>
  <s xml:id="echoid-s10005" xml:space="preserve">gleichwohl <lb/>gehört es ſchon zu den größten Seltenheiten, wenn einmal nur <lb/>die vier nächſten Planeten ſolch’ eine Stellung haben, daß, wenn <lb/>man einen Strich von einem zum andern zieht, man eine gerade <lb/>Linie hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s10006" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10007" xml:space="preserve">Dieſer ſeltene Fall hat ſich am 7. </s>
  <s xml:id="echoid-s10008" xml:space="preserve">und 8. </s>
  <s xml:id="echoid-s10009" xml:space="preserve">Februar des <lb/>Jahres 1855 ereignet, aber eine zweite Erſcheinung dieſer Art <lb/>erleben wir alle ſamt und ſonders nicht mehr.</s>
  <s xml:id="echoid-s10010" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10011" xml:space="preserve">Wir wollen kurz das darſtellen, was Mittwoch, den <lb/>7. </s>
  <s xml:id="echoid-s10012" xml:space="preserve">Februar und auch noch Donnerstag, am 8. </s>
  <s xml:id="echoid-s10013" xml:space="preserve">Februar 1855 <lb/>kurz nach Sonnenuntergang ungefähr nach 5 Uhr abends am <lb/>Himmel zu ſehen war. </s>
  <s xml:id="echoid-s10014" xml:space="preserve">Wenn man an den genannten Tagen <lb/>dem Sonnenuntergang das Geſicht zugewendet und in der <lb/>Abendröte etwas links über den Punkt, wo die Sonne unter-<lb/>gegangen iſt, hinblickte, ſo ſah man drei Sterne ſehr dicht <lb/>nebeneinander; </s>
  <s xml:id="echoid-s10015" xml:space="preserve">zwei derſelben waren ſchwächer zu ſehen, und <lb/>nur der dritte konnte ſelbſt von ſchwachen Augen deutlich er-<lb/>blickt werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s10016" xml:space="preserve">Alle drei waren Planeten, die eigentlich um die <lb/>Sonne laufen, und die in Wahrheit weit ab von einander <lb/>ſtanden; </s>
  <s xml:id="echoid-s10017" xml:space="preserve">nur dadurch, daß die Erde, welche ja auch ein Planet <lb/>iſt, gerade in dieſen Tagen bei ihrem Rundlauf um die Sonne <lb/>ſo ſtand, daß alle vier Planeten in faſt einer geraden Linie <lb/>waren, nur dadurch erblickte man jene drei Sterne, die tief <lb/>hinter einander ſtehen, neben einander. </s>
  <s xml:id="echoid-s10018" xml:space="preserve">Der helle Stern war <lb/>Venus, von den kleinern Sternen war der weiße der Planet <lb/>Merkur, der rötliche der Planet Mars. </s>
  <s xml:id="echoid-s10019" xml:space="preserve">In dieſer Stellung, <lb/>wie man ſie in der bezeichneten Stunde ſehen konnte, war <lb/>Merkur uns am nächſten von allen; </s>
  <s xml:id="echoid-s10020" xml:space="preserve">gleichwohl war er noch <lb/>an 28 Millionen Meilen von uns entfernt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10021" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10022" xml:space="preserve">Daß alſo dieſe drei Sterne dicht nebeneinander zu ſehen <lb/>waren, hatte nur ſeinen Grund in einem ſeltenen Zuſammen-<lb/>treffen, daß vier Planeten in ihrem von einander unabhängigen <lb/>Rundlauf einmal ſo ſtanden, daß ein Strich von einem zum
<pb o="110" file="0734" n="734"/>
andern gezogen, eine gerade Linie bildete, an deren einem Ende <lb/>wir uns auf der Erde befanden.</s>
  <s xml:id="echoid-s10023" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10024" xml:space="preserve">Aber durch ſolche Betrachtungen iſt unſre Reiſe gar zu <lb/>lange aufgehalten worden; </s>
  <s xml:id="echoid-s10025" xml:space="preserve">wir wollen uns daher nun beeilen, <lb/>um weiter zu kommen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10026" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div257" type="section" level="1" n="213">
<head xml:id="echoid-head239" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIX. Auf dem Mars.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10027" xml:space="preserve">Wir machen einen Ausflug nach dem Planeten Mars und <lb/>müſſen uns ſputen, zur rechten Zeit da anzukommen, denn es <lb/>wartet unſer dort ein aſtronomiſches Schauſpiel, das wir zwar <lb/>auf Erden genießen, wenn ein wolkenloſer Himmel es zu ſehen <lb/>geſtattet, das aber deshalb prachtvoller als das unſrige iſt, <lb/>weil die Erde zwar vom Mars ſo weit abſteht, wie Mars <lb/>von der Erde, aber dennoch einen ſchönern Anblick darbietet, <lb/>indem die Erdkugel um eine ganze Portion größer und alſo <lb/>auch beſſer zu ſehen iſt als die Marskugel von der Erde aus.</s>
  <s xml:id="echoid-s10028" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10029" xml:space="preserve">Da wir nun einmal auf dem Mars ſind, wollen wir uns <lb/>auch umſehen, ob wir etwas Neues auf ihm entdecken.</s>
  <s xml:id="echoid-s10030" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10031" xml:space="preserve">Vor allem können wir verſichern, daß es ſich auf Mars <lb/>äußerſt leicht lebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10032" xml:space="preserve">Die Maſſe des Mars iſt an achtmal ge-<lb/>ringer und die ganze Kugel hat einen nur etwa halb ſo großen <lb/>Durchmeſſer als die Erde. </s>
  <s xml:id="echoid-s10033" xml:space="preserve">Nun aber wiſſen wir ſchon, daß <lb/>die Anziehungskraft der Planeten ſchwächer iſt, wenn die Maſſe <lb/>derſelben geringer iſt und ſomit iſt auch die Auziehungskraft <lb/>des Mars achtmal geringer als die der Erde; </s>
  <s xml:id="echoid-s10034" xml:space="preserve">allein wir wiſſen <lb/>zugleich, daß die Anziehungskraft an der Oberfläche eines <lb/>Planeten viermal ſtärker iſt, wenn dieſe Oberfläche nur halb <lb/>ſo weit entfernt iſt vom Mittelpunkt der Planetenkugel als die <lb/>der Erde von ihrem Mittelpunkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10035" xml:space="preserve">Demnach iſt es ausgemacht, <lb/>daß die Anziehungskraft des Mars auf ſeiner Oberfläche wegen
<pb o="111" file="0735" n="735"/>
ſeiner geringen Maſſe achtmal ſchwächer iſt als die der Erde, <lb/>aber wegen der Kleinheit der Kugel viermal kräftiger wirkt; </s>
  <s xml:id="echoid-s10036" xml:space="preserve">es <lb/>läßt ſich alſo leicht einſehen, daß alle Dinge auf der Ober-<lb/>fläche des Mars nur halb ſo ins Gewicht fallen wie auf dem <lb/>Erdenrund.</s>
  <s xml:id="echoid-s10037" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10038" xml:space="preserve">Blicken wir vom Mars nach der Sonne, ſo finden wir, <lb/>daß ſie um ein volles Drittel kleiner im Durchmeſſer iſt als <lb/>auf Erden; </s>
  <s xml:id="echoid-s10039" xml:space="preserve">ihr Licht und die von ihr ausgehende Wärme iſt <lb/>um die Hälfte geringer als auf Erden. </s>
  <s xml:id="echoid-s10040" xml:space="preserve">Dabei fehlt es nicht <lb/>an Wolken, an Regen und Schnee auf dieſem Planeten, ja an <lb/>der Winterſeite des Mars — und er gleicht in dieſer Beziehung <lb/>ſo ziemlich der Erde, daß ebenfalls an einem Pole Winter, <lb/>wenn am andern Sommer iſt, — finden wir Eismaſſen an-<lb/>gehäuft, die des kommenden Sommers harren müſſen, um <lb/>teilweiſe abzuſchmelzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10041" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10042" xml:space="preserve">Der Tag auf Mars iſt noch nicht eine halbe Stunde <lb/>größer als auf Erden. </s>
  <s xml:id="echoid-s10043" xml:space="preserve">Seine Umdrehungszeit beträgt 24 <lb/>Stunden und 37 Minuten; </s>
  <s xml:id="echoid-s10044" xml:space="preserve">aber ſein Jahr, ſein Umlauf um <lb/>die Sonne, dauert faſt noch einmal ſo lange, wie auf der Erde. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10045" xml:space="preserve">Mars geht 687 Tage, um ſeine Bahn rings um die Sonne <lb/>zu vollenden, und da dieſe Bahn ſtark von einem Kreiſe ab-<lb/>weicht und nicht unbeträchtlich länglich iſt, ſo kommt er bei <lb/>ſeinem Umlauf der Sonne einmal bedeutend näher als an der <lb/>anderen Seite.</s>
  <s xml:id="echoid-s10046" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10047" xml:space="preserve">Gar zu gern möchten wir unſern Reiſebericht auch auf die <lb/>Merkwürdigkeiten der Pflanzen- und Tierwelt oder gar des <lb/>“Menſchen”-Geſchlechts auf Mars ausdehnen; </s>
  <s xml:id="echoid-s10048" xml:space="preserve">allein, wenn wir <lb/>wahr ſein ſollen, ſo müſſen wir geſtehen, daß wir hiervon <lb/>nicht mehr wiſſen als die Naturforſcher, die unſere Reiſe nicht <lb/>mitgemacht haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s10049" xml:space="preserve">— Nur ſo viel dürfen wir ſagen, daß, <lb/>wenn irgend ein Planet mit Pflanzen, ähnlich den unſeren, <lb/>und mit Tieren und Menſchen unſerer Gattung belebt iſt, dies <lb/>beim Mars am eheſten der Fall ſein kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s10050" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="112" file="0736" n="736"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10051" xml:space="preserve">Luft, Wolken, Regen, Schnee und Eis, die Mars in Wirk-<lb/>lichkeit beſitzt, deuten darauf hin, daß die Witterungs-Verhält-<lb/>niſſe auf Mars von den unſern nicht allzu ſehr abweichen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10052" xml:space="preserve">Zwar iſt auf ihm die Erwärmung und Beleuchtung durch die <lb/>Sonne nur halb ſo bedeutend wie auf Erden: </s>
  <s xml:id="echoid-s10053" xml:space="preserve">allein wir haben <lb/>auf Erden Gegenden genug, wo Sonnenwärme und Sonnen-<lb/>licht in eben ſo geringem Grade herrſchen, und finden dieſe <lb/>doch von Pflanzen, Tieren und Menſchen belebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10054" xml:space="preserve">Die Tages-<lb/>länge iſt der unſern ſehr gleich und Abwechslung von Tag <lb/>und Nacht nur in unweſentlichem Grade von der irdiſchen ver-<lb/>ſchieden. </s>
  <s xml:id="echoid-s10055" xml:space="preserve">Nur die Schwere iſt um die Hälfte geringer, und <lb/>wenn wir hieraus den Schluß ziehen ſollen, daß Pflanze, <lb/>Tier und Menſch an Wachstum und Muskel-Stärke ſtets ſo <lb/>eingerichtet ſind, daß ſie in einem gewiſſen Verhältnis zur An-<lb/>ziehungskraft ihres Planeten ſtehen, ſo haben wir nur das <lb/>Recht, anzunehmen, daß die Geſchöpfe auf Mars wohl nur halb <lb/>ſo groß und halb ſo ſtark als unſere ſein werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s10056" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10057" xml:space="preserve">Das auffallendſte auf dem Planeten Mars, wie er ſich <lb/>im Fernrohr darſtellt, ſind eine große Menge außerordentlich <lb/>langer und breiter, ſchnurgerader Kanäle, die meiſt die Meere <lb/>des Mars mit einander verbinden und die auf Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s10058" xml:space="preserve">11 deutlich <lb/>zu ſehen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s10059" xml:space="preserve">Von Zeit zu Zeit zeigen dieſe Kanäle ſich ſogar <lb/>doppelt, ſo daß man immer zwei genau parallel neben einander <lb/>herlaufen ſieht (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s10060" xml:space="preserve">25). </s>
  <s xml:id="echoid-s10061" xml:space="preserve">Was es mit dieſen auffallend regel-<lb/>mäßigen Gebilden für eine Bewanduis hat, läßt ſich nicht mit <lb/>Sicherheit erſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10062" xml:space="preserve">Es iſt aber leicht möglich, daß man es <lb/>hier mit Kunſtwerken denkender Weſen zu thun hat, wenngleich <lb/>man aus der ungeheuren Größe der Kanäle auf eine Intelligenz <lb/>und techniſche Geſchicklichkeit der Marsbewohner ſchließen müßte, <lb/>welche die unſere weit, weit überragt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10063" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10064" xml:space="preserve">Aber dafür, daß wir vom Mars-Rund und was auf ihm <lb/>lebt und atmet, nicht viel ſagen können, wollen wir verſichern, <lb/>daß der Himmel des Mars in weſentlichen Beziehungen Inter-
<pb o="113" file="0737" n="737"/>
eſſantes darbietet, und das beſteht darin, daß man auf dem <lb/>Mars längſt alle kleinen Planeten entdeckt hat, die erſt auf <lb/>Erden in dieſem Jahrhundert entdeckt wurden, und daß der <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0737-01a" xlink:href="fig-0737-01"/>
Jupiter, der ſchon bei uns ſo ſchön leuchtet, auf dem Mars <lb/>eine wahre Zierde des Himmels und für Verliebte ganz ſo ein <lb/>Gegenſtand der Schwärmerei iſt, wie wir für den ſchönen Abend-<lb/>ſtern ſchwärmen, der den Liebesnamen Venus führt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10065" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div257" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0737-01" xlink:href="fig-0737-01a">
<caption xml:id="echoid-caption50" xml:space="preserve">Fig. 25. Kanäle auf Mars, verdoppelt.</caption>
<description xml:id="echoid-description16" xml:space="preserve">Süd<lb/>Nord</description>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10066" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s10067" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s10068" xml:space="preserve">Volksbücher XVI.</s>
  <s xml:id="echoid-s10069" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="114" file="0738" n="738"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div259" type="section" level="1" n="214">
<head xml:id="echoid-head240" xml:space="preserve"><emph style="bf">XX. Die kleinen Planeten.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10070" xml:space="preserve">Vom Mars aus führt uns unſer Weg nach einer Gegend <lb/>des Weltraums, die man noch vor wenigen Jahrzehnten für <lb/>den Schauplatz einer einſtmals ſtattgehabten, entſetzlichen Zer-<lb/>ſtörung ausgab, die aber, wie wir uns überzeugen werden, <lb/>ganz unſchuldig zu ihrem üblen Ruf gekommen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10071" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10072" xml:space="preserve">Wir nahen uns nämlich der Weltgegend, wo mindeſtens <lb/>vierhundert kleine Planeten ſich um die Sonne bewegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10073" xml:space="preserve">Dieſer <lb/>Raum wurde noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts für <lb/>vollkommen leer gehalten, weil man dieſe kleinen Wanderer <lb/>noch nicht entdeckt hatte, vielmehr meinte, daß zwiſchen Mars <lb/>und Iupiter kein weiterer Planet vorhanden ſei.</s>
  <s xml:id="echoid-s10074" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10075" xml:space="preserve">Gleichwohl fiel dieſe Lücke den Aſtronomen des vorigen <lb/>Jahrhunderts ſehr auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s10076" xml:space="preserve">Der Abſtand Merkurs von der Sonne <lb/>beträgt acht Millionen Meilen; </s>
  <s xml:id="echoid-s10077" xml:space="preserve">hierauf folgt Venus, deren <lb/>Entfernung kaum noch einmal ſo groß iſt, da dieſe nur <lb/>14 Millionen Meilen beträgt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10078" xml:space="preserve">Die Erde iſt 20 Millionen <lb/>Meilen von der Sonne entfernt, ihre Bahn iſt alſo von der <lb/>der Venus eben ſo weit abliegend, wie die von Venus und <lb/>Merkur. </s>
  <s xml:id="echoid-s10079" xml:space="preserve">Mars, der in 31 Millionen Meilen Entfernung ſeinen <lb/>Lauf um die Sonne nimmt, ſteht von der Erde wiederum nur <lb/>um einen kleinen Teil ſeiner Entfernung von der Sonue ab. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10080" xml:space="preserve">Nun aber folgte nach den Wahrnehmungen der älteren Aſtro-<lb/>nomen, welche die kleinen Planeten nicht kannten, ſofort Iupiter <lb/>als der Planet — hinter Mars. </s>
  <s xml:id="echoid-s10081" xml:space="preserve">Iupiter aber iſt 103 Mil-<lb/>lionen Meilen von der Sonne entfernt, das heißt, ſeine Ent-<lb/>fernung von der Sonne übertrifft die des Mars um mehr als <lb/>dreimal. </s>
  <s xml:id="echoid-s10082" xml:space="preserve">— Eine ſolche Raumverſchwendung im Weltgebäude, <lb/>wo zwar keine Raumerſparnis exiſtiert, erſchien auch den Aſtro-<lb/>nomen des vorigen Jahrhunderts zu auffallend, und es ſprachen <lb/>einige von ihnen die Vermutung aus, daß der große Raum
<pb o="115" file="0739" n="739"/>
zwiſchen Mars und Iupiter wohl auch urſprünglich von einem <lb/>Planeten bevölkert geweſen ſein möge, der aber durch irgend <lb/>einen Umſtand zerſtört worden ſei.</s>
  <s xml:id="echoid-s10083" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10084" xml:space="preserve">So überaus kühn dieſe von dem Berliner Aſtronom <emph style="sp">Bode</emph> <lb/>(1747—1826) ſehr ernſt ausgeſprochene Anſicht auch erſchien, <lb/>ſo ungemein ſchnell neigte man ſich dieſer Anſicht zu, als am <lb/>1. </s>
  <s xml:id="echoid-s10085" xml:space="preserve">Januar 1801 ein kleiner Planet entdeckt wurde, deſſen Bahu <lb/>zwiſchen Mars und Iupiter ſich befindet, und als man einige <lb/>Jahre darauf noch drei andere kleine Planeten entdeckte, die <lb/>alle in jener längſt aufgefallenen Lücke ihren Rundgang um <lb/>die Sonne machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10086" xml:space="preserve">Es galt nun für ausgemacht, daß an <lb/>dieſer Stelle einmal ein ordentlicher Planet exiſtiert habe, daß <lb/>aber derſelbe durch irgend eine Urſache zerſprengt und in <lb/>einzelue Stücke zerbrochen worden ſei, die nun als Trümmer <lb/>einer Welt um die Sonne wandern.</s>
  <s xml:id="echoid-s10087" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10088" xml:space="preserve">Es iſt kaum glaublich, wie ſehr dieſer Gedanke eines zer-<lb/>ſtörten Planeten Eingang fand unter den Aſtronomen und <lb/>unter den Naturforſchern überhaupt! Nicht nur wurden die <lb/>Möglichkeiten aufgeführt, die dieſes Zerſpringen veranlaßt haben <lb/>könnten, ſondern die Frage, ob unſerer Erde einmal ein ſolches <lb/>Schickſal bevorſtehe, fand ernſte und andauernde Behandlung. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10089" xml:space="preserve">Das mildeſte, das man als Urſache dieſer Zerſtörung eines <lb/>Planeten auffand, war der Zuſammenſtoß desſelben mit einem <lb/>Kometen, ein Zuſammenſtoß, der freilich nur möglich wäre, <lb/>wenn Komet und Planet ſich einmal in ganz genauer gerader <lb/>Linie aufeinanderzu bewegen, und bei dem vorausgeſetzt werden <lb/>muß, daß der Komet eine feſte, kompakte Maſſe iſt, gewaltig <lb/>genug, um ſolche Wirkung hervorzubringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10090" xml:space="preserve">Allein beide An-<lb/>nahmen haben keinen innern Grund. </s>
  <s xml:id="echoid-s10091" xml:space="preserve">Das Zuſammenſtoßen <lb/>in ganz gerader Liuie gehört faſt zu den Unmöglichkeiten im <lb/>Weltraum, wo ſich alle Himmelskörper in krummen Linien be-<lb/>wegen und ſchon in weiter Ferne auf ihren Lauf einen Ein-<lb/>fluß ausüben. </s>
  <s xml:id="echoid-s10092" xml:space="preserve">Zudem iſt es Thatſache, daß die Kometen nur
<pb o="116" file="0740" n="740"/>
aus einer äußerſt loſen Maſſe beſtehen, und als ſolche keinem <lb/>Planeten einen derartigen Schaden zufügen können, wie es <lb/>denn erwieſen iſt, daß ein Komet im Jahre 1770 und bald <lb/>darauf noch einmal im Jahre 1776 mitten zwiſchen Iupiter <lb/>und ſeinen vier Monden hindurchging, ohne die allermindeſte <lb/>Zerſtörung daſelbſt anzurichten oder auch nur auf den Lauf <lb/>dieſer Monde einen Einfluß ausgeübt zu haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s10093" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10094" xml:space="preserve">Es blieb alſo nichts übrig als ein ſo gewaltiges Erd-<lb/>beben oder richtiger Planet-Beben als den Grund der Zer-<lb/>ſprengung jener Planeten anzunehmen, deſſen einzelne Stücke <lb/>wir jetzt zu ſehen bekämen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10095" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10096" xml:space="preserve">Allein auch dieſe Anſicht iſt abenteuerlich und ſogar natur-<lb/>wiſſenſchaftlich falſch; </s>
  <s xml:id="echoid-s10097" xml:space="preserve">denn neuere Unterſuchungen über die <lb/>Wärme haben den Beweis geliefert, daß dieſe niemals eine <lb/>ſolche und in keinem Fall eine größere Kraft ausüben kann, <lb/>wie die, welche zur Erzeugung derſelben notwendig geweſen iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10098" xml:space="preserve">Rührt nun die innere Wärme der Planeten von der Zu-<lb/>ſammenziehung und Verdichtung derſelben her, ſo iſt es rein <lb/>unmöglich, daß dieſelbe Wärme wiederum den ganzen Planeten <lb/>zerſprengen könne.</s>
  <s xml:id="echoid-s10099" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div260" type="section" level="1" n="215">
<head xml:id="echoid-head241" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXI. Die Bahnen der kleinen Rundläufer.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10100" xml:space="preserve">Es iſt nicht leicht, ſich einen ſichern Standort im Welt-<lb/>raum zur ungeſtörten Betrachtung der kleinen Planeten zu ver-<lb/>ſchaffen; </s>
  <s xml:id="echoid-s10101" xml:space="preserve">denn in Wahrheit kennt man den Lauf der meiſten <lb/>doch nur unvollkommen, und man iſt außerdem nicht ſicher, <lb/>daß nicht noch ſehr viel kleine, ungekannte Planeten in dieſer <lb/>Himmelsgegend exiſtieren, und kann darum nicht dafür ein-<lb/>ſtehen, daß man nicht von irgend einem, der bisher noch nicht <lb/>entdeckt iſt, in ſehr unhöflicher Weiſe angerannt wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s10102" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="117" file="0741" n="741"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10103" xml:space="preserve">Gleichwohl hoffen wir, daß wir auf dem Punkt am <lb/>ſicherſten ſein werden, wo die kleinen Planeten in ihrem Rund-<lb/>lauf um die Sonne zugleich dem Planeten Iupiter, ihrem Nach-<lb/>bar, am nächſten kommen, denn wenn wir auch das Ungemach <lb/>hätten, gerade in der ordentlichen Bahn eines ſolchen Wan-<lb/>derers Platz genommen zu haben, ſo würde er dennoch <lb/>nicht auf uns zukommen, ſondern durch die Anziehung Iu-<lb/>piters abgelenkt ein recht gründliches Stück uns vom Leibe <lb/>bleiben.</s>
  <s xml:id="echoid-s10104" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10105" xml:space="preserve">Aber gerade dieſer Umſtand, daß nämlich dieſe kleinen <lb/>Plaueten, welche wahrſcheinlich in ſehr, ſehr großer Zahl <lb/>exiſtieren, von denen wir nur die größten, 400 bisher, von der <lb/>Erde aus zu ſehen vermochten, — der Umſtand, daß dieſe <lb/>Dingerchen kranzartig um die Sonne wandern, daß aber jeder <lb/>von ihnen, wenn er nach der Gegend kommt, wo Iupiter ihm <lb/>am nächſten iſt, von dieſem angezogen und abgelenkt wird von <lb/>ſeiner Bahn, — gerade dieſer Umſtand wird es begreiflich <lb/>machen, daß der Lauf der kleinen Planeten in nicht ge-<lb/>ringe Verwirrung kommen und es nicht wenig Schwierig-<lb/>keiten bieten muß, jedem von ihnen die Marſchroute genau <lb/>vorzuſchreiben.</s>
  <s xml:id="echoid-s10106" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10107" xml:space="preserve">Die Bahnen der kleinen Planeten zeigen auch in Wahr-<lb/>heit Abweichungen von denen der andern Planeten, die nicht <lb/>unbeträchtlich ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s10108" xml:space="preserve">Mehrere derſelben haben ſtatt eines runden <lb/>einen ſehr in die Länge gezogenen Rundlauf, einige gehen, <lb/>ſtatt immer in der Ebene der andern Planeten zu bleiben, be-<lb/>trächtlich nach beiden Seiten aus, ſo daß ihre Bahnen ſich ſchon <lb/>ganz bedeutend mit den Bahn-Ebenen der andern Planeten <lb/>kreuzen; </s>
  <s xml:id="echoid-s10109" xml:space="preserve">aber in dieſem Lauf erleiden ſie nicht nur von der <lb/>Maſſe Jupiters allein, ſondern auch durch die gegenſeitige Ein-<lb/>wirkung auf einander Störungen, die ſo weſentlich ſind, daß <lb/>ſie ſelbſt beim beſten Willen von der Welt nicht in gar zu ge-<lb/>ordnetem Zuſtand bleiben könnten.</s>
  <s xml:id="echoid-s10110" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="118" file="0742" n="742"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10111" xml:space="preserve">Und ſo @llen wir denn dieſe kleinen Rundläufer im <lb/>Parademarſch an uns vorbeipaſſieren laſſen, und nur gelegent-<lb/>lich einige Bemerkungen an dieſelben knüpfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10112" xml:space="preserve">Vor allem <lb/>müſſen wir ſagen, daß diejenigen ſich ſehr irren, welche ſich <lb/>die Vorſtellung machen, daß wir wirklich 400 Planetchen als <lb/>eine gemeinſchaftliche Reiſegeſellſchaft wahrnehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10113" xml:space="preserve">Die Reiſe <lb/>dieſer Himmelskörper geht durchweg vereinzelt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10114" xml:space="preserve">Wenn der eine <lb/>an uns vorüberzieht ſeines Weges, müſſen wir bald längere, <lb/>bald kürzere Zeit warten, um einen zweiten auf ähnlichem <lb/>Marſch zu ſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10115" xml:space="preserve">Da aber die der Sonne entfernteren lang-<lb/>ſamer im Rundlauf ſind als die nahen, ſo kommt es freilich <lb/>oft genug vor, daß man zwei kleine Planeten für eine kurze <lb/>Zeit wie in gemeinſchaftlicher Reiſe erblickt; </s>
  <s xml:id="echoid-s10116" xml:space="preserve">allein wenn ſie <lb/>ſich auch in ſolchen Fällen gegenſeitig anziehen und ein wenig <lb/>einander nähern, ſo hört doch dies bald auf, weil der der <lb/>Sonne nähere Planet immer bei ſeinem ſchnellern Lauf ver-<lb/>harrt, aus dem er ſich nur ſehr wenig von ſeinem Kollegen <lb/>ſtören läßt, und demnach voreilt in der Bahn und dem ent-<lb/>fernteren Mitläufer die Sorge überläßt, wie er mit ſeiner <lb/>Bahn allein fertig wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s10117" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10118" xml:space="preserve">Freilich giebt es einige Punkte im Weltraum, wo ſchein-<lb/>bar einzelne Bahnen der kleinen Planeten ſich näher aneinander <lb/>befinden als ſonſt wo, und ein ſolcher Punkt iſt ungefähr die <lb/>Gegend am Himmel, wo wir im Auguſt die Sonne ſehen, alſo <lb/>eine Gegend etwa im Sternenbild der Jungfrau. </s>
  <s xml:id="echoid-s10119" xml:space="preserve">Hier in <lb/>dieſer Himmelsgegend, die von den Aſtronomen eine Zeitlang <lb/>fleißiger beobachtet wurde als eine andere, hat man auch einige <lb/>Wanderer unſerer Sorte ertappt; </s>
  <s xml:id="echoid-s10120" xml:space="preserve">allein man darf ſich nicht <lb/>vorſtellen, als ob dies der geeignete Ort iſt, wo ſich die kleinen <lb/>Planeten wirklich ein Rendezvous geben, ſondern darf in dieſer <lb/>Gegend nur die Stelle ſuchen, wo ſich mehrere Bahnen der <lb/>kleinen Planeten kreuzen und deshalb einem Auflauern der <lb/>Aſtronomen einigen Erfolg verſprechen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10121" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="119" file="0743" n="743"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10122" xml:space="preserve">Wie mag ſich’s wohl auf ſolch’ kleinem Planeten leben?</s>
  <s xml:id="echoid-s10123" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10124" xml:space="preserve">Hierauf wiſſen wir freilich nur ſehr wenig zu antworten, <lb/>denn man kennt bisher noch ſehr wenig die Maſſe eines kleinen <lb/>Planeten, und ſelbſt ihr Durchmeſſer iſt noch ſehr unbe-<lb/>ſtimmbar. </s>
  <s xml:id="echoid-s10125" xml:space="preserve">Aus der Helligkeit der kleinen Planeten hat Klein <lb/>ihre Durchmeſſer berechnet, und für dieſelben Werte gefunden, <lb/>welche an Kleinheit alle Erwartungen übertreffen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10126" xml:space="preserve">Der größte <lb/>hat hiernach einen Durchmeſſer von nur 46,2 Meilen, und der <lb/>kleinſte ſogar nur 4,9 geographiſche Meilen im Durchmeſſer.</s>
  <s xml:id="echoid-s10127" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10128" xml:space="preserve">Nicht gar fern von dieſen Rundläufern aber entdecken wir <lb/>zwei neue Himmelskörper, die intereſſanter Natur ſind, und <lb/>dieſe müſſen wir uns näher betrachten.</s>
  <s xml:id="echoid-s10129" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div261" type="section" level="1" n="216">
<head xml:id="echoid-head242" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXII. Zwei eigentümliche Kometen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10130" xml:space="preserve">Die zwei eigentümlichen Himmelskörper, welche wir jetzt <lb/>ins Auge faſſen wollen, gehören nicht den Planeten an, ſondern <lb/>ſind Gäſte, die ſich eigentlich ganz unberufen eingedrängt <lb/>haben in die Bahnen der Planeten, und die, wie wir ſehen <lb/>werden, Urſache haben, ſich zu hüten, daß ſie nicht einem Pla-<lb/>neten größerer Sorte einmal begegnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10131" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10132" xml:space="preserve">Um es mit einem Worte zu ſagen, wir verſtehen unter <lb/>den zwei fremdartigen Gäſten zwei kleine Kometen, welche <lb/>ganz kurioſe Umläufe um die Sonne machen, wie das den <lb/>Kometen überhaupt eigen zu ſein ſcheint. </s>
  <s xml:id="echoid-s10133" xml:space="preserve">Der eine dieſer <lb/>Kometen, der unter dem Namen Encke’ſcher Komet bekaunt iſt, <lb/>— weil ſein Lauf von <emph style="sp">Encke</emph> (1791—1865), dem früheren <lb/>Direktor der Berliner Sternwarte, berechnet worden — geht <lb/>in einem ſo länglichen Kreis um die Soune, daß er der Sonne <lb/>bis auf 6 Millionen Meilen nahe kommt, ihr alſo näher ſteht
<pb o="120" file="0744" n="744"/>
als der ihr nächſte Planet Merkur; </s>
  <s xml:id="echoid-s10134" xml:space="preserve">aber wenn dies geſchehen <lb/>iſt, läuft der Komet in ſeiner Bahn wieder davon und entfernt <lb/>ſich von der Sonne, bis er ſeine größte Entfernung, 80 Millionen <lb/>Meilen von derſelben, erreicht hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s10135" xml:space="preserve">— Man ſieht, daß der <lb/>Rundlauf dieſes Kometen ſo in die Länge gezogen iſt, daß <lb/>ſeine Bahn die Bahnen aller Planeten, die wir bisher be-<lb/>trachtet haben, durchkreuzt, und daß dieſer Komet den Vorteil <lb/>genießt, bald der Sonne näher zu ſein als irgend ein Planet, <lb/>und bald ſich von ihr mehr zu entfernen als irgend einer der <lb/>400 kleinen Planeten.</s>
  <s xml:id="echoid-s10136" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10137" xml:space="preserve">Dieſen Rundlauf macht er in drei Jahren und hundert-<lb/>fünfzehn Tagen, und zwar geht er in der Hälfte der Zeit die <lb/>halbe Reiſe von ſeiner Sonnenferne bis zur Sonnennähe in <lb/>immer zunehmender Geſchwindigkeit; </s>
  <s xml:id="echoid-s10138" xml:space="preserve">in der Sonnennähe hat <lb/>er die größte Geſchwindigkeit erreicht und macht nun, daß er <lb/>davon kommt, und zwar mit abnehmender Geſchwindigkeit, ſo <lb/>daß er in der andern halben Umlaufszeit die andere Hälfte <lb/>ſeiner Reiſe vollendet und in ſeiner Sonnenferne mit ſeiner <lb/>kleinſten Geſchwindigkeit ankommt, um ſofort wieder ſeinen <lb/>Rundlauf aufs Neue zu beginnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10139" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10140" xml:space="preserve">Der zweite Komet, der gleichfalls ſo kühn iſt, ſeine Bahn <lb/>unter die der Planeten zu verlegen, der aber inzwiſchen ſich <lb/>vollſtändig in ſeine Teile aufgelöſt hat und jetzt nur noch einen <lb/>Sternſchnuppenſchwarm darſtellt, (ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s10141" xml:space="preserve">Teil VII) iſt unter dem <lb/>Namen der Biela’ſche bekannt, weil er von Biela, einem öſter-<lb/>reichiſchen Offizier, im Jahre 1826 entdeckt und auch berechnet <lb/>worden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10142" xml:space="preserve">Er läuft in ſechs Jahren und neun Monaten um <lb/>die Sonne, und zwar ebenfalls nach Kometen-Art in einem <lb/>ſehr länglichen Rundlauf, wobei er einmal der Sonne auf <lb/>18 Millionen Meilen nahe kommt, und nach ſeinem halben <lb/>Umlauf ihr wieder auf 120 Millionen Meilen entfernt iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10143" xml:space="preserve">Dieſer Komet, der in der mittleren Entfernung auch in der <lb/>Gegend iſt, wo die kleinen Planeten hauſen, unterſcheidet ſich
<pb o="121" file="0745" n="745"/>
von dem Encke’ſchen Kometen dadurch, daß er etwa nur bis <lb/>über die Erd-Bahn ſtreift, wenn er der Sonne ſich nähert, <lb/>während der Encke’ſche ſogar bis über Merkurs Bahn hin der <lb/>Sonne nahe tritt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10144" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10145" xml:space="preserve">Beide Kometen aber haben inſofern Ähnlichkeit, daß ſie <lb/>erſtens gar niemals aus dem Bereich der Planeten-Bahnen <lb/>hinauskommen, daß ſie ferner eine Umlaufszeit haben, die weit <lb/>kleiner iſt als die meiſten der ſonſt bekannten Kometen; </s>
  <s xml:id="echoid-s10146" xml:space="preserve">zudem <lb/>wandern ſie in gleicher Richtung mit den Planeten, das heißt, <lb/>wie dieſe, ſtets von Weſten nach Oſten, und endlich gehen ſie <lb/>zwar ein wenig quer durch die Bahnen und weichen beide <lb/>etwas im Lauf nach Norden und Süden aus; </s>
  <s xml:id="echoid-s10147" xml:space="preserve">aber doch nicht <lb/>ſo wie manche andere Kometen, die in allen möglichen Rich-<lb/>tungen ihren Lauf um die Sonue nehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10148" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10149" xml:space="preserve">Zwei Umſtände aber ſind es, die dieſe Himmelskörper <lb/>ganz beſonders vor allen bisher bekannten auszeichnen, denn <lb/>ſie bieten Erſcheinungen dar, die ganz eigentümlich und einzig <lb/>in ihrer Art ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s10150" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10151" xml:space="preserve">Der Encke’ſche Komet zeigt etwas, was ſich bei keinem <lb/>Himmelskörper ſonſt zeigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10152" xml:space="preserve">Seine Umlaufszeit um die Sonne <lb/>wird immer kürzer. </s>
  <s xml:id="echoid-s10153" xml:space="preserve">Die Rechnung zeigt, daß dieſer Komet in <lb/>einer Art länglicher Spiral-Linie um die Sonne geht und <lb/>dadurch der Sonne immer nach und nach näher kommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10154" xml:space="preserve">Bei <lb/>jedem Umlauf nimmt ſeine Sonnennähe zu, und es unterliegt <lb/>keinem Zweifel, daß er einmal, wenngleich erſt nach vielen <lb/>Jahrtauſenden in die Sonne hineinlaufen und daun ſich nicht <lb/>mehr von ihr wird losmachen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s10155" xml:space="preserve">Die einzige Erklärung <lb/>dieſes merkwürdigen Umſtandes kann nur darin gefunden <lb/>werden, daß man annimmt, es ſei der Weltraum nicht völlig <lb/>leer, ſondern mit einem äußerſt feinen, gasartigen Stoff erfüllt, <lb/>den man Äther nenut. </s>
  <s xml:id="echoid-s10156" xml:space="preserve">Obgleich man dieſen Äther nirgend <lb/>ſpürt oder ſieht, ſo zweifelt man doch nicht mehr an ſeiner <lb/>Exiſtenz, ſeitdem es ſich durch Rechnungen und Verſuche er-
<pb o="122" file="0746" n="746"/>
geben hat, daß das Licht der Soune und der Geſtirne über-<lb/>haupt nur dadurch bis zu uns dringt, daß die leuchtenden Ge-<lb/>ſtirue dieſen Äther in Schwingungen verſetzen und dieſe <lb/>Schwingungen mit ungeheuerer Geſchwindigkeit ſich nach allen <lb/>Richtungen hin verbreiten. </s>
  <s xml:id="echoid-s10157" xml:space="preserve">Der Äther aber, ſo fein er iſt, und <lb/>ſo wenig Widerſtand er dem Lauf der andern Himmelskörper <lb/>bereitet, genügt doch, dem Fortſchreiten des Encke’ſchen Kometen, <lb/>der von äußerſt loſer Maſſe iſt, hinderlich zu ſein, und ſo <lb/>überwiegt denn bei ihm die Anziehungskraft der Sonne derart, <lb/>daß er nach und nach ihr unterliegen und in die Sonne hinein <lb/>laufen muß.</s>
  <s xml:id="echoid-s10158" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div262" type="section" level="1" n="217">
<head xml:id="echoid-head243" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXIII. Ein wenig Kometen-Furcht.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10159" xml:space="preserve">Indem wir das Gebiet verlaſſen, wo die kleinen Planeten <lb/>ihren Rundlauf machen, wollen wir noch einen Blick auf den <lb/>Biela’ſchen Kometen werfen, der in ganz eigner Weiſe entzwei <lb/>gegangen iſt, und es nur ſagen, daß es ihm ſchon recht ge-<lb/>ſchehen, da er vor etwa ſiebzig Jahren ſo kühn war, der <lb/>Menſchheit einigen Schreck einzujagen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10160" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10161" xml:space="preserve">Die Sache war nämlich folgende. </s>
  <s xml:id="echoid-s10162" xml:space="preserve">Dieſer Komet geht, wie <lb/>bereits geſagt, in 6 {3/4} Jahren um die Sonne und iſt in ſeiner <lb/>Sonnennähe nur noch 19 Millionen Meilen von derſelben ent-<lb/>fernt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10163" xml:space="preserve">Nun iſt die Erde überhaupt nur 20 Millionen Meilen <lb/>entfernt von der Sonne; </s>
  <s xml:id="echoid-s10164" xml:space="preserve">wenn demnach dieſer Komet auf der <lb/>Reiſe zu ſeiner Sonnennähe ſo weit gekommen iſt, daß er nur <lb/>noch eine Million Meilen zu machen oder auf der Rückreiſe <lb/>daſelbſt eine Million Meilen zurückgelegt hat, iſt er eben ſo <lb/>weit entfernt von der Sonne wie die Erde. </s>
  <s xml:id="echoid-s10165" xml:space="preserve">Geſchieht nun <lb/>dies ſo, daß der Komet einmal auf der einen Seite der Sonue <lb/>zwanzig Millionen Meilen weit von ihr entfernt iſt, während
<pb o="123" file="0747" n="747"/>
die Erde ebenſo weit entfernt auf der andern Seite der Sonne <lb/>ihren Spaziergang macht, ſo hat das begreiflicherweiſe nichts <lb/>zu ſagen, weil dann die beiden Himmelskörper volle 40 Mil-<lb/>lionen Meilen von einander getrennt ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s10166" xml:space="preserve">Allein im Lauf <lb/>der Zeit kann ſich’s doch ereignen, daß der Komet gerade der <lb/>Erde über den Weg läuft oder, was noch kurioſer wäre, <lb/>gegen die Erde anrennt, und das klingt denn doch etwas be-<lb/>denklich.</s>
  <s xml:id="echoid-s10167" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10168" xml:space="preserve">Die Aſtronomen haben deshalb gleich nach der Eutdeckung <lb/>dieſes Kometen den Punkt und die Zeit zu beſtimmen geſucht, <lb/>wo dergleichen geſchehen kann, und bei dieſer Gelegenheit er-<lb/>gab es ſich durch die Rechnung, daß der Komet am 29. </s>
  <s xml:id="echoid-s10169" xml:space="preserve">Ok-<lb/>tober 1832 nur etwa 1500 Meilen von der Erdbahn entfernt <lb/>ſein wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s10170" xml:space="preserve">— Kaum wurde dies im Publikum bekannt, als <lb/>ſich auch bereits eine ungemeine Furcht vor einem nahen Welt-<lb/>untergang der Gemüter bemächtigte.</s>
  <s xml:id="echoid-s10171" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10172" xml:space="preserve">Vergeblich machten die Naturforſcher zur Entkräftung des <lb/>Irrtums darauf aufmerkſam, daß zwar der Komet nur 1500 <lb/>Meilen von der Erdbahn entfernt ſein wird, aber die Erdbahn <lb/>iſt ja nicht die Erde ſelber, die Erdbahn ſei vielmehr an ſich gar <lb/>nichts; </s>
  <s xml:id="echoid-s10173" xml:space="preserve">eben ſo wenig ein Ding, wie etwa der Weg, den ein <lb/>geworfener Stein zurücklegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10174" xml:space="preserve">Die Erde ſelber aber werde am <lb/>29. </s>
  <s xml:id="echoid-s10175" xml:space="preserve">Oktober 1832 noch über 13 Millionen Meilen zu laufen <lb/>haben, bevor ſie an die Stelle komme, wo an dieſem Tage der <lb/>Komet ſtehen werde, und inzwiſchen ſei der Komet wieder ſo <lb/>zu ſagen über alle Berge.</s>
  <s xml:id="echoid-s10176" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10177" xml:space="preserve">Es war vergeblich; </s>
  <s xml:id="echoid-s10178" xml:space="preserve">die Furchtſamen ließen ſich’s nicht <lb/>ausreden, bis die Zeit ſelbſt ſie von ihrer Furcht geheilt hat. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10179" xml:space="preserve">Die Welt ging bekanutlich nicht unter, und die Meuſchen ver-<lb/>gaßen ihre Thorheit, um ſich gelegentlich andere Thorheiten in <lb/>den Kopf ſetzen zu könuen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10180" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10181" xml:space="preserve">Wie aber ſteht’s denn wirklich mit dieſem Kometen? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10182" xml:space="preserve">Kaun er nicht einmal in der That an einem und demſelben
<pb o="124" file="0748" n="748"/>
Punkt mit der Erde zugleich eintreffen? </s>
  <s xml:id="echoid-s10183" xml:space="preserve">Wie wird es dann <lb/>ihm und der Erde ergehen?</s>
  <s xml:id="echoid-s10184" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10185" xml:space="preserve">Nun: </s>
  <s xml:id="echoid-s10186" xml:space="preserve">Am 27. </s>
  <s xml:id="echoid-s10187" xml:space="preserve">November 1872 iſt, wie wir ſchon hörten <lb/>(ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s10188" xml:space="preserve">Teil VII) nach der Annahme mehrerer Aſtronomen der Biela’ſche <lb/>Komet wirklich mit der Erde zuſammengeſtoßen, ohne ihr, wie <lb/>wir nun wiſſen, irgend welchen Schaden zugefügt zu haben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10189" xml:space="preserve">Alſo iſt es abſolut thöricht, vor den Kometen ſolche Furcht <lb/>zu haben, wie ſie noch heute bei zahlreichen Menſchen zu <lb/>finden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10190" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div263" type="section" level="1" n="218">
<head xml:id="echoid-head244" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXIV. Jupiter, der gewichtigſte der Planeten.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10191" xml:space="preserve">Nunmehr müſſen wir unſere Reiſe weiter ausdehnen, um <lb/>zu Jupiter zu gelangen, der ſo eigentlich den erſten Rang <lb/>unter den Planeten eiunimmt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10192" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10193" xml:space="preserve">Um eine Kugel wie die des Jupiters herzuſtellen, müßte <lb/>man 1289 Kugeln ſo groß wie die Erde zu einer einzigen <lb/>Kugel zuſammenballen, und das iſt keine Kleinigkeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s10194" xml:space="preserve">Da aber <lb/>Jupiter nicht kompakt wie die Erde, ſondern aus einem Stoff <lb/>zuſammengeſetzt iſt, der etwa viermal loſer iſt als der Stoff <lb/>unſerer Erde, ſo wird es nur 309 Erdkugeln bedürfen, um die <lb/>Kugel Iupiters aufzuwiegen; </s>
  <s xml:id="echoid-s10195" xml:space="preserve">das heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s10196" xml:space="preserve">wenn Iupiter in einer <lb/>Schale einer Wage läge, ſo würden 309 Erdkugeln in die <lb/>andere Schale gelegt ausreichen, um ihm das Gleichgewicht <lb/>zu halten.</s>
  <s xml:id="echoid-s10197" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10198" xml:space="preserve">Obgleich Iupiter an 103 Millionen Meilen von der Sonne <lb/>entfernt iſt und die Erde ihm deshalb ſelbſt im günſtigſten <lb/>Falle nur bis auf 80 Millionen Meilen nahe kommen kann, <lb/>iſt doch der Iupiter ein Planet, der von der Erde aus <lb/>mit gutem Erfolg erforſcht worden iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10199" xml:space="preserve">Man kennt ihn in
<pb o="125" file="0749" n="749"/>
allen Beziehungen weit genauer als Venus, die doch zuweilen <lb/>nur fünf Millionen Meilen von der Erde abſteht.</s>
  <s xml:id="echoid-s10200" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10201" xml:space="preserve">Der Grund hiervon läßt ſich auch leicht einſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10202" xml:space="preserve">Wenn <lb/>Venus uns am nächſten iſt, ſteht ſie zwiſchen Sonne und Erde; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10203" xml:space="preserve">in dieſer Stellung iſt ſie von der Erde aus wegen zwei Ur-<lb/>ſachen unſichtbar. </s>
  <s xml:id="echoid-s10204" xml:space="preserve">Erſtens verhindern die Sounenſtrahlen <lb/>überhaupt das Sehen der Venus, und zweitens wendet ſie uns <lb/>in dieſer Stellung ihre dunkele, von der Sonne nicht beleuch-<lb/>tete Seite zu, ſo daß wir ſie höchſtens als ſchwarzen Fleck <lb/>ſehen könnten. </s>
  <s xml:id="echoid-s10205" xml:space="preserve">Iſt aber auch Venus eiumal in der günſtigſten <lb/>Stellung und in ihrer größten Lichtſtärke, ſo iſt ihr Licht ſo <lb/>blendend bei ſtarker Vergrößerung, daß man ſo gut wie nichts <lb/>auf ihr ſehen kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s10206" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10207" xml:space="preserve">Bei Iupiter iſt es anders. </s>
  <s xml:id="echoid-s10208" xml:space="preserve">Wenn die Erde ihm am <lb/>nächſten iſt, dann ſteht ſie, die Erde, zwiſchen Iupiter und <lb/>Sonne. </s>
  <s xml:id="echoid-s10209" xml:space="preserve">Jupiter geht dann im Oſten auf, wenn die Soune <lb/>untergeht, er wendet uns ſeine ganze, mild beleuchtete Hälfte <lb/>zu und bildet dann durch die ganze Nacht den hellſten und <lb/>größten Stern am Himmel.</s>
  <s xml:id="echoid-s10210" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10211" xml:space="preserve">Intereſſant iſt es nun, daß man den Iupiter ſchon in <lb/>einer einzigen ſolchen Nacht von allen Seiten kennen lernen <lb/>kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s10212" xml:space="preserve">Die Iupiterskugel dreht ſich nämlich ſchon in 9 Stunden <lb/>und 55 Minuten um ihre Axe und zeigt uns ſo beide Hälften <lb/>in einer Zeit, wo man auf Iupiter nicht viel mehr als ein <lb/>Drittel der Erd-Umdrehung beobachten könnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s10213" xml:space="preserve">Wenn ſich eine <lb/>ſo gewaltige Kugel ſo ſchnell um die Axe dreht, ſo darf es <lb/>nicht Wunder nehmen, daß ſie an den Polen ſehr abgeplattet <lb/>iſt, und in der That kann man dies ſchon durch ein ganz <lb/>mäßiges Fernrohr bemerken, wie denn die Meſſung ergiebt, <lb/>daß der Durchmeſſer des Äquators an 20 000 Meilen beträgt, <lb/>während der Durchmeſſer von Pol zu Pol nur 18 500 Meilen <lb/>lang iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10214" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10215" xml:space="preserve">Zugleich aber zeigt bereits der erſte Blick auf Iupiter,
<pb o="126" file="0750" n="750"/>
daß er von einer ſtarken Lufthülle umgeben iſt, und daß in <lb/>dieſer dicke Wolken ſchweben, die mit dem Planeten ſich um <lb/>ihre Axe drehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10216" xml:space="preserve">— Aber intereſſanter als all’ dies iſt es, daß <lb/>man ſchon mit einem guten Taſchen-Fernrohr ſehen kann, daß <lb/>Jupiter fünf Monde hat, die einen Rundlauf um denſelben <lb/>machen, fünf Monde, die in verſchiedenen Entfernungen von <lb/>ihm ſtehen, und von denen der dritte der größte iſt und am <lb/>leichteſten geſehen wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s10217" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10218" xml:space="preserve">Die nähere Beobachtung zeigt nun, daß er von ſeinen <lb/>Monden beſſer bedient iſt als die Erde. </s>
  <s xml:id="echoid-s10219" xml:space="preserve">Der nächſte ſeiner <lb/>Monde läuft ſchon in nicht ganz 12 Stunden rings um Iupiter <lb/>herum; </s>
  <s xml:id="echoid-s10220" xml:space="preserve">der zweite, entferntere, braucht einen Tag 18 Stunden <lb/>zum vollen Rundlauf; </s>
  <s xml:id="echoid-s10221" xml:space="preserve">der dritte noch entferntere macht dies <lb/>Kunſtſtück in drei Tagen dreizehn Stunden, der vierte braucht <lb/>7 Tage und 3 Stunden, der fünfte 16 Tage und 18 Stunden dazu.</s>
  <s xml:id="echoid-s10222" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10223" xml:space="preserve">Da Jupiter an ſich ein finſterer Körper iſt, und nur wie <lb/>alle Planeten von der Sonne beleuchtet wird, ſo tritt der Fall <lb/>ſehr oft ein, daß einer ſeiner Monde derart vor Jupiter ſteht, <lb/>daß er einen Schatten auf denſelben wirft, und ſomit auf <lb/>Jupiter eine Sonnenfinſternis hervorruft.</s>
  <s xml:id="echoid-s10224" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10225" xml:space="preserve">In ſolchem Falle, der äußerſt genau beobachtet wird, ſieht <lb/>man einen ſchwarzen Flecken auf der hellen Iupiterskugel <lb/>langſam vorüber ziehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10226" xml:space="preserve">Der Schatten des zweiten Mondes <lb/>geht an 2 {1/2} Stunden, um über die Iupiterskugel zu kommen, <lb/>der Schatten des dritten braucht 3 Stunden, der des vierten <lb/>3 {1/2} Stunden, der des fünften 4 {3/4} Stunden hierzu. </s>
  <s xml:id="echoid-s10227" xml:space="preserve">Da aber <lb/>auch die Monde dunkel ſind und nur von der Sonne ihr Licht <lb/>erhalten, ſo ſieht man auch dieſe oft verfinſtert, wenn ſie hinter <lb/>Jupiter oder in deſſen Schatten kommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10228" xml:space="preserve">Sie verſchwinden <lb/>dann plötzlich dem Auge und werden erſt ſichtbar, ſobald ſie <lb/>aus dem Schatten Jupiters heraustreten.</s>
  <s xml:id="echoid-s10229" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10230" xml:space="preserve">Man ſieht, es fehlt nicht an Abwechſelung auf Jupiter, <lb/>und es muß dort, beſonders für Verliebte, die im Mondſchein
<pb o="127" file="0751" n="751"/>
ſchwärmen wollen, ein Leben wie im Himmel ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s10231" xml:space="preserve">Zuweilen <lb/>ſtehen alle vier Monde gleichzeitig am dortigen Himmel, von <lb/>denen der eine oder der andere ſich verfinſtert, zuweilen, aber <lb/>freilich ſelten, ſtehen zwei Monde dicht hinter einander, daß ſie <lb/>ſich gegenſeitig verfinſtern, und einen Anblick gewähren, der <lb/>uns ganz fremdartig vorkommen würde.</s>
  <s xml:id="echoid-s10232" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10233" xml:space="preserve">Wie aber würde uns das Leben auf Jupiter ſchmecken? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10234" xml:space="preserve">Nun das wollen wir ſogleich ſehen!</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div264" type="section" level="1" n="219">
<head xml:id="echoid-head245" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXV. Wie ſich’s auf Jupiter lebt.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10235" xml:space="preserve">Ob uns trotz der ſchönſten Mondſchein-Scenen das Leben <lb/>auf dem Planeten Jupiter munden würde, möchten wir ſehr <lb/>bezweifeln.</s>
  <s xml:id="echoid-s10236" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10237" xml:space="preserve">Jupiter braucht, in Erdzeiten gemeſſen, eine Zeit von elf <lb/>Jahren 314 Tagen, um einmal ſeinen Lauf um die Sonne zu <lb/>vollenden: </s>
  <s xml:id="echoid-s10238" xml:space="preserve">ein Jupitersjahr iſt alſo faſt an Dauer gleich zwölf <lb/>Erdjahren.</s>
  <s xml:id="echoid-s10239" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10240" xml:space="preserve">Da ferner Jupiter ſich ſchon in 9 Stunden 55 Minuten <lb/>um ſeine Axe dreht, ſo iſt ſein Tag nicht halb ſo groß als der <lb/>unſere. </s>
  <s xml:id="echoid-s10241" xml:space="preserve">Alſo hat das Jahr auf Jupiter an 10 000 Tage.</s>
  <s xml:id="echoid-s10242" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10243" xml:space="preserve">Vielleicht aber ſitzt jetzt gerade in dieſem Augenblick, wo <lb/>wir an die langen Jahre und die kurzen Tage Jupiters denken, <lb/>dort auf dem Jupiter ein vernunftbegabtes Weſen, das ſich <lb/>zerſinnt, wie wir es hier wohl machen mit unſern zwölfmal <lb/>kürzeren Jahren und faſt drittehalb mal längern Tagen, und <lb/>begreift es nicht, wie wir mit einem ſo kurzen Jahr auskommen <lb/>und einen ſo langen Tag hinbringen können!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10244" xml:space="preserve">Wahrſcheinlicher jedoch iſt es, daß man auf Jupiter gar <lb/>nicht nach Jahren rechnet, ſelbſt nicht nach Jupitersjahren.</s>
  <s xml:id="echoid-s10245" xml:space="preserve">
<pb o="128" file="0752" n="752"/>
Jupiter nämlich dreht ſich derart um ſeine Axe, daß Tag und <lb/>Nacht faſt auf jedem Punkte der Jupiterskugel ſtets gleiche <lb/>Längen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s10246" xml:space="preserve">Man kennt alſo auf Jupiter gar nicht den <lb/>Wechſel der Jahreszeiten, hat alſo wenig Veranlaſſung, nach <lb/>dem Lauf um die Sonne zu fragen, und wird die Zeit deshalb <lb/>weit bequemer nach den Umläufen der Monde einteilen, die <lb/>merkwürdig genug, ſich vortrefflich dazu eignen, ſowohl kleinere <lb/>wie mittlere und größere Zeitabſchnitte nach ihnen abzugrenzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10247" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10248" xml:space="preserve">Auf einem Planeten, wo, wie auf Jupiter, nicht Sommer <lb/>und Winter, Frühling und Herbſt mit einander abwechſeln, da <lb/>bedient man ſich ſchwerlich eines Kalenders fürs Sonnenjahr, <lb/>ſondern teilt die Lebenszeit nach andern, näher ſichtbaren und <lb/>überſehbaren Naturerſcheinungen ein, und hierzu ſind die vier <lb/>Monde und deren Verfinſterungen merkwürdig gut geeignet.</s>
  <s xml:id="echoid-s10249" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10250" xml:space="preserve">Auf Jupiter alſo giebt es keinen Wechſel der Jahreszeiten. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10251" xml:space="preserve">Auf dem Äquator herrſcht ewiger, ununterbrochener Sommer, <lb/>nach den Polen hin wird es regelmäßig kälter. </s>
  <s xml:id="echoid-s10252" xml:space="preserve">Der Tag iſt <lb/>faſt gleichmäßig durch das ganze Jahr 4 Stunden 57 Minuten <lb/>lang, eben ſo lang iſt die Nacht zu allen Zeiten. </s>
  <s xml:id="echoid-s10253" xml:space="preserve">Die dichte <lb/>Luftſchicht, die Jupiter umgiebt, verlängert jedoch die Morgen-<lb/>und Abend-Dämmerung namentlich in den Polgegenden, und <lb/>es iſt auf denſelben eigentlich gar kein nächtliches Dunkel.</s>
  <s xml:id="echoid-s10254" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10255" xml:space="preserve">Rechnen wir hierzu, daß die Bewohner der Äquator-Gegend <lb/>faſt ununterbrochenen Mondſchein haben, ſo dürfen wir nicht <lb/>erwarten, daß die Jupiters-Menſchen gute Aſtronomen ſein <lb/>werden, denn Mondſchein und Dämmerlicht laſſen eine genaue <lb/>Betrachtung des Himmels und der Geſtirne nicht zu.</s>
  <s xml:id="echoid-s10256" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10257" xml:space="preserve">Auf Jupiter erſcheint die Sonne über fünfmal kleiner als <lb/>bei uns; </s>
  <s xml:id="echoid-s10258" xml:space="preserve">das Licht der Sonne wirkt daſelbſt an 27 mal ſchwächer, <lb/>und auch die Wärme der Sonnenſtrahlen muß in demſelben <lb/>Maße abnehmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10259" xml:space="preserve">Die Jupiters-Weſen würden daher wahr-<lb/>ſcheinlich Katzen-Augen haben, wenn ſie im ſchwachen Sonnen-<lb/>licht ſo gut ſehen ſollen, wie wir im bedeutend hellern; </s>
  <s xml:id="echoid-s10260" xml:space="preserve">dazu
<pb o="129" file="0753" n="753"/>
haben ſie aber noch ſicherlich geſunde, kräftige Muskeln, denn <lb/>die Anziehung Jupiters auf ſeiner Oberfläche iſt derart, daß <lb/>ein Pfund auf Jupiter gebracht, dort faſt 2 {1/2} Pfund ſchwer <lb/>wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s10261" xml:space="preserve">Würden wir uns auf Jupiter niederlaſſen, ſo würde <lb/>unſer Leib ſo gedrückt werden, als ob 1 {1/2} Zentner auf uns <lb/>laſteten, und wir müßten in der erſten Viertel-Stunde ſo matt <lb/>und müde werden, daß wir uns flach auf den Boden hinſtrecken <lb/>und alle Luſt zum Aufſtehen verlieren würden.</s>
  <s xml:id="echoid-s10262" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div265" type="section" level="1" n="220">
<head xml:id="echoid-head246" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXVI. Die Jupiters-Monde.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10263" xml:space="preserve">Vielleicht möchte mancher dem Jupiter ſeine Monde des-<lb/>halb gönnen, weil er ein gar mächtiger Planet iſt und an <lb/>Maſſe die Erde über dreihundertmal übertrifft. </s>
  <s xml:id="echoid-s10264" xml:space="preserve">Es möchte <lb/>manchem gerecht erſcheinen, daß jedem Planeten je nach ſeiner <lb/>Größe auch Trabanten beigegeben werden mögen, und demnach <lb/>die fünf Monde als Trabanten des Jupiter das mindeſte wären, <lb/>das ihm zu gönnen ſei. </s>
  <s xml:id="echoid-s10265" xml:space="preserve">Allein dieſer Grund reicht nicht aus.</s>
  <s xml:id="echoid-s10266" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10267" xml:space="preserve">Jupiter iſt zwar der Hauptplanet im Sonnenſyſtem, und <lb/>es unterliegt nicht dem geringſten Zweifel, daß, wenn die <lb/>Sonne plötzlich ihr Regiment einſtellte oder ihre Anziehungs-<lb/>kraft verlöre, dann Jupiter derjenige Himmelskörper ſein <lb/>würde, um welchen ſich ſämtliche Planeten bewegen müßten. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10268" xml:space="preserve">So unfehlbar wie jetzt die Erde alljährlich um die Sonne <lb/>wandert, würde ſie in ihrem mittleren Abſtand in 380 Jahren <lb/>in einem Kreiſe um Jupiter gehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10269" xml:space="preserve">Allein auch dieſe Wichtig-<lb/>keit Jupiters kann ihm nicht die Auszeichnung, fünf Monde <lb/>zu beſitzen, verſchafft haben, denn wir werden recht bald ſehen, <lb/>daß der Planet Saturn, der an Maſſe geringer iſt als Ju-<lb/>piter, gar acht Monde beſitzt, und außerdem noch etwas, das</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10270" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s10271" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernftein</emph> Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s10272" xml:space="preserve">Volfsbücher XVI.</s>
  <s xml:id="echoid-s10273" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="130" file="0754" n="754"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10274" xml:space="preserve">ohne Gleichen am Himmel iſt, nämlich einen Ring, oder rich-<lb/>tiger ein ganzes Syſtem von ineinanderliegenden Ringen, das, <lb/>wenn man es in Stücke zerbräche, eine ungeheure Anzahl <lb/>von Monden bilden würde, die alle um den Saturn laufen <lb/>müßten.</s>
  <s xml:id="echoid-s10275" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10276" xml:space="preserve">Wie aber mag es ſich auf einem der Jupitermonde leben?</s>
  <s xml:id="echoid-s10277" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10278" xml:space="preserve">Wir wiſſen hierüber nur wenig zu ſagen, aber das Wenige <lb/>genügt, um uns jeden Beſuch eines Jupitermondes gründlich <lb/>zu verleiden.</s>
  <s xml:id="echoid-s10279" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10280" xml:space="preserve">Die Monde des Jupiters ſind eben ſo wenig von Luft <lb/>umgeben, wie der Mond der Erde.</s>
  <s xml:id="echoid-s10281" xml:space="preserve">. Sie gleichen ferner auch <lb/>darin unſerm Monde, daß ſie ſtets eine und dieſelbe Seite <lb/>ihrem Hauptplaneten zuwenden. </s>
  <s xml:id="echoid-s10282" xml:space="preserve">Der Punkt des Jupiter-<lb/>mondes, der dem Jupiter am nächſten iſt, wird von ihm der-<lb/>art angezogen, daß der Mond ſich nicht um die Axe drehen <lb/>kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s10283" xml:space="preserve">Nur in ſo fern ſie um Jupiter herumlaufen, wenden <lb/>ſie während des Umlaufs alle ihre Seiten der Sonne zu, um <lb/>ſie erleuchten zu laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10284" xml:space="preserve">Ein Tag auf einem Jupitersmond iſt <lb/>alſo ſo groß, wie die Umlaufszeit desſelben um Jupiter. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10285" xml:space="preserve">Dafür aber genießen ſie das Glück, daß ihre Nächte vom <lb/>Jupiter erleuchtet werden, und zwar in einer Weiſe er-<lb/>leuchtet werden, wovon wir uns ſchwerlich einen richtigen Be-<lb/>griff machen können.</s>
  <s xml:id="echoid-s10286" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10287" xml:space="preserve">Die etwaigen Bewohner des erſten Jupitermondes ſehen <lb/>in ihrer “Nacht” den Jupiter erleuchtet und leuchtend an ihrem <lb/>Himmel, und zwar in einer Größe, die alles übertrifft, was <lb/>wir am Himmel ſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10288" xml:space="preserve">Die Jupiterskugel erſcheint ihnen <lb/>dreiundneunzigmal größer im Durchmeſſer als uns die Sonne, <lb/>das heißt, es nimmt für ſie die Jupiterskugel den achten Teil des <lb/>ganzen ſichtbaren Himmelsgewölbes ein! Selbſt vom äußerſten <lb/>Monde aus ſieht ſich die Jupiterskugel 64 mal größer an als <lb/>uns die Sonne erſcheint, und da die Sonne dort an dreißig-<lb/>mal kleiner ausſieht als bei uns, ſo iſt es höchſt wahrſchein-
<pb o="131" file="0755" n="755"/>
lich, daß die Bewohner eines Jupitermondes den mächtigen <lb/>Jupiter als Hauptkörper des ganzen Weltſyſtems betrachten <lb/>und der Sonne nur die beſcheidene Rolle eines Lichtes zu-<lb/>weiſen, das den Weg beleuchten muß, den ſie dahin wandeln. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10289" xml:space="preserve">Die “Nacht” auf den Jupitermonden wird daher viel, viel <lb/>heller ſein als der “Tag”, da ja die Sonne viel ſchwächer <lb/>leuchtet wie das ungeheuer große und ſtarke Sonnen-Reflexlicht <lb/>vom Jupiter.</s>
  <s xml:id="echoid-s10290" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div266" type="section" level="1" n="221">
<head xml:id="echoid-head247" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXVII. Saturn und ſein Ring.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10291" xml:space="preserve">Der ſonderbarſte aller Himmelskörper iſt ganz ohne Zweifel <lb/>Saturn, denn ſeinesgleichen findet man im Weltall nicht <lb/>wieder.</s>
  <s xml:id="echoid-s10292" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10293" xml:space="preserve">Saturn iſt ein Planet, der aus einer Kugel beſteht; </s>
  <s xml:id="echoid-s10294" xml:space="preserve">aber <lb/>dieſe Kugel ſchwebt frei mitten in einem weiten Ring; </s>
  <s xml:id="echoid-s10295" xml:space="preserve">oder <lb/>richtiger, die Kugel iſt von einem weit abſtehenden, ſehr großen <lb/>Ring umgeben, der ſich um die Kugel dreht (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s10296" xml:space="preserve">26—28).</s>
  <s xml:id="echoid-s10297" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10298" xml:space="preserve">Der Ring umzieht die Saturnkugel ganz ſo wie ein Reifen, <lb/>in deſſen Mitte ein Apfel ſchwebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10299" xml:space="preserve">Der Ring und die Kugel <lb/>ſind durchaus nicht durch irgend eine Brücke verbunden; </s>
  <s xml:id="echoid-s10300" xml:space="preserve">die <lb/>innere Kaute des Ringes ſteht vielmehr an 4400 Meilen von <lb/>der Oberfläche der Saturnkugel ab, und wenn die Menſchen <lb/>auf der Saturnkugel nicht Phantaſie-Reiſen machen können, <lb/>oder Mittel beſitzen, die wir noch nicht entdeckt haben, ſo ſind <lb/>ſie nicht imſtande, auf dieſen ihren Planeten umgebenden Ring <lb/>zu gelangen, ebenſo wenig wie wir auf unſern Mond zu <lb/>kommen vermögen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10301" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10302" xml:space="preserve">Dieſer Ring iſt nicht etwa von einer Luftmaſſe gebildet, <lb/>ſondern es iſt ein ganz kompakter Ring, der, wenn die Sonne <lb/>ihn beſcheint, ſeinen Schatten auf die Saturnkugel wirft,
<pb o="132" file="0756" n="756"/>
und ein ganz beträchtliches Stück dieſer Kugel gründlich ver-<lb/>finſtert (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s10303" xml:space="preserve">27 <lb/>u. </s>
  <s xml:id="echoid-s10304" xml:space="preserve">28).</s>
  <s xml:id="echoid-s10305" xml:space="preserve"/>
</p>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption51" xml:space="preserve">Fig. 26.</caption>
</figure>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10306" xml:space="preserve">Der Ring iſt <lb/>auch nicht etwa <lb/>gar ſo dünn und <lb/>ſchmal, ſeine <lb/>Kante iſt vielmehr <lb/>an 30 Meilen dick, <lb/>und er beſitzt eine <lb/>Breite von mehr <lb/>als 6000 Meilen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10307" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10308" xml:space="preserve">Von der Erde <lb/>aus kann man den <lb/>Ring des Saturn <lb/>ſchon durch ein <lb/>mäßig großes <lb/>Fernrohr ſehen, <lb/>aber nur dann, <lb/>wenn der Ring ſo <lb/>ſteht, daß er uns <lb/>nicht bloß die <lb/>ſchmale Kante zu-<lb/>wendet (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s10309" xml:space="preserve">26); <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10310" xml:space="preserve">denn der Saturn <lb/>iſt von uns ſo <lb/>entfernt, daß die-<lb/>ſer Streif von 30 <lb/>Meilen Dicke faſt <lb/>ganz unſichtbar <lb/>werden kann, und <lb/>man ſelbſt durch <lb/>die ſchärfſten und
<pb o="133" file="0757" n="757"/>
größten Fernröhre ihn nur als einen äußerſt feinen, lichten Strich <lb/>erblickt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10311" xml:space="preserve">Am beſten iſt der Ring ſichlbar, wenn er die ſchrägſte <lb/>Lage für unſer Auge <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0757-01a" xlink:href="fig-0757-01"/>
einnimmt (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s10312" xml:space="preserve">27 u. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10313" xml:space="preserve">28). </s>
  <s xml:id="echoid-s10314" xml:space="preserve">Man ſieht dann <lb/>die 6000 Meilen breite <lb/>Fläche derſelben, wie <lb/>ſie bogenartig die <lb/>Kugel des Saturn <lb/>von allen Seiten <lb/>umgiebt, und erkennt <lb/>ihn ſofort als einen <lb/>für unſer Auge ſchräg <lb/>liegenden Ring, in <lb/>deſſen Mitte die Kugel <lb/>des Planeten ſchwebt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10315" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div266" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0757-01" xlink:href="fig-0757-01a">
<caption xml:id="echoid-caption52" xml:space="preserve">Fig. 27.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10316" xml:space="preserve">Die Entdeckung dieſes Ringes gehört zu den luſtigſten <lb/>Geſchichten der wiſſenſchaftlichen Entdeckungen und iſt auch <lb/>lehrreich für Viele, die <lb/>allzu haſtig mit der Ver-<lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0757-02a" xlink:href="fig-0757-02"/>
kündigung deſſen ſind, <lb/>was ſie in der Natur <lb/>zu ſehen glauben.</s>
  <s xml:id="echoid-s10317" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div267" type="float" level="2" n="2">
<figure xlink:label="fig-0757-02" xlink:href="fig-0757-02a">
<caption xml:id="echoid-caption53" xml:space="preserve">Fig. 28.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10318" xml:space="preserve">Vor Erfindung der <lb/>Fernröhre hatte man <lb/>keine Ahnung davon, <lb/>daß ein Planet noch <lb/>einen weit abſtehenden <lb/>Ring um den Leib haben <lb/>könne. </s>
  <s xml:id="echoid-s10319" xml:space="preserve">Die erſten Fern-<lb/>röhre waren noch viel zu <lb/>unvollkommen, um ſofort <lb/>den Ring des Saturn als
<pb o="134" file="0758" n="758"/>
ſolchen ſehen zu laſſen, gleichwohl zeigten dieſe ſchon, daß es <lb/>etwas beſonderes mit dieſer Kugel auf ſich haben müſſe, und <lb/>man ſah, daß eigentlich Saturn keine runde Kugel, ſondern <lb/>eine Art Ei ſein müſſe.</s>
  <s xml:id="echoid-s10320" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10321" xml:space="preserve">Sofort machten ſich ſpekulierende Köpfe daran, dieſes Ei <lb/>als ein Welt-Ei zu verkünden, aus dem ein neuer Planet <lb/>erſt herauskriechen werde, und zogen den Schluß, daß auch die <lb/>Erde aus einem Ei gekrochen ſein müſſe.</s>
  <s xml:id="echoid-s10322" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10323" xml:space="preserve">Da entdeckte denn Galilei ſelber, daß es mit dem Ei auch <lb/>nicht richtig ſei, ſondern daß der Saturn zu beiden Seiten <lb/>zwei feſt angewachſene Monde haben müſſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s10324" xml:space="preserve">Kaum aber hatten <lb/>die angewachſenen Monde wieder die ſpekulierenden Köpfe an-<lb/>gefeuert, ein paſſendes Syſtem der Philoſophie hierzu zu er-<lb/>finden, ſo hörte mit einemmale Alles auf, denn Saturn nahm <lb/>eine Lage an, in welcher vom Ring nur die ſchmale Kante zu <lb/>ſehen iſt, und da man dieſe durch die damaligen Fernröhre <lb/>nicht ſehen konnte, erſchien der Planet als einfache, runde Kugel, <lb/>die aller gelehrten Theorien ſpottete. </s>
  <s xml:id="echoid-s10325" xml:space="preserve">Aber auch dies konnte <lb/>nicht lange anhalten; </s>
  <s xml:id="echoid-s10326" xml:space="preserve">denn bald ſah man wiederum etwas zu <lb/>beiden Seiten dieſer Kugel, und wenn das auch nicht als an-<lb/>gewachſene Monde genommen werden konnte, ſo mußte man <lb/>ſich doch dazu verſtehen, dem Saturn zwei Henkel zuzuſchreiben, <lb/>die aus der Kugel zu beiden Seiten hervorragen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10327" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10328" xml:space="preserve">Es dauerte aber auch dies nicht lange, und man ſah wieder <lb/>das Ei; </s>
  <s xml:id="echoid-s10329" xml:space="preserve">aber ein Ei, das an beiden Enden zwei Löcher haben <lb/>müſſe, durch die man hindurchſehen könne.</s>
  <s xml:id="echoid-s10330" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10331" xml:space="preserve">Endlich, nachdem vierzig Jahre vergangen waren, in <lb/>welchen man Syſteme und Theorien eifrig zuſchnitt, um ſich das, <lb/>was man zu ſehen glaubte, philoſophiſch zurecht zu legen, zeigte <lb/>der ſcharfſinnige Naturforſcher <emph style="sp">Huyghens</emph> (1629—1695), der <lb/>auch beſſere Fernröhre fabrizierte, daß all’ das, was man <lb/>Sonderbares geſehen, nichts ſei als ein Ring, den Saturn um <lb/>ſich habe, daß der Ring unſichtbar werde, wenn er die ſchmale
<pb o="135" file="0759" n="759"/>
Kante uns zuwendet und deshalb den Saturn als runde <lb/>Kugel erſcheinen läßt; </s>
  <s xml:id="echoid-s10332" xml:space="preserve">daß wenn die Lage des Ringes ſchräg <lb/>für unſer Auge wird, bald eine Eigeſtalt, bald eine Ver-<lb/>wachſung mit zwei Monden, bald eine Henkelform am Saturn <lb/>zu ſehen ſei, ſobald man nicht ſcharfe Fernröhre habe, die in <lb/>allen Lagen den Ring als ſolchen genauer erkennen laſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10333" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10334" xml:space="preserve">So hat denn ſeitdem Saturn ſeinen Ring unbeſtritten und <lb/>ſteht als eigentümliches Naturwunder ſondergleichen da, das <lb/>wir uns jetzt näher anſehen müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10335" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div269" type="section" level="1" n="222">
<head xml:id="echoid-head248" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXVIII. Wie Saturn zu ſeinem Ring gekommen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10336" xml:space="preserve">Wie mag wohl Saturn zu ſeinem ſonderbaren Ring ge-<lb/>kommen ſein?</s>
  <s xml:id="echoid-s10337" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10338" xml:space="preserve">Dieſe Frage iſt wiſſenſchaftlich nicht ſo leicht zu beant-<lb/>worten; </s>
  <s xml:id="echoid-s10339" xml:space="preserve">doch hat eine genauere Beobachtung dieſes Ringes auf <lb/>Vermutungen geführt, die einiges Licht über die Bildung von <lb/>Planeten verbreitet.</s>
  <s xml:id="echoid-s10340" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10341" xml:space="preserve">Wir wiſſen von der Geſchichte unſerer Erde, daß ſie der-<lb/>einſt vor vielen, vielen Millionen von Jahren in einem ge-<lb/>ſchmolzenen, feurigen Zuſtand geweſen ſein muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s10342" xml:space="preserve">Vielleicht iſt <lb/>ſogar noch gegenwärtig das Innere der Erde feurigflüſſig.</s>
  <s xml:id="echoid-s10343" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10344" xml:space="preserve">Die harte Schale, auf der wir jetzt leben, iſt alſo erſt nach <lb/>und nach durch Abkühlung der obern Schicht der Kugel ent-<lb/>ſtanden, und zwar muß dieſe Abkühlung und dies Erhärten <lb/>der Oberfläche ſehr langſam vor ſich gegangen ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s10345" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10346" xml:space="preserve">Eine Folge dieſer langſam vor ſich gegangenen Abkühlung <lb/>iſt die Abplattung der Erde an ihren beiden Polen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10347" xml:space="preserve">Man <lb/>kann ſich nämlich die Abplattung nur dadurch erklären, daß <lb/>man annimmt, es habe ſich die Erde, als ſie noch im flüſſig
<pb o="136" file="0760" n="760"/>
geſchmolzenen Zuſtand war, bereits um ihre Axe gedreht; </s>
  <s xml:id="echoid-s10348" xml:space="preserve">bei <lb/>einer ſolchen Umdrehung aber erhebt ſich immer die Mittellinie <lb/>einer flüſſigen Kugel; </s>
  <s xml:id="echoid-s10349" xml:space="preserve">ſie <lb/>dreht ſich im Äquator <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0760-01a" xlink:href="fig-0760-01"/>
aus und plattet ſich an <lb/>den Polen ab (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s10350" xml:space="preserve">29). <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10351" xml:space="preserve">Erkaltet eine ſolche Kugel <lb/>in dieſem Zuſtand lang-<lb/>ſam, ſo daß die Ober-<lb/>fläche ſtarr und feſt wird, <lb/>ſo bleibt ſie für immer <lb/>in dieſer Geſtalt, und <lb/>das iſt auch mit der <lb/>Erde der Fall, die gegen-<lb/>wärtig noch in ihrer <lb/>Abplattung an den Polen <lb/>Zeugnis giebt von ihrem <lb/>ehemaligen Ur-Zuſtand <lb/>vor langen, unberechen-<lb/>baren Zeiten.</s>
  <s xml:id="echoid-s10352" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div269" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0760-01" xlink:href="fig-0760-01a">
<caption xml:id="echoid-caption54" xml:space="preserve">Fig. 29. Abplattung einer rotierenden Kugel.</caption>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10353" xml:space="preserve">Je größer die Ge-<lb/>ſchwindigkeit der Um-<lb/>drehung iſt, deſto größer <lb/>iſt ſtets die Abplattung, <lb/>ja man kann die Um-<lb/>drehung einer Kugel ſo <lb/>ſchnell bewerkſtelligen, <lb/>daß alle loſen Teile von <lb/>ihr davonfliegen, und <lb/>das wird am eheſten <lb/>dort geſchehen, wo der <lb/>Umſchwung am ſtärkſten iſt, alſo am Äquator der Kugel.</s>
  <s xml:id="echoid-s10354" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10355" xml:space="preserve">Bei faſt allen durch unſere Fernröhre meßbaren Planeten
<pb o="137" file="0761" n="761"/>
hat man ſolche Abplattung der Pole bemerkt; </s>
  <s xml:id="echoid-s10356" xml:space="preserve">der einzige <lb/>Himmelskörper, der trotz ſeiner Umdrehung keine ſolche Ab-<lb/>plattung zeigt, iſt die Sonne, von der wir freilich nur die <lb/>Lichthülle, nicht aber die wirkliche Sonnenmaſſe ſelber ſehen <lb/>können.</s>
  <s xml:id="echoid-s10357" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10358" xml:space="preserve">Nicht minder aber iſt es eine ausgemachte Sache, daß alle <lb/>Maſſen ſich in der Hitze ausdehnen und in der Kälte ſich zu-<lb/>ſammenziehen und kleiner werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s10359" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10360" xml:space="preserve">Will man nun dies auf die Entſtehungs-Geſchichte des <lb/>Planeten Saturn anwenden, ſo hat man ſich Folgendes vor-<lb/>zuſtellen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10361" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10362" xml:space="preserve">Die Kugel des Saturn iſt urſprünglich ebenfalls im voll-<lb/>ſtändig geſchmolzenen Zuſtand und alſo flüſſig geweſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10363" xml:space="preserve">Zu-<lb/>gleich hat ſie ſich mit großer Geſchwindigkeit um ihre Axe ge-<lb/>dreht, und hierbei war ſie in Folge der Hitze und der Drehung <lb/>an ihrem Äquator ſo groß, wie jetzt ihr Ring iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10364" xml:space="preserve">Nunmehr <lb/>fing ſie an, langſam zu erkalten; </s>
  <s xml:id="echoid-s10365" xml:space="preserve">da aber ausgedehnte Maſſen <lb/>ſich leichter abkühlen als dicht aneinander gelagerte, ſo mußte <lb/>der Äquator des Saturn zuerſt ſtarr werden, während die <lb/>übrigen Teile noch flüſſig geblieben ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s10366" xml:space="preserve">— Als ſich nun bei <lb/>der weiteren Abkühlung die Maſſe zuſammenzog, war der <lb/>Äquator bereits ſo feſt und ſtarr, daß er der Kugel in ihrer <lb/>Zuſammenziehung nicht folgte; </s>
  <s xml:id="echoid-s10367" xml:space="preserve">es blieb alſo der Äquator <lb/>Saturns als ein ſtarrer Ring ſchweben, während die Kugel <lb/>ſelbſt ſich nach und nach verkleinerte und zuſammenzog, und <lb/>endlich als Planet ausbildete, von dem ſich der ehemalige <lb/>Äquator losgetrennt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s10368" xml:space="preserve">Während nun aber derartige Ab-<lb/>trennungen des Äquators von einem Planeten nicht ſelten vor-<lb/>gekommen ſind, ſo liegen doch beim Saturn die Dinge beſonders <lb/>eigentümlich. </s>
  <s xml:id="echoid-s10369" xml:space="preserve">Der gewöhnliche Gang iſt der, daß der abge-<lb/>trennte Ring an irgend einer Stelle ſich verdichtet und ſchließlich <lb/>zu einer Kugel aufwickelt, die fortan den Planeten als Trabant <lb/>umkreiſt: </s>
  <s xml:id="echoid-s10370" xml:space="preserve">es iſt ein Mond entſtanden. </s>
  <s xml:id="echoid-s10371" xml:space="preserve">Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s10372" xml:space="preserve">30 zeigt uns das
<pb o="138" file="0762" n="762"/>
Entſtehen eines Trabanten (d) aus einem Ringe. </s>
  <s xml:id="echoid-s10373" xml:space="preserve">Beim Saturn <lb/>muß nun aber der Ring erſtarrt ſein, bevor er Zeit hatte ent-<lb/>zweizureißen, und ſomit hat ſich denn hier kein Mond gebildet, <lb/>ſondern es iſt die Entwickelung auf einem früheren Stadium <lb/>ſtehen geblieben, indem eben jener Ring, der un<unsure/>s ſo ſeltſam <lb/>erſcheint, als Trabant den Saturn umkreiſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10374" xml:space="preserve"/>
</p>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption55" xml:space="preserve">Fig. 30.<lb/>Ring- und Mondbildung eines Planeten.</caption>
</figure>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10375" xml:space="preserve">Dieſe Erklärung wird zum Teil dadurch beſtärkt, daß man <lb/>nach genaueren Beobachtungen entdeckt hat, daß der Ring <lb/>eigentlich aus einer Anzahl einzelner, in einander liegender <lb/>Ringe beſteht, die alle in ähnlicher Weiſe wie der größte Ring <lb/>nach einander den Äquator des Planeten gebildet haben, und <lb/>immer nach ihrer Erſtarrung und dem weiteren Zuſammen-<lb/>ziehen und Erkaltung der Planeten-Maſſe als immer kleinere <lb/>Ringe von der noch ſtets kleiner werdenden Kugel zurück-<lb/>blieben.</s>
  <s xml:id="echoid-s10376" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10377" xml:space="preserve">Genug, der Ring iſt da, und zwar ein gar nicht kleiner <lb/>Ring, denn ſein Durchmeſſer beträgt 37 000 Meilen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10378" xml:space="preserve">Er iſt <lb/>zwar ſehr dünn, denn ſeine Kante iſt nur etwa dreißig Meilen <lb/>ſtark; </s>
  <s xml:id="echoid-s10379" xml:space="preserve">aber dafür iſt er breit, denn er beträgt ſamt all’ den <lb/>inneren Ringen ſo ziemlich 6000 Meilen Breite, und da ſein
<pb o="139" file="0763" n="763"/>
Umfang an 120 000 Meilen beträgt, ſo folgt, daß man aus <lb/>dem Ring allein circa fünf Kugeln machen könnte, ſo groß wie <lb/>die Erde iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10380" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10381" xml:space="preserve">Wie mag ſich’s aber auf ſolchem Planeten, oder gar auf <lb/>dem Ring ſelber lcben? </s>
  <s xml:id="echoid-s10382" xml:space="preserve">— Nun, das wollen wir ſogleich be-<lb/>trachten, ſo weit man’s eben anzugeben weiß.</s>
  <s xml:id="echoid-s10383" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div271" type="section" level="1" n="223">
<head xml:id="echoid-head249" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXIX. Das Wohnen auf dem Saturn.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10384" xml:space="preserve">Wie es ſich auf einem Planeten leben mag, wo Sonnen-<lb/>Licht und Wärme an 100mal ſchwächer ſind als bei uns und <lb/>der hellſte Mittag unſerem Dämmerlicht gleicht, wie es ſich <lb/>auf Saturn leben mag, der eine ſolche Stellung ſeiner Axe zu <lb/>ſeinem Umlauf um die Sonne hat, daß bei ihm ähnlich wie <lb/>bei uns die Jahreszeiten ſehr verſchieden ſind, daß Sommer <lb/>und Winter abwechſelnd bald auf der einen, bald auf der <lb/>anderen Hälfte der Kugel herrſchen, auf welchen aber jede <lb/>dieſer Jahreszeiten, wie der zwiſchen ihnen liegende Herbſt und <lb/>Frühling ſieben und ein halb Jahr dauert; </s>
  <s xml:id="echoid-s10385" xml:space="preserve">wie es ſich leben <lb/>mag auf einem Planeten, deſſen Tag nur halb ſo lang iſt wie <lb/>der unſrige, deſſen Jahr aber 29 {1/2}mal länger iſt als das <lb/>Erdenjahr, dieſe Fragen dürfen wir der Phantaſie unſerer <lb/>Leſer zur Beantwortung überlaſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10386" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10387" xml:space="preserve">Wir wollen nur die eine Frage in Betracht ziehen, welchen <lb/>Einfluß wohl der Ring des Saturn auf die etwaigen Be-<lb/>wohner desſelben, wenn ſie den Menſchen geiſtig ähnlich ſind, <lb/>haben mag; </s>
  <s xml:id="echoid-s10388" xml:space="preserve">welche Erſcheinungen er ihnen bietet und welche <lb/>Vorſtellungen er in ihnen erweckt? </s>
  <s xml:id="echoid-s10389" xml:space="preserve">Denn dieſe einzige Be-<lb/>trachtung iſt ausreichend, um zu zeigen, daß es recht ſchlimm
<pb o="140" file="0764" n="764"/>
um uns Menſchen ſtände, wenn unſere Erde die Ehre hätte, <lb/>ſolch’ einen Ring um den Bauch zu beſitzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10390" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10391" xml:space="preserve">Die Weſen auf dem Saturn hatten urſprünglich gewiß <lb/>eben ſo wenig eine Ahnung davon, daß ſie die Oberfläche einer <lb/>Kugel bewohnen, ſo wenig die Menſchen der Erde urſprüng-<lb/>lich davon eine Ahnung hatten. </s>
  <s xml:id="echoid-s10392" xml:space="preserve">Zudem werden ſie auch nicht <lb/>die leiſeſte Ahnung davon haben, daß dieſe ihre Kugel wirklich <lb/>von einem Ring umgeben iſt, denn was uns als Ring er-<lb/>ſcheint, erſcheint ihnen dort ganz anders.</s>
  <s xml:id="echoid-s10393" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10394" xml:space="preserve">Die Leute, die am Äquator wohnen, ſehen nämlich nur <lb/>die innere, unbeleuchtete Kante des Ringes als einen ſchwarzen <lb/>breiten Streifen in der Mitte ihres Himmelsgewölbes, und da <lb/>ſie gewiß glauben, daß die Himmelskugel einer Stütze bedarf, <lb/>ſo ſahen ſie unzweifelhaft dieſen ſchwarzen, breiten Streifen <lb/>als das Bogengewölbe an, das den Himmel trägt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10395" xml:space="preserve">Freilich <lb/>müßten ſie ſchließen, daß die Sonne, die ihnen leuchtet, ihnen <lb/>noch entfernter ſein müſſe, als dieſer ſchwarze Bogen, denn im <lb/>Herbſt und Frühling ihres Jahres wird ihnen die Sonne un-<lb/>ſichtbar, weil ſie gerade hinter dem Ring ſteht, der ſeinen <lb/>Schatten auf den Äquator der Saturnkugel wirft.</s>
  <s xml:id="echoid-s10396" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10397" xml:space="preserve">Allein es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß die Menſchen dort <lb/>eher auf die falſche Idee geraten, es ſei irgendwo ein Loch in <lb/>dieſer Bogenwölbung, durch welches die Sonne hindurchkriechen <lb/>muß, wenn ſie von der einen Seite des Himmels zur andern <lb/>kommen will, als daß ſie die richtige Vorſtellung davon haben, <lb/>die uns jetzt ſo geläufig iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10398" xml:space="preserve">Vielleicht veranſtalten ſie feierliche <lb/>Faſt- und Bet-Tage zur Zeit, wo die Sonne nach Norden oder <lb/>Süden ausweicht und lange, vom Ring unſichtbar gemacht, <lb/>die geängſtigten Weſen dort in tiefſter Finſternis läßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10399" xml:space="preserve">Viel-<lb/>leicht kreuzigen und verbrennen ſie dann all’ diejenigen, welche <lb/>etwa die Wahrheit ahnen und es leugnen, daß der Streifen, <lb/>der die Himmelskugel in zwei Hälften teilt, die feſte Bogen-<lb/>ſtütze des Weltalls iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10400" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="141" file="0765" n="765"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10401" xml:space="preserve">Beſſer daran ſind ſchon diejenigen, welche auf beiden <lb/>Seiten des Äquators leben. </s>
  <s xml:id="echoid-s10402" xml:space="preserve">Für ihr Auge teilt der Ring <lb/>nicht mehr den Himmel in zwei Hälften, ſondern er wölbt ſich <lb/>als Bogen, der nicht unähnlich einem Regenbogen den Himmel <lb/>ſeitwärts umſpannt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10403" xml:space="preserve">Die Bewohner der mittleren Zonen zu <lb/>beiden Seiten des Äquators ſehen nicht nur die innere, finſtere <lb/>Kante des Ringes, ſondern können auch ſchon die Seitenfläche <lb/>des Ringes ſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10404" xml:space="preserve">Ja, diejenigen, die dort in dem Breiten-<lb/>grad wohnen, wo bei uns Griechenland liegt, ſehen die breite <lb/>Kante am vorteilhafteſten, denn ſie nehmen ſie als ein <lb/>Himmelsthor wahr, deſſen Gemäuer ſo dick iſt, wie bei uns <lb/>dreißig nebeneinander ſtehende Monde erſcheinen würden und <lb/>auf dem ſie in den Sommernächten den Schatten ihres <lb/>Planeten Saturn erblicken können (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s10405" xml:space="preserve">31). </s>
  <s xml:id="echoid-s10406" xml:space="preserve">— Wenn bei ihnen <lb/>Sommer iſt, ſo befindet ſich für ſie die Sonne diesſeits des <lb/>Himmelsthors, und das dauert mehr als vierzehn volle <lb/>Erdenjahre, während welcher Zeit das Licht der Sonne die <lb/>Seitenwand des Ringes ſtets beleuchtet. </s>
  <s xml:id="echoid-s10407" xml:space="preserve">Tritt aber bei ihnen <lb/>der Winter ein, ſo begiebt ſich die Sonne für ſie jenſeits des <lb/>Himmelsthors. </s>
  <s xml:id="echoid-s10408" xml:space="preserve">Mit Eintritt des Herbſtes wird das herrliche <lb/>Himmelsthor für ſie finſter. </s>
  <s xml:id="echoid-s10409" xml:space="preserve">Sie ſehen es am Tage wie einen <lb/>pechſchwarzen Regenbogen vor ſich. </s>
  <s xml:id="echoid-s10410" xml:space="preserve">Endlich kommt die Sonne <lb/>ſo, daß ſie für ihr Auge hinter dem Ringe ſteht, und dann <lb/>verurſacht ihnen der Ring eine furchtbare Sonnenfinſternis, die <lb/>faſt neun Erdenjahre dauert.</s>
  <s xml:id="echoid-s10411" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10412" xml:space="preserve">Zu beiden Seiten des Äquators giebt es auch Gegenden, <lb/>wo der Ring zwar lang dauernde Finſterniſſe in ihrer Winter-<lb/>zeit veranlaßt, aber in der Mitte des Winters tritt die Sonne <lb/>plötzlich unter das Thorgewölbe und verweilt gar kurze Zeit <lb/>daſelbſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10413" xml:space="preserve">Dieſe Gegend wird dadurch mitten im Winter vom <lb/>Licht umfloſſen, aber bald ſchwindet dies wieder, und der <lb/>Ring veranlaßt eine neue Sonnenfinſternis, die erſt ſchwindet, <lb/>wenn der Frühling naht, um den langen Sommer einzuleiten.</s>
  <s xml:id="echoid-s10414" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="142" file="0766" n="766"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10415" xml:space="preserve">Wie aber mag wohl der Ring denen erſcheinen, die auf <lb/>Saturn in jener Weltgegend wohnen, wo auf Erden Berlin liegt?</s>
  <s xml:id="echoid-s10416" xml:space="preserve"/>
</p>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption56" xml:space="preserve">Fig. 31.</caption>
</figure>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10417" xml:space="preserve">Wenn ſich die Berliner auf Erden mit der Hoffnung <lb/>ſchmeicheln, daß die Berliner auf Saturn in dieſer Beziehung
<pb o="143" file="0767" n="767"/>
ſehr begünſtigt ſind, ſo irren ſie ſich. </s>
  <s xml:id="echoid-s10418" xml:space="preserve">In dieſem Breitengrad <lb/>ſieht man vom Ring nichts mehr als eine Art Wand, mit <lb/>welcher am ſüdlichen Horizont der Himmel mit Brettern ver-<lb/>nagelt erſcheint; </s>
  <s xml:id="echoid-s10419" xml:space="preserve">in den Gegenden, die noch weiter hin zum <lb/>Pol liegen, verſchwindet auch dieſes und ſie haben dort nur <lb/>Gelegenheit, ſich an Fabeln und Sagen zu erfreuen, die aus <lb/>jenen Gegenden ſtammen, wo man glaubt, Himmelsthore oder <lb/>die ſtützenden Bogen des Himmelsgewölbes mit leibhaftigen <lb/>Augen zu ſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10420" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10421" xml:space="preserve">Sollten aber auf dem Ring ſelbſt nicht Weſen vernünftiger <lb/>Art wohuen? </s>
  <s xml:id="echoid-s10422" xml:space="preserve">— Das iſt wohl möglich, und wir werden ſehen, <lb/>wie es ihuen dort ergeht.</s>
  <s xml:id="echoid-s10423" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div272" type="section" level="1" n="224">
<head xml:id="echoid-head250" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXX. Die etwaigen Bewohner des Saturn-</emph> <lb/><emph style="bf">Ringes.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10424" xml:space="preserve">Wenn die Natur haushälteriſch umgeht und allenthalben, <lb/>wo ein Leben möglich iſt, auch Leben hegt und pflegt, ſo iſt <lb/>nicht nur ein Leben, ſondern auch ein Leben vernunftbegabter <lb/>Weſen auf dem Ring des Saturn möglich, und darum mag es <lb/>unſerer Phantaſie geſtattet ſein, dieſen Ring einmal mit menſchen-<lb/>ähnlichen Weſen zu bevölkern.</s>
  <s xml:id="echoid-s10425" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10426" xml:space="preserve">Und in der That, auf der ſchmalen, äußern Kante des <lb/>Ringes ging’s ſchon ganz gut an. </s>
  <s xml:id="echoid-s10427" xml:space="preserve">Dieſe Kante, obgleich ſie <lb/>uns in den ſchärfſten Fernröhren feiner als ein Härchen er-<lb/>ſcheint und man meinen ſollte, es müßten die Menſchen dort <lb/>nur wie Seiltänzer mit Hilfe einer Balancierſtange herum-<lb/>ſpazieren können, iſt dennoch 30 Meilen dick; </s>
  <s xml:id="echoid-s10428" xml:space="preserve">und das iſt ein <lb/>Raum, auf dem ein Dutzend deutſcher Staaten nebeneinander <lb/>Platz haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s10429" xml:space="preserve">Da nun der Umfang des Ringes an 120 000
<pb o="144" file="0768" n="768"/>
Meilen beträgt, ſo würde die geſamte Menſchheit der Erde, <lb/>auf die Kante des Saturn-Ringes verſetzt, noch keineswegs <lb/>wegen Mangel an Raum Auswanderungen zu veranſtalten <lb/>nötig haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s10430" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10431" xml:space="preserve">Das aber muß man ſagen, wenn es einmal gilt, dort zu <lb/>leben, ſo lebt es ſich auf dieſer äußeren, ſchmalen Kante ſchon <lb/>am beſten. </s>
  <s xml:id="echoid-s10432" xml:space="preserve">Da der Ring in zehn Stunden ſich um Saturn <lb/>ſchwingt, ſo hat man auf ihm eine Abwechſelung von Tag und <lb/>Nacht, von denen jeder fünf Stunden lang iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10433" xml:space="preserve">Für die Be-<lb/>wohner dieſer ſchmalen Kante iſt ein weſentlicher Unterſchied <lb/>zwiſchen Sommer und Winter nicht vorhanden; </s>
  <s xml:id="echoid-s10434" xml:space="preserve">denn es lebt <lb/>ſich auf dieſem Ring ganz ſo wie auf dem Äquator eines <lb/>ordentlichen, kugelrunden Planeten, wo der Wechſel der Jahres-<lb/>zeiten höchſtens im Wechſel der Regenzeiten bemerkbar wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s10435" xml:space="preserve">— <lb/>Aber in anderer und zwar in geiſtiger Beziehung möchte dies <lb/>ein keineswegs günſtig gelegener Wohnſitz ſein, denn ſchwerlich <lb/>giebt es im Sonnenſyſtem irgend ein Plätzchen, wo es ſchwie-<lb/>riger wird, ſich die Welt richtig vorzuſtellen, als auf der äußeren <lb/>Kante des Saturn-Ringes.</s>
  <s xml:id="echoid-s10436" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10437" xml:space="preserve">Wir, die wir den Ring ſo deutlich ſehen, und auch ſeine <lb/>Umdrehung um die in ſeinem Mittelpunkt liegende Saturn-<lb/>kugel erkennen, wir würden mit unſerer Erkenntnis leicht <lb/>genug all’ die ſonderbaren Erſcheinungen der dortigen Natur <lb/>herausfinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s10438" xml:space="preserve">Die Weſen aber, die dort wohnen, können auf <lb/>dem Bereich ihres Wohnſitzes keine Ahnung davon haben, daß <lb/>ſie auf der ſchmalen Kante eines Ringes leben. </s>
  <s xml:id="echoid-s10439" xml:space="preserve">Sie können <lb/>es auch nicht vermuten, daß ſich ihr ganzer Wohnſitz in zehn <lb/>Stunden um einen Planeten dreht, ſondern der Meinung ſein, <lb/>daß ſie ſtill ſtehen und das ganze Weltall ſich um ſie herum-<lb/>drehe. </s>
  <s xml:id="echoid-s10440" xml:space="preserve">Daß fünftauſend Meilen unter ihren Füßen ein Planet <lb/>Saturn vorhanden iſt, davon werden ſie naturgemäß keine <lb/>Ahnung haben, denn wenn ſie auch bis zum Rand der Kante <lb/>gehen und dort wirklich ein Stück Halbkugel in ſonderbarer
<pb o="145" file="0769" n="769"/>
Belcuchtung erblicken, ſo werden ſie dies ſonderbare Ding zu <lb/>ihren Füßen weit eher für einen zerbrochenen Mond als für <lb/>einen Hauptplaneten halten, zumal acht Monde, die ſich um <lb/>Saturn und ſeinen Ring bewegen, die Vorſtellung, daß ſie von <lb/>Monden umgeben ſind, ſehr begünſtigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10441" xml:space="preserve">Zu dem kommt noch, <lb/>daß ſie dieſe Halbkugel während 14 Jahren, wo ſie in Winter-<lb/>Nacht und in der Schatten-Nacht des Ringes vergraben iſt, <lb/>gar nicht ſehen, und in den Sommer- und Lichtzeiten dieſer <lb/>Halbkugel dieſelbe nur eigentlich morgens und abends als <lb/>eine Art zerbrochenen Halbmond erblicken, der über den Rand <lb/>der Kante geſehen, ſtets genau unter den Füßen des Beobach-<lb/>ters ſchwebt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10442" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10443" xml:space="preserve">Welche Märchen und Sagen, ja welch’ heilig geſprochene, <lb/>althergebrachte Mythen mögen wohl dort herrſchen über die <lb/>acht freien Monde, die im Weltraum ſcheinbar um den Wohn-<lb/>ſitz dieſer Weſen herumſchweben und über das zerbrochene <lb/>Stück halbe Mondſcheibe, das ſcheinbar angefeſſelt iſt zu den <lb/>Füßen dieſer Weſen! Wie ſollen ſie zu dem Sedanken kommen, <lb/>daß ſie eigentlich nur auf einem Ring wohnen, der mondartig <lb/>um dieſes zerbrochene, halbe Ding zu ihren Füßen ſchwebt, <lb/>welches ein wirklicher, richtiger, mächtiger Planet iſt! — Sie, <lb/>die ſich und ihren Wohnſitz ſicherlich als den Mittelpunkt des <lb/>Weltalls anſehen, werden gewiß jeden verdammen oder ver-<lb/>ſpotten, der das Ding zu ihren Füßen zum Hauptweſen <lb/>machen will und gegen alle hergebrachten Anſchauungen <lb/>ihren feſten Wohnſitz zu einem untergeordneten Stückchen <lb/>Welt herabſetzt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10444" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10445" xml:space="preserve">Wollten wir auch annehmen, daß die vernunftbegabten <lb/>Weſen dort einen tauſendmal ſchärfern Verſtand haben als wir <lb/>Erdbewohner, ſo dürfen wir doch nicht viel von ihrer Einſicht <lb/>hoffen; </s>
  <s xml:id="echoid-s10446" xml:space="preserve">denn einerſeits ſind die Umſtände wirklich ſo verwirrend, <lb/>daß es tauſendmal ſchwerer iſt, von dort aus die Wahrheit zu <lb/>erſpähen, als bei uns, andererſeits ſind wenigſtens bei uns</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10447" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s10448" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s10449" xml:space="preserve">Volksbücher XVI.</s>
  <s xml:id="echoid-s10450" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="146" file="0770" n="770"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10451" xml:space="preserve">Erdbewohnern die Vorurteile der Verſtändigen weit ſchwerer <lb/>zu bekämpfen, als die ſchlichten Irrtümer des Unverſtandes. </s>
  <s xml:id="echoid-s10452" xml:space="preserve">— <lb/>Wir haben ja das Beiſpiel in der Menſchengeſchichte vor uns, <lb/>daß wilde, ungebildete Völker ſich leichter belehren ließen über <lb/>die Umdrehung der Erde, als das gebildete Europa, das gerade <lb/>vom falſchen Scharfſinn des ptolemäiſchen Weltſyſtems hart-<lb/>näckig verblendet war!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10453" xml:space="preserve">Wie aber, wenn die Bewohner der Kante des Ringes <lb/>reiſeluſtig genug ſind, um ſich über den Rand des Ringes <lb/>hinauszuwagen und eine Reiſe nach der Breite des Ringes <lb/>und abwärts dem Saturn zu anzutreten? </s>
  <s xml:id="echoid-s10454" xml:space="preserve">Sollten ſie da <lb/>nicht der Wahrheit etwas näher kommen?</s>
  <s xml:id="echoid-s10455" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10456" xml:space="preserve">Wir vermuten, daß ſie die Reiſe bleiben laſſen, und zwar <lb/>aus mehrfachen, ſehr verſchiedenen Urſachen, die ſie von dieſer <lb/>Luſt, wie wir ſehen werden, befreien.</s>
  <s xml:id="echoid-s10457" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div273" type="section" level="1" n="225">
<head xml:id="echoid-head251" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXI. Das Schickſal des Saturn-Ringes.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10458" xml:space="preserve">Einem Bewohner des Saturn-Ringes, dem es einfiele, die <lb/>ſchmale Kante des Ringes, ſeinen bisherigen Wohnſitz zu ver-<lb/>laſſen und um die Ecke zu biegen, damit er auf der breiten <lb/>Seite des Ringes einen Spaziergang machen könne, dem würde <lb/>ſo Manches paſſieren, was ihm die Luſt zu ſeinem Unter-<lb/>nehmen verleidet.</s>
  <s xml:id="echoid-s10459" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10460" xml:space="preserve">Vor Allem iſt um die Ecke ein ganz anderes Wetter. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10461" xml:space="preserve">Während auf der ſchmalen Kante des Ringes ein fortwährender <lb/>Sommer herrſcht, wo ſtets fünf Stunden Tag und fünf <lb/>Stunden Nacht mit einander abwechſeln, herrſcht auf jeder <lb/>breiten Seite des Ringes eigentlich ein ewiger Winter; </s>
  <s xml:id="echoid-s10462" xml:space="preserve">und <lb/>zwar ein Winter, in welchem bei jedem Umlauf des Planeten
<pb o="147" file="0771" n="771"/>
Saturn um die Sonne nur ein einziger Tag und eine einzige <lb/>Nacht vorhanden iſt, aber ein Tag, der 14 {1/2} Jahr dauert, <lb/>und eine Nacht von eben ſolcher Länge. </s>
  <s xml:id="echoid-s10463" xml:space="preserve">— Wie mag es nun <lb/>wohl einem Weſen, das an einen Tages- und Nachtwechſel im <lb/>Laufe von zehn Stunden gewöhnt iſt, vorkommen, wenn es <lb/>beim Umbiegen um die Ecke ſeines Wohnſitzes ohne weiteres <lb/>in eine ganz neue Welt tritt, wo es mehr als vierzehn Jahre <lb/>auf eine Abwechſelung derart warten muß? </s>
  <s xml:id="echoid-s10464" xml:space="preserve">Wie anders muß <lb/>nicht die ganze Natur eingerichtet ſein bei ſolchem Abſtand der <lb/>Witterungsverhältniſſe, und wie wenig Einladendes muß es <lb/>haben, auch nur um die Ecke zu blicken, die einen ſolchen <lb/>Unterſchied aller Verhältniſſe hervorbringt!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10465" xml:space="preserve">Würde nun noch der Ring des Saturn eine ſolche Lage <lb/>zur Sonne haben, daß die breite Seite des Ringes einmal den <lb/>vollen Sonnenſchein genießen könnte, ſo wäre es noch denkbar, <lb/>daß ein vierzehnjähriger Sonnenſchein den Boden ſo durch-<lb/>wärmte, daß die Wärme für die eben ſo lange Nacht einiger-<lb/>maßen aushielte. </s>
  <s xml:id="echoid-s10466" xml:space="preserve">Der Ring hat aber eine ſolche Lage, daß <lb/>die Sonne der breiten Seite des Ringes ſtets nur ſo ſchräg <lb/>die Strahlen zuſenden kann, wie etwa bei uns in den kälteſten <lb/>Weltgegenden. </s>
  <s xml:id="echoid-s10467" xml:space="preserve">Zudem iſt dort das Sonnenlicht an 100 mal <lb/>ſchwächer an wärmender Kraft als auf der Erde. </s>
  <s xml:id="echoid-s10468" xml:space="preserve">Das Klima <lb/>muß alſo ſelbſt an einem Tage, der durch vierzehn volle Jahre <lb/>anhält, ein undenklich kaltes ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s10469" xml:space="preserve">— Welche Kälte aber eine vier-<lb/>zehnjährige, ununterbrochene Nachtzeit verurſacht, das iſt etwas, <lb/>was wir nicht aufzufaſſen vermögen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10470" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10471" xml:space="preserve">Aber es handelt ſich bei ſolchem Spaziergang um die Ecke <lb/>um noch ganz etwas anderes, als um das Wetter, und das iſt <lb/>etwas, was einem etwaigen Forſchungs-Reiſenden auf dem <lb/>Saturn einfach ein unüberwindliches Hindernis entgegenſetzt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10472" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10473" xml:space="preserve">Der Ring nämlich dreht ſich mit ſolcher Schnelligkeit um <lb/>den Saturn, daß in jedem Punkte des Ringes die Schwung-<lb/>kraft und die Anziehungskraft durch Saturn gleich iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10474" xml:space="preserve">Für
<pb o="148" file="0772" n="772"/>
die Weſen, die auf dem Ringe leben, hat alſo die Saturn-<lb/>kugel in der Mitte des Ringes ſo gut wie gar keine An-<lb/>ziehungskraft. </s>
  <s xml:id="echoid-s10475" xml:space="preserve">Nun bleibt zwar noch die Maſſe des Ringes <lb/>ſelber, die gar nicht gering iſt, übrig, und die Maſſe bewirkt <lb/>auf jedem Punkte der ſchmalen Kante eine Anziehung, die ſo <lb/>ſtark iſt, wie ſie wäre, wenn die geſamte Maſſe des Ringes <lb/>im Mittelpunkt desſelben vereinigt wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s10476" xml:space="preserve">Es läßt ſich hier-<lb/>nach, mit Hilfe mancher Vorausſetzungen, die wir hier nicht weiter <lb/>erörtern können, vorausſehen, daß wirklich dieſe Anziehung des <lb/>Ringes ſtark genug iſt, um trotz des Umſchwunges eine An-<lb/>ziehungskraft auf die Gegenſtände auszuüben. </s>
  <s xml:id="echoid-s10477" xml:space="preserve">Aber wenn <lb/>dies auch auf der Kante des Ringes ſo der Fall iſt, daß <lb/>Weſen auf dem Boden unter ihren Füßen ſich erhalten können, <lb/>ſo iſt unzweifelhaft, daß es auf der breiten Seite des Ringes <lb/>nicht der Fall ſein kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s10478" xml:space="preserve">Denkt man ſich die Anziehungskraft <lb/>der geſamten Maſſe des Ringes vereinigt im Mittelpunkt der-<lb/>ſelben, ſo wird es den Leuten, die auf der Kante des Ringes <lb/>herumwandeln, ſo gut ergehen, wie den Menſchen, die auf dem <lb/>flachen Dach eines Hauſes ſpazieren; </s>
  <s xml:id="echoid-s10479" xml:space="preserve">aber ebenſowenig als <lb/>ſich ſolche Menſchen an den Rand wagen dürfen, um an den <lb/>Wänden des Hauſes auf und ab zu ſpazieren, ebenſowenig <lb/>dürfte es für die Weſen auf der ſchmalen Kante des <lb/>Saturnringes geraten ſein, ihren Spaziergang auf die breite <lb/>Seite des Ringes, alſo gewiſſermaßen auf die Wand desſelben <lb/>auszudehnen, wenn ſie nicht ſofort viele Tauſende von Meilen <lb/>tief mit furchtbarer Schnelligkeit auf den Saturn herunter-<lb/>ſtürzen wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10480" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10481" xml:space="preserve">Ja, die Geſchichte hat noch einen ganz andern Haken, der <lb/>nicht nur dem Leben auf dem Ring, ſondern der ſichern Exiſtenz <lb/>des ganzen Ringes gefährlich iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10482" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10483" xml:space="preserve">Die Beobachtungen haben gezeigt, daß eigentlich der Ring <lb/>nicht aus einem einzigen, vollen Reifen beſteht, ſondern daß es <lb/>eine ganze Anzahl von Ringen giebt, von denen der eine immer
<pb o="149" file="0773" n="773"/>
kleiner iſt als der andere. </s>
  <s xml:id="echoid-s10484" xml:space="preserve">Wir wiſſen mit Sicherheit, daß <lb/>dasjenige, was man auf den erſten Blick für einen einzigen <lb/>Ring anſieht, ein Syſtem einzelner ineinander liegender <lb/>Ringe iſt, die alle weit von einander abſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10485" xml:space="preserve">Mindeſtens <lb/>hat man ſchon ſicher innere und äußere Ringe unterſchieden, <lb/>die leere Zwiſchenräume zwiſchen ſich haben, welche man <lb/>auf 300 Meilen ſchätzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10486" xml:space="preserve">— Iſt dem ſo, ſo bewirken die <lb/>Ringe aufeinander eine Anziehung und demnach muß auch <lb/>ihr Umſchwung ſehr verſchieden von einander und überhaupt <lb/>höchſt verwickelt ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s10487" xml:space="preserve">Ja, es iſt nicht unwahrſcheinlich, <lb/>daß ſie beiſammen eine mittlere Umſchwungsgeſchwindigkeit <lb/>haben, welche für den kleinſten Ring zu langſam und für <lb/>den größten zu ſchnell iſt, und findet etwas Derartiges ſtatt, <lb/>ſo iſt es nicht nur überhaupt gewagt, auf dem Ring zu <lb/>leben, ſondern es muß mit der Zeit dahin kommen, daß der <lb/>Ring ſelber zu Schanden geht und ſich in einen Kranz von <lb/>einzelnen Monden umwandelt, die in ganz wunderbarer Weiſe <lb/>um den Hauptplaneten Saturn einen Rundlauf machen und ſich <lb/>zugleich zu kleinen Mondſyſtemen ausbilden.</s>
  <s xml:id="echoid-s10488" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10489" xml:space="preserve">In der That hat man Beobachtungen gemacht, die auf <lb/>eine Auflöſung des Ringes hindeuten und die ſchöne Ausſicht <lb/>gewähren, daß einmal unſere Ur-Ur-Enkel eines ſchönen Tages <lb/>oder einer ſchönen Nacht das voraus berechnete Schauſpiel ge-<lb/>nießen werden, den Ring des Saturn berſten und die Ent-<lb/>ſtehung von einer ganzen Maſſe von Monden mit eigenen <lb/>Augen anzuſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10490" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div274" type="section" level="1" n="226">
<head xml:id="echoid-head252" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXII. Uranus.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10491" xml:space="preserve">Eine bedeutende Strecke weiter hinaus und in einer Ent-<lb/>fernung, die faſt noch einmal ſo groß iſt wie die Saturns von
<pb o="150" file="0774" n="774"/>
der Sonne, bewegt ſich der Planet Uranus: </s>
  <s xml:id="echoid-s10492" xml:space="preserve">ein Planet, den <lb/>man vor hundertundfünfundzwanzig Jahren noch nicht kannte, <lb/>und deſſen Entdeckung nicht wenig diejenigen in Verlegenheit <lb/>ſetzte, welche die Weisheit und die Einſicht der alten Zeiten als <lb/>unübertrefflich geprieſen hatten.</s>
  <s xml:id="echoid-s10493" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10494" xml:space="preserve">Nach den hergebrachten Anſchauungen ſtand vor etwas <lb/>mehr als hundert Jahren noch der Glaube feſt, daß Saturn <lb/>der letzte und entfernteſte Planet des Sonnenſyſtems ſei; </s>
  <s xml:id="echoid-s10495" xml:space="preserve">mit <lb/>der Entdeckung des Uranus wurde auch dieſer überlieferte <lb/>Glaube erſchüttert und die Menſchheit in wohlthätiger Weiſe <lb/>darauf hingeführt, daß ſie die Erkenntnis der Natur-Wahrheiten <lb/>nicht in der Vergangenheit und bei den alten griechiſchen <lb/>Schriftſtellern zu ſuchen, ſondern durch eigne Forſchungen und <lb/>Beobachtungen zu finden und von dem Fortſchritt der Menſchheit <lb/>in der Zukunft zu hoffen hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s10496" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10497" xml:space="preserve">Uranus iſt ein Planet, der zwanzigmal entfernter iſt von <lb/>der Sonne als die Erde. </s>
  <s xml:id="echoid-s10498" xml:space="preserve">Das Sonnenlicht iſt demnach dort <lb/>an vierhundertmal ſchwächer als bei uns. </s>
  <s xml:id="echoid-s10499" xml:space="preserve">Die Sonnenkugel <lb/>erſcheint dort nur ſo groß wie bei uns Venus und verbreitet <lb/>ſelbſt am hellſten Tage dort nur eine Dämmerung, wie die <lb/>unſerer Mondnächte iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10500" xml:space="preserve">Da mit der Entfernung von der Sonne <lb/>auch die Wärme des Sonnenlichtes in gleicher Weiſe wie die <lb/>Leuchtkraft abnimmt, ſo bewirkt das Sonnenlicht auf Uranus <lb/>eine vierhundertmal ſchwächere Erwärmung, und dies allein <lb/>genügt, um es jedem irdiſchen Weſen, das zu ſeiner Exiſtenz <lb/>des Sonnenlichts und der Sonnenwärme bedarf, das Beſtehen <lb/>auf Uranus vollkommen unmöglich zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10501" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10502" xml:space="preserve">Der Durchmeſſer der Uranus-Kugel beträgt 7900 Meilen, <lb/>und da die Maſſe dieſer ganzen Kugel etwa 15 mal ſchwerer <lb/>iſt als die der Erde, ſo läßt ſich die Anziehungskraft, die <lb/>Uranus auf die Gegenſtände an ſeiner Oberfläche ausübt, <lb/>ziemlich genau angeben, und man findet, daß dieſelbe nicht <lb/>ſehr verſchieden von der auf der Erde iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10503" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="151" file="0775" n="775"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10504" xml:space="preserve">Dahingegen iſt es bisher noch nicht gelungen, die Um-<lb/>drehungszeit des Uranus zu ermitteln, da man ſelbſt mit den <lb/>ſchärfſten Fernröhren nicht vermocht hat, Flecken auf dem Uranus <lb/>zu entdecken, durch deren Wiederkehr man imſtande iſt zu <lb/>ſagen, wie lang Tag und Nacht auf dieſem Planeten ſind, und <lb/>wie Winter und Sommer daſelbſt verteilt ſein mögen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10505" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10506" xml:space="preserve">Nur durch einen Umſtand eigener Art iſt man veranlaßt <lb/>anzunehmen, daß bei dieſem Planeten etwas ſtattfindet, was <lb/>bei anderen Planeten nicht der Fall iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10507" xml:space="preserve">Bei den anderen <lb/>Planeten findet man nämlich, daß die Monde ziemlich in der <lb/>Richtung des Äquators des Planeten ihren Umlauf haben, <lb/>und daß auch der Umlauf der Monde in einem Kreiſe geſchieht, <lb/>der nur wenig in ſeiner Lage abweicht von dem Kreis, den <lb/>der Planet ſelber um die Sonne beſchreibt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10508" xml:space="preserve">— Beim Uranus <lb/>hat Herſchel 6 Monde entdeckt, die in ziemlich regelmäßig <lb/>weiten Abſtänden um ihn herum ihren Lauf haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s10509" xml:space="preserve">Vier <lb/>dieſer Monde ſind mit Sicherheit beobachtet worden. </s>
  <s xml:id="echoid-s10510" xml:space="preserve">Zwei dieſer <lb/>Monde aber bewegen ſich in Kreiſen um Uranus, deren Ebenen <lb/>faſt ſenkrecht auf der Bahn ſtehen, die Uranus ſelber um die Sonne <lb/>macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s10511" xml:space="preserve">Wenn man ſich den Lauf des Uranus um die Sonne <lb/>vorſtellt und zugleich das Auge auf den Lauf der Monde <lb/>richtet, die Uranus auf dieſer Reiſe begleiten, ſo bilden die <lb/>Monde in ihrem Lauf nicht Sprunglinien auf der Bahn des <lb/>Planeten, ſondern gehen in einer Art Schraubengang um ihn, <lb/>und laufen pfropfenzieherartig durch den Raum, wenn ſie den <lb/>Uranus in ſeinem einfachen Kreislauf begleiten.</s>
  <s xml:id="echoid-s10512" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10513" xml:space="preserve">Dieſe Erſcheinung iſt ſo eigentümlich, daß ſie wie eine <lb/>Ausnahme von der Regel im Sonnenſyſtem daſteht; </s>
  <s xml:id="echoid-s10514" xml:space="preserve">und wenn <lb/>man geleitet hiervon annehmen ſoll, daß ſich auch Uranus in <lb/>gleicher Richtung um die Axe dreht, wie dieſer ſonderbare Lauf <lb/>ſeiner Monde iſt, ſo hat man auch Tage und Nächte auf dieſem <lb/>Planeten, die alle unſere Begriffe vom Zeitenwechſel weit <lb/>überſteigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10515" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="152" file="0776" n="776"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10516" xml:space="preserve">Uranus nämlich vollendet ſeinen Kreislauf erſt in 84 <lb/>Jahren um die Sonne; </s>
  <s xml:id="echoid-s10517" xml:space="preserve">geſchieht nun ſeine Umdrehung in <lb/>derſelben Richtung, wie der Lauf ſeiner Monde iſt, ſo giebt <lb/>es dort Tage und Nächte, die abwechſelnd an den Polen je 42 <lb/>volle Jahre dauern und nach dem Äquator zu zwar abnehmen, <lb/>aber doch bis auf eine ſehr ſchmale Strecke noch immer eine <lb/>Länge von zwei vollen Jahren haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s10518" xml:space="preserve">In ſolchem Falle muß <lb/>auch die Wärme des Sonnenlichts, oder der Sommer daſelbſt <lb/>an den Polen am ſtärkſten ſein, um ſodann bei einer Nacht <lb/>von 42 Jahren von einer Kälte abgelöſt zu werden, die alle <lb/>unſere Begriffe überſteigt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10519" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10520" xml:space="preserve">Sollte die Beobachtung einer wirklichen Umdrehung der <lb/>Uranus-Kugel dieſes ſonderbare Verhältnis beſtätigen, ſo wird <lb/>man Urſache haben, ſehr beſcheiden zu ſein mit Vorausſetzungen <lb/>über die Abſichten und die Zwecke der Natur in ihren Erſchei-<lb/>nungen; </s>
  <s xml:id="echoid-s10521" xml:space="preserve">denn man würde dann von der gewohnten Abſicht <lb/>ganz und gar ablaſſen müſſen, daß die Planeten ſich um die <lb/>Axe drehen, damit alle Seiten ihrer Oberfläche das Sonnen-<lb/>licht empfangen, da dieſer Zweck ganz entſchieden bei Uranus <lb/>nicht zutreffen würde, und man im Gegenteil ſagen müßte, die <lb/>Natur habe ſich bei dieſer Umdrehung in ihrem Zweck ſo <lb/>verrechnet, daß ſie nicht unpraktiſcher hätte ſein können, als <lb/>ſie iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10522" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10523" xml:space="preserve">Die Bekanntſchaft mit Uranus iſt für die Wiſſenſchaft <lb/>noch zu jung, um mit Sicherheit mehr über ihn zu wiſſen, <lb/>als wir angegeben haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s10524" xml:space="preserve">Wir müſſen uns aber jetzt zu der <lb/>neueſten und jüngſten Bekanntſchaft eines Bürgers im Sonnen-<lb/>ſyſtem wenden, einer Bekanntſchaft, die erſt 50 Jahre alt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10525" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="153" file="0777" n="777"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div275" type="section" level="1" n="227">
<head xml:id="echoid-head253" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXIII. Neptun.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10526" xml:space="preserve">Über die Entdeckung des Neptun haben wir ſchon oben <lb/>eingehend geſprochen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10527" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10528" xml:space="preserve">Das Licht der Sonne iſt auf dieſem letzten Planeten, der <lb/>von derſelben 30 mal entfernter iſt als die Erde, um 900 mal <lb/>ſchwächer als bei uns. </s>
  <s xml:id="echoid-s10529" xml:space="preserve">Das heißt, die Bewohner des Neptun <lb/>müßten 900 Sonnen am Himmel haben, wenn ſie ihren Tag <lb/>ſo hell haben wollten wie wir. </s>
  <s xml:id="echoid-s10530" xml:space="preserve">Da ſie aber auch nur eine <lb/>Sonne haben wie wir und ihr Tageslicht von derſelben wie <lb/>wir empfangen, ſo müſſen ſie ſich wegen ihrer großen Ent-<lb/>fernung von der Sonne mit einem Tage begnügen, der außer-<lb/>ordentlich ſchwach beleuchtet iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10531" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10532" xml:space="preserve">Die Sonnenkugel erſcheint ihnen dort ſo klein wie uns <lb/>etwa der Planet Jupiter in ſeiner Erd-Nähe; </s>
  <s xml:id="echoid-s10533" xml:space="preserve">und es iſt wohl <lb/>möglich, daß die Bewohner Neptuns am Tage imſtande ſind, <lb/>die hellſten unter den Fixſternen zu ſehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s10534" xml:space="preserve">ebenſo wie wir ſie <lb/>bei hellem Mondſchein erblicken.</s>
  <s xml:id="echoid-s10535" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10536" xml:space="preserve">Daß indeſſen ein 900 mal ſchwächeres Sonnenlicht dennoch <lb/>immer noch eine Beleuchtung gewährt, davon können wir uns <lb/>durch eine direkte und eine indirekte Thatſache überzeugen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10537" xml:space="preserve">Die <lb/>direkte Thatſache iſt die, daß wir auf Erden den Planeten <lb/>Neptun ſehen können. </s>
  <s xml:id="echoid-s10538" xml:space="preserve">Wäre er nicht von der Sonne merklich <lb/>erleuchtet, ſo würden die allerſchärfſten Fernröhre nicht hin-<lb/>reichen, um ihn uns ſichtbar zu machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10539" xml:space="preserve">Das Sonnenlicht iſt <lb/>auf Neptun noch ſtark genug, um im Zurückſtrahlen merkbar <lb/>in unſer Auge zu gelangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10540" xml:space="preserve">Wir haben aber auch einen in-<lb/>direkten Beweis, daß der kleinſte Punkt des Sonnenkörpers <lb/>ſehr bedeutende Leuchtkraft beſitzt, und zwar erfahren wir dies <lb/>nach totalen Sonnenfinſterniſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10541" xml:space="preserve">Wenn nämlich unſer Mond <lb/>ſich derart vor der Sonne befindet, daß ſie vollſtändig ver-<lb/>deckt iſt, ſo wird es mit dem Entſchwinden des letzten, feinſten
<pb o="154" file="0778" n="778"/>
Randes der Sonne plötzlich finſter, und man erblickt für einen <lb/>Moment die Sterne des Himmels, als ob es Nacht wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s10542" xml:space="preserve">Im <lb/>ſelben Augenblick aber, wo der Mond weiter gehend in ſeiner <lb/>Bahn auch nur das allerkleinſte Sonnenpünktchen an ſeinem <lb/>Rande ſehen läßt, ſtrömt ſchon eine ſehr beträchtliche Maſſe <lb/>des Sonnenlichts zur Erde und erleuchtet dieſelbe derart, daß <lb/>die Sterne verſchwinden und man freudig den wiederkehrenden <lb/>Tag begrüßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10543" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10544" xml:space="preserve">Wie groß Neptun iſt, wie es mit ſeinen Monden ſteht, <lb/>von denen man ſchon einen geſehen hat, welche Zeit er zu ſeiner <lb/>Umdrehung um ſeine Axe braucht, wie Sommer und Winter <lb/>auf ihm beſchaffen ſein mögen, wie ſchwer die Dinge auf <lb/>ſeiner Oberfläche ſind, das alles iſt bis jetzt noch nicht ſicher <lb/>feſtgeſtellt und wird wahrſcheinlich noch lange Zeit unbekannt <lb/>bleiben, wenn es nicht gelingt, ganz unermeßlich ſcharfe Fern-<lb/>röhre herzuſtellen, die aus einer ſo weiten Ferne noch ſichere <lb/>Beobachtungen zulaſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10545" xml:space="preserve">Wir wiſſen vom Neptun ſicher nur <lb/>den Ort, wo er ſich befindet, die Maſſe, die er im ganzen hat, <lb/>die Entfernung von der Sonne und kennen infolgedeſſen ſeine <lb/>Umlaufszeit um dieſelbe, alſo das Jahr auf Neptun, das gleich <lb/>iſt 165 Erd-Jahren. </s>
  <s xml:id="echoid-s10546" xml:space="preserve">Nach ſeiner Maſſe, die 15 mal größer <lb/>als die der Erde iſt, und ſeinem Umfang würde ſeine Dichtig-<lb/>keit ungefähr ebenſo groß ſein, als die ſeines Nachbarplaneten <lb/>Uranus; </s>
  <s xml:id="echoid-s10547" xml:space="preserve">doch ſind alle dieſe Angaben noch ſehr unſicher.</s>
  <s xml:id="echoid-s10548" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10549" xml:space="preserve">So wenig wir aber von den Verhältniſſen des Planeten <lb/>Neptun wiſſen, ſo vielverſprechend iſt ſeine Beobachtung.</s>
  <s xml:id="echoid-s10550" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10551" xml:space="preserve">Wir haben es bereits erwähnt, daß der Lauf des Neptun <lb/>es einzig und allein ſein wird, der uns darüber wird belehren <lb/>können, ob noch in weiterer Entfernung von der Sonne ein <lb/>Planet exiſtiert, oder nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s10552" xml:space="preserve">Wird Neptun ſeinen Umlauf <lb/>regelmäßig abhalten, wie ihn die Aſtronomen berechnen, ſo <lb/>wird man ſchließen dürfen, daß kein unbekannter, ferner Planet <lb/>exiſtiert, der auf ſeinen Lauf von Einfluß iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10553" xml:space="preserve">Wird ſich das
<pb o="155" file="0779" n="779"/>
Gegenteil ergeben, ſo wird die Wiſſenſchaft mit vollſter <lb/>Sicherheit Ort, Maſſe, Entfernung und Umlaufszeit jenes <lb/>entfernten Störers herausrechnen, ſelbſt wenn auch vorerſt <lb/>nicht die mindeſte Hoffnung vorhanden iſt, den unbekannten <lb/>Planeten durch unſere Fernröhre ſehen zu können. </s>
  <s xml:id="echoid-s10554" xml:space="preserve">— In-<lb/>deſſen dürfte dieſer Gewinn der Wiſſenſchaft nicht gar ſo bald <lb/>eintreffen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10555" xml:space="preserve">Bei einer Umlaufszeit von 165 Jahren würden <lb/>vorausſichtlich mindeſtens hundert Jahre vergehen, bevor man <lb/>dieſer Bereicherung der Himmelskunde ſich wird rühmen können, <lb/>und bis dahin werden ſich auch unſere Leſer ſchon gedulden <lb/>müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10556" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10557" xml:space="preserve">Ganz anders aber iſt der Schluß, den man berechtigt iſt, <lb/>über die Exiſtenz etwaiger noch nicht entdeckter Planeten <emph style="sp">inner-<lb/>halb</emph> des bekannten Raumes des Sonnenſyſtems zu ziehen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10558" xml:space="preserve">In der Gegend, wo an 400 kleine Planeten exiſtieren, wird <lb/>man gewiß noch recht viel Herumläufer dieſer Art entdecken; </s>
  <s xml:id="echoid-s10559" xml:space="preserve"><lb/>daß jedoch zwiſchen den anderen Planeten kein unentdeckter <lb/>exiſtiert, das lehrt die Entdeckung des Neptun ſehr überzeugend. </s>
  <s xml:id="echoid-s10560" xml:space="preserve"><lb/>Wäre außer in dem Raum zwiſchen Mars und Jupiter noch <lb/>ſonſt wo im Sonnenſyſtem innerhalb der Neptunsbahn ein <lb/>Planet vorhanden, ſo würde er, ſelbſt wenn er unſichtbar ſein <lb/>ſollte, längſt ausgeſpürt ſein durch die Störungen, die er auf <lb/>die benachbarten Planeten ausübt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10561" xml:space="preserve">— Nur zwiſchen Sonne <lb/>und Merkur könnte möglicherweiſe noch ein Planet vorhanden <lb/>ſein, den wir der Sonnen-Nähe wegen noch nicht entdeckt <lb/>haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s10562" xml:space="preserve">Die Störungen im Lauf des Merkur haben <emph style="sp">Leverrier</emph> <lb/>zu der Behauptung geführt, daß wirklich ein ſolcher Planet <lb/>exiſtiert, der auch ſogar ſchon einen Namen erhalten hat: </s>
  <s xml:id="echoid-s10563" xml:space="preserve">Vulkan. </s>
  <s xml:id="echoid-s10564" xml:space="preserve"><lb/>Indeſſen iſt ſeine Exiſtenz doch noch nicht erwieſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10565" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="156" file="0780" n="780"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div276" type="section" level="1" n="228">
<head xml:id="echoid-head254" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXIV. Die Stellung der Kometen im</emph> <lb/><emph style="bf">Sonnenſyſtem.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10566" xml:space="preserve">Es iſt nach dem in den vorigen Artikeln Mitgeteilten <lb/>ausgemacht, daß wir uns vorläufig mit der Kenntnis von acht <lb/>großen Planeten begnügen und unſere Hoffnungen auf neue <lb/>Entdeckungen, auf die Zahl der kleinen Planeten richten müſſen, <lb/>die ganz unzweifelhaft in ſehr großer Zahl in der Gegend <lb/>zwiſchen Mars und Jupiter exiſtieren.</s>
  <s xml:id="echoid-s10567" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10568" xml:space="preserve">Stellt man ſich nun vor, wie dieſe acht großen und der <lb/>ganze Schwarm kleiner Planeten faſt in einer und derſelben <lb/>Ebene die Sonne umkreiſen, ſo wird es klar, daß man das <lb/>ganze Sonnenſyſtem, ſo weit es die Sonne und die Planeten <lb/>betrifft, in eine runde Schachtel einpacken kann, welche nur eine <lb/>Million Meilen hoch und an 1500 Millionen Meilen breit iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10569" xml:space="preserve">Die Geſtalt einer ſolchen Schachtel iſt eben ungefähr die einer <lb/>äußerſt flachen und ſehr weiten, runden Schnupftabaks-Doſe, in <lb/>deren Mitte die Sonne liegt, und um welche die Planeten in <lb/>Kreiſen herumwandeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s10570" xml:space="preserve">Da nun auch die Sonne ſich um ihre Axe <lb/>dreht, und zwar in derſelben Richtung, wie der Lauf der Pla-<lb/>neten iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10571" xml:space="preserve">ſo iſt es ganz richtig, wenn man ſagt, daß die Pla-<lb/>neten in der Richtung und in der Ebene des Sonnen-Äquators <lb/>kreiſen und nur ſehr wenig nach der Richtung der Pole der <lb/>Sonne abweichen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10572" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10573" xml:space="preserve">Sollte aber der Raum oberhalb der beiden Pole der Sonne <lb/>wirklich lee<unsure/>r ſein? </s>
  <s xml:id="echoid-s10574" xml:space="preserve">Iſt es wahrſcheinlich, daß die Sonne, die auf <lb/>600 Millionen Meilen Entfernung noch ſoviel Anziehungskraft <lb/>hat, um einen Planeten wie Neptun im Kreiſe herumzuführen, <lb/>nur dieſe Kraft in der Richtung ihres Äquators und nicht nach <lb/>jeder Richtung beſitzt?</s>
  <s xml:id="echoid-s10575" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10576" xml:space="preserve">Auf dieſe Frage lehrt die Naturwiſſenſchaft ſowohl wie <lb/>die Beobachtung, daß die Anziehungskraft der Sonne in der
<pb o="157" file="0781" n="781"/>
That nach jeder Richtung hin gleich iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10577" xml:space="preserve">Die Anziehungskräfte <lb/>ändern ſich nur mit der Entfernung, nicht aber je nach den <lb/>Gegenden, wo ſich der angezogene Gegenſtand befindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s10578" xml:space="preserve">Wenn <lb/>wir nun gewahren, daß die Planeten faſt nur in der Richtung <lb/>des Äquators der Sonne exiſtieren und ihren Rundlauf inne-<lb/>halten, ſo hat dies entweder einen mechaniſchen oder einen in <lb/>der Entſtehungsgeſchichte der Planeten liegenden Grund. </s>
  <s xml:id="echoid-s10579" xml:space="preserve">Taß <lb/>jedoch die Sonne dennoch nach allen Richtungen hin gleich an-<lb/>ziehend wirkt, das beweiſen die Kometen, die man in Wahrheit <lb/>als die eigentlichen Bewohner des Weltraumes betrachten muß, <lb/>und die in jeder beliebigen Richtung von allen Seiten und <lb/>aus den weiteſten Fernen her in außerordentlich großer Anzahl <lb/>um die Sonne laufen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10580" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10581" xml:space="preserve">Man macht ſich von den Kometen und auch infolgedeſſen <lb/>von der Bevölkerung des Weltraums und ſpeziell des Sonnen-<lb/>ſyſtems gemeinhin eine ganz falſche Vorſtellung.</s>
  <s xml:id="echoid-s10582" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10583" xml:space="preserve">Unter Kometen verſteht man ſolche Himmelskörper, die zu-<lb/>weilen als große und öfter als kleine, lichte, nebelhafte Maſſen <lb/>am nächtlichen Himmel ſichtbar werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s10584" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10585" xml:space="preserve">Der Aberglaube ungebildeter Völker hat ſonſt Erſcheinungen <lb/>ſolcher Art als Vorbedeutungen menſchlicher Schickſale ange-<lb/>ſehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s10586" xml:space="preserve">erſt ſeit den Zeiten der Aufklärung der Geiſter durch die <lb/>Naturwiſſenſchaft, ſeit den Zeiten, wo der mittelalterliche Glaube <lb/>geſunken und Bildung und Forſchung unter den Menſchen ihr <lb/>Reich eingenommen, erſt nachdem ein Kopernicus das Sonnen-<lb/>ſyſtem, wie es in Wahrheit iſt, erklärte, ein Kepler neue Ge-<lb/>ſetze der Bewegungen der Himmelskörper entdeckte, ein Newton <lb/>das Geſetz der Anziehungskraft der Maſſen feſtſtellte und be-<lb/>wies, erſt da gelang es auch, die Erſcheinung der Kometen in <lb/>die Reihe der Natur-Erſcheinungen aufzune<unsure/>hmen und die <lb/>Geſetze ihres Kommens und Verſchwindens genauer zu be-<lb/>ſtimmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10587" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10588" xml:space="preserve">Ein engliſcher Naturforſcher Namens <emph style="sp">Halley</emph> (1656—1724)
<pb o="158" file="0782" n="782"/>
war es, der vor zweihundert Jahren fand, daß ein in ſeiner Zeit <lb/>ſichtbarer Komet ein Himmelskörper ſei, der durch die Anziehung <lb/>der Sonne genötigt iſt, um dieſelbe einen Umlauf zu machen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10589" xml:space="preserve">Er berechnete die Bahn dieſes Kometen und zeigte, daß dieſelbe <lb/>ſo beſchaffen ſei, daß der Komet in einem ſehr länglichen Kreis <lb/>um die Sonne gehe, und zwar derart, daß er der Sonne ein-<lb/>mal ſehr nahe komme und ſich dann wieder von ihr entferne, <lb/>um ſich wiederum der Sonne vom entfernteſten Punkte aus <lb/>bis auf die beſtimmte Grenze zu nähern. </s>
  <s xml:id="echoid-s10590" xml:space="preserve">— Wenn man eine <lb/>Linie von ſieben Centimeter Länge zieht, und durch deren <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0782-01a" xlink:href="fig-0782-01"/>
Mitte kreuzartig <lb/>einen Querſtich <lb/>macht von <lb/>2 {1/2} Centimeter <lb/>Länge und dann <lb/>die Enden dieſes <lb/>Kreuzes durch <lb/>eine krumme <lb/>Linie umſchließt, <lb/>ſo wird man <lb/>einen ſehr läng-<lb/>lichen Kreis herausbekommen, der etwa die Geſtalt eines <lb/>Weizenkornes hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s10591" xml:space="preserve">Dieſe Geſtalt hat ungefähr die Bahn <lb/>des von Halley berechneten Kometen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10592" xml:space="preserve">Aber man ſtelle ſich <lb/>nicht vor, daß ſich die Sonne in der Mitte der Linien, <lb/>im Punkt des Kreuzes befinde, ſondern man mache einen <lb/>Punkt auf der langen Linie, der von der äußerſten Spitze <lb/>etwa ein viertel Centimeter entfernt iſt, und man wird hier <lb/>ungefähr die Stelle haben, die die Sonne innerhalb der Bahn <lb/>dieſes Kometen einnimmt, Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s10593" xml:space="preserve">32 zeigt uns, welche Stellung <lb/>die Sonne zu der langgeſtreckten Ellipſenbahn ſolcher Kometen <lb/>mit noch längerer Umlaufszeit einnehmen kann: </s>
  <s xml:id="echoid-s10594" xml:space="preserve">die Ellipſe, <lb/>in denen dieſe Kometen ſich bewegen, nähert ſich ſchon ſtark
<pb o="159" file="0783" n="783"/>
der Parabel, bei welcher eine Wiederkehr überhaupt nicht mehr <lb/>möglich iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10595" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div276" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0782-01" xlink:href="fig-0782-01a">
<caption xml:id="echoid-caption57" xml:space="preserve">Fig. 32.</caption>
<description xml:id="echoid-description17" xml:space="preserve"><emph style="bf">Parabel Ellipse Sonne Ellipse Parabel</emph></description>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10596" xml:space="preserve">Wenn wir nun hinzufügen, daß der Komet nur ſichtbar <lb/>iſt, wenn er der Erde und der Sonne nahe genug iſt, daß er <lb/>aber ganz und gar dem menſchlichen Auge verſchwindet, wenn <lb/>er ſich entfernt, ſo wird es jedem klar werden, daß Halley keine <lb/>unbedeutende Schwierigkeit hatte, um herauszubringen, daß der <lb/>Komet eine Umlaufszeit von einigen ſiebzig Jahren hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s10597" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div278" type="section" level="1" n="229">
<head xml:id="echoid-head255" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXV. Die berechneten und unberechneten</emph> <lb/><emph style="bf">Kometen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10598" xml:space="preserve">Wenn man ſich einen ungefähr richtigen Begriff von der <lb/>Schwierigkeit machen will, die die Berechnung der Bahn eines <lb/>Kometen darbietet, ſo kann man ſich dies mit Hilfe eincr <lb/>Zeichnung ſehr leicht klar machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10599" xml:space="preserve">Man ziehe einen beliebigen <lb/>Kreis um einen Punkt, und ſtelle ſich vor, daß dieſer Punkt <lb/>die Sonne und der Kreis die Bahn der Erde ſei. </s>
  <s xml:id="echoid-s10600" xml:space="preserve">Nun <lb/>zeichne man ſich einen äußerſt länglichen Kreis ebenfalls hin, <lb/>der die Bahn eines Kometen vorſtellen ſoll, und zwar derart, <lb/>daß der eine ſchmalſte Bogen des länglichen Kreiſes der Sonne <lb/>noch einmal ſo nahe als die Bahn der Erde, während der <lb/>andere ſchmale Bogen dreißig bis vierzigmal weiter entfernt <lb/>iſt von der Sonne als die Erdbahn. </s>
  <s xml:id="echoid-s10601" xml:space="preserve">Wenn wir zu dieſer <lb/>Figur uns denken, daß ſelbſt im günſtigſten Falle der Komet <lb/>nur dann von der Erde aus geſehen werden kann, wenn er <lb/>ihr und der Sonne nahe iſt, wenn wir hinzufügen, daß es <lb/>ſelbſt dann, wenn der Komet ſchon in ſeiner Sonnen-Nähe gut <lb/>geſehen worden, auch mit dem ſchärfſten Fernrohr unmöglich
<pb o="160" file="0784" n="784"/>
iſt, ihn bei ſeinem Rückgang weit hinaus zu beobachten, und <lb/>er ſchon unſichtbar wird, wenn er etwa 30 bis 40 Millionen <lb/>Meilen von der Sonne entfernt iſt, ſo wird es jedem klar <lb/>werden, daß ein großer Unterſchied zwiſchen der Berechnung <lb/>der Bahn eines Planeten iſt, der, wenn er einmal entdeckt, faſt <lb/>auf ſeiner ganzen Bahn geſehen werden kann, und einem Ko-<lb/>meten, von deſſen Bahn man nur ein kleines, oft nur ſehr <lb/>kleines Stück zu beobachten vermag.</s>
  <s xml:id="echoid-s10602" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10603" xml:space="preserve">Es darf daher nicht Wunder nehmen, daß bisher eigent-<lb/>lich nur wenige Kometen als wirklich genau beobachtet und <lb/>berechnet angeſehen werden können. </s>
  <s xml:id="echoid-s10604" xml:space="preserve">Der eine iſt der Halleyſche <lb/>Komet, der zuletzt im Jahre 1835 erſchienen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10605" xml:space="preserve">Der zweite <lb/>iſt ein Komet, der nach dem deutſchen Aſtronomen <emph style="sp">Olbers</emph> <lb/>(1758—1840) benannt wird, welcher ebenſo wie der Halleyſche <lb/>eine Umlaufszeit von einigen ſiebzig Jahren hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s10606" xml:space="preserve">Dieſer Komet <lb/>kommt der Sonne faſt ſo nahe als die Erde, iſt aber in ſeiner <lb/>Sonnenferne einige dreißigmal weiter von der Sonne entfernt <lb/>als dieſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s10607" xml:space="preserve">Seine Bahn iſt aber ſo geneigt zu der Erdbahn, <lb/>und ſein Lauf iſt ſo gerichtet, daß er der Erde niemals nahe <lb/>kommt und deshalb nur immer ſehr ſchwach geſehen wird. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10608" xml:space="preserve">Da er aber außerdem klein iſt, ſo darf es nicht Wunder <lb/>nehmen, daß man ihn nicht vor dem Jahre 1815 zu beobachten <lb/>Gelegenheit hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s10609" xml:space="preserve">Von zwei anderen berechneten Kometen, <lb/>dem Enckeſchen und Bielaſchen, haben wir bereits früher ge-<lb/>ſprochen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10610" xml:space="preserve">Der Enckeſche Komet kommt in der Sonnen-Nähe <lb/>der Sonne bis auf 6 Millionen Meilen nahe, während er in <lb/>der Sonnen-Ferne faſt an 80 Millionen Meilen von ihr ab-<lb/>ſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s10611" xml:space="preserve">Da ſeine Bahn wenig geneigt iſt zu den Bahnen der <lb/>Planeten, ſo kann man ſagen, daß er im Bereich der Planeten-<lb/>Bahnen ſeinen Umlauf hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s10612" xml:space="preserve">Er vollendet ſeinen Umlauf in <lb/>drei Jahren und 109 Tagen und zeigt die Eigentümlichkeit, <lb/>daß ſeine Umlaufszeit bisher immer kürzer geworden iſt und <lb/>die Wahrſcheinlichkeit gewährt, daß er dereinſt ſeinen Untergang
<pb o="161" file="0785" n="785"/>
finden wird, indem er der Sonne immer näher kommt und <lb/>endlich einmal in dieſe hineinſtürzen wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s10613" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10614" xml:space="preserve">Der Bielaſche Komet, den wir ſchon früher eingehend <lb/>behandelten, gehört zu den merkwürdigſten Himmelskörpern, <lb/>deren Geſchichte der Entſtehung und des Vergehens ſich faſt <lb/>vor unſeren Augen enthüllt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s10615" xml:space="preserve">Er hatte eine Umlaufszeit <lb/>von 6 Jahren und 220 Tagen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10616" xml:space="preserve">Die Lage ſeiner Bahn wich <lb/>von der der Planeten ſehr wenig ab; </s>
  <s xml:id="echoid-s10617" xml:space="preserve">in ſeiner Sonnen-Nähe <lb/>war er von dieſer faſt ſo weit entfernt wie die Erde, während <lb/>er in der Sonnen-Ferne mehr als ſechsmal weiter von ihr ab-<lb/>ſtand. </s>
  <s xml:id="echoid-s10618" xml:space="preserve">An ihm hat ſich bei ſeiner Wiederkehr im Jahre 1845 <lb/>die Merkwürdigkeit gezeigt, daß er ſich, wie wir bereits er-<lb/>wähnt haben, in zwei Kometen teilte, die, ohne ſich an-<lb/>zuziehen, nebeneinander den Raum durchſchreiten. </s>
  <s xml:id="echoid-s10619" xml:space="preserve">Von ihm <lb/>vermutete man bereits vor einigen Jahrzehnten, daß er viel-<lb/>leicht in der Zukunft einmal ein noch merkwürdigeres Schau-<lb/>ſpiel darbieten würde. </s>
  <s xml:id="echoid-s10620" xml:space="preserve">Nach aſtronomiſcher Berechnung war <lb/>es möglich, daß er bei weſentlicher Änderung ſeiner Bahn <lb/>durch die Störung der Planeten einmal mit dem Enckeſchen <lb/>Kometen zuſammentrifft, ſo daß beide Kometen, wenn ſie ſich <lb/>anziehen, ſich zu einem einzigen vereinigen könnten. </s>
  <s xml:id="echoid-s10621" xml:space="preserve">Inzwiſchen <lb/>hat ſich jedoch der Bielaſche Komet vollkommen aufgelöſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10622" xml:space="preserve">Über <lb/>die Urſache iſt man nicht vollkommen klar. </s>
  <s xml:id="echoid-s10623" xml:space="preserve">Man hat nur <lb/>nachweiſen können, daß er im Lauf der letzten Jahre dem <lb/>Planeten Venus ſo nahe kam, daß der Zuſammenhang ſeiner <lb/>lockeren Maſſe ganz zerſtört wurde und von ihm nur Reſte <lb/>übrig geblieben ſein mögen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10624" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10625" xml:space="preserve">Obwohl verhältnismäßig nur wenige Kometen, von denen <lb/>wir noch ſprechen werden, in ihrem Lauf ſicher berechnet ſind, <lb/>iſt doch das Erſcheinen von Kometen an ſich nichts Seltenes, <lb/>und die kurze Zeit, in welcher ſie ſichtbar ſind, wird aufs <lb/>fleißigſte benutzt, um den kleinen, ſichtbaren Teil der Bahn <lb/>in der Sonnen-Nähe zu beobachten und zu berechnen, damit</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10626" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s10627" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s10628" xml:space="preserve">Volksbücher XVI.</s>
  <s xml:id="echoid-s10629" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="162" file="0786" n="786"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10630" xml:space="preserve">man dann eine Vergleichung anſtellen kann mit den Verzeichniſſen <lb/>der früher erſchienenen Kometen, um es herauszufinden, ob der <lb/>neu erſchienene einer derjenigen iſt, die bereits früher geſehen <lb/>wurden.</s>
  <s xml:id="echoid-s10631" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10632" xml:space="preserve">Bedenkt man, daß die Hälfte der Zahl der Kometen ſtets <lb/>ungeſehen bleibt, wenn ſie auf der Seite ſtehen, wo ſich die <lb/>Sonne befindet, alſo nur am Tage geſehen werden könnten, <lb/>was ja ſelten möglich iſt; </s>
  <s xml:id="echoid-s10633" xml:space="preserve">bedenkt man ferner, daß man an 20 Ko-<lb/>meten kennt, welche innerhalb der Merkurs-Bahn ihre Sonnen-<lb/>Nähe haben, daß man 70 Kometen beobachtet hat, die inner-<lb/>halb der Venus-Bahn in die Sonnen-Nähe kommen, ſo ergiebt <lb/>die Rechnung, daß es Millionen von Kometen giebt, die ihre <lb/>Sonnen-Nähe innerhalb der Neptuns-Bahn haben müſſen, daß <lb/>alſo die Kometen die eigentliche Bevölkerung des Himmels-<lb/>raumes ausmachen, obgleich ihr Erſcheinen für uns ſo ſelten iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10634" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div279" type="section" level="1" n="230">
<head xml:id="echoid-head256" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXVI. Die ſonderbare Beſchaffenheit der</emph> <lb/><emph style="bf">Kometen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10635" xml:space="preserve">Bedenkt man, welch’ unendlich große Anzahl von Kometen <lb/>aller Wahrſcheinlichkeit nach exiſtiert, ſo leuchtet es ein, daß es <lb/>eine leere Einbildung iſt, wenn man die geringe Zahl der <lb/>Planeten als die weſentlichen Körper des Sonnenſyſtems be-<lb/>trachtet, und daß es noch thörichter iſt, wenn man die Exiſtenz <lb/>des einen Planeten, auf dem die Menſchheit ihren Wohnſitz <lb/>hat, für ſo wichtig in naturwiſſenſchaftlicher Beziehung hält, <lb/>um alles andere in der Welt nach dem Maßſtab der hier bei <lb/>uns herrſchenden Verhältniſſe zu ſchätzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10636" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10637" xml:space="preserve">Unſere bisherige Betrachtung hat uns ſchon gelehrt, daß <lb/>es falſch iſt, wenn man die Verhältniſſe und Zuſtände auf den
<pb o="163" file="0787" n="787"/>
anderen Planeten ſich nur als Abbild der bei uns vorhandenen <lb/>denkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10638" xml:space="preserve">Gleichwohl läßt ſich nicht leugnen, daß alle Planeten <lb/>einige gemeinſame Eigenſchaften beſitzen, durch welche man ſie <lb/>alle als eine beſondere Gattung von Himmelskörpern bezeichnen <lb/>kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s10639" xml:space="preserve">Dieſe gemeinſamen Eigenſchaften ſind teilweiſe phyſi-<lb/>kaliſcher, teilweiſe mathematiſcher, teilweiſe mechaniſcher Natur. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10640" xml:space="preserve">Phyſikaliſch ſteht es feſt, daß mindeſtens Venus, noch ſicherer <lb/>als Mars, Jupiter und Saturn von einer Lufthülle umgeben <lb/>ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s10641" xml:space="preserve">Vom Mars iſt es außer allem Zweifel, daß an ſeinen <lb/>Polen ein Winter mit Eis und Schnee herrſcht, der dem <lb/>unſern an den Polen ähnlich iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10642" xml:space="preserve">Dies ſetzt voraus, daß Feſt-<lb/>land und Waſſermaſſen auf dem Rund dieſes Planeten <lb/>exiſtieren, was auch ganz unzweifelhaft durch die unwandel-<lb/>baren Flecke wird, die man auf der Kugel dieſes Planeten er-<lb/>blickt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10643" xml:space="preserve">Die Dichtigkeit der Planetenmaſſen weicht zwar weſent-<lb/>lich ab von der der Erde; </s>
  <s xml:id="echoid-s10644" xml:space="preserve">allein man iſt wenigſtens imſtande, <lb/>dieſe Verhältniſſe in zwei Gruppen zu bringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10645" xml:space="preserve">Die vier der <lb/>Sonne nahen Planeten, Merkur, Venus, Erde und Mars, <lb/>haben eine beinahe gleiche Dichtigkeit, die etwa fünfmal ſo <lb/>groß iſt wie die des Waſſers, während die übrigen größeren <lb/>Planeten nur die Dichtigkeit unſerer verſchiedenen Holzarten <lb/>beſitzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10646" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10647" xml:space="preserve">Was die mathematiſchen Verhältniſſe betrifft, ſo gleichen <lb/>ſich die Planeten in ſehr hohem Grade. </s>
  <s xml:id="echoid-s10648" xml:space="preserve">Alle ſind Kugeln, <lb/>wahrſcheinlich beſitzen ſie alle ohne Ausnahme eine Umdrehung <lb/>um eine Axe, die nicht zu ſehr abweicht von der Axe ihrer <lb/>Bahn, in welcher ſie ſich um die Sonne bewegen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10649" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10650" xml:space="preserve">Endlich zeigt ſich die mechaniſche Übereinſtimmung darin, <lb/>daß ſie faſt alle in Bahnen um die Sonne laufen, die ſich <lb/>nicht beträchtlich von wirklichen Kreiſen unterſcheiden, daß alle <lb/>dieſe Kreiſe wenig von der Ebene des Sonnen-Äquators ab-<lb/>weichen und die Umläufe alle nach einer Richtung von Weſt <lb/>nach Oſt geſchehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10651" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="164" file="0788" n="788"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10652" xml:space="preserve">Wenn wir nun trotz dieſer Übereinſtimmung in der Pla-<lb/>netenwelt dennoch ſo außerordentliche Verſchiedenheiten in den <lb/>einzelnen Verhältniſſen derſelben finden, daß wir keinen ſichern <lb/>Schluß von dem Daſein auf Erden auf das Daſein, das Leben <lb/>und Weben auf anderen Planeten ziehen dürfen, ſo iſt es klar, <lb/>daß man in Bezug auf die Kometen nicht den geringſten An-<lb/>halt beſitzt, um ſich hierüber Vorſtellungen irgend welcher Art <lb/>zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10653" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10654" xml:space="preserve">Die Kometen ſind wirklich Himmelskörper ganz anderer Art <lb/>wie die Planeten. </s>
  <s xml:id="echoid-s10655" xml:space="preserve">Weder in ihrer Beſchaffenheit noch in ihrer <lb/>Maſſe, noch in ihrer Dichtigkeit, noch in ihrer Form, noch in <lb/>ihrem Lauf ſind ſie irgendwie den Planeten gleich oder auch <lb/>nur ähnlich; </s>
  <s xml:id="echoid-s10656" xml:space="preserve">ja ſie zeigen ſo weſentliche Verſchiedenheiten unter-<lb/>einander, daß man ſie ſelber nicht einmal recht in Gruppen zu <lb/>bringen vermag.</s>
  <s xml:id="echoid-s10657" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10658" xml:space="preserve">Dem bloßen Auge ſchon erſcheinen die Kometen wie eine <lb/>Art leuchtender Nebelſtreif, der an einem Punkte einen etwas <lb/>helleren Kern hat; </s>
  <s xml:id="echoid-s10659" xml:space="preserve">durch nähere Unterſuchung findet man aber, <lb/>daß die Kometenmaſſe weder luftartig iſt, noch aus einer <lb/>Flüſſigkeit, und noch weniger aus feſten Teilen gebaut iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10660" xml:space="preserve">Man kann nämlich durch die Kometen hindurch die feinſten <lb/>Sterne des Himmels ſehen (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s10661" xml:space="preserve">33); </s>
  <s xml:id="echoid-s10662" xml:space="preserve">man hat bisher weder <lb/>eine Trübung noch eine Schwächung des Sternenlichtes beob-<lb/>achtet, das durch die Kometenmaſſe hindurch zu uns gelangt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10663" xml:space="preserve"><lb/>Wäre dieſe Maſſe luftartig, ſo würde zwar die Durchſichtigkeit <lb/>in ſehr hohem Grade möglich ſein; </s>
  <s xml:id="echoid-s10664" xml:space="preserve">aber dann müßte ſich eine <lb/>Brechung der Lichtſtrahlen zeigen, wie dies bei allen durch-<lb/>ſichtigen Dingen der Fall iſt, und auch bei Luftarten ſtattfindet.</s>
  <s xml:id="echoid-s10665" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10666" xml:space="preserve">Aus gleichem Grunde kann die Kometenmaſſe nicht als <lb/>Flüſſigkeit angeſehen werden, und noch weniger als eis- oder <lb/>glasartiger, feſter Körper, an denen die Lichtbrechung nur noch <lb/>ſtärker ſein würde. </s>
  <s xml:id="echoid-s10667" xml:space="preserve">Da wir nun auf Erden kein Ding kennen, <lb/>das weder feſt noch flüſſig noch luftartig iſt, ſo iſt ſchon die
<pb o="165" file="0789" n="789"/>
erſte Frage nach der Beſchaffenheit der Kometenmaſſe für uns <lb/>vollkommen unbeantwortlich.</s>
  <s xml:id="echoid-s10668" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10669" xml:space="preserve">Es bleibt ſchließlich nur die eine Annahme möglich, ſich <lb/>die Kometen gar nicht als eine einzige Maſſe, ſondern als eine <lb/>Anhäufung außerordentlich kleiner Teile vorzuſtellen, die ſich <lb/>gegenſeitig anziehen, ohne daß ſie ſo nahe aneinander kommen, <lb/>um ſich wirklich zu berühren. </s>
  <s xml:id="echoid-s10670" xml:space="preserve">Ihre Anziehung bewirkt dann <lb/>nur, daß ſie gemeinſchaftlich ihre Neiſe um die Sonne machen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10671" xml:space="preserve">
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0789-01a" xlink:href="fig-0789-01"/>
nur dort, wo der lichtere Kern zu ſehen iſt, haben wir uns <lb/>eine größere Anhäufung der einzelnen Teilchen zu denken, die <lb/>zwar keine dichte, einzige Maſſe, aber doch eine dichtere Lage <lb/>der einzelnen Teilchen bilden. </s>
  <s xml:id="echoid-s10672" xml:space="preserve">Denkt man ſich die dichteſte <lb/>Lagerung dieſer Teilchen noch derart, daß ſie nicht nahe genug <lb/>ſtehen, um dem durchgehenden Licht ein Hindernis darzubieten, <lb/>ſo würde man ſich’s erklären können, wie ſelbſt der Kern der <lb/>Kometen keine Ablenkung oder Schwächung des Lichtes der <lb/>Sterne veranlaßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10673" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div279" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0789-01" xlink:href="fig-0789-01a">
<caption xml:id="echoid-caption58" xml:space="preserve">Fig. 33.</caption>
</figure>
</div>
<pb o="166" file="0790" n="790"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10674" xml:space="preserve">Wir wollen nun die Erſcheinungen der Kometen etwas <lb/>näher in Betracht ziehen, und zwar dadurch, daß wir eine <lb/>Reihe der ausgezeichnetſten Kometen unſern Leſern vorführen, <lb/>die ſeit etwa zweihundert Jahren beobachtet worden ſind, alſo <lb/>ſeit den Zeiten, wo Bildung und wiſſenſchaftliches Leben ſichere <lb/>Nachrichten auf uns kommen ließen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10675" xml:space="preserve">Denn der Aberglaube <lb/>früherer Zeiten, die man jetzt als die Zeit des heiligſten <lb/>Glaubens preiſt, hat die tollſten und fabelhafteſten Dinge in <lb/>den Kometen-Erſcheinungen geſehen und berichtet, ſo daß man <lb/>nicht imſtande iſt, all dieſe Nachrichten von Lügen und Über-<lb/>treibungen zu ſäubern.</s>
  <s xml:id="echoid-s10676" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div281" type="section" level="1" n="231">
<head xml:id="echoid-head257" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXVII. Der Komet vom Jahre 1680.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10677" xml:space="preserve">Der bedeutendſte Komet, über welchen ſichere Nachrichten <lb/>auf uns gekommen ſind, erſchien im Jahre 1680. </s>
  <s xml:id="echoid-s10678" xml:space="preserve">Er war von <lb/>ungeheurer Größe und ſah wie ein feuriger Streifen aus, der <lb/>ſich durch den halben Himmel hin erſtreckte. </s>
  <s xml:id="echoid-s10679" xml:space="preserve">Er ſtand ſo, daß <lb/>man in Europa ſeinen Schweif früher ſah als ſeinen Kopf. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10680" xml:space="preserve">An einzelnen Orten der Erde mußte man abends ſechs volle <lb/>Stunden warten, um ihn vollſtändig untergehen zu ſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10681" xml:space="preserve">An <lb/>ſeinem Kopf bemerkte man den hellen Kern, der jedoch das <lb/>Licht der Sterne, die hinter ihm waren, ungeändert durch-<lb/>leuchten ließ. </s>
  <s xml:id="echoid-s10682" xml:space="preserve">Die Säume und das Ende ſeines Schweifes <lb/>waren nicht ſcharf begrenzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10683" xml:space="preserve">Der Schweif ſelber war der <lb/>Sonne abgewendet, während der ganze Komet ſich faſt in <lb/>gerader Linie zur Sonne hin zu bewegen ſchien.</s>
  <s xml:id="echoid-s10684" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10685" xml:space="preserve">Da er von den beſten Aſtronomen der damaligen Zeit <lb/>beobachtet wurde und namentlich deutſche und holländiſche <lb/>Naturforſcher pünktlich genug ſeinen Lauf notiert haben, ſo
<pb o="167" file="0791" n="791"/>
fand der ſchon mehrfach genannte Encke hinreichendes Material <lb/>vor, um den Lauf dieſes merkwürdigen Kometen zu berechnen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10686" xml:space="preserve">Eine berühmte Preisſchrift dieſes Aſtronomen wies über-<lb/>zeugend nach, daß dieſer Komet in einer Bahn wandert, <lb/>welche ſo lang geſtreckt iſt, daß er in ſeiner Sonnen-Nähe nur <lb/>um etwa 30 000 Meilen von der Oberfläche der Sonne ab-<lb/>ſteht, während er in der Sonnen-Ferne über 17 000 Millionen <lb/>Meilen von der Sonne entfernt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10687" xml:space="preserve">Um ſeinen Umlauf zu <lb/>vollenden, braucht er 8814 Jahre; </s>
  <s xml:id="echoid-s10688" xml:space="preserve">er wird alſo erſt wieder <lb/>nach mehr als neunhalbtauſend Jahren ſichtbar werden, und <lb/>wird bei ſeinem Wiedererſcheinen wahrſcheinlich ein Menſchen-<lb/>geſchlecht vorfinden, das auf die Zeit, in welcher wir leben, <lb/>wie auf eine Zeit der Unwiſſenheit und des dunkelſten Alter-<lb/>tums blicken wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s10689" xml:space="preserve">Aller Wahrſcheinlichkeit nach aber wird <lb/>der Name des Mannes, der ſein Erſcheinen vorher verkündet <lb/>hat, auch dann noch geehrt werden, wenn auch nur mit Rückſicht <lb/>auf die Zeit, in welcher er gelebt und gewirkt hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s10690" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10691" xml:space="preserve">Dieſer Komet lehrt uns, daß die Anziehung der Sonne <lb/>in ſo weite Räume hinaus wirkt; </s>
  <s xml:id="echoid-s10692" xml:space="preserve">denn nur dieſe Anziehung <lb/>iſt es, welche ſeinen merkwürdigen Lauf verurſacht, und die <lb/>andern Fixſterne ſind ſo entfernt von uns, daß vorausſichtlich <lb/>ſelbſt nach achttauſend Jahren keiner ihm ſo nahe kommen <lb/>wird, daß er ſehr weſentlich ſeine Bahn ändert.</s>
  <s xml:id="echoid-s10693" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10694" xml:space="preserve">Vielleicht fällt einigen unſerer Leſer die Frage ein, wie es <lb/>wohl möglich ſei, daß ein Komet, der von 17 000 Millionen <lb/>Meilen Entfernung zur Sonne herangezogen wird, noch im-<lb/>ſtaude iſt, wenn er bis auf 30 000 Meilen ihr nahe gekommen <lb/>iſt, ſich wieder von ihr zu entfernen? </s>
  <s xml:id="echoid-s10695" xml:space="preserve">Dieſe Frage, die über-<lb/>haupt auf die Bewegungen aller Himmelskörper angewendet <lb/>werden kann, die ſich nicht in vollkommenen Kreiſen um die <lb/>Sonne bewegen, iſt wiſſenſchaftlich vollſtändig gelöſt, und wir <lb/>wollen die Beantwortung derſelben hier bei dieſer Gelegenheit <lb/>beiläufig in möglichſter Kürze geben. </s>
  <s xml:id="echoid-s10696" xml:space="preserve">Die Antwort iſt folgende:</s>
  <s xml:id="echoid-s10697" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="168" file="0792" n="792"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10698" xml:space="preserve">Die Sonne, wenn ſie den Kometen zu ſich heranzieht, der <lb/>urſprünglich nicht in ganz gerader Richtung zu ihr läuft, kann <lb/>ſeinen Lauf niemals in eine gerade Linie umwandeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s10699" xml:space="preserve">Die <lb/>Anziehungskraft beſchleunigt nun zwar den Lauf des Kometen, <lb/>jemehr er ſich der Sonne nähert; </s>
  <s xml:id="echoid-s10700" xml:space="preserve">aber gerade dieſe Beſchleu-<lb/>nigung bewirkt, daß er an der Sonne in einer ſehr krummen <lb/>Linie vorüberläuft. </s>
  <s xml:id="echoid-s10701" xml:space="preserve">Weil er nun einmal in ſehr heftigem Lauf <lb/>iſt, ſo eilt er wieder von der Sonnen-Nähe fort; </s>
  <s xml:id="echoid-s10702" xml:space="preserve">und weil die <lb/>Sonne ihn fortwährend dabei zurückzieht, wird auch wirklich ſein <lb/>Lauf immer langſamer und langſamer, bis er nach vielen Jahren <lb/>endlich ſo langſam wird, daß er genötigt iſt, der Sonnen-<lb/>anziehung nachzugeben, und in einer ganz gleich ſtark ge-<lb/>krümmten Linie umzubiegen, und von ſeiner Sonnen-Ferne ab <lb/>in einem immer ſchneller werdenden Lauf wieder zur Sonnen-<lb/>Nähe zu eilen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10703" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10704" xml:space="preserve">Alle Himmelskörper, deren Rundlauf ſehr in die Länge <lb/>gezogen iſt, — oder wie man ſich wiſſenſchaftlich ausdrückt, <lb/>deren Ellipſe eine große Excentrizität hat — gehen in der <lb/>That von der Sonnen-Nähe zur Sonnen-Ferne immer lang-<lb/>ſamer und langſamer, bis ſie in der größten Entfernung außer-<lb/>ordentlich langſam gehen, dafür aber wandern ſie ihren Rück-<lb/>weg in ganz gleichem Maße immer ſchneller, bis ſie in der <lb/>Sonnen-Nähe ihren ſchnellſten Lauf haben, der es — wie ge-<lb/>ſagt — bewirkt, daß ſie an der Sonne vorbeikommen und ſich <lb/>von ihr wieder entfernen können.</s>
  <s xml:id="echoid-s10705" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10706" xml:space="preserve">Am Kometen vom Jahre 1680 iſt dieſer Unterſchied des <lb/>Laufes ungeheuer groß. </s>
  <s xml:id="echoid-s10707" xml:space="preserve">In der Sonnen-Nähe läuft er in <lb/>jeder Sekunde an 53 Meilen, das heißt dreizehnmal ſchneller <lb/>als die Erde in ihrem Rundlauf. </s>
  <s xml:id="echoid-s10708" xml:space="preserve">In der Sonnen-Ferne da-<lb/>gegen geht er in einer Sekunde nur etwa 3 Meter weit, und <lb/>das iſt 9600 mal langſamer als die Erde, und nur noch ein-<lb/>mal ſo ſchnell als ein raſcher Fußgänger.</s>
  <s xml:id="echoid-s10709" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10710" xml:space="preserve">Erwägt man dieſe Umſtände, ſo wird es klar, daß man
<pb o="169" file="0793" n="793"/>
nicht die geringſte Ähnlichkeit zwiſchen einem ſolchen Kometen <lb/>und irgend einem Planeten auffinden kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s10711" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10712" xml:space="preserve">Welche Veränderungen gehen in einem ſolchen Himmels-<lb/>körper vor, wenn er den Raum bald mit einer ſolchen Heftig-<lb/>keit, bald mit ſolcher Langſamkeit durcheilt? </s>
  <s xml:id="echoid-s10713" xml:space="preserve">Welche bei einer <lb/>Sonnen-Nähe, wo er 25 000 Mal mehr Licht und Wärme von <lb/>der Sonne erhält als wir und bei einer Sonnen-Ferne, wo er <lb/>an 700 000 Mal ſchwächer erwärmt und beleuchtet wird von <lb/>der Sonne? </s>
  <s xml:id="echoid-s10714" xml:space="preserve">Iſt die Ausdehnung ſeines Schweifes, der an <lb/>10 Millionen Meilen lang war, nur eine Folge des ſch@ellen <lb/>Laufes und der ſtarken Erleuchtung und Erwärmung, und zieht <lb/>er ſich in der Sonnen-Ferne wieder in Kugelform zuſammen? <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10715" xml:space="preserve">oder iſt es anders?</s>
  <s xml:id="echoid-s10716" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10717" xml:space="preserve">Wir wiſſen dies nicht zu beantworten. </s>
  <s xml:id="echoid-s10718" xml:space="preserve">Wir wiſſen nur, <lb/>daß er, nachdem er am 17. </s>
  <s xml:id="echoid-s10719" xml:space="preserve">Dezember 1680 in der Sonnen-<lb/>Nähe war, wo er nach unſern Begriffen längſt hätte verbrannt <lb/>ſein müſſen, unverſehrt, ja unverändert wieder erſchien und bis <lb/>zum 18. </s>
  <s xml:id="echoid-s10720" xml:space="preserve">März 1681 ſichtbar blieb, von welcher Zeit ab er in <lb/>die fernen Räume verſchwand, um in ſehr fernen, fernen Zeiten <lb/>wieder einmal vor den Augen einer wahrſcheinlich ſehr ver-<lb/>änderten Menſchheit zu erſcheinen!</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div282" type="section" level="1" n="232">
<head xml:id="echoid-head258" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXVIII. Kometen aus den Jahren 1729 bis</emph> <lb/><emph style="bf">1759.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10721" xml:space="preserve">Im Jahre 1729 erſchien ein Komet, der mit bloßem Auge <lb/>nicht ſichtbar war und auch im Fernrohr in ſeiner Erſcheinung <lb/>nichts Beſonderes zeigte, der aber dadurch merkwürdig iſt, daß <lb/>er in außerordentlich weiter Entfernung von der Erde noch <lb/>geſehen wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s10722" xml:space="preserve">Spätere, genauere Rechnungen haben gezeigt,
<pb o="170" file="0794" n="794"/>
daß er noch geſehen wurde, als er bereis 90 Millionen Meilen <lb/>von der Erde entfernt war. </s>
  <s xml:id="echoid-s10723" xml:space="preserve">Da dies bei keinem ſonſtigen, <lb/>ſelbſt dem größten aller Kometen nicht der Fall war, ſo muß <lb/>man annehmen, daß der Komet von 1729 alle geſehenen an <lb/>Größe übertroffen habe. </s>
  <s xml:id="echoid-s10724" xml:space="preserve">Aber auch von der Sonne bleibt <lb/>dieſer Komet ſelbſt im Moment der Sonnen-Nähe bei weitem <lb/>entfernter als alle anderen Kometen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10725" xml:space="preserve">Er blieb von der Sonne <lb/>an 84 Millionen Meilen fern, ſo daß er in ſeiner Sonnen-<lb/>Nähe noch weiter von dieſer abſteht als die kleinen Kometen <lb/>in ihrer Sonnen-Ferne. </s>
  <s xml:id="echoid-s10726" xml:space="preserve">— Eine Wiederkehr dieſes Planeten <lb/>konnte nicht durch Rechnung nachgewieſen werden, gleichwohl <lb/>iſt der Ort am Himmel durch Rechnung bezeichnet worden, <lb/>wo er, falls er wiederkehrt, ſichtbar ſein wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s10727" xml:space="preserve">Sollte er ein-<lb/>mal nach vielen Jahrtauſenden wieder erſcheinen, ſo wird die <lb/>Nachwelt, die ihn ſehen wird, reichhaltigen Stoff haben, um <lb/>ſeine Bahn in ganz ungeheuren Weiten beſſer zu ermitteln.</s>
  <s xml:id="echoid-s10728" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10729" xml:space="preserve">Im Jahre 1744 erſchien ein Komet, der für die Berech-<lb/>nung keine günſtigen Ausſichten zuließ, der aber in ſeiner Er-<lb/>ſcheinung viel Auffallendes hatte, das über die Beſchaffenheit <lb/>der Kometen lehrreich iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10730" xml:space="preserve">Er war ſo prachtvoll und glänzend, <lb/>daß er ſelbſt am Tage geſehen werden konnte, wenn man das <lb/>Auge vor den Strahlen der Sonne ſchützte. </s>
  <s xml:id="echoid-s10731" xml:space="preserve">An ſeinem <lb/>glänzenden Kern bemerkten mehrere Beobachter eine Drehung. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10732" xml:space="preserve">Ein deutſcher Aſtronom, <emph style="sp">Heinſius</emph>, der ein vortreffliches <lb/>Fernrohr beſaß, fand bei ſeinen ſorgfältigen Beobachtungen <lb/>dieſes Kometen, daß er nach der Richtung zur Sonne hin <lb/>Strahlen ausſandte, die ſich fächerartig auseinander breiteten, <lb/>während ſonſt der Schweif des Kometen immer abgewandt <lb/>von der Sonne zu ſein pflegt (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s10733" xml:space="preserve">34). </s>
  <s xml:id="echoid-s10734" xml:space="preserve">Bei ſeiner größeren <lb/>Nähe zur Sonne ſtrömten Lichtbüſchel wie ein Federbuſch aus <lb/>dem Kometen hervor, und dieſe wuchſen an und legten ſich <lb/>derart um, daß ſie nach und nach den Schweif des Kometen <lb/>bildeten. </s>
  <s xml:id="echoid-s10735" xml:space="preserve">Merkwürdig iſt hierbei, daß ſchon Heinſius von einer
<pb o="171" file="0795" n="795"/>
Art hin und herſchwingender, zur Sonne gewandter Lichtbüſchel <lb/>ſpricht, von einem Pendeln derſelben, das erſt von Beſſel <lb/>wieder geſehen, und ſehr genau in ſeinen Beobachtungen über <lb/>den Halleyſchen Kometen beſchrieben worden iſt, als dieſer im <lb/>Jahre 1835 wiederkehrte.</s>
  <s xml:id="echoid-s10736" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10737" xml:space="preserve">Dieſer, der Halley’ſche Komet, machte auch das Jahr 1759 <lb/>
<anchor type="figure" xlink:label="fig-0795-01a" xlink:href="fig-0795-01"/>
zu einem für die <lb/>Aſtronomie wichti-<lb/>gen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10738" xml:space="preserve">Wie wir bereits <lb/>erzählt haben, hatte <lb/>Halley einen Kometen <lb/>des Jahres 1682 als <lb/>einen Himmelskörper <lb/>erkannt, der von der <lb/>Sonne in einem Um-<lb/>lauf von einigen <lb/>ſiebzig Jahren herum-<lb/>geführt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s10739" xml:space="preserve">Er be-<lb/>rechnete deſſen Lauf <lb/>und verkündete kühn, <lb/>daß derſelbe Komet <lb/>im Jahre 1759 wie-<lb/>der erſcheinen werde, <lb/>eine Vorherverkündi-<lb/>gung, die zwar von <lb/>den Aſtronomen als vollkommen berechtigt angeſehen, die aber <lb/>von Tauſenden als ein kühnes Märchen betrachtet wurde. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10740" xml:space="preserve">Wäre nur der Lauf des Kometen allein hierbei in Rechnung <lb/>zu ziehen geweſen, ſo würde ihm die Vorherſagung ſicherer <lb/>und leichter geworden ſein; </s>
  <s xml:id="echoid-s10741" xml:space="preserve">allein der Komet wird in ſeinem <lb/>Lauf auch noch von den Planeten angezogen und ſo in <lb/>ſeiner Bahn abgelenkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10742" xml:space="preserve">Man nennt dieſe Ablenkung eine <lb/>“Störung” der Bahn, und die Berechnung dieſer Störungen
<pb o="172" file="0796" n="796"/>
gehört zu den verwickeltſten und ſchwierigſten in der Aronomie. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10743" xml:space="preserve">Zudem waren zu Halley’s Zeiten die Planeten Uranus und <lb/>Neptun noch nicht entdeckt, weshalb die Berechnung natürlich <lb/>noch unſicherer hat ausfallen müſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10744" xml:space="preserve">Gleichwohl hatte Halley <lb/>ſchon vorhergeſagt, daß der nach ihm benannte Komet bei <lb/>ſeiner nächſten Erſcheinung ſich um ein Jahr verſpäten werde, <lb/>wegen der Störungen, die Jupiter und Saturn auf ihn aus-<lb/>üben. </s>
  <s xml:id="echoid-s10745" xml:space="preserve">Als das Jahr 1759 kam, war Halley bereits nicht <lb/>mehr unter den Lebenden; </s>
  <s xml:id="echoid-s10746" xml:space="preserve">— er war in dem Alter von <lb/>68 Jahren am 14. </s>
  <s xml:id="echoid-s10747" xml:space="preserve">Januar 1724 geſtorben — aber die Über-<lb/>lebenden gingen mit nicht geringem Eifer an die Arbeit des <lb/>Nachrechnens und des Aufſuchens des Kometen, denn jeder <lb/>wollte der erſte ſein, um der Welt die große Wahrheit, die <lb/>Halley gelehrt hatte, als unzweifelhaft zu verkünden. </s>
  <s xml:id="echoid-s10748" xml:space="preserve">Nicht die <lb/>engliſchen Gelehrten allein, ſondern die aller gebildeten Völker <lb/>waren in der größten Spannung hierüber. </s>
  <s xml:id="echoid-s10749" xml:space="preserve">Der franzöſiſche <lb/>Aſtronom und Mathematiker <emph style="sp">Clairaut</emph> (1713—1765) rechnete <lb/>ein volles Jahr mit der Aſtronomin Madame <emph style="sp">Lepaute</emph> ſo eifrig, <lb/>daß ſie ſich kaum Zeit gönnten zu einem einfachen Mittags-<lb/>mahl. </s>
  <s xml:id="echoid-s10750" xml:space="preserve">Aus dieſer Rechnung folgte, daß der Komet im Jahr <lb/>1759 am 13. </s>
  <s xml:id="echoid-s10751" xml:space="preserve">April in ſeine Sonnen-Nähe kommen werde, doch <lb/>fügte Clairaut hinzu, daß ſeine Rechnung nur obenhin gelten <lb/>könne, weil er erſtens die Maſſen der Planeten nicht mit <lb/>nöthiger Genauigkeit kenne und auch nicht wiſſe, ob nicht noch <lb/><emph style="sp">unbekannte Planeten hinter Saturn vorhanden ſeien</emph>, <lb/>die ihm einen Strich durch die Rechnung machen könnten. </s>
  <s xml:id="echoid-s10752" xml:space="preserve">Er <lb/>verkündete demnach, daß er bis auf einen Monat früher oder <lb/>ſpäter in ſeiner Rechnung unſicher ſei.</s>
  <s xml:id="echoid-s10753" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div282" type="float" level="2" n="1">
<figure xlink:label="fig-0795-01" xlink:href="fig-0795-01a">
<caption xml:id="echoid-caption59" xml:space="preserve">Fig. 34.</caption>
<variables xml:id="echoid-variables21" xml:space="preserve">4h 17h 5h 16h 6h 15h 7h 14h 8h 13h 9h 12h Sonne 10h 11h P</variables>
</figure>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10754" xml:space="preserve">Da man mehrere Monate vor dem Moment der Sonnen-<lb/>Nähe des Kometen ihn ſehen zu können hoffen durfte, ſo machte <lb/>alles, was nur eines Fernrohrs habhaft werden konnte, Jagd am <lb/>Himmel. </s>
  <s xml:id="echoid-s10755" xml:space="preserve">— Und wer war es, der zuerſt den mit ſo großer <lb/>Spannung erwarteten Gaſt entdeckte? </s>
  <s xml:id="echoid-s10756" xml:space="preserve">— Es war ein wohl-
<pb o="173" file="0797" n="797"/>
habender und in der Aſtronomie nicht unerfahrener Bauer, <lb/>namens <emph style="sp">Palitzſch</emph>, in einem Dörfchen bei Dresden, der ein <lb/>gutes Fernrohr beſaß und der den Kometen am Weihnachts-<lb/>abend, am 25. </s>
  <s xml:id="echoid-s10757" xml:space="preserve">Dezember 1758, als einen neblichen Stern <lb/>wirklich entdeckte. </s>
  <s xml:id="echoid-s10758" xml:space="preserve">— Hätte es damals elektriſche Telegraphen <lb/>nach jetziger Einrichtung gegeben, ſo wäre dieſe Entdeckung <lb/>noch in derſelben Nacht auf allen Sternwarten Europas be-<lb/>kannt geweſen, und alle Fernröhre hätten den Gaſt begrüßt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10759" xml:space="preserve">Allein von etwas Derartigem hatte man damals keine Ahnung, <lb/>ja, als vier Wochen ſpäter der franzöſiſche Aſtronom <emph style="sp">Meſſier</emph> <lb/>den Kometen auffand, wußte er nichts davon, daß derſelbe <lb/>bereits lange der Gegenſtand der Beobachtung auf der Dresdner <lb/>Sternwarte war.</s>
  <s xml:id="echoid-s10760" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10761" xml:space="preserve">So hat denn das Jahr 1759 eine Berühmtheit als das <lb/>Jahr der Bewahrheitung einer großen Entdeckung erlangt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10762" xml:space="preserve">Der Komet kam am 13. </s>
  <s xml:id="echoid-s10763" xml:space="preserve">März in ſeine Sonnen-Nähe und gab <lb/>zu vielen Beobachtungen Stoff, die wir in der Hauptſache beim <lb/>Jahre 1835 mitteilen, wo derſelbe Komet verkündetermaßen <lb/>wieder erſchien.</s>
  <s xml:id="echoid-s10764" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div284" type="section" level="1" n="233">
<head xml:id="echoid-head259" xml:space="preserve"><emph style="bf">XXXIX. Kometen aus den Jahren 1769</emph> <lb/><emph style="bf">und 1770.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10765" xml:space="preserve">Ende des Jahres 1769 erſchien ein großer Komet, der <lb/>in ſeinem Äußern viel darbot, was beſondere Erwähnung <lb/>verdient. </s>
  <s xml:id="echoid-s10766" xml:space="preserve">Er zeigte einen prachtvollen Schweif, der namentlich <lb/>in heißen Ländern, wo die Luft klar und rein iſt, in außer-<lb/>ordentlicher Länge geſehen wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s10767" xml:space="preserve">Mehrere vorzügliche Be-<lb/>obachter behaupten, daß der Schweif bei günſtiger Luft über den <lb/>halben Himmel ſichtbar war. </s>
  <s xml:id="echoid-s10768" xml:space="preserve">Andere machen die Bemerkung,
<pb o="174" file="0798" n="798"/>
daß ſie wahrgenommen, wie der Schweif zuweilen kleiner war, <lb/>aber wie er durch einen Schuß oder eine Lichtſtrömung ſich <lb/>augenblicklich zu ungeheurer Länge ausdehnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s10769" xml:space="preserve">Obwohl es nun <lb/>feſtſteht, daß in den Kometen Dinge vorgehen, die wir nicht <lb/>mit gewöhnlichen Erſcheinungen unſerer Erde vergleichen können, <lb/>und es alſo möglich iſt, daß wirklich die Schweife der Kometen <lb/>ſich mit augenblicklicher Schnelligkeit verlängern und verkürzen, <lb/>ſo iſt es doch wahrſcheinlich, daß jene Beobachtungen auf <lb/>Täuſchungen beruhen und die ungeheueren Verkürzungen und <lb/>Verlängerungen des Schweifes des Kometen vom Jahre 1769 <lb/>nur ſcheinbar waren und von plötzlichen Aufheiterungen und <lb/>Trübungen der Luft herrührten, die unſere Erde umgiebt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10770" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10771" xml:space="preserve">Sicherer als dieſe Beobachtungen iſt die Wahrnehmung <lb/>verbürgt, daß der Schweif nicht gerade und von der Sonne <lb/>abgewandt war, wie dies bei den meiſten Kometen der Fall <lb/>iſt, ſondern gekrümmt oder richtiger geſchlängelt war, und zwar <lb/>ſo, daß der Schweif faſt die Form eines lateiniſchen S bildete. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10772" xml:space="preserve">Wenn ſich in demſelben jenes Aufflammen und Verlängern <lb/>zeigte, das wir bereits erwähnt haben, ſo ſah der Schweif <lb/>wie eine ſchlängelnde Flamme aus, die von Luftſtrömungen <lb/>mehrfach gebogen wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s10773" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10774" xml:space="preserve">Der Weg, den der Komet am Himmelsraum machte, iſt <lb/>genau notiert worden, und achtzehn Aſtronomen gingen an die <lb/>Arbeit, die wahre Bahn desſelben zu berechnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10775" xml:space="preserve">Mit Sicher-<lb/>heit hat dieſelbe nicht feſtgeſtellt werden können, doch giebt <lb/>man der Berechnung Beſſels den Vorzug, laut welcher der <lb/>Komet eine Umlaufszeit von 2090 Jahren hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s10776" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10777" xml:space="preserve">Ein Jahr darauf, alſo 1770, wurde ein Komet geſehen, <lb/>der äußerlich nicht bedeutend war, aber in ſeinem Lauf ein <lb/>Rätſel darbot, das den Aſtronomen nicht wenig den Kopf <lb/>warm machte. </s>
  <s xml:id="echoid-s10778" xml:space="preserve">Die Löſung dieſes Rätſels gelang aber voll-<lb/>kommen und brachte einen ſo merkwürdigen Auſſchluß über <lb/>Dinge, die in ungeſehenen Fernen des Himmels vorgehen, daß
<pb o="175" file="0799" n="799"/>
man Urſache hat, ſtolz auf die Wiſſenſchaft zu ſein, die der-<lb/>gleichen zu entdecken vermag.</s>
  <s xml:id="echoid-s10779" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10780" xml:space="preserve">Der Komet war nämlich in ſeinem Lauf ſehr genau be-<lb/>obachtet worden, und nach ſorgfältigen Berechnungen ergab es <lb/>ſich, daß er die unerwartet kurze Umlaufszeit von fünf Jahren <lb/>und ſieben Monaten habe. </s>
  <s xml:id="echoid-s10781" xml:space="preserve">— Allein dies Reſultat war höchſt <lb/>rätſelhaft. </s>
  <s xml:id="echoid-s10782" xml:space="preserve">Iſt es möglich, daß ein ſo deutlich erſcheinender <lb/>Komet, der alle fünf Jahre in die Sonnen-Nähe kommt, nicht <lb/>früher geſehen worden ſein ſollte? </s>
  <s xml:id="echoid-s10783" xml:space="preserve">— Noch rätſelhafter jedoch <lb/>war es, daß er nunmehr wiederum unſichtbar wurde und <lb/>weder im Jahre 1776 noch ſpäter im Jahre 1781 zur berech-<lb/>neten Zeit eintraf. </s>
  <s xml:id="echoid-s10784" xml:space="preserve">— Es blieb nichts übrig, als ſowohl die <lb/>Beobachtungen wie die Berechnungen nochmals vorzunehmen, <lb/>zu korrigieren und zu revidieren; </s>
  <s xml:id="echoid-s10785" xml:space="preserve">allein es führte zu nichts. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10786" xml:space="preserve">Die Bahn blieb dieſelbe, die Nechnungen ſtimmten überein, <lb/>und doch mußte irgendwo ein Fehler vorhanden ſein, oder <lb/>man mußte annehmen, daß man einen nicht nur neugeborenen <lb/>Kometen geſehen, der ſeinen erſten Umlauf machte, ſondern <lb/>auch ſeinen Tod erlebt habe, denn er kam nicht und kam nicht <lb/>wieder. </s>
  <s xml:id="echoid-s10787" xml:space="preserve">Sollte er wirklich neu entſtanden ſein, um ein einziges <lb/>Mal ſeine Reiſe um die Sonne zu machen und ſich dann <lb/>wieder in Wohlgefallen aufzulöſen?</s>
  <s xml:id="echoid-s10788" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10789" xml:space="preserve">Wer weiß, welche Theorien ſpekulierende Köpfe hierüber <lb/>au<unsure/>s Tageslicht gebracht haben würden, wenn nicht die ſehr <lb/>praktiſch rechnenden Aſtronomen dies Rätſel durch eine höchſt <lb/>intereſſante Löſung vollſtändig erklärt hätten.</s>
  <s xml:id="echoid-s10790" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10791" xml:space="preserve">Die Aſtronomen, die nicht wußten, wo dieſer Komet ge-<lb/>blieben ſein konnte, fingen an rückwärts zu rechnen, um zu <lb/>ſehen, wo er denn vor ſeinem Erſcheinen hergekommen ſein <lb/>möge, und da fand ſich denn Folgendes:</s>
  <s xml:id="echoid-s10792" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10793" xml:space="preserve">Urſprünglich hatte dieſer Komet eine ganz andere Bahn <lb/>als die, welche er im Jahre 1770 zeigte; </s>
  <s xml:id="echoid-s10794" xml:space="preserve">allein als er auf <lb/>dem Wege zur Sonnen-Nähe war, ging er im Jahre 1767
<pb o="176" file="0800" n="800"/>
ſehr nahe am Planeten Jupiter vorbei, und die Anziehung <lb/>Jupiters änderte ſeine Bahn derartig, daß er eine ganz neue <lb/>bekam und wirklich in dieſer den beobachteten Umlauf von fünf <lb/>Jahren und ſieben Monaten erhielt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10795" xml:space="preserve">In dieſer ganz neuen <lb/>Bahn verblieb er auch und machte noch einmal ſeinen Rund-<lb/>lauf. </s>
  <s xml:id="echoid-s10796" xml:space="preserve">Er kam hierbei in der That im März 1776 wieder in <lb/>die Sonnen-Nähe und wurde nur nicht geſehen, weil die Erde <lb/>gerade damals an 40 Millionen Meilen von ihm entfernt war <lb/>und außerdem die Sonne zwiſchen der Erde und dem Kometen <lb/>ſtand. </s>
  <s xml:id="echoid-s10797" xml:space="preserve">Von ſeiner Sonnen-Nähe ging er auch wieder zurück <lb/>in ſeine Sonnen-Ferne und traf hier nach neuen fünf Jahren <lb/>und ſieben Monaten, alſo nach mehr als elf Jahren nahe an <lb/>der Stelle ein, wo ihm Jupiter einen ſolchen Streich geſpielt <lb/>hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s10798" xml:space="preserve">Nun aber beträgt die Umlaufszeit Jupiters auch elf <lb/>Jahre und zehn Monate; </s>
  <s xml:id="echoid-s10799" xml:space="preserve">während der Komet ſeit der ver-<lb/>hängnisvollen Begegnung zweimal um die Sonne gelaufen <lb/>war, hatte alſo Jupiter nahezu einmal ſeinen Umlauf vollendet <lb/>und — ſonderbares Schickſal! — die beiden Himmelskörper, <lb/>die ſich ſchon einmal begrüßt hatten, kamen als gute Bekannte <lb/>wieder zuſammen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10800" xml:space="preserve">Am 23. </s>
  <s xml:id="echoid-s10801" xml:space="preserve">Auguſt 1779 befand ſich der un-<lb/>glückliche Komet in ſo großer Nähe Jupiters, daß er vierund-<lb/>zwanzigmal ſtärker von dieſem angezogen wurde als von der <lb/>Sonne. </s>
  <s xml:id="echoid-s10802" xml:space="preserve">Der Komet ging zwiſchen Jupiter und ſeinen vier <lb/>Monden durch, und dieſe Anziehung lenkte ihn nun wiederum <lb/>von der neuen Bahn ab und gab ihm einen ſo merkwürdigen <lb/>Laufpaß durch den Himmelsraum, daß er ſtets der Erde fern <lb/>bleiben und niemals — wenigſtens nicht mit den jetzigen <lb/>Fernröhren von der Menſchheit wiedergeſehen werden wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s10803" xml:space="preserve">Er <lb/>trägt daher in der Aſtronomie den Namen des “verlorenen <lb/>Kometen”.</s>
  <s xml:id="echoid-s10804" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10805" xml:space="preserve">Dies iſt das merkwürdigſte Beiſpiel der Störung der <lb/>Bahn eines Kometen, in welcher zugleich das ſchöne Zeugnis <lb/>des Scharfſinnes der Wiſſenſchaft und die wichtige Lehre liegt,
<pb o="177" file="0801" n="801"/>
daß Kometen durchaus keine Störung im Lauf der Planeten <lb/>verurſachen; </s>
  <s xml:id="echoid-s10806" xml:space="preserve">denn Jupiter und ſeine Monde haben auch nicht <lb/>die leiſeſte Spur einer Veränderung durch dieſes zweimalige <lb/>Begegnen davongetragen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10807" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div285" type="section" level="1" n="234">
<head xml:id="echoid-head260" xml:space="preserve"><emph style="bf">XL. Kometen aus den Jahren 1807 bis 1811.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10808" xml:space="preserve">Im laufenden Jahrhundert ſind mehrere größere und <lb/>viele kleinere Kometen erſchienen, und es liegen die Beobach-<lb/>tungen und Berechnungen derſelben außerordentlich zahlreich <lb/>vor; </s>
  <s xml:id="echoid-s10809" xml:space="preserve">denn nicht nur wurde mit Beginn dieſes Jahrhunderts <lb/>die Beobachtung viel ſchärfer und genauer, ſondern auch die <lb/>Art zu rechnen, wurde durch große Mathematiker immer mehr <lb/>erleichtert.</s>
  <s xml:id="echoid-s10810" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10811" xml:space="preserve">Zu den beſonders für unſern Zweck erwähnenswerten ge-<lb/>hört der Komet vom Jahre 1807, der an Glanz zu den <lb/>ſeltenſten dieſer Himmelskörper gezählt werden muß. </s>
  <s xml:id="echoid-s10812" xml:space="preserve">Der <lb/>Kern dieſes Kometen war lebhaft leuchtend und ſcharf begrenzt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10813" xml:space="preserve">Er war von einer mattern Lichthülle umgeben, und von dieſer <lb/>lief ein <emph style="sp">Doppelſchweif</emph> aus, der ſich in zwei Äſte teilte, <lb/>zwiſchen welchen ein dunkler Zwiſchenraum frei blieb. </s>
  <s xml:id="echoid-s10814" xml:space="preserve">Dabei <lb/>war einer der Äſte ſtark umgebogen, und zwar ſo, als wollte <lb/>das eine Ende des Zweiges wieder nach vorwärts eilen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10815" xml:space="preserve">Eine <lb/>gute Erklärung ſolcher Erſcheinungen iſt bis jetzt noch nicht <lb/>gegeben worden; </s>
  <s xml:id="echoid-s10816" xml:space="preserve">aber es ſcheint ſich immer mehr und mehr <lb/>das Material zu einer treffenden Erklärung anzuſammeln, und <lb/>wir dürfen die Vermutung ausſprechen, daß es nicht mehr <lb/>lange Zeit währen wird, bis eine ſolche gefunden iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10817" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10818" xml:space="preserve">Der Lauf des Kometen von 1807 wurde von Beſſel be-<lb/>rechnet, hiernach hat er einen Umlauf von fünfzehn- bis ſieb-</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10819" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s10820" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s10821" xml:space="preserve">Volksbücher XVI.</s>
  <s xml:id="echoid-s10822" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="178" file="0802" n="802"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10823" xml:space="preserve">zehnhundert Jahren, je nachdem die Störungen der Planeten <lb/>ſeinen Lauf beſchleunigen oder verlangſamen, was von der <lb/>Stellung abhängt, in welcher ſich die Planeten gerade zu der <lb/>Zeit befinden, wo der Komet ihr Bereich durchwandert.</s>
  <s xml:id="echoid-s10824" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10825" xml:space="preserve">Im Jahre 1811 erſchien ein Komet, der ſich durch ſein <lb/>Licht, wie durch ſeinen überaus großen Schweif auszeichnete, <lb/>der aber dadurch am wichtigſten iſt, daß er am längſten von <lb/>allen Kometen, die bisher erſchienen ſind, beobachtet werden <lb/>konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s10826" xml:space="preserve">Er wurde zuerſt am 26. </s>
  <s xml:id="echoid-s10827" xml:space="preserve">März 1811 und zum letzten <lb/>Mal am 17. </s>
  <s xml:id="echoid-s10828" xml:space="preserve">Auguſt 1812 geſehen, ſo daß zwiſchen ſeinem Er-<lb/>ſcheinen und Verſchwinden 511 Tage liegen, während oft Ko-<lb/>meten nur wenig Tage ſichtbar bleiben.</s>
  <s xml:id="echoid-s10829" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10830" xml:space="preserve">Als er entdeckt wurde, war er auf dem Wege zu ſeiner <lb/>Sonnen-Nähe, alſo zur Sonne. </s>
  <s xml:id="echoid-s10831" xml:space="preserve">Natürlich wurde er, als er <lb/>ſich dieſer näherte, im Glanze des Sonnenlichts unſichtbar; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10832" xml:space="preserve">allein Beſſel ſprach die Vermutung aus, daß man ihn trotz <lb/>ſeiner nun eintretenden Entfernung nach dieſer Unterbrechung <lb/>noch werde ſehen können, und wirklich fand dies ſtatt, ſo daß <lb/>man ihn durch das Fernrohr weit hinaus auf ſeiner Reiſe zu <lb/>begleiten vermochte. </s>
  <s xml:id="echoid-s10833" xml:space="preserve">Da außerordentlich reichhaltige und genaue <lb/>Meſſungen vorlagen, war der höchſt verdienſtvolle Aſtronom <lb/><emph style="sp">Argelander</emph> imſtande, ſeine Bahn zu berechnen, und er fand, <lb/>daß der Komet in 3069 Jahren einmal um die Sonne läuft, <lb/>ſo daß er im Jahre 4880 wiederum ſichtbar ſein würde. </s>
  <s xml:id="echoid-s10834" xml:space="preserve"><lb/>Allein die Störungen der Planeten werden ſeinen Lauf um <lb/>177 Jahre beſchleunigen, ſo daß er ſchon im Jahre 4703 wieder <lb/>erſcheinen wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s10835" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10836" xml:space="preserve">Dieſe Rechnung iſt nur um einige vierzig Jahre unſicher <lb/>und bedarf jetzt, nach Entdeckung des Neptun, noch einer Durch-<lb/>ſicht, um auch deſſen Einfluß genau angeben zu können.</s>
  <s xml:id="echoid-s10837" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10838" xml:space="preserve">Der Komet von 1811 entfernt ſich ſo weit von der Sonne, <lb/>daß er im Jahre 3346 an 8700 Millionen Meilen von ihr <lb/>abſtehen wird, um ſich dann wieder auf die Rückreiſe zu be-
<pb o="179" file="0803" n="803"/>
geben. </s>
  <s xml:id="echoid-s10839" xml:space="preserve">Wir haben es bereits beim Kometen vom Jahre 1680 <lb/>erwähnt, daß dieſer, der noch einmal ſo weit ab von der Sonne <lb/>ſeine fernſte Station hat, einmal bei ſeiner Wiederkehr nach <lb/>8000 Jahren die Menſchheit belehren wird über die Störungen, <lb/>welche die Fixſterne auf ſeinen Lauf ausgeübt haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s10840" xml:space="preserve">Wem <lb/>dieſe Zeit zu lange währt, der kann ſich durch den Kometen <lb/>von 1811 beruhigen, denn dieſer wird in ſeiner Sonnen-Ferne <lb/>einem ſehr bedeutenden Fixſtern, dem hellen Stern, der in der <lb/>Mitte des Sommers zwiſchen 10 und 11 Uhr abends faſt <lb/>über unſerm Scheitel glänzt, dem Stern erſter Größe “Wega” <lb/>im Sternbild der Leyer näher kommen als irgend ſonſt ein <lb/>bekannter Himmelskörper, und wenn der Komet dann im Jahre <lb/>4700 wieder erſcheint, wird er vielleicht der beſſer unterrich-<lb/>teten Menſchheit die Frage, welchen Einfluß die Fixſterne <lb/>auf den Lauf der Kometen ausüben, um einen großen Poſttag <lb/>ſchneller beantworten als der Komet von 1680, auf den man <lb/>8000 Jahre warten muß.</s>
  <s xml:id="echoid-s10841" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10842" xml:space="preserve">Wir ſagen, daß der Komet von 1811 dem Stern “Wega” <lb/>näher kommen wird, als ein anderer bekannter Himmelskörper, <lb/>und das iſt auch richtig; </s>
  <s xml:id="echoid-s10843" xml:space="preserve">allein einen allzunahen Beſuch darf <lb/>man ſich hierunter doch nicht vorſtellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10844" xml:space="preserve">Denn wenn auch der <lb/>Komet im Jahre 3646 in ſeiner Sonnen-Ferne auf der geraden <lb/>Linie zwiſchen Sonne und Wega zu ſtehen käme, ſo bleibt ſein <lb/>Weg zu Wega doch immer noch 1800 mal weiter als der zur <lb/>Sonne, weshalb “Wega” auf den Kometen nur aus ſehr un-<lb/>ſchädlicher Ferne wird von Einfluß ſein können, ohne ihn etwa <lb/>unſerer Sonne abſpenſtig zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10845" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10846" xml:space="preserve">Alſo ſchon nach 3000 Jahren wird die Menſchheit, wenn <lb/>ſie auch in der Wiſſenſchaft nicht fortſchreitet, bloß mit unſeren <lb/>Kenntniſſen ausgerüſtet, Gelegenheit haben, etwas Näheres über <lb/>die Fixſterne zu erfahren. </s>
  <s xml:id="echoid-s10847" xml:space="preserve">Allein wird ſie dieſer Hilfsmittel <lb/>bedürfen? </s>
  <s xml:id="echoid-s10848" xml:space="preserve">Wir glauben’s nicht; </s>
  <s xml:id="echoid-s10849" xml:space="preserve">denn die Menſchheit ſchreitet <lb/>geiſtig fort und wird ſicherlich dereinſt lächeln über die gering-
<pb o="180" file="0804" n="804"/>
fügigen Mittel, deren wir uns noch bedienen müſſen, um hinter <lb/>Geheimniſſe der Natur zu kommen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10850" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div286" type="section" level="1" n="235">
<head xml:id="echoid-head261" xml:space="preserve"><emph style="bf">XLI. Was im Halley’ſchen Kometen im Jahre</emph> <lb/><emph style="bf">1835 vorging.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10851" xml:space="preserve">Der im Jahre 1835 wiederkehrende, von <emph style="sp">Halley</emph> be-<lb/>rechnete Komet (vgl. </s>
  <s xml:id="echoid-s10852" xml:space="preserve">S. </s>
  <s xml:id="echoid-s10853" xml:space="preserve">160) wurde ſchon durch Fernrohre am <lb/>5. </s>
  <s xml:id="echoid-s10854" xml:space="preserve">Auguſt, als er von der Sonne noch ſehr weit ab ſtand, ge-<lb/>ſehen; </s>
  <s xml:id="echoid-s10855" xml:space="preserve">aber ſo ſchwach, daß der eintretende Mondſchein ihn <lb/>bis zum 22. </s>
  <s xml:id="echoid-s10856" xml:space="preserve">Auguſt wieder unſichtbar machte. </s>
  <s xml:id="echoid-s10857" xml:space="preserve">Während er <lb/>von nun ab durch den Monat September genauer geſehen <lb/>werden konnte, nahm man doch noch keine weſentliche Ver-<lb/>änderung an ihm wahr, vielmehr erklärte <emph style="sp">Beſſel</emph>, daß er bis <lb/>zum 1. </s>
  <s xml:id="echoid-s10858" xml:space="preserve">Oktober den Kometen nur als einen immer heller <lb/>werdenden Nebel ſah, der an einer Stelle kernartig ver-<lb/>dichtet erſchien.</s>
  <s xml:id="echoid-s10859" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10860" xml:space="preserve">“Erſt den 2. </s>
  <s xml:id="echoid-s10861" xml:space="preserve">Oktober”, fährt Beſſel fort, “kann man als <lb/>den Anfang einer neuen Periode im Anſehen des Kometen <lb/>bezeichnen, denn von dieſem Tage an entwickelte er eine Reihen-<lb/>folge von Erſcheinungen, welche zu den lehrreichſten gehören, <lb/>die ſich über die Beſchaffenheit der Weltkörper dargeboten <lb/>haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s10862" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10863" xml:space="preserve">“Der erſte Anblick des Kometen an dieſem Tage war <lb/>überraſchend; </s>
  <s xml:id="echoid-s10864" xml:space="preserve">ſein Mittelpunkt wurde ſo hell glänzend, als ob <lb/>er einen Stern ſechster Größe in ſich hätte. </s>
  <s xml:id="echoid-s10865" xml:space="preserve">Doch ſchien es <lb/>nur ſo in ſchwächeren Fernrohren betrachtet; </s>
  <s xml:id="echoid-s10866" xml:space="preserve">wenn man eine <lb/>hundertmalige Vergrößerung anwandte, ſo ſah man die Ver-<lb/>mehrung der Helligkeit; </s>
  <s xml:id="echoid-s10867" xml:space="preserve">erkannte aber zugleich, daß die Be-<lb/>ſchaffenheit des Kernes ſich keineswegs ſonſt verändert habe
<pb o="181" file="0805" n="805"/>
oder irgendwie ſich zu einer feſten, planetenartigen Maſſe aus-<lb/>gebildet.</s>
  <s xml:id="echoid-s10868" xml:space="preserve">” — Nach dieſen Verſicherungen Beſſel’s, die für die <lb/>ganze Dauer des Kometen gelten, hat man ſtets unter Kern <lb/>nur eine dichtere und hellere Partie des Kometen zu verſtehen <lb/>und muß jeden Gedanken an eine feſte Maſſe in Kometen völlig <lb/>aufgeben.</s>
  <s xml:id="echoid-s10869" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10870" xml:space="preserve">“Die zunehmende Helligkeit”, — fährt nun Beſſel fort, <lb/>— “war nicht das einzig Bemerkenswerte, das der Komet zu <lb/>zeigen anfing, ſondern er begann an dieſem Tage eine Aus-<lb/>ſtrömung von Lichtmaterie zu zeigen, die auffallender war. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10871" xml:space="preserve">Die Ausſtrömung ging fächerartig vom Kern aus und war <lb/>an dieſem Tage ſo ziemlich zur Sonne hin gerichtet” — Beſſel <lb/>hat dieſe Ausſtrömung gemeſſen und ſie durch Zeichnungen <lb/>deutlich gemacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s10872" xml:space="preserve">Man bemerkt an dieſen, daß die ganze Er-<lb/>ſcheinung des Ausſtrömens innerhalb der Nebelhülle ſtattfand, <lb/>die den Kometen-Kern umgab, und wird ſich ein nahe richtiges <lb/>Bild davon machen, wenn man ſich den Kern des Kometen in <lb/>einer Hülle von vierzigmal ſtärkerem Halbmeſſer als den Kern <lb/>denkt, die Ausſtrömung aber vom Kern ausgehend ſich vor-<lb/>ſtellt, und zwar ſo, daß ſie nicht viel über die Mitte des Nebels <lb/>emporragt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10873" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10874" xml:space="preserve">War nun die rätſelhafte Ausſtrömung am 2. </s>
  <s xml:id="echoid-s10875" xml:space="preserve">Oktober faſt <lb/>genau zur Sonne hin gerichtet, ſo ergab die nächſte ſternen-<lb/>helle Nacht am 8. </s>
  <s xml:id="echoid-s10876" xml:space="preserve">Oktober, die zur Beobachtung günſtig war, <lb/>daß in der Ausſtrömung inzwiſchen eine Veränderung vor ſich <lb/>gegangen war. </s>
  <s xml:id="echoid-s10877" xml:space="preserve">Sie ſah nicht mehr breit und fächerartig aus, <lb/>ſondern hatte mehr die Geſtalt einer Rakete, die lang und <lb/>ſchmal auffliegende Flammenſtröme ausſendet. </s>
  <s xml:id="echoid-s10878" xml:space="preserve">Die Zeichnung, <lb/>die Beſſel hiervon giebt, ſieht ſich an, als ob innerhalb eines <lb/>kugelartigen Nebels ein Kometen-Kern liegt, der einen Schweif <lb/>von immer ſchwächer werdenden Flammen faſt bis zum Rand <lb/>des Nebels ſendet. </s>
  <s xml:id="echoid-s10879" xml:space="preserve">Aber auch hier iſt es nicht das Anſehen, <lb/>das ſo merkwürdig iſt, ſondern der Umſtand, daß dieſe Aus-
<pb o="182" file="0806" n="806"/>
ſtrömung, die am 2. </s>
  <s xml:id="echoid-s10880" xml:space="preserve">Oktober zur Sonne hin gerichtet war, <lb/>jetzt ſich links abgeneigt hat, als wollte ſie ſich von der Rich-<lb/>tung zur Sonne entfernen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10881" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10882" xml:space="preserve">Erſt die Nacht vom 12. </s>
  <s xml:id="echoid-s10883" xml:space="preserve">Oktober gab dem Beobachter <lb/>Gelegenheit, die merkwürdige Erſcheinung deutlicher zu ſehen, <lb/>denn dieſe Nacht war klar und geſtattete, den Kometen von <lb/>Sonnenuntergang bis zum Sonnenaufgang zu betrachten und <lb/>zu meſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10884" xml:space="preserve">Nebelhülle und Kern ſchienen wieder unverändert; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10885" xml:space="preserve">allein die Ausſtrömung war noch entſchiedener geworden und <lb/>nahm ſich wie ein auf ſeiner Spitze ſtehender Lichtkegel aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s10886" xml:space="preserve">Das <lb/>Merkwürdigſte war aber, daß die Richtung der Ausſtrömung <lb/>in dieſer einen Nacht ſich fortſchreitend, und zwar nach links <lb/>von der Sonne abwendete, und wie die Meſſung ergab, nahm <lb/>dieſes Abwenden von der Sonne in der einen Nacht ſo zu, <lb/>daß die Neigung der Ausſtrömung um 3 Uhr morgens drei-<lb/>mal größer war, als am Anfang der Nacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s10887" xml:space="preserve">Wiſſenſchaftlich <lb/>bezeichnet man dies deutlicher durch die Angabe Beſſels, daß <lb/>die Ausſtrömungs-Richtung mit der Richtung zur Sonne im <lb/>Anfang der Nacht einen Winkel von 19 Grad bildete, des <lb/>Morgens aber dieſer Winkel bis auf 55 Grad angewachſen war.</s>
  <s xml:id="echoid-s10888" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10889" xml:space="preserve">Am darauf folgenden Abend zeigte ſich eine unerwartete <lb/>Erſcheinung. </s>
  <s xml:id="echoid-s10890" xml:space="preserve">Die Ausſtrömung war verſchwunden, und ſtatt <lb/>ihrer ſah man eine große Maſſe ausgeſtrömter Lichtmaterie <lb/>links vom Kern des Kometen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10891" xml:space="preserve">Beſſel fand hierin die An-<lb/>deutung, daß die Ausſtrömung nunmehr, wo ſie ſich von der <lb/>Sonne abgewendet, ihre Kraft verloren habe. </s>
  <s xml:id="echoid-s10892" xml:space="preserve">Da dieſe Nacht <lb/>bald wolkig wurde, konnte die Beobachtung nicht fortgeſetzt <lb/>werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s10893" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10894" xml:space="preserve">Am 14. </s>
  <s xml:id="echoid-s10895" xml:space="preserve">Oktober heiterte ſich das Wetter eine Viertelſtunde <lb/>lang auf. </s>
  <s xml:id="echoid-s10896" xml:space="preserve">Die Ausſtrömung war wieder da, und ſogar <lb/>prachtvoller noch als am 12ten, Aber ſie hatte wieder die <lb/>Richtung verändert. </s>
  <s xml:id="echoid-s10897" xml:space="preserve">Sie hatte ſich vom 8. </s>
  <s xml:id="echoid-s10898" xml:space="preserve">zum 12. </s>
  <s xml:id="echoid-s10899" xml:space="preserve">nach links <lb/>gewendet; </s>
  <s xml:id="echoid-s10900" xml:space="preserve">jetzt am 14. </s>
  <s xml:id="echoid-s10901" xml:space="preserve">war ſie zurückgekehrt, alſo rechts ge-
<pb o="183" file="0807" n="807"/>
gangen, und befand ſich wieder ziemlich in gerader Richtung <lb/>zur Sonne. </s>
  <s xml:id="echoid-s10902" xml:space="preserve">Nach Beſſels Meſſung betrug die Ausſtrömung <lb/>in ihrer Höhe nahe an 800 Meilen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10903" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10904" xml:space="preserve">In der darauf folgenden Nacht konnte der Komet wiederum <lb/>geſehen werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s10905" xml:space="preserve">Er zeigte nunmehr die Erſcheinung, die Beſſel <lb/>erwartet hatte; </s>
  <s xml:id="echoid-s10906" xml:space="preserve">die Ausſtrömung war weiter nach <emph style="sp">rechts</emph> ge-<lb/>gangen und hatte ſich wieder nach dieſer Seite hin beträchtlich <lb/>von der Sonne abgewendet; </s>
  <s xml:id="echoid-s10907" xml:space="preserve">aber ſie ſchien auch hier wieder <lb/>ihre Kraft zu verlieren, ſo daß Beſſel den Schluß zog, daß <lb/>die Ausſtrömung von der Sonne begünſtigt werde, daß aber <lb/>in der Kometenmaſſe eine “Polarität” ſtattfinde, die es veran-<lb/>laßt, daß die Ausſtrömung wie eine Magnetnadel oder wie ein <lb/>Pendel hin und herſchwingt.</s>
  <s xml:id="echoid-s10908" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10909" xml:space="preserve">Weitere Beobachtungen haben dies beſtätigt; </s>
  <s xml:id="echoid-s10910" xml:space="preserve">aber im Ver-<lb/>lauf der ganzen Erſcheinung des Kometen zeigte dieſes Aus-<lb/>ſtrömen die merkwürdigſten Veränderungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10911" xml:space="preserve">Die ausgeſtrömte <lb/>Lichtmaterie fing an weit und langgedehut zu werden und <lb/>ſpringbrunnenartig nach beiden Seiten überzufließen, bald bildete <lb/>ſich aus ihr der Schweif, der wie ein wallender Federbuſch <lb/>hinter dem Kometen herzog, und die Erſcheinung desſelben auch <lb/>ſür die Nicht-Aſtronomen auffallend genug machte.</s>
  <s xml:id="echoid-s10912" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10913" xml:space="preserve">Daß in den Kometen etwas Beſonderes hierbei vorgehen <lb/>muß, was man mit der Einwirkung des Lichtes oder der <lb/>Wärme allein nicht erklären kann, das ſteht feſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10914" xml:space="preserve">— Was iſt es <lb/>aber?</s>
  <s xml:id="echoid-s10915" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10916" xml:space="preserve">Die Wiſſenſchaft weiß hierauf noch keine genügende Ant-<lb/>wort zu geben.</s>
  <s xml:id="echoid-s10917" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div287" type="section" level="1" n="236">
<head xml:id="echoid-head262" xml:space="preserve"><emph style="bf">XLII. Die Kometen von 1843 und 1858.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10918" xml:space="preserve">Zu der Zahl der Kometen, die von glücklichen Entdeckern <lb/>aufgefunden worden, kamen aber auch einige vor, die mit
<pb o="184" file="0808" n="808"/>
bloßem Auge ſichtbar waren, und ſolch einer war der erſte <lb/>Komet vom Jahre 1843, der am 28. </s>
  <s xml:id="echoid-s10919" xml:space="preserve">Februar am hellen Tage <lb/>an vielen Orten gleichzeitig entdeckt wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s10920" xml:space="preserve">In Italien beob-<lb/>achtete man ihn am Mittag und fand, daß der Komet ſo nahe <lb/>an der Sonne ſtand, daß nur etwa drei Sonnenkugeln in dem <lb/>ſcheinbaren Zwiſchenraum Platz hätten. </s>
  <s xml:id="echoid-s10921" xml:space="preserve">In Mexiko ſah man <lb/>ihn um 11 Uhr mittags nahe bei der Sonne mit einem nach <lb/>Süden hin gerichteten Schweif. </s>
  <s xml:id="echoid-s10922" xml:space="preserve">Ein Gleiches war an ein-<lb/>zelnen anderen Orten der Fall, die ſüdlich liegen, während <lb/>bei uns im Norden der Komet erſt ſpäter im März ſichtbar <lb/>ward, als er ſich bereits von der Sonne entfernt und an Glanz <lb/>verloren hatte; </s>
  <s xml:id="echoid-s10923" xml:space="preserve">und es war auch von ihm nur der beträchtliche <lb/>Schweif nach Sonnenuntergang ſichtbar, während ſein Kopf <lb/>ſchon untergegangen war. </s>
  <s xml:id="echoid-s10924" xml:space="preserve">— Zu Anfang April verſchwand er <lb/>vollſtändig, und konnte ſelbſt durch Fernrohre nicht mehr ge-<lb/>ſehen werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s10925" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10926" xml:space="preserve">Der außerordentliche Glanz dieſes Kometen, der ihn am <lb/>hellen, lichten Mittag neben der Sonne ſichtbar machte, die <lb/>Nähe zur Sonne, die ungeheure Geſchwindigkeit ſeines Laufes, <lb/>die kurze Zeit ſeiner Erſcheinung, die Größe ſeines Schweifes <lb/>und ſein faſt plötzliches, ſpurloſes Verſchwinden, all das hat <lb/>die Aſtronomen nicht wenig beſchäftigt, ohne jedoch zu einem <lb/>ſichern Reſultat zu führen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10927" xml:space="preserve">Es ſteht nur ſoviel feſt, daß der <lb/>Komet in ſeiner Sonnen-Nähe der Sonnen-Oberfläche noch <lb/>näher gekommen ſein muß, als der berühmte Komet von 1680. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10928" xml:space="preserve">Ja, nach einigen Berechnungen mußte der Komet faſt an die <lb/>Sonnenoberfläche angeſtreift haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s10929" xml:space="preserve">aber jedenfalls ging er <lb/>mit ſo raſender Geſchwindigkeit in dieſer gefährlichen Nachbar-<lb/>ſchaft, daß die Anziehung der Sonne ihn nicht feſthalten konnte; </s>
  <s xml:id="echoid-s10930" xml:space="preserve"><lb/>nach ungefährer Schätzung muß er im Moment der Sonnen-<lb/>Nähe in einer einzigen Sekunde an 150 Meilen gelaufen ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s10931" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10932" xml:space="preserve">Über die Bahn dieſes Kometen iſt jedoch die Unſicherheit <lb/>ſo groß, und die Unſicherheit rührt daher, daß das ungemein
<pb o="185" file="0809" n="809"/>
kleine Stück dieſer jedenfalls ſehr in die Länge gezogenen Bahn, <lb/>welches man zu beobachten Gelegenheit hatte, viel zu gering-<lb/>fügig iſt, um feſte Berechnungen darauf zu gründen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10933" xml:space="preserve">— In <lb/>allen ſolchen Fällen weiß die Wiſſenſchaft ſich dadurch Rat zu <lb/>ſchaffen, daß ſie der beſſer unterrichteten Zukunft vorarbeitet, <lb/>und mit möglichſter Genauigkeit die Erſcheinungen regiſtriert, <lb/>damit man in ſpätern Zeiten, wenn ſolch ein Burſche wieder-<lb/>kommt, ihn ſofort an ſeinem Signalement erkenne und mit <lb/>größerer Sicherheit wiſſe, wo er ſich zeither im Weltraum <lb/>herumgetrieben. </s>
  <s xml:id="echoid-s10934" xml:space="preserve">Es ſind zu dieſem Zweck Liſten angelegt, die <lb/>man Kometenverzeichniſſe nennt, wo das Signalement und die <lb/>Perſonal-Beſchreibung nebſt beſonderen Kennzeichen und Be-<lb/>merkungen mit mehr als polizeilicher Genauigkeit angegeben <lb/>ſind, und die bewaffneten Augen der beobachtenden Aſtronomen <lb/>wie die feine Spürkunſt ihrer rechnenden Gehülfen werden — <lb/>unterſtützt von ſolchen gut geführten Verzeichniſſen aller vaga-<lb/>bondierenden Kometen, deren man habhaft wird — ſchon einmal <lb/>ihre guten Dienſte leiſten.</s>
  <s xml:id="echoid-s10935" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10936" xml:space="preserve">Schließlich wollen wir noch unſere Leſer an den großen <lb/>Kometen von 1858 erinnern, der nach ſeinem Entdecker der <lb/>Donatiſche Komet heißt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10937" xml:space="preserve">Er war im November beſonders <lb/>prachtvoll und wurde in Chili noch am 1. </s>
  <s xml:id="echoid-s10938" xml:space="preserve">März 1859 ge-<lb/>ſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10939" xml:space="preserve">Nach den bis jetzt angeſtellten Berechnungen hat er eine <lb/>Umlaufszeit von 6143 Jahren und war nicht der von den <lb/>Aſtronomen Hind und Bome angekündigte, welcher im Jahre <lb/>1556 als großer Komet ſichtbar geweſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10940" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div288" type="section" level="1" n="237">
<head xml:id="echoid-head263" xml:space="preserve"><emph style="bf">XLIII. Die Kometen von 1880 und 1882.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10941" xml:space="preserve">Unter den vielen in neuerer Zeit beobachteten Kometen <lb/>ſind diejenigen von 1880 und 1882 hervorzuheben, die beide
<pb o="186" file="0810" n="810"/>
auf der ſüdlichen Himmelskugel erſchienen und zu den großen <lb/>Kometen gehören. </s>
  <s xml:id="echoid-s10942" xml:space="preserve">Der erſtere tauchte zuerſt am 31. </s>
  <s xml:id="echoid-s10943" xml:space="preserve">Januar <lb/>oder 1. </s>
  <s xml:id="echoid-s10944" xml:space="preserve">Februar auf und hat ein beſonderes Intereſſe, weil <lb/>ſeine äußere Erſcheinung ſowohl als auch ſeine Bahn die größte <lb/>Ähnlichkeit mit der des Kometen von 1843 zeigt, ſo daß manche <lb/>Aſtronomen beide für identiſch halten. </s>
  <s xml:id="echoid-s10945" xml:space="preserve">Danach müßte die Um-<lb/>laufszeit desſelben entweder viel zu hoch angegeben — nämlich <lb/>533 Jahre — oder aus irgend welchen Urſachen ſehr bedeutend, <lb/>auf 37 Jahre, verkürzt worden ſein.</s>
  <s xml:id="echoid-s10946" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10947" xml:space="preserve">Auch der Komet von 1882, der zuerſt anfangs September <lb/>und gegen Ende des Monats auch auf der nördlichen Halb-<lb/>kugel geſehen wurde und eine äußerſt glänzende Erſcheinung <lb/>darbot, zeigte in ſeiner Bahn große Ähnlichkeit mit der der <lb/>eben genannten, wogegen die äußere Erſcheinung eine beträcht-<lb/>liche Verſchiedenheit aufwies. </s>
  <s xml:id="echoid-s10948" xml:space="preserve">So entſchwanden die Kometen <lb/>von 1843 und 1880 bald nach ihrem Periheldurchgange unſeren <lb/>Blicken, während der Komet von 1882 noch im Februar des <lb/>Jahres 1883 mit bloßem Auge wahrgenommen werden konnte. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s10949" xml:space="preserve">Seine Bahnlage hätte eine noch längere Beobachtung mit freiem <lb/>Auge ermöglicht, wenn nicht ſeine, im Gegenſatz zu den beiden <lb/>früheren Kometen, deren Licht raſch abnahm, allmählich ab-<lb/>nehmende Lichtſtärke ſchließlich zu gering geweſen wäre.</s>
  <s xml:id="echoid-s10950" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10951" xml:space="preserve">Dieſer Komet iſt ferner für unſere Kenntnis von der <lb/>chemiſchen Zuſammenſetzung dieſer Weltkörper äußerſt merk-<lb/>würdig. </s>
  <s xml:id="echoid-s10952" xml:space="preserve">Während er nämlich anfangs das gewöhnliche, aus <lb/>Banden beſtehende Kometenſpektrum, das mit dem der Kohlen-<lb/>waſſerſtoffe identiſch iſt, zeigte, änderte ſich dasſelbe mit der <lb/>Annäherung an das Perihel (Sonnennähe) vollſtändig, indem <lb/>es faſt völlig verſchwand und dafür helle Natriumlinien auf-<lb/>traten. </s>
  <s xml:id="echoid-s10953" xml:space="preserve">Nach dem Periheldurchgange verſchwanden letztere all-<lb/>mählich, und das gewöhnliche Bandenſpektrum trat wieder hervor <lb/>und blieb ſchließlich allein übrig. </s>
  <s xml:id="echoid-s10954" xml:space="preserve">Dieſer Wechſel des Spektrums <lb/>iſt auch deshalb von hohem Intereſſe, weil er zu dem Schluſſe
<pb o="187" file="0811" n="811"/>
führt, daß die Lichterſcheinungen der Kometen wenigſtens zum <lb/>Teil elektriſchen Urſprungs ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s10955" xml:space="preserve">Denn dieſelben Erſcheinungen <lb/>nimmt man bei den elektriſchen Entladungen in Geißler’ſchen <lb/>Röhren, die Gaſe und Metalle zugleich enthalten, wahr. </s>
  <s xml:id="echoid-s10956" xml:space="preserve">Bei <lb/>geringer Entladungsſtärke zeigen dieſe Röhren nur das Gas-<lb/>ſpektrum, bei ſtärkerer werden die Metalle zum Verdampfen <lb/>gebracht, und es überwiegt das Spektrum derſelben.</s>
  <s xml:id="echoid-s10957" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div289" type="section" level="1" n="238">
<head xml:id="echoid-head264" xml:space="preserve"><emph style="bf">XLIV. Sternſchnuppen und Meteore.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10958" xml:space="preserve">Zu den auffallendſten Erſcheinungen, welche den Beſchauer <lb/>des nächtlichen Himmels feſſeln, gehören unſtreitig die ſoge-<lb/>nannten <emph style="sp">Sternſchnuppen</emph>. </s>
  <s xml:id="echoid-s10959" xml:space="preserve">Die Häufigkeit des Phänomens, <lb/>ſowie das immer wieder überraſchende Schauſpiel, als breche <lb/>plötzlich ein Stern aus der Schar der übrigen hervor und <lb/>ſchieße mit großer Geſchwindigkeit am Firmamente dahin, um <lb/>nach wenigen Augenblicken wieder zu verſchwinden, haben von <lb/>jeher die Aufmerkſamkeit auf dieſe Erſcheinung gelenkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10960" xml:space="preserve">Es <lb/>darf uns daher nicht befremden, daß wir dieſes ſchöne Phä-<lb/>nomen bereits in den älteſten Dichtungen und Sagen erwähnt <lb/>finden. </s>
  <s xml:id="echoid-s10961" xml:space="preserve">So wird beiſpielsweiſe ſchon in der Iliade (IV. </s>
  <s xml:id="echoid-s10962" xml:space="preserve">74) <lb/>die Schnelligkeit, mit welcher die Götter aus ihren himmliſchen <lb/>Höhen auf die Erde niederſteigen, mit der einer Sternſchnuppe <lb/>verglichen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10963" xml:space="preserve">Ebenſo vereinigt nicht minder poetiſch als ſchön <lb/>der nordiſche Mythus das Geſchick des Menſchen mit den fal-<lb/>lenden Sternen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10964" xml:space="preserve"><emph style="sp">Werpeja</emph>, die Spinnerin, beginnt den Schick-<lb/>ſalsfaden des neugeborenen Kindes am Himmel zu ſpinnen, <lb/>und jeder Faden endet in einen Stern. </s>
  <s xml:id="echoid-s10965" xml:space="preserve">Naht nun der Tod <lb/>des Menſchen, ſo reißt ſein Faden, und erbleichend fällt ſein <lb/>Stern zur Erde nieder.</s>
  <s xml:id="echoid-s10966" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="188" file="0812" n="812"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10967" xml:space="preserve">Die ſcheinbare Größe oder, richliger geſagt, die Helligkeit <lb/>der Sternſchnuppen iſt ſehr verſchieden. </s>
  <s xml:id="echoid-s10968" xml:space="preserve">Von den kleinſten, <lb/>mit freiem Auge eben noch ſichtbaren findet man durch jede <lb/>Größenabſtufung heller werdende, bis ſie nicht nur Jupiter <lb/>und Venus, die ſchönſten Geſtirne des Firmamentes, an Glanz <lb/>überſtrahlen, ſondern ſogar bisweilen eine Leuchtkraft ent-<lb/>wickeln, vor der die Sterne erbleichen. </s>
  <s xml:id="echoid-s10969" xml:space="preserve">Doch pflegt man nur <lb/>die kleineren Erſcheinungen dieſer Art “Sternſchnuppen” oder <lb/>“Meteore” zu nennen und nach Sterngrößen von der 6. </s>
  <s xml:id="echoid-s10970" xml:space="preserve">bis <lb/>zur 1. </s>
  <s xml:id="echoid-s10971" xml:space="preserve">zu ordnen, während man die helleren Sternſchnuppen, <lb/>von Jupiter- oder Venusgröße augefangen, mit dem Namen <lb/>“Feuerkugeln” oder “Boliden” auszeichnet. </s>
  <s xml:id="echoid-s10972" xml:space="preserve">Übrigens ſind die <lb/>mit freiem Auge eben noch ſichtbaren Sternſchnuppen keines-<lb/>wegs die kleinſten, die es giebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10973" xml:space="preserve">Man bemerkt im Ferurohre <lb/>häufig auch ſolche, welche in der Helligkeit eines Sternes <lb/>9. </s>
  <s xml:id="echoid-s10974" xml:space="preserve">bis 10. </s>
  <s xml:id="echoid-s10975" xml:space="preserve">Größe oder auch eines noch kleineren das Geſichts-<lb/>feld durchfliegen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10976" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10977" xml:space="preserve">Die Bahn der Sternſchnuppen ſtellt ſich in der Regel als <lb/>Stück eines größten Kreiſes dar, was darauf hinweiſt, daß <lb/>das von uns geſehene Bahnſtück von einer geraden Linie nicht <lb/>merklich abweicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s10978" xml:space="preserve">Indeſſen beſitzen die Bahnen öfters ziem-<lb/>lich auffällige, zuweilen ſogar ſtarke Krümmungen; </s>
  <s xml:id="echoid-s10979" xml:space="preserve">ebenſo <lb/>kommen hin und wieder auch wellen- oder ſchlangenartige Be-<lb/>wegungen vor. </s>
  <s xml:id="echoid-s10980" xml:space="preserve">Alle dieſe und ähnliche Erſcheinungen ſind <lb/>leicht erklärlich, wenn man bedenkt, daß ſich die Sternſchnuppen <lb/>in unſerer Atmoſphäre, alſo in einem widerſtehenden Mittel <lb/>bewegen, und wenn man die an und für ſich ſehr wahrſchein-<lb/>liche Annahme macht, daß ſie nicht immer genau ſphäriſche <lb/>Körper ſeien; </s>
  <s xml:id="echoid-s10981" xml:space="preserve">denn dann müſſen ſie bei ihrer Bewegung in <lb/>unſerem Luftkreiſe unter Umſtänden alle jene ſonderbaren Kurven <lb/>beſchreiben, welche uns beim Bumerang, den Projektilen gezo-<lb/>gener Geſchütze u. </s>
  <s xml:id="echoid-s10982" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s10983" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s10984" xml:space="preserve">auffallen.</s>
  <s xml:id="echoid-s10985" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10986" xml:space="preserve">Die Dauer der Sichtbarkeit der Sternſchnuppen iſt ſtets
<pb o="189" file="0813" n="813"/>
eine ſehr geringe, indem ſie meiſtens bloß Bruchteile einer <lb/>Sekunde beträgt und 3 bis 4 Sekunden nur ganz ausnahms-<lb/>weiſe erreicht oder gar überſteigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10987" xml:space="preserve">Indeſſen iſt mit dem Ver-<lb/>ſchwinden der eigentlichen Sternſchnuppe oder Feuerkugel das <lb/>Phänomen häufig noch nicht abgeſchloſſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s10988" xml:space="preserve">es laſſen nämlich <lb/>die helleren Gebilde dieſer Art nicht ſelten eine feurige Spur <lb/>in Geſtalt eines Schweifes zurück, der im allgemeinen wohl <lb/>bereits wenige Sekunden nach den Meteoren verſchwindet, hin <lb/>und wieder aber auch 1 bis 2 Minuten, ja ſogar Viertel- bis <lb/>halbe Stunden lang ſichtbar bleibt. </s>
  <s xml:id="echoid-s10989" xml:space="preserve">Ein auffallendes Beiſpiel <lb/>dieſer Art bot die Feuerkugel vom 17. </s>
  <s xml:id="echoid-s10990" xml:space="preserve">Juni 1873 dar. </s>
  <s xml:id="echoid-s10991" xml:space="preserve">Sie <lb/>leuchtete um 8 Uhr 44 Minuten Wiener Zeit in Ungarn ſüd-<lb/>lich von Raab 160 Kilometer über der Erdoberfläche auf, <lb/>durchflog, über Niederöſterreich, Mähren und Böhmen hinweg-<lb/>ziehend, eine Strecke von 460 Kilometer innerhalb 4 bis 5 <lb/>Sekunden und erloſch in der Gegend von Zittau und Herrnhut <lb/>in einer Höhe von 33 Kilometern. </s>
  <s xml:id="echoid-s10992" xml:space="preserve">Der blendend weiße, zickzack-<lb/>förmige Schweif dieſes keineswegs überaus großen Meteores <lb/>— es hatte nur etwas über Venusgröße — blieb aber in <lb/>ſeinen unteren Partien bis 9 {1/4} Uhr dem freien Auge ſichtbar.</s>
  <s xml:id="echoid-s10993" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s10994" xml:space="preserve">Die Schweife der Sternſchnuppen zeigen zuweilen höchſt <lb/>intereſſante Phänomene. </s>
  <s xml:id="echoid-s10995" xml:space="preserve">An Farbe gleichen ſie in der Regel, <lb/>aber nicht immer dem Meteore, dem ſie ihre Entſtehung ver-<lb/>danken. </s>
  <s xml:id="echoid-s10996" xml:space="preserve">Ihre Formen ſind höchſt mannigfach, die Ränder <lb/>meiſt ſcharf begreuzt, und der Eindruck, den ſie hervorrufen, <lb/>manchmal derart, als ob ſie hohle Cylinder bildeten, die nach <lb/>innen da, wo die Feuerkugel durchgegangen iſt, von leuchtender <lb/>Materie leer ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s10997" xml:space="preserve">Die Helligkeit der Schweife nimmt ge-<lb/>wöhnlich bis zu ihrem Verſchwinden allmählich ab; </s>
  <s xml:id="echoid-s10998" xml:space="preserve">aber es <lb/>kommt auch vor, daß einzelne ihrer Partien zeitweilig wieder <lb/>heller aufleuchten. </s>
  <s xml:id="echoid-s10999" xml:space="preserve">Bleiben dieſelben längere Zeit ſichtbar, ſo <lb/>krümmen ſie ſich und führen zuweilen noch andere, mit über-<lb/>raſchenden Formänderungen verbundene Bewegungen aus, bei
<pb o="190" file="0814" n="814"/>
denen die ganze Maſſe nicht ſelten zerreißt und dann vereinzelte <lb/>lichte Flecke bildet, die eine große Ähnlichkeit mit einem der <lb/>helleren Nebelflecke beſitzen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11000" xml:space="preserve">Dieſen rätſelhaften, bisher wenig <lb/>beachteten Bildungen hat namentlich der Direktor der Athener <lb/>Sternwarte, J. </s>
  <s xml:id="echoid-s11001" xml:space="preserve">F. </s>
  <s xml:id="echoid-s11002" xml:space="preserve">Schmidt, eine beſondere Aufmerkſamkeit <lb/>zugewendet und auch mehrfach mit Glück verſucht, ſie, nachdem <lb/>ſie dem freien Auge bereits entſchwunden waren, noch mit <lb/>einem lichtſtarken Fernrohre von großem Geſichtsfelde (Ko-<lb/>metenſucher oder Opernglas) weiter zu verfolgen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11003" xml:space="preserve">Seinen Er-<lb/>fahrungen zufolge kann man annehmen, daß ein Schweif, <lb/>welcher dem freien Auge etwa 5 bis 10 Sekunden ſichtbar <lb/>bleibt, in einem Kometenſucher 2 bis 3 Minuten lang geſehen <lb/>werden kann.</s>
  <s xml:id="echoid-s11004" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11005" xml:space="preserve">Von den Meteoren erſter Größe und den noch helleren <lb/>hinterläßt in unſern Gegenden etwa die Hälfte, von denen <lb/>zweiter aber nur noch ein Sechſtel und von den kleineren ein <lb/>noch geringerer Bruchteil Schweife. </s>
  <s xml:id="echoid-s11006" xml:space="preserve">Dies ſcheint darauf hin-<lb/>zudeuten, daß die meiſten, wenn nicht alle Feuermeteore <lb/>Schweife nach ſich ziehen, die uns aber wegen ihrer Licht-<lb/>ſchwäche häufig entgehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11007" xml:space="preserve">Dieſer Schluß wird auch dadurch <lb/>geſtützt, daß <emph style="sp">Humboldt</emph> in der durchſichtigen Atmoſphäre der <lb/>Tropengegenden die Meteore häufiger von langen, glänzenden <lb/>Lichtbahnen begleitet ſah, als dies bei uns der Fall iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11008" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11009" xml:space="preserve">Die Farbe der Sternſchnuppen iſt in überwiegend großer <lb/>Zahl weiß oder gelb, ſeltener gelbrot; </s>
  <s xml:id="echoid-s11010" xml:space="preserve">aber bei den helleren <lb/>Sternſchnuppen und beſonders den Boliden zeigen ſich auch <lb/>mitunter andere Färbungen, und ſo namentlich intenſiv grüne. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11011" xml:space="preserve">Nach mehrjährigen Aufzeichnungen von I. </s>
  <s xml:id="echoid-s11012" xml:space="preserve">F. </s>
  <s xml:id="echoid-s11013" xml:space="preserve"><emph style="sp">Schmidt</emph> kommen <lb/>nämlich auf je 100 Meteore im Durchſchnitt 62 weiße, 15 gelbe, <lb/>6 gelbrote, 3 grüne und 14 nebelige. </s>
  <s xml:id="echoid-s11014" xml:space="preserve">Die letztgenannte Kate-<lb/>gorie von Sternſchnuppen hat J. </s>
  <s xml:id="echoid-s11015" xml:space="preserve">F. </s>
  <s xml:id="echoid-s11016" xml:space="preserve">Schmidt zuerſt beob-<lb/>achtet; </s>
  <s xml:id="echoid-s11017" xml:space="preserve">es ſind lichtſchwache Phänomene, deren Helligkeit die <lb/>von Sternen dritter Größe kaum je erreicht, die aber einen be-
<pb o="191" file="0815" n="815"/>
deutenden Durchmeſſer und ſtets ein aſchfarbiges, nebelhaftes <lb/>Anſehen beſitzen, ſodaß ſie oft einer kleinen, ſchnell hinflie-<lb/>genden Nebelwolke gleichen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11018" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11019" xml:space="preserve">Dieſe Sternſchnuppen dürften den Übergang bilden zu jenen <lb/>merkwürdigen Mittelgliedern zwiſchen Kometen und Meteoren, <lb/>auf die erſt ſeit neuerer Zeit <emph style="sp">Schiaparelli</emph> die Aufmerkſam-<lb/>keit gelenkt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s11020" xml:space="preserve">Es ſind dies nebelartige Körper oft von ſehr <lb/>bedeutender Ausdehnung, welche iunerhalb mehrerer Minuten <lb/>mit größerer oder geringerer Geſchwindigkeit am Firmamente <lb/>hinziehen und dann allmählich wieder bis zum Unſichtbar-<lb/>werden abblaſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11021" xml:space="preserve"><emph style="sp">Schiaparelli</emph> hat mehrere ähnliche Er-<lb/>ſcheinungen aus den Jahren 1252, 1348, 1672 A. </s>
  <s xml:id="echoid-s11022" xml:space="preserve">zuſammen-<lb/>geſtellt; </s>
  <s xml:id="echoid-s11023" xml:space="preserve">allein es ſind auch aus der neueren Zeit mehrfache <lb/>Fälle dieſer Art bekannt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11024" xml:space="preserve">Die intereſſanteſten derartigen Phä-<lb/>nomene waren aber wohl das, welches <emph style="sp">Jahn</emph> am 3. </s>
  <s xml:id="echoid-s11025" xml:space="preserve">Juli 1845 <lb/>beobachtet hat und das, welches am 17. </s>
  <s xml:id="echoid-s11026" xml:space="preserve">November 1882 über <lb/>Holland und England hinwegzog.</s>
  <s xml:id="echoid-s11027" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div290" type="section" level="1" n="239">
<head xml:id="echoid-head265" xml:space="preserve"><emph style="bf">XLV. Aërolithenfälle.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11028" xml:space="preserve">Während ihres Laufes ändern die Sternſchnuppen meiſten-<lb/>teils ihre Helligkeit nicht und verſchwinden wieder ebenſo <lb/>plötzlich, wie ſie erſchienen waren. </s>
  <s xml:id="echoid-s11029" xml:space="preserve">Nur größere Meteore, ins-<lb/>beſondere die Feuerkugeln erſten Ranges, verlöſchen manchmal <lb/>unter Funkenſprühen oder zerplatzen auch, worauf man dann <lb/>zuweilen einzelne matter leuchtende Stücke der Erde zufallen <lb/>ſieht und einige Minuten nachher ein mehr oder minder ſtarkes, <lb/>ja ſogar betäubendes Getöſe vernimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11030" xml:space="preserve">Solche “detonierende” <lb/>Meteore ſind es auch, welche gelegentlich zu den ſo merkwür-<lb/>digen Aërolithen- oder Steinfällen Veranlaſſung geben.</s>
  <s xml:id="echoid-s11031" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="192" file="0816" n="816"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11032" xml:space="preserve">Die Schallerſcheinungen, welche einen Aërolithenfall be-<lb/>gleiten, werden gewöhnlich folgendermaßen beſchrieben. </s>
  <s xml:id="echoid-s11033" xml:space="preserve">Man <lb/>hört zuerſt einige heftige, ſcharfe Schläge, welche dem Donner <lb/>von Kanonen ähneln. </s>
  <s xml:id="echoid-s11034" xml:space="preserve">Zwiſchen ihnen und nachher wird ein <lb/>ſchwächeres Getöſe vernommen, das bald Trommelwirbeln, bald <lb/>einem Pelotonfeuer, bald dem Raſſeln eines ſchwer beladenen <lb/>Wagens verglichen wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s11035" xml:space="preserve">Die Dauer desſelben iſt ſehr ver-<lb/>ſchieden und kann auf mehrere Minuten anſteigen; </s>
  <s xml:id="echoid-s11036" xml:space="preserve">ja bei <lb/>einigen Steinfällen wird ſogar von ſtundenlanger Dauer ge-<lb/>redet, während man häufig auch bloß einen einzigen Knall <lb/>hörte. </s>
  <s xml:id="echoid-s11037" xml:space="preserve">Nach den Detonationen vernimmt man in der Luft ein <lb/>Sauſen und Ziſchen, während deſſen die Steine auf die Erde <lb/>herabfallen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11038" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11039" xml:space="preserve">Die heftigſten Detonationen rühren vom Zerplatzen des <lb/>Meteores und dem Eindringen der Luft in das ſo entſtehende <lb/>Vakuum her; </s>
  <s xml:id="echoid-s11040" xml:space="preserve">das ſchwächere Rollen hingegen wird durch das <lb/>Zuſammenſchlagen der Luft in den vom Meteore verlaſſenen <lb/>Raum bewirkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11041" xml:space="preserve">Weil aber das Meteor raſcher forteilt als der <lb/>Schall, kommt derſelbe (wie beim Donner) von den entfernteren <lb/>Teilen der Bahn erſt nach und nach zu uns, was die lange <lb/>Dauer des Getöſes verurſacht. </s>
  <s xml:id="echoid-s11042" xml:space="preserve">Übrigens muß die Stärke der <lb/>Hauptdetonationen zuweilen wahrhaft grauſenerregend ſein. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11043" xml:space="preserve">So z. </s>
  <s xml:id="echoid-s11044" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s11045" xml:space="preserve">hörte man bei dem Steinfalle zu l’Aigle (26. </s>
  <s xml:id="echoid-s11046" xml:space="preserve">April <lb/>1803) die Detonationen auf einem Umkreiſe, deſſen Radius <lb/>150 km betrug; </s>
  <s xml:id="echoid-s11047" xml:space="preserve">in l’Aigle ſelbſt, dem Orte, über dem beiläufig <lb/>die Exploſion erfolgte, erzitterte der Boden wie bei einem Erd-<lb/>beben, und Kamine, ja Häuſer ſtürzten ein.</s>
  <s xml:id="echoid-s11048" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11049" xml:space="preserve">Die vom Himmel herabgefallenen Maſſen teilt man nach <lb/>dem Gehalte derſelben an gediegenem Eiſen in Meteorſteine <lb/>und Meteoreiſen ein. </s>
  <s xml:id="echoid-s11050" xml:space="preserve">Den erſteren liegt faſt immer als Total-<lb/>ſorm eine ungleichſeitige vierkantige Pyramide zu Grunde, deren <lb/>Spitze abgeſtumpft iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11051" xml:space="preserve">Die Grundfläche, welche bei der Be-<lb/>wegung im Raume vorangeht, iſt meiſt gleichmäßig gewölbt
<pb o="193" file="0817" n="817"/>
und mit einer glasartig glänzenden, papierdünnen, dunkelbraunen <lb/>bis pechſchwarzen Rinde umgeben, auf deren Oberfläche ſich <lb/>netzartige, ſtrahlenförmig von einem Punkte ausgehende, erhabene <lb/>Adern zeigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11052" xml:space="preserve">An den Seitenflächen und insbeſondere an jener <lb/>Fläche, welche der Grundfläche gegenüberliegt, iſt die Rinde <lb/>bloß mattglänzend, oft auch ſammetartig.</s>
  <s xml:id="echoid-s11053" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11054" xml:space="preserve">Die Rinde iſt eben die geſchmolzene Oberfläche des Meteor-<lb/>ſteines, wie zuerſt v. </s>
  <s xml:id="echoid-s11055" xml:space="preserve"><emph style="sp">Schreibers</emph> und <emph style="sp">Scheerer</emph> durch Schmelzen <lb/>von Stannernſteinen<anchor type="note" xlink:href="" symbol="*)"/> nachwieſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11056" xml:space="preserve">Doch muß das Schmelzen, wie
bereits <emph style="sp">Prouſt</emph> vermutet hatte, ſo raſch vorgenommen werden, <lb/>daß das Innere dabei nicht beträchtlich erhitzt wird, weil ſonſt <lb/>die ganze Maſſe zu einem dunkelbraunen Glaſe zuſammenfli<unsure/>eßt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11057" xml:space="preserve">Daß das erſtere in der Natur auch wirklich eintritt, beurkundete <lb/>der intereſſante Steinfall vom 27. </s>
  <s xml:id="echoid-s11058" xml:space="preserve">Dezember 1857 bei Quenggouk <lb/>(Oſtindien), indem unmittelbar nach dem Falle die Bruchſtücke <lb/>im Innern ſo kalt waren, daß ſie die Finger des Gefühles be-<lb/>raubten.</s>
  <s xml:id="echoid-s11059" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11060" xml:space="preserve">In mineralogiſcher und chemiſcher Beziehung ſind die <lb/>Steine verſchiedener Lokalitäten, namentlich in Bezug auf <lb/>Gehalt an Eiſen, ſehr von einander verſchieden. </s>
  <s xml:id="echoid-s11061" xml:space="preserve">Es ſei daher <lb/>nur erwähnt, daß in ihnen ein neuer, auf der Erde nicht <lb/>vorkommender Grundſtoff noch nicht aufgefunden wurde, daß <lb/>die vorherrſchenden Beſtandteile binäre Verbindungen des <lb/>Sauerſtoffes, nämlich Kieſelerde und Talgerde, ſodann Eiſen <lb/>bilden, und zwar letzteres ſowohl im reguliniſchen Zuſtande <lb/>als auch in ſeinen verſchiedeneu Oxydationsſtufen, und daß <lb/>das metalliſche Eiſen merkwürdigerweiſe ſtets vom Nickel be-<lb/>gleitet iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11062" xml:space="preserve">Intereſſant iſt es auch, daß man in neuerer <lb/>Zeit einige Meteorſteine mit großem Kohlengehalte gefunden <lb/>hat, und daß in dieſen eine organiſche Subſtanz vorkommen</s>
</p>
<note symbol="*)" position="foot" xml:space="preserve"> Steine vom großen Meteorſteinregen von Stannern in Mähren <lb/>(22. Mai 1808).</note>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11063" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s11064" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s11065" xml:space="preserve">Volksbücher XVI. </s>
  <s xml:id="echoid-s11066" xml:space="preserve">13</s>
</p>
<pb o="194" file="0818" n="818"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11067" xml:space="preserve">@oll, die indes noch nicht genauer erforſcht werden konnte. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11068" xml:space="preserve">Derartige Meteorſteine, wie der vom Kap (gefallen am <lb/>13. </s>
  <s xml:id="echoid-s11069" xml:space="preserve">Oktober 1838) und der von Debreczin (gefallen am <lb/>15. </s>
  <s xml:id="echoid-s11070" xml:space="preserve">April 1857) unterſcheiden ſich auch ſchon durch ihre dunkle <lb/>Farbe von den übrigen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11071" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11072" xml:space="preserve">Weit ſeltener als Meteorfälle ereignen ſich Meteoreiſenfälle. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11073" xml:space="preserve">Doch hat man in der neueren Zeit ſehr merkwürdige Binde-<lb/>glieder zwiſchen Stein- und Eiſenmeteoriten aufgefunden, nämlich <lb/>eiſenreiche Meteorſteine mit großen Konkretionen von metalliſchem <lb/>Eiſen und Meteoreiſen, in denen große Maſſen von Stein-<lb/>ſubſtanz eingewachſen ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s11074" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11075" xml:space="preserve">Die Eiſenmeteoriten ſind meiſt derb und von kryſtalliniſchem <lb/>Gefüge, ſelten äſtig oder zellig. </s>
  <s xml:id="echoid-s11076" xml:space="preserve">Im letzteren Falle ſind die <lb/>Hohlräume mit deutlich kryſtalliſiertem Olivin (Meteorolivin) <lb/>ausgefüllt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11077" xml:space="preserve">Die derben Eiſenmeteoriten (ſo wie bei den zelligen <lb/>das Eiſengerüſte) beſtehen faſt ausſchließlich aus Eiſen und <lb/>Nickel, indem dieſe beiden Stoffe nicht ſelten bis 98% der <lb/>ganzen Maſſe betragen, wobei das letztgenaunte Metall mit <lb/>einem Teile des Eiſens zu Nickeleiſen verbunden iſt, welche <lb/>beiden Beſtandteile ſich bei der Bildung des Meteoreiſens in <lb/>regelmäßig alternierenden Lamellen ablagerten. </s>
  <s xml:id="echoid-s11078" xml:space="preserve">Da nun Eiſen <lb/>und Nickeleiſen ſich verſchieden gegen chemiſche Agentien ver-<lb/>halten, wird, wenn man ſolche auf eine polierte Meteoreiſen-<lb/>platte einwirken läßt, deren regelmäßige Struktur in eigentüm-<lb/>lichen Figuren ſichtbar, die man ihrem Entdecker zu Ehren <lb/>Widmannſtättenſche genannt hat (Fig. </s>
  <s xml:id="echoid-s11079" xml:space="preserve">35). </s>
  <s xml:id="echoid-s11080" xml:space="preserve">Durch dieſe Figuren <lb/>und den Gehalt an Nickel unterſcheidet ſich das Meteoreiſen <lb/>von jedem anderen telluriſchen, gediegenen Eiſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11081" xml:space="preserve">Man nimmt <lb/>daher auch keinen Anſtand, Eiſenmaſſen, die ſich auf-verſchie-<lb/>denen Punkten der Erde vorfinden, als Meteoreiſen zu be-<lb/>trachten, wenn ſie in die geologiſche Formation jener Gegenden <lb/>nicht paſſen und ſich mindeſtens durch eine der beiden erwähnten <lb/>charakteriſtiſchen Eigentümlichkeiten auszeichnen, auch wenn man
<pb o="195" file="0819" n="819"/>
deren Niederfallen nicht beobachtet hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s11082" xml:space="preserve">Solche Maſſen ſind <lb/>mitunter ſehr bedeutend, wie die von Tucuman (Argent. </s>
  <s xml:id="echoid-s11083" xml:space="preserve">Republik, <lb/>aufgefunden 1783) von mehr als 1500 Kilogramm Gewicht, <lb/>die von Bemdego (Braſilien, bekaunt ſeit 1784) von etwa <lb/>8700 Kilogramm Gewicht u. </s>
  <s xml:id="echoid-s11084" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s11085" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s11086" xml:space="preserve"/>
</p>
<figure>
<caption xml:id="echoid-caption60" xml:space="preserve">Fig. 35.</caption>
<description xml:id="echoid-description18" xml:space="preserve">Widmannſtättenſche Figuren.</description>
</figure>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11087" xml:space="preserve">Die Zahl der jährlich herabgefallenen Aërolithen iſt keines-<lb/>wegs ſo klein, als man nach der Seltenheit des Phänomenes <lb/>an einem beſtimmten Orte zu ſchließen geneigt ſein dürfte. </s>
  <s xml:id="echoid-s11088" xml:space="preserve">Als <lb/>Durchſchnitt der letzten Jahre kann man nämlich annehmen, <lb/>daß jährlich drei Meteoritenfälle beobachtet werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s11089" xml:space="preserve">Bedenkt <lb/>man nun, daß der größte Teil der Erde von Waſſer bedeckt <lb/>iſt, daß wir nur aus kultivierten Ländern Nachrichten von
<pb o="196" file="0820" n="820"/>
derartigen Begebenheiten erhalten, und daß ſelbſt in dieſen ein <lb/>großer Teil der Fälle unbeobachtet bleibt oder die Meteor-<lb/>maſſen in unzugänglichen Gegenden niederſtürzen, wo ſie nicht <lb/>aufgefunden werden können, ſo wird man es wohl nicht über-<lb/>trieben finden, auf der ganzen Erde jährlich einige hundert <lb/>Steinfälle anzunehmen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11090" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11091" xml:space="preserve">Bei einem Aërolithenfalle iſt die Zahl der herabſtürzenden <lb/>Stücke ſehr verſchieden, oft ſehr gering (1—2), oft aber auch <lb/>ſehr groß, wie bei Stannern und l’Aigle; </s>
  <s xml:id="echoid-s11092" xml:space="preserve">am erſteren Orte <lb/>ſchätzte man ſie auf 150—200, am letzteren ſogar auf 2000 bis <lb/>3000. </s>
  <s xml:id="echoid-s11093" xml:space="preserve">Bei ſolchen größeren Steinfällen, die man auch als <lb/>Steinregen bezeichnet, ſind die Steine gewöhnlich über einen <lb/>elliptiſchen Raum zerſtreut, deſſen längere Achſe in der Richtung <lb/>der Bewegung des Meteors liegt, zum Zeichen, daß die <lb/>Steine erſt nach und nach während ſeines Fortſchreitens <lb/>herabfallen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11094" xml:space="preserve">Dabei machte man außerdem die intereſſaute <lb/>Bemerkung, daß die kleineren Steine zuerſt, die größeren <lb/>zuletzt herabkommen, was beſonders ſchön der Steinregen vom <lb/>1. </s>
  <s xml:id="echoid-s11095" xml:space="preserve">Mai 1860 zu New Concord (Ohio) zeigte. </s>
  <s xml:id="echoid-s11096" xml:space="preserve">Dieſelben <lb/>Beobachtungen hat man auch am 30. </s>
  <s xml:id="echoid-s11097" xml:space="preserve">Januar 1868 beim <lb/>Steinregen zu Pultusk (Polen) gemacht und dabei noch <lb/>wahrgenommen, daß die herabgefallenen Steine nirgends die <lb/>gefrorene Erdſchicht durchſchlugen oder irgendwie tiefer in <lb/>dieſelbe eindrangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11098" xml:space="preserve">Dies beweiſt unzweifelhaft, daß das <lb/>Meteor bereits in den höheren Schichten unſerer Atmoſphäre <lb/>ſeine kosmiſche Geſchwindigkeit eingebüßt hatte, und daß die <lb/>einzelnen Teile desſelben ſchließlich bloß mit jener Geſchwindig-<lb/>keit auf die Erde herabkamen, welche ſie nach den Geſetzen der <lb/>Schwere beim Herabfallen erlaugten. </s>
  <s xml:id="echoid-s11099" xml:space="preserve">Der Erſte, der auf dieſes <lb/>eigentümliche Verhältnis aufmerkſam machte, war <emph style="sp">Haidinger</emph>, <lb/>der es bereits aus den Nachrichten über den Meteoritenfall <lb/>zu Hraſchina (26. </s>
  <s xml:id="echoid-s11100" xml:space="preserve">Mai 1751) erkannte und hierauf bei einer <lb/>Reihe von Aërolithenfällen unter anderem eben darin beſtätigt
<pb o="197" file="0821" n="821"/>
fand, daß die gefallenen Maſſen äußerſt ſelten tief in den <lb/>Boden einſchlugen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11101" xml:space="preserve">Seinen Argumenten könnte man noch bei-<lb/>fügen, daß die Meteormaſſen beim Niederfallen weit öfter in <lb/>Stücke ſpringen müßten, als dies in der That der Fall iſt, <lb/>wenn ſie mit einer planetariſchen Geſchwindigkeit auf der Erde <lb/>ankämen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11102" xml:space="preserve">Haidinger verlegt den Ort, an dem die kosmiſche <lb/>Geſchwindigkeit vernichtet iſt, an den Ort der Hauptdetonation, <lb/>nennt dieſen demgemäß Hemmungspunkt und läßt von da an <lb/>die einzelnen Stücke, einfach den Fallgeſetzen folgend, ſenkrecht <lb/>auf die Erde herabfallen; </s>
  <s xml:id="echoid-s11103" xml:space="preserve">eine Annahme, die ſich beim Stein-<lb/>regen von Pultusk vollſtändig beſtätigt hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s11104" xml:space="preserve">In neuerer Zeit <lb/>hat Schiaparelli auch den theoretiſchen Grund dieſes Ver-<lb/>haltens aufgedeckt, indem er nachwies, daß ein Meteor bereits <lb/>in den höchſten, noch ungemein dünnen Schichten unſerer <lb/>Atmoſphäre den größten Geſchwindigkeitsverluſt erleidet, und <lb/>daß ſchon in verhältnismäßig ſehr bedeutenden Höhen ſeine <lb/>kosmiſche Geſchwindigkeit ſo gut wie völlig vernichtet wird. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11105" xml:space="preserve">Zu demſelben Reſultate gelangte gleichzeitig mit <emph style="sp">Schiaparelli</emph> <lb/>auch Profeſſor Dr. </s>
  <s xml:id="echoid-s11106" xml:space="preserve"><emph style="sp">Edmund Weiß</emph>, Direktor der Sternwarte <lb/>in Wien; </s>
  <s xml:id="echoid-s11107" xml:space="preserve">der letztere machte aber überdies noch darauf auf-<lb/>merkſam, daß unter dieſen Umſtänden bei den ſchnelleren <lb/>Meteoren der Geſchwindigkeitsverluſt viel raſcher eintritt und <lb/>auch bereits in größeren Höhen erfolgt als bei den lang-<lb/>ſameren. </s>
  <s xml:id="echoid-s11108" xml:space="preserve">Da nun die lebendige Kraft der Bewegung nicht <lb/>vernichtet wird, ſondern ſich der Hauptſache nach in Licht und <lb/>Wärme umſetzt, wird es nicht nur begreiflich, warum die <lb/>Lichterſcheinungen der Feuerkugeln und Sternſchnuppen über-<lb/>haupt ſchon in den höchſten Regionen unſerer Atmoſphäre ſich <lb/>abſpielen, ſondern es findet darin auch die früher rätſelhafte <lb/>Erſcheinung ihre einfache Erklärung, daß nach den Höhen-<lb/>berechnungen von Sternſchnuppen die hell leuchtenden Meteore <lb/>in der Regel nicht die der Erde näheren, ſondern gerade die <lb/>entfernteren ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s11109" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="198" file="0822" n="822"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11110" xml:space="preserve">Bci den Detonationen<anchor type="note" xlink:href="" symbol="*)"/> findet manchmal ſicher ein wirkliches
Zerſpringen der Meteormaſſe ſtatt, wie unwiderlegbar daraus <lb/>hervorgeht, daß beim Steinfalle von Quenggouk zwei Stücke, <lb/>die etwa 1500 Meter von einander entfernt aufgefunden wurden, <lb/>vollſtändig zuſammenpaßten und an der Bruchfläche nur geringe <lb/>Spuren von Überrindung zeigten. </s>
  <s xml:id="echoid-s11111" xml:space="preserve">Dasſelbe fand auch beim <lb/>Steinfalle vom 12. </s>
  <s xml:id="echoid-s11112" xml:space="preserve">Mai 1861 zu Butſura (Oſtindien) ſtatt, <lb/>wo ſogar drei Stücke, die in gegenſeitigen Entfernungen von <lb/>3 bis 4 Kilometer lagen, vollkommen aneinander paßten. </s>
  <s xml:id="echoid-s11113" xml:space="preserve">Man <lb/>würde indes ſehr irren, wollte man daraus folgern, daß alle bei <lb/>einem größeren Steinregen herabfallenden Stücke bloß Bruch-<lb/>ſtücke eines einzigen, in unſere Atmoſphäre eingedrungenen <lb/>Körpers ſeien; </s>
  <s xml:id="echoid-s11114" xml:space="preserve">man muß im Gegenteile aus der Form der <lb/>Steine und dem Charakter der Überrindung ſchließen, daß in <lb/>ſolchen Fällen bereits ein ganzer Schwarm Meteoriten in <lb/>unſeren Luftkreis eintritt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11115" xml:space="preserve">Dieſen Schluß beſtätigte auch eine <lb/>Beobachtung von Dir. </s>
  <s xml:id="echoid-s11116" xml:space="preserve">J. </s>
  <s xml:id="echoid-s11117" xml:space="preserve">F. </s>
  <s xml:id="echoid-s11118" xml:space="preserve"><emph style="sp">Schmidt</emph> zu Athen, welche einzig <lb/>in ihrer Art daſteht. </s>
  <s xml:id="echoid-s11119" xml:space="preserve">Sie gelaug am 19. </s>
  <s xml:id="echoid-s11120" xml:space="preserve">Oktober 1863 an <lb/>einer Feuerkugel erſten Ranges, welche ſich durch einen un-<lb/>gewöhnlich langſamen Flug und eine ebenſo außergewöhulich <lb/>lange Dauer von 21<emph style="super">s</emph> auszeichnete, ſodaß Schmidt Zeit gewann, <lb/>einen Kometenſucher auf ſie zu richten und ſie ſo durch volle <lb/>14<emph style="super">s</emph> zu verfolgen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11121" xml:space="preserve">Teleſkopiſch betrachtet, beſtand ſie aus zwei <lb/>ſtrahlend grünen Stücken von tropfenförmiger Geſtalt, die <lb/>ſcharfbegrenzte, feuerrote und ganz gerade, unter ſich parallele <lb/>Schweiflinien hinter ſich herzogen, deren Abſtand 7′ betrug. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11122" xml:space="preserve">Das größte Stück des Meteors ging ſüdlich voran; </s>
  <s xml:id="echoid-s11123" xml:space="preserve">etliche <lb/>
<anchor type="note" xlink:label="note-0822-01a" xlink:href="note-0822-01"/>
<pb o="199" file="0823" n="823"/>
Bogenminuten weiter zurück folgte nördlich das kleinere. </s>
  <s xml:id="echoid-s11124" xml:space="preserve">Dann <lb/>aber zog dahinter her ein Schwarm grünſtrahlender Fragmente, <lb/>ſehr verſchiedener Größe, deren jedes eine rote Feuerlinie mit <lb/>ſich führte. </s>
  <s xml:id="echoid-s11125" xml:space="preserve">Alle dieſe Linien waren gerade und unter ſich <lb/>parallel. </s>
  <s xml:id="echoid-s11126" xml:space="preserve">Das ſmaragdgrüne Licht der Kerne verlief durch <lb/>Hochgelb in das Feuerrot der Schweife. </s>
  <s xml:id="echoid-s11127" xml:space="preserve">Den Durchmeſſer <lb/>des größten Kernes ſchätzt Schmidt nach Abzug der Irradiation <lb/>auf 25″ bis 30″ und iſt geneigt, dieſe Angabe eher noch für <lb/>zu groß als für zu klein anzuſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11128" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div290" type="float" level="2" n="1">
<note symbol="*)" position="foot" xlink:label="note-0822-01" xlink:href="note-0822-01a" xml:space="preserve"> Die Heftigkeit der Detonation iſt zuweilen eine ganz koloſſale: <lb/>ſo war der Knall des berühmt gewordenen Meteors, welches am 10. Februar <lb/>1896 grade über Madrid in ungefähr 30 Kilometer Höhe explodierte, <lb/>ein derartiger, daß die ganze Stadt zuſammenlief und in äußerſten <lb/>Schrecken verſetzt wurde, da man anfangs gar nicht wußte, was vorging.</note>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11129" xml:space="preserve">Dieſe intereſſante Beobachtung bringt auch Licht in eine <lb/>andere Frage, welche ſchon zu vielfachen Kontroverſen geführt <lb/>hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s11130" xml:space="preserve">Mit freiem Auge geſehen, erreichen ſcheinbar die Feuer-<lb/>meteore erſten Ranges zuweilen den Durchmeſſer des Mondes, <lb/>und auch J. </s>
  <s xml:id="echoid-s11131" xml:space="preserve">F. </s>
  <s xml:id="echoid-s11132" xml:space="preserve">Schmidt ſchätzte den Durchmeſſer des eben be-<lb/>ſprochenen Meteores noch lange, ehe es ſeinen Hauptglanz ent-<lb/>faltet hatte, mit freiem Auge auf mindeſtens 10′ bis 15′. </s>
  <s xml:id="echoid-s11133" xml:space="preserve">Mit <lb/>Zugrundelegung ſolcher Dimenſionen und der Entfernungen, <lb/>wo ſie ſich ermitteln ließen, erhielt man für den wahren <lb/>Durchmeſſer rieſige Zahlen, mitunter von mehreren tauſend <lb/>Metern. </s>
  <s xml:id="echoid-s11134" xml:space="preserve">Vergleicht man hingegen damit die herabgefallenen <lb/>Maſſen, ſo ſtehen dieſe in gar keinem Verhältnis zur ſchein-<lb/>baren Größe des Meteores. </s>
  <s xml:id="echoid-s11135" xml:space="preserve">Die Beobachtung von Schmidt <lb/>löſt nun dieſen Widerſpruch auf eine ſehr einfache Weiſe, <lb/>indem ſie zeigt, daß man beim Schätzen der Größe eines <lb/>Meteores mit freiem Auge einen doppelten Irrtum begeht, <lb/>daß man nämlich nicht nur die einzelnen, durch weite Zwiſchen-<lb/>räume getrennten Meteorpartikel als ein großes, ſolides Ganze <lb/>auffaßt, ſondern daß überdies alle Dimenſionen durch die <lb/>Irradiation noch vielfach vergrößert erſcheinen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11136" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11137" xml:space="preserve">Die Nachrichten über Aërolithenfälle reichen bis in das <lb/>graue Altertum zurück, wo derlei Begebenheiten mit den reli-<lb/>giöſen Anſchauungen der älteſten Kulturvölker leicht in Zu-<lb/>ſammenhang gebracht werden konnten. </s>
  <s xml:id="echoid-s11138" xml:space="preserve">Uralt war im Oriente
<pb o="200" file="0824" n="824"/>
die Verehrung des Feuers und die Perſonifikation dieſer ge-<lb/>waltigen Naturkraft in den Geſtirnen, welche man für Feuer-<lb/>maſſen hielt, die von mächtigen Geiſtern beſeelt ſeien. </s>
  <s xml:id="echoid-s11139" xml:space="preserve">Da <lb/>man aber von der Entfernung und Größe der Geſtirne keine <lb/>Ahnung hatte, bot auch die Idee, ſie könnten vom Gewölbe <lb/>des Himmels auf die Erde herabſtürzen, nichts Ungereimtes, <lb/>und man nahm deshalb auch keinen Anſtand, Feuerkugeln für <lb/>herabfallende Sterne, und die den Erdboden glühend heiß <lb/>erreichenden Steine, die man manchmal am Orte des Niederfallens <lb/>fand, für die herabgefallenen Sterne ſelbſt zu halten, die auch <lb/>in ihrem jetzigen Zuſtande nicht minder beſeelt ſeien als in dem <lb/>früheren. </s>
  <s xml:id="echoid-s11140" xml:space="preserve">Man nannte ſie deshalb auch Bätylen, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s11141" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s11142" xml:space="preserve">beſeelte <lb/>Steine, und verehrte die größeren, die man von mächtigeren <lb/>Geiſtern als die kleineren belebt glaubte, als Heiligtümer in <lb/>Tempeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s11143" xml:space="preserve">Die bekannteſten Steine dieſer Art ſind das Ancile <lb/>der Römer, das zur Zeit des Numa Pompilius vom Himmel <lb/>herabgefallen ſein ſoll und von dem die ſibylliniſchen Bücher <lb/>verkündeten, daß ſein Verluſt der Vorbote des Unterganges <lb/>von Rom ſein werde; </s>
  <s xml:id="echoid-s11144" xml:space="preserve">ferner der ſchwarze Stein in der Kaaba <lb/>zu Mekka u. </s>
  <s xml:id="echoid-s11145" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s11146" xml:space="preserve">w.</s>
  <s xml:id="echoid-s11147" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11148" xml:space="preserve">In Kleinaſien und Griechenland verwechſelte man die das <lb/>Herabfallen von Steinen begleitenden Licht- und Schallerſchei-<lb/>nungen mit wirklichem Blitz und Donner und glaubte, die <lb/>Götter ſchicken bei Gewittern ihre Symbole in Geſtalt ſolcher <lb/>Steine den Menſchen zur Verehrung auf die Erde herab, <lb/>weshalb man ſie auch als Keraunia oder Brontia, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s11149" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s11150" xml:space="preserve">Donner-<lb/>ſteine bezeichuete und nach jedem Blitzſchlage ſolche aufſuchte. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11151" xml:space="preserve">Übrigens iſt im Volke der Glaube an “Donnerſteine” auch heute <lb/>noch nicht ganz erloſchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11152" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11153" xml:space="preserve">In Arabien wurden aus Meteoreiſen Degenklingen ver-<lb/>fertigt, welche man, wegen der wunderbaren Eigenſchaften, die <lb/>ſie auszeichnen ſollten, ſehr hoch ſchätzte. </s>
  <s xml:id="echoid-s11154" xml:space="preserve">Man ſchrieb ihnen <lb/>unter anderem die Macht zu, dem Beſitzer Unverwundbarkeit
<pb o="201" file="0825" n="825"/>
und Sieg über ſeine Gegner zu verleihen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11155" xml:space="preserve">In Zentralaſien <lb/>erhielt ſich die Sitte, Meteoreiſen entweder rein oder mit <lb/>telluriſchem gemiſcht zu Waffen auszuſchmieden, noch bis zum <lb/>Beginn der neueren Zeit. </s>
  <s xml:id="echoid-s11156" xml:space="preserve">So ließ ſich der Mongolenkaiſer <lb/>Dſchehangir aus einem am 17. </s>
  <s xml:id="echoid-s11157" xml:space="preserve">April 1621 bei Lahore in In-<lb/>dien gefallenen Meteoreiſen zwei Säbel, einen Dolch und ein <lb/>Meſſer verfertigen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11158" xml:space="preserve">In unſeren Tagen fand der Polarfahrer <lb/>I<unsure/>. </s>
  <s xml:id="echoid-s11159" xml:space="preserve">Roß unter den Eskimos der Baffinsbai Meſſer und Äxte <lb/>aus Meteoreiſen in Verwendung.</s>
  <s xml:id="echoid-s11160" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11161" xml:space="preserve">Allein nicht nur im Morgenlande, auch im Abendlande <lb/>wurde bereits im Altertume das Herabfallen von Steinen als <lb/>eine feſtſtehende Thatſache anerkannt, von der die Hiſtorio-<lb/>graphen zahlreiche Beiſpiele erwähnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11162" xml:space="preserve">Doch hier verlor ſich <lb/>die freundliche Auffaſſung, mit der man im Oriente dieſe <lb/>Naturerſcheinung umgeben hatte, ſehr raſch; </s>
  <s xml:id="echoid-s11163" xml:space="preserve">der Schrecken, den <lb/>ein ſo ungewöhnliches Phänomen hervorrufen mußte, trat bald <lb/>ſo ſehr in den Vordergrund, daß man es nicht mehr als ein <lb/>Zeichen des Wohlwollens, ſondern vielmehr als eines des Zornes <lb/>der Gottheit anſah. </s>
  <s xml:id="echoid-s11164" xml:space="preserve">So erwähnten ſchon Livius, noch mehr <lb/>aber Tacitus unter den Vorzeichen für Unglück faſt ſtets eines <lb/>Steinregens, und die darauf folgende Zeit der Völkerwanderung <lb/>war nicht geeignet, die düſtere Anſchauung, die ſich einmal <lb/>feſtgeſetzt hatte, zu entwurzeln. </s>
  <s xml:id="echoid-s11165" xml:space="preserve">Als dann am Ende des Mittel-<lb/>alters die Osmanen anfingen, furchtbar zu werden, benützte <lb/>man Niederfälle von Steinen, die Chriſtenheit zum Kampfe <lb/>gegen ihren Erbfeind zu entflammen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11166" xml:space="preserve">Dies geſchah z. </s>
  <s xml:id="echoid-s11167" xml:space="preserve">B.</s>
  <s xml:id="echoid-s11168" xml:space="preserve">, als <lb/>am 7. </s>
  <s xml:id="echoid-s11169" xml:space="preserve">November 1492 gegen Mittag bei Enſisheim im Ober-<lb/>elſaß ein ungefähr 150 Kilogramm ſchwerer Stein niederfiel, <lb/>von dem durch die Fürſorge Kaiſer Maximilians I. </s>
  <s xml:id="echoid-s11170" xml:space="preserve">noch jetzt <lb/>Bruchſtücke erhalten ſind, die älteſten, die wir überhaupt von <lb/>einem hiſtoriſch beglaubigten Steinfalle beſitzen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11171" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11172" xml:space="preserve">Trotz ſo vieler Nachrichten befeſtigte ſich aber merkwürdiger-<lb/>weiſe unter den Phyſikern im Laufe des vorigen Jahrhunderts
<pb o="202" file="0826" n="826"/>
immer mehr die Meinung, alle derartigen Berichte ſeien weiter <lb/>nichts als die Ausgeburt einer krankhaften Phantaſie, und es <lb/>könne ihnen unmöglich wahres zu Grunde liegen, weil das <lb/>Herabfallen von Steinen aus der Luft anerkannten Natur-<lb/>geſetzen widerſtreite. </s>
  <s xml:id="echoid-s11173" xml:space="preserve">Wohl mögen die E@tſtellungen und Über-<lb/>treibungen in den meiſten Berichten von Augenzeugen, die, <lb/>durch den ausgeſtandenen Schrecken verwirrt und betäubt, alles <lb/>mögliche geſehen haben wollten, den erſten Grund zum Leugnen <lb/>dieſes Phänomens gegeben haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s11174" xml:space="preserve">allein man legte dabei doch <lb/>eine Verblendung und einen Eigendünkel an den Tag, die <lb/>geradezu unbegreiflich ſind, indem man der vorgefaßten Meinung <lb/>zuliebe alle, ſelbſt die beglaubigtſten Zeugniſſe, ohne ſie auch <lb/>nur einer Prüfung zu würdigen, geradezu für Lügenberichte <lb/>oder Sinnestäuſchungen erklärte, wie dies beiſpielsweiſe mit <lb/>der Urkunde der Fall war, welche das biſchöfliche Konſiſtorium <lb/>zu Agram über den Fall zweier Meteoreiſenmaſſen zu Hraſchina <lb/>am 26. </s>
  <s xml:id="echoid-s11175" xml:space="preserve">Mai 1751 um 6 Uhr abends aufnehmen ließ: </s>
  <s xml:id="echoid-s11176" xml:space="preserve">n<unsure/>ebenbei <lb/>geſagt, die erſte urkundliche Beglaubigung eines Aërolithen-<lb/>falles. </s>
  <s xml:id="echoid-s11177" xml:space="preserve">Ja ſelbſt noch im Jahre 1790 fand man es ſehr er-<lb/>heiternd, daß man über eine ſolche Abſurdität ein authentiſches <lb/>Protokoll erhalten könne, als die Municipalität von Juillac <lb/>in der Gascogne eine mit der Unterſchrift von mehr als 300 <lb/>Augenzeugen verſehene Urkunde über den Steinfall, der ſich <lb/>dort am 24. </s>
  <s xml:id="echoid-s11178" xml:space="preserve">Juli abends nach 9 Uhr ereignet hatte, der <lb/>Pariſer Akademie einſendete, und konnte Bertholon nicht umhin, <lb/>eine Gemeinde zu bemitleiden, die einen ſo thörichteu<unsure/> Maire <lb/>beſitze, daß er ſolche Märchen glaube.</s>
  <s xml:id="echoid-s11179" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11180" xml:space="preserve">Unter dieſen Umſtänden iſt das Verdienſt <emph style="sp">Chladni’s</emph> nicht <lb/>gering anzuſchlagen, der im Jahre 1794 bei Gelegenheit der <lb/>Auffindung einer großen Maſſe gediegenen Eiſens bei Kras-<lb/>nojarsk in Sibirien durch Pallas, welche die Koſaken für ein <lb/>vom Himmel herabgefallenes Heiligtum hielten, den Mut hatte, <lb/>in einer eigenen Schrift: </s>
  <s xml:id="echoid-s11181" xml:space="preserve">“Über den Urſprung der von Pallas
<pb o="203" file="0827" n="827"/>
entdeckten Eiſenmaſſe und einige damit in Verbindung ſtehende <lb/>Naturerſcheinungen” für das wirkliche Vorkommen von Aëro-<lb/>lithenfällen einzutreten. </s>
  <s xml:id="echoid-s11182" xml:space="preserve">In dieſer für die Fortentwickelung <lb/>unſerer Kenntniſſe der Feuermeteore epochemachenden Abhand-<lb/>lung ſtellte er nicht nur den Satz auf, daß Steinfälle ſich in <lb/>der. </s>
  <s xml:id="echoid-s11183" xml:space="preserve">That ſchon öfter ereignet haben, ſondern weiſt auch nach, <lb/>daß die auf die Erde herabgefallenen Maſſen nur kosmiſch ſein <lb/>könnten, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s11184" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s11185" xml:space="preserve">Ankömmlinge aus dem Weltraume, welche vorher <lb/>der Erde und deren Atmoſphäre fremd waren. </s>
  <s xml:id="echoid-s11186" xml:space="preserve">Den letzteren <lb/>Satz erweiterte er in ſeinen ſpäteren Schriften noch dahin, daß <lb/>dieſe Maſſen Haufen von Urmaterie geweſen ſein dürften, die <lb/>vor ihrer Ankunft noch keinem größeren Weltkörper zugehört <lb/>hatten und von kometenartiger Beſchaffenheit zu ſein ſcheinen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11187" xml:space="preserve">Als nun noch im Jahre 1794 am 16. </s>
  <s xml:id="echoid-s11188" xml:space="preserve">Juni ein Steinfall zu <lb/>Siena, im folgenden Jahre einer am 13. </s>
  <s xml:id="echoid-s11189" xml:space="preserve">Dezember bei Wold-<lb/>cottage (Yorkjhire) ſich ereignete, traten die Deutſchen und <lb/>Engländer ſchnell nacheinander auf die Seite von Chladni. </s>
  <s xml:id="echoid-s11190" xml:space="preserve"><lb/>In Frankreich und der Schweiz hingegen dauerte der Unglaube <lb/>noch lange fort, bis der Bericht von <emph style="sp">Biot</emph> über den Steinfall <lb/>zu l’Aigle (26. </s>
  <s xml:id="echoid-s11191" xml:space="preserve">April 1803) allgemeiner bekannt wurde, zu deſſen <lb/>Unterſuchung er von der Akademie zu Paris, allerdings erſt <lb/>nach zweimonatlichem Zögern, an den Ort ſelbſt geſchickt wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s11192" xml:space="preserve"><lb/>Der beſtunterſuchte Steinfall aus älterer Zeit iſt aber jener, <lb/>welcher ſich einige Jahre ſpäter (1808 den 22. </s>
  <s xml:id="echoid-s11193" xml:space="preserve">Mai) bei Stan-<lb/>nern in Mähren ereignete, weil gleich auf die erſte Kunde <lb/>dieſes Vorfalles der damalige Vorſteher des k. </s>
  <s xml:id="echoid-s11194" xml:space="preserve">k. </s>
  <s xml:id="echoid-s11195" xml:space="preserve">Mineralien-<lb/>kabinetts v. </s>
  <s xml:id="echoid-s11196" xml:space="preserve">Schreibers mit ſeinem Freunde v. </s>
  <s xml:id="echoid-s11197" xml:space="preserve">Widmannſtätten <lb/>dorthin geſendet wurden, den Thatbeſtand zu ermitteln und alle <lb/>Umſtände des Phänomens aufs ſorgſamſte zu erforſchen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11198" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="204" file="0828" n="828"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div292" type="section" level="1" n="240">
<head xml:id="echoid-head266" xml:space="preserve"><emph style="bf">XLVI. Höhe und Maſſe der Meteore.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11199" xml:space="preserve">Die erſten Höhenbeſtimmungen von Feuermeteoren rühren <lb/>zwar ſchon von <emph style="sp">Montanari</emph> und dem bekannten Paſtor <emph style="sp">Dörffel</emph> <lb/>her. </s>
  <s xml:id="echoid-s11200" xml:space="preserve">Der erſtere fand für die Anfangshöhe einer in Bologna <lb/>am 31. </s>
  <s xml:id="echoid-s11201" xml:space="preserve">März 1676 geſehenen Feuerkugel 40 italieniſche Meilen <lb/>und ſchloß aus dieſer großen Höhe auf ihren kosmiſchen Ur-<lb/>ſprung. </s>
  <s xml:id="echoid-s11202" xml:space="preserve">Der letztere berechnete die Höhe der Feuerkugel, welche <lb/>am 12. </s>
  <s xml:id="echoid-s11203" xml:space="preserve">Auguſt 1683 (alt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11204" xml:space="preserve">St.) </s>
  <s xml:id="echoid-s11205" xml:space="preserve">über Deutſchland hinwegzog, <lb/>zu 39 Meilen, läßt ſich aber auf keine Hypotheſe über den <lb/>Urſprung des Meteores ein, ſondern ſchreibt nur: </s>
  <s xml:id="echoid-s11206" xml:space="preserve">“Ob und <lb/>wie es nun mit Generation eines ſolchen angezündeten Körpers <lb/>in einer Höhe von etlich und 30 bis 40 Meilen über der Erde, <lb/>weit über der ordentlichen Lufft-Revier, natürlich zugehe, über-<lb/>laſſe ich den Herren Physicis.</s>
  <s xml:id="echoid-s11207" xml:space="preserve">” Doch beachtete man dieſe und <lb/>einige ſpätere vereinzelte Höhenbeſtimmungen von Meteoren <lb/>nicht weiter, und man konnte, ehe Brandes und Benzenberg <lb/>während ihrer Studienjahre in Göttingen den Verſuch machten, <lb/>die Höhe des Aufleuchtens und Verſchwindens der Sternſchnuppen <lb/>ſyſtematiſch zu meſſen, über die durchſchnittliche Höhe dieſer <lb/>Gebilde weiter nichts ſagen, als daß ſie ſehr bedeutend ſein <lb/>müſſe, weil die Sternſchnuppen Beobachtern auf hohen Bergen, <lb/>namentlich Sauſſure auf dem Mont Blanc und Humboldt auf <lb/>dem Chimborazo noch ebenſo ferne ſchienen wie im Thale. </s>
  <s xml:id="echoid-s11208" xml:space="preserve">Um <lb/>nun die Entfernung zu beſtimmen, ſtellten ſich 1798 <emph style="sp">Brandes</emph> und <lb/><emph style="sp">Benzenberg</emph> zunächſt an zwei, etwa 8 Kilometer von einander <lb/>entfernten Orten auf und notierten an beiden Standpunkten die <lb/>geſehenen Sternſchnuppen mit Angabe der Zeit, wann, und des <lb/>Ortes am Himmel, wo ſie erſchienen und verſchwunden waren, <lb/>ferner ihrer Größe und anderer Eigentümlichkeiten. </s>
  <s xml:id="echoid-s11209" xml:space="preserve">Beim <lb/>nächſten Zuſammentreffen verglichen ſie dann die Zeiten, in <lb/>denen jeder von ihnen Sternſchnuppen geſehen, und ſuchten
<pb o="205" file="0829" n="829"/>
daraus jene Beobachtungen zuſammen, welche durch ihre Gleich-<lb/>zeitigkeit und die Ähnlichkeit der anderen notierten Umſtände <lb/>als ein und demſelben Meteore angehörend ſich auswieſen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11210" xml:space="preserve">Sodann gab die Verſchiedenheit des Ortes am Himmel, an <lb/>dem die Sternſchnuppe von beiden Orten aus geſehen worden <lb/>war, die Parallaxe und ſomit die Entfernung.</s>
  <s xml:id="echoid-s11211" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11212" xml:space="preserve">Brandes und Benzenberg hatten eine ſo kurze Standlinie <lb/>gewählt, weil ſie die Sternſchnuppen für eine Art Wetterleuchten <lb/>hielten, das in einer Entfernung von etwa 10 bis 15 Kilometer <lb/>vom Erdboden vor ſich gehe. </s>
  <s xml:id="echoid-s11213" xml:space="preserve">Indes belehrten ſie gleich die <lb/>erſten Beobachtungen, daß dieſe Anſicht eine Täuſchung geweſen <lb/>ſei, indem die Sternſchnuppen meiſt in Höhen von mehr als <lb/>70 Kilometer, ja ſogar in ſolchen von mehr als 150 Kilometer <lb/>erſchienen und verſchwanden. </s>
  <s xml:id="echoid-s11214" xml:space="preserve">Zur ſicheren Ermittelung von ſo <lb/>großen Höhen war jedoch die gewählte Standlinie zu kurz, da <lb/>gerade bei dieſer Art von Beobachtungen die unvermeidlichen <lb/>Beobachtungsfehler ſehr bedeutend ſind und daher bei kleinen <lb/>Parallaxen ſo ſchädlich auf das Reſultat einwirken, daß ſie ihm <lb/>alles Vertrauen rauben. </s>
  <s xml:id="echoid-s11215" xml:space="preserve">Sie gingen daher bei ihren ferneren <lb/>Beobachtungen auf immer längere Standlinien über und fanden <lb/>jetzt nicht nur die enorme Höhe des Aufleuchtens und Ver-<lb/>ſchwindens der Meteore beſtätigt, ſondern folgerten überdies <lb/>aus ihren Beobachtungen, daß es auch ziemlich viele Stern-<lb/>ſchnuppen gebe, welche ſich von der Erdoberfläche entfernen<anchor type="note" xlink:href="" symbol="*)"/>.</s>
  <s xml:id="echoid-s11216" xml:space="preserve">
Das letztere Reſultat iſt aber geradezu unerklärlich, wenn man <lb/>annimmt, daß die Sternſchnuppen von außen in die Atmoſphäre <lb/>eindringen, zu welcher Annahme man unter anderem durch das <lb/>Vorkommen periodiſcher Meteorſtröme gedrängt wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s11217" xml:space="preserve">So <lb/>
<anchor type="note" xlink:label="note-0829-01a" xlink:href="note-0829-01"/>
<pb o="206" file="0830" n="830"/>
ſtanden die Sachen, als <emph style="sp">Beſſel</emph> im Jahre 1839 den Gegen-<lb/>ſtand in die Hand nahm und durch Anwendung ſchärferer <lb/>Berechnungsmethoden und genauere Unterſuchung des Ein-<lb/>fluſſes der Beobachtungsfehler auf das Reſultat nachwies, <lb/>daß allerdings die großen Entfernungen, in welche Brandes <lb/>und Benzenberg das Erſcheinen der Meteore verſetzten, un-<lb/>beſtreitbar, daß ihre Beobachtungen jedoch nicht genau genug <lb/>ſeien, um das Vorkommen aufſteigender Meteore über jeden <lb/>Zweifel zu erheben. </s>
  <s xml:id="echoid-s11218" xml:space="preserve">Damit war allerdings ſchon viel ge-<lb/>wonnen, allein der Nachweis noch nicht erbracht, daß es <lb/>keine aufſteigende Sternſchnuppen gebe. </s>
  <s xml:id="echoid-s11219" xml:space="preserve">Denn auch nach <lb/>Beſſels Vorſchriften berechnet, kamen in jeder größeren Beob-<lb/>achtungsreihe vielfach aufſteigende Bahnen vor, bei denen frei-<lb/>lich das Aufſteigen in der Regel ſo mäßig war, daß man es <lb/>durch Annahme zuläſſiger Beobachtungsfehler in ein Fallen <lb/>verwandeln konnte; </s>
  <s xml:id="echoid-s11220" xml:space="preserve">es fehlte indes noch der Nachweis, daß <lb/>überall derartige Beobachtungsfehler auch wirklich begangen <lb/>worden ſeien. </s>
  <s xml:id="echoid-s11221" xml:space="preserve">Dieſe Ergänzung lieferte erſt im Jahre 1868 <lb/><emph style="sp">Weiß</emph>, indem er zeigte, daß bei allen bisher als aufſteigend <lb/>gefundenen Bahnen in der That gröbere Verſehen vorgefallen <lb/>waren, und im folgenden Jahre an einer größeren Zahl von <lb/>ihm veranlaßter korreſpondierender Beobachtungen beſtätigt <lb/>fand, daß man nie zu aufſteigenden Bahnen geführt wird, <lb/>wenn man bloß verläßliche Beobachtungen zu Grunde legt <lb/>und dieſelben nach der von ihm angegebenen Methode berechnet.</s>
  <s xml:id="echoid-s11222" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div292" type="float" level="2" n="1">
<note symbol="*)" position="foot" xlink:label="note-0829-01" xlink:href="note-0829-01a" xml:space="preserve">Damit iſt natürlich ein wirkliches, nicht bloß optiſches Auſſteigen <lb/>gemeint, welches letztere auch bei herabfallenden Sternſchnuppen eintreten <lb/>kann und auch häufig genug eintritt, wenn ſie dem Beobachter ſich nähern, <lb/>wobei ſie ſcheinbar ſogar bis zu ſeinem Zenithe auſſteigen können.</note>
</div>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11223" xml:space="preserve">Aus einer von H. </s>
  <s xml:id="echoid-s11224" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s11225" xml:space="preserve"><emph style="sp">Newton</emph> ausgeführten Zuſammen-<lb/>ſtellung aller verläßlichen Höhenbeſtimmungen von Stern-<lb/>ſchnuppen aus den Jahren 1798—1863 (etwa 260 an der Zahl) <lb/>folgt für die Höhe des Aufleuchtens der Meteore im Mittel 118 <lb/>und für die Höhe des Erlöſchens 82 Kilometer. </s>
  <s xml:id="echoid-s11226" xml:space="preserve">Doch ſind dieſe <lb/>Zahlen ſelbſtverſtändlich ſehr großen Schwankungen unterworfen, <lb/>weil hierbei außer der Größe und Geſtalt der Meteore auch <lb/>ihre chemiſche Beſchaffenheit, ferner die Geſchwindigkeit und
<pb o="207" file="0831" n="831"/>
Richtung ihres Eindringens in die Atmoſphäre u. </s>
  <s xml:id="echoid-s11227" xml:space="preserve">ſ. </s>
  <s xml:id="echoid-s11228" xml:space="preserve">w. </s>
  <s xml:id="echoid-s11229" xml:space="preserve">eine <lb/>bedeutende Rolle ſpielen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11230" xml:space="preserve">Man gelangt aber zu minder von <lb/>einander abweichenden Reſultaten, wenn man die berechneten <lb/>Höhen nach Meteorſchauern ſondert, in denen alle Meteore die-<lb/>ſelbe Geſchwindigkeit und wohl auch eine ähnliche chemiſche <lb/>Konſtitution haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s11231" xml:space="preserve">Dies hat Weiß für die Meteore des <lb/>Laurentiusſtromes<anchor type="note" xlink:href="" symbol="*)"/> gethan und dabei gefunden, daß für dieſe
die mittlere Höhe des Erſcheinens und Verſchwindens in <lb/>117 und 87 Kilometer liegt und keine Sternſchnuppe dieſes <lb/>Stromes in einer größeren Höhe als 180 Kilometer aufleuchtet, <lb/>während H. </s>
  <s xml:id="echoid-s11232" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s11233" xml:space="preserve"><emph style="sp">Newton</emph> aus zahlreichen amerikaniſchen Beob-<lb/>achtungen vom Jahre 1863 für die periodiſchen Meteore des <lb/>13. </s>
  <s xml:id="echoid-s11234" xml:space="preserve">November die Höhe des Aufflammens und Verlöſchens <lb/>zu 155 und 98 Kilometer beſtimmte.</s>
  <s xml:id="echoid-s11235" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11236" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s11237" xml:space="preserve"><emph style="sp">Herſchel</emph> hat auch den Verſuch gemacht, die Maſſe der <lb/>Sternſchnuppen aus dem Lichte zu ermitteln, das ſie entwickeln, <lb/>und zwar auf folgende ſinnreiche Weiſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s11238" xml:space="preserve">Kennt man von einer <lb/>Sternſchnuppe die Entfernung und den ſcheinbaren Glanz, ſo <lb/>kann man die Intenſität ihres Lichtes mit der einer gewiſſen <lb/>Quantität von leuchtendem Gas numeriſch vergleichen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11239" xml:space="preserve">Nimmt <lb/>man nun ferner an, daß bei Gas wie bei Sternſchnuppen das <lb/>entwickelte Licht ſich wie die Menge der erzeugten Wärme ver-<lb/>hält, ſo kann man leicht die durch Verbrennung des Meteors <lb/>hervorgebrachte Wärme berechnen, deren mechaniſches Äquiva-<lb/>lent die in der Sternſchnuppe verbrauchte lebendige Kraft <lb/>darſtellt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11240" xml:space="preserve">Iſt nun noch die Geſchwindigkeit des Meteors be-<lb/>kannt, ſo wird man daraus auf deſſen Maſſe ſchließen können.</s>
  <s xml:id="echoid-s11241" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11242" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s11243" xml:space="preserve">Herſchel hat dieſe Rechnung für einige Sternſchnuppen <lb/>ausgeführt, die gleichzeitig an verſchiedenen Punkten Englands <lb/>
<anchor type="note" xlink:label="note-0831-01a" xlink:href="note-0831-01"/>
<pb o="208" file="0832" n="832"/>
in den Nächten vom 9. </s>
  <s xml:id="echoid-s11244" xml:space="preserve">und 10. </s>
  <s xml:id="echoid-s11245" xml:space="preserve">Auguſt 1863 beobachtet wur-<lb/>den. </s>
  <s xml:id="echoid-s11246" xml:space="preserve">Die Reſultate waren die folgenden:</s>
  <s xml:id="echoid-s11247" xml:space="preserve"/>
</p>
<div xml:id="echoid-div293" type="float" level="2" n="2">
<note symbol="*)" position="foot" xlink:label="note-0831-01" xlink:href="note-0831-01a" xml:space="preserve">Unter “Laurentiusſtrom” verſteht man den großen Sternſchnuppen-<lb/>ſchwarm, welchen die Erde alljährlich am 10. Auguſt, dem Tage des heiligen <lb/>Laurentius, durchſchneidet.</note>
</div>
<note position="right" xml:space="preserve"> <lb/>Glanz wie # Zahl der \\ beob. Met. ## Mittleres \\ Gewicht <lb/>Venus . . . . . . . # 2 # 1953 # Gramm <lb/>Jupiter . . . . . . . # 2 # 2996 # " <lb/>Sirius . . . . . . . # 7 # 358 # " <lb/>Wega . . . . . . . # 1 # 29 # " <lb/>Atair . . . . . . . # 3 # 10 # " <lb/>Marfik (a Perſeus) . . . # 4 # 6 # " <lb/>Cor Caroli (a Jagdhunde) # 1 # 6 # " <lb/></note>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11248" xml:space="preserve">Da der größte Teil der Sternſchnuppen unter dem Glanze <lb/>der hier angeführten größeren Geſtirne ſteht, wird das Gewicht <lb/>der kleinen Meteore nur Bruchteile von Grammen betragen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11249" xml:space="preserve">In der That fand A. </s>
  <s xml:id="echoid-s11250" xml:space="preserve">Herſchel bei 5 Meteoren des 12. </s>
  <s xml:id="echoid-s11251" xml:space="preserve">November <lb/>1865 das mittlere Gewicht nur 0,36 Gramm.</s>
  <s xml:id="echoid-s11252" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div295" type="section" level="1" n="241">
<head xml:id="echoid-head267" xml:space="preserve"><emph style="bf">XLVII. Was wir heimbringen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11253" xml:space="preserve">Wir haben heitern Sinnes den Ausflug in das Weltall <lb/>begonnen; </s>
  <s xml:id="echoid-s11254" xml:space="preserve">aber der ernſte Inhalt deſſen, was wir auf dieſer <lb/>Reiſe in uns aufgenommen, hat uns unwillkürlich zum Ernſte <lb/>geſtimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11255" xml:space="preserve">Sollen wir jetzt, wo wir den Ausflug beenden, <lb/>unſerm Gefühl Folge leiſten, ſo müſſen wir geſtehen, daß wir <lb/>in ſehr gemiſchter Stimmung von dieſem Thema ſcheiden.</s>
  <s xml:id="echoid-s11256" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11257" xml:space="preserve">Soll es uns heiter und leicht über all die ſchweren Gedanken <lb/>und Rätſel emporheben, daß der Menſch durch die Wiſſenſchaft <lb/>vermocht hat, bis in ſo ungeahn<unsure/>te Fernen hinein den forſchenden <lb/>Blick zu richten? </s>
  <s xml:id="echoid-s11258" xml:space="preserve">oder ſollen wir uns von dem Gedanken <lb/>niederdrücken laſſen, daß der Menſch ſo geringfügig, die Zeit
<pb o="209" file="0833" n="833"/>
ſeines Daſeins ſo winzig, und all ſeine Werke ſo vergänglich <lb/>ſind gegenüber den Größen, gegenüber den Fernen, gegenüber <lb/>den Ewigkeiten, gegenüber den Unvergänglichkeiten, die ihm <lb/>aus dem Himmelsraum entgegenleuchten? </s>
  <s xml:id="echoid-s11259" xml:space="preserve">— Wer vermag das <lb/>Richtige hier zu treffen!? </s>
  <s xml:id="echoid-s11260" xml:space="preserve">Bald erhebt uns das ſtolze Bewußt-<lb/>ſein, daß wir den wiſſenden und ſchauenden Weſen der Erde <lb/>angehören, die den Himmeln ihre Geheimniſſe abgelauſcht <lb/>haben; </s>
  <s xml:id="echoid-s11261" xml:space="preserve">bald wieder erwacht der Wiſſensdurſt in uns, der un-<lb/>befriedigt mit allem Geſundenen und Erforſchten uns zuruft, <lb/>daß wir erſt an der unterſten Stufe der Naturerkenntnis ſtehen, <lb/>und Geſchlechter auf Geſchlechter zu Jahrtauſenden noch dahin <lb/>gehen werden, ehe ſich eines wird rühmen dürfen, den Schleier <lb/>der Ewigkeit gelüftet zu haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s11262" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11263" xml:space="preserve">In ſolch gemiſchten Gefühlen bleibt uns nichts anderes <lb/>übrig, als mit heiterm Ernſt von den Wundern des Weltalls <lb/>zu ſcheiden, mit jenem heitern Ernſt, der fern bleibt vom hoch-<lb/>mütigen Stolz, wie von niederdrückender Demut, und der <lb/>uns tröſtet und beſänftigt durch den Zuruf, daß wir die Auf-<lb/>gabe unſeres Daſeins erfüllen in der ernſten Pflege des Geiſtes, <lb/>und, wenn wir dies Tagewerk vollbracht, heiter von dem Werk <lb/>und dem Daſein ſcheiden dürfen im Bewußtſein, für die kommen-<lb/>den und weiter forſchenden Geſchlechter nach uns gelebt zu haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s11264" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11265" xml:space="preserve">Und dieſen Zuruf wollen wir als Ausbeute heimbringen <lb/>von der Reiſe ins ferne Weltall; </s>
  <s xml:id="echoid-s11266" xml:space="preserve">denn das Sonnenſyſtem, <lb/>das wir eigentlich bis an die Grenzen des gegenwärtigen <lb/>Wiſſens durchſtreift haben, es lehrt uns in ſeiner ungeheuren <lb/>Größe ebenfalls dieſe ernſte Beſcheidenheit, wenn wir es mit <lb/>dem Weltall ſelbſt vergleichen, aus welchem die Fixſterne ihr <lb/>Licht zu uns ſenden.</s>
  <s xml:id="echoid-s11267" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11268" xml:space="preserve">Wir haben geſehen, wie winzig ein Menſch iſt gegen eine <lb/>einzige Kubik-Meile. </s>
  <s xml:id="echoid-s11269" xml:space="preserve">Wir haben geſehen, wie winzig eine <lb/>Kubik-Meile iſt gegen den einen Planeten, die Erde. </s>
  <s xml:id="echoid-s11270" xml:space="preserve">Wir <lb/>haben geſehen, wie winzig die Erde iſt gegen die Sonnenkugel.</s>
  <s xml:id="echoid-s11271" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11272" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s11273" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s11274" xml:space="preserve">Volksbücher XVI.</s>
  <s xml:id="echoid-s11275" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="210" file="0834" n="834"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11276" xml:space="preserve">Wir haben geſehen, wie die Sonnenkugel zu einem leuchtenden <lb/>Pünktchen verſchwindet, wenn man ſich in die Ferne verſetzt, <lb/>bis wohin der Komet vom Jahre 1680 ſich verliert. </s>
  <s xml:id="echoid-s11277" xml:space="preserve">Wir <lb/>haben geſehen, wie wiederum dieſe ungeheure Bahn verſchwindet <lb/>im Vergleich mit dem ganzen Gebiet, in welchem die Sonnen-<lb/>Anziehung nach allen Seiten hin herrſcht.</s>
  <s xml:id="echoid-s11278" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11279" xml:space="preserve">Wenn wir aber nun deshalb kleinmütig werden ſollen <lb/>gegenüber der Größe des ganzen Sonnenſyſtems, ſo lehrt uns <lb/>ein Blick in die Welt der Fixſterne, daß auch dieſe Größe <lb/>nichtig und verſchwindend iſt und zu einem Punkt zuſammen-<lb/>ſchrumpft, wenn ſich der Geiſt auch nur erhebt zum nächſten <lb/>Fixſtern, zum nächſten Nachbar unſerer Sonne.</s>
  <s xml:id="echoid-s11280" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11281" xml:space="preserve">Und deshalb wollen wir ſcheidend nicht zurück, ſondern <lb/>vorwärts blicken, und mit heiterm Ernſt auf jene erhabene Er-<lb/>weiterung der Wiſſenſchaft hinweiſen, die erſt in der aller-<lb/>neueſten Zeit begonnen hat, auf die Erweiterung der Aſtronomie, <lb/>die in den letzten Jahrzehnten über das Gebiet des Sonnen-<lb/>ſyſtems hinausgeſchritten und den Forſcherblick auf das Gebiet <lb/>der Fixſterne gerichtet hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s11282" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11283" xml:space="preserve">Wir kehren ſpäter zu dieſem allerneueſten Zweig der Aſtro-<lb/>nomie zurück; </s>
  <s xml:id="echoid-s11284" xml:space="preserve">für jetzt wollen wir nur Einiges von den Re-<lb/>ſultaten dieſer Wiſſenſchaft vorführen, damit wir ſo recht inne <lb/>werden, wie das ganze Sonnenſyſtem im Weltall nur einem <lb/>Sonnenſtäubchen, neben den Erdball gehalten, gleicht.</s>
  <s xml:id="echoid-s11285" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11286" xml:space="preserve">Der unſterbliche <emph style="sp">Beſſel</emph> war es, der ſich die Aufgabe ſtellte, <lb/>unter den Millionen und Millionen von Fixſternen denjenigen <lb/>aufzuſuchen, der aller Wahrſcheinlichkeit nach der nächſte der <lb/>Sonne iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11287" xml:space="preserve">Er fand, daß dies nicht einer der hell leuchtenden <lb/>Sterne erſter Größe iſt, die am nächtlichen Himmel leuchten, <lb/>ſondern ein kleiner, unſcheinbarer Stern im Sternbild des <lb/>Schwans, deſſen beſcheidener nächſter Nachbarſchaft wir uns <lb/>rühmen dürfen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11288" xml:space="preserve">— Und wie weit entfernt iſt dieſer nächſte <lb/>Nachbar? </s>
  <s xml:id="echoid-s11289" xml:space="preserve">Er iſt ſo weit entfernt, daß das Licht, welches
<pb o="211" file="0835" n="835"/>
40 000 Meilen in jeder Sekunde dahinfliegt, volle neun Jahre <lb/>und drei Monate braucht, um von der Sonne bis zu ihm zu <lb/>gelangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11290" xml:space="preserve">— Wollte man eine Kanonenkugel nach dem Stern <lb/>hin abſchießen, die in jeder Sekunde eine Meile fliegt, ſo <lb/>würde die Kugel über 360 000 Jahre fliegen müſſen, um hin-<lb/>zugelangen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11291" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11292" xml:space="preserve">Spätere Meſſungen der Aſtronomen <emph style="sp">Henderſon</emph> und <lb/><emph style="sp">Maclear</emph> am Kap der guten Hoffnung ergaben, daß ein anderer <lb/>in Europa unſichtbarer Fixſtern erſter Größe im Sternbild des <lb/>Centauren dem Sonnen-Syſtem noch näher ſtehe. </s>
  <s xml:id="echoid-s11293" xml:space="preserve">Er iſt ſo <lb/>weit entfernt, daß ſein Licht “ſchon” in drei Jahren und ſechs <lb/>Monaten zu uns kommt, iſt demnach faſt nur ein Drittel ſo <lb/>weit als der von Beſſel berechnete Stern im Schwan.</s>
  <s xml:id="echoid-s11294" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11295" xml:space="preserve">Von dem ſchönen Stern Wega im Sternbild der Leyer <lb/>haben wir ſchon einmal geſprochen; </s>
  <s xml:id="echoid-s11296" xml:space="preserve">auch ſeine Entfernung iſt <lb/>gemeſſen; </s>
  <s xml:id="echoid-s11297" xml:space="preserve">der Aſtronom Struve fand ſie derart, daß das Licht <lb/>fünfzehn Jahre und acht Monate braucht, um zu uns zu ge-<lb/>langen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11298" xml:space="preserve">Der Aſtronom Rümker in Hamburg hat einen andern <lb/>glänzenden Stern, Arctur im Sternbild des Bootes, unterſucht <lb/>und deſſen Entfernung auf fünfundzwanzig Jahre ſieben <lb/>Monate Lichtzeit geſchätzt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11299" xml:space="preserve">Endlich hat <emph style="sp">Peters</emph> in Pulkowa <lb/>den Polarſtern gemeſſen und deſſen Entfernung ſo gefunden, <lb/>daß das Licht dreißig Jahre und acht Monate Zeit braucht, <lb/>um zu uns zu gelangen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11300" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11301" xml:space="preserve">Tiefer noch hinaus in den Weltraum dringen die For-<lb/>ſchungen Argelanders und Mädlers über die großen Sternen-<lb/>Ringe, die als die Milchſtraße am Himmelsdom bekannt ſind. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11302" xml:space="preserve">Nach einer höchſt geiſtvollen Abhandlung <emph style="sp">Mädlers</emph> iſt die <lb/>Milchſtraße ſo groß, daß das Licht von einem Ende zum andern <lb/>erſt in 7768 Jahren dringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11303" xml:space="preserve">Die Sonne, die auch ein Stern <lb/>iſt, der zur Milchſtraße gehört, ſteht nicht in der Mitte des <lb/>Syſtems, ſondern etwas ſeitwärts, und zwar ſo, daß das Licht <lb/>der einen nähern Seite in 3371, das Licht der entfernteren
<pb o="212" file="0836" n="836"/>
Seite erſt in 4408 Jahren zu uns dringt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11304" xml:space="preserve">Wundervoller noch <lb/>ſind die Entdeckungen im Gebiete der Doppelſterne, d. </s>
  <s xml:id="echoid-s11305" xml:space="preserve">h. </s>
  <s xml:id="echoid-s11306" xml:space="preserve">ſolcher, <lb/>welche mit bloßem Auge wie ein einziger Stern ausſehen, die <lb/>aber mit Fernröhren unterſucht ſich als zwei Sterne zeigen, <lb/>die um einander kreiſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11307" xml:space="preserve">— Über all’ dies aber gehen die <lb/>wundervollen Unterſuchungen engliſcher Aſtronomen über die <lb/>Nebelflecke, von denen ſich ſehr viele als einzelne Gruppen von <lb/>Fixſternen erweiſen, die Millionen und millionenfach bei ein-<lb/>ander zu ſtehen ſcheinen und ſo entfernt ſind, daß ſie alle bei-<lb/>ſammen nur als ein helles, ſchimmerndes Fleckchen am dunkeln <lb/>Himmel erſcheinen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11308" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11309" xml:space="preserve">Und wenn im jetzigen Augenblick, wo wir von ſolchen <lb/>Fernen ſprechen, ein vernunftbegabtes Weſen auf einem jener <lb/>Sterne oder deſſen uns ganz unſichtbaren Planeten das Auge <lb/>hierher richtet, ſo ſieht es die ganze, ungeheure Milchſtraße <lb/>auch nur als einen ſehr kleinen Nebelflecken; </s>
  <s xml:id="echoid-s11310" xml:space="preserve">in dieſem kleinen <lb/>Nebelflecken iſt ein ſicherlich nicht mehr ſichtbares, winziges <lb/>Pünktchen unſere Sonne, die einer der <emph style="sp">kleinſten</emph> unter den <lb/>Fixſternen, unter zahlloſen anderen Sonnenkörpern iſt, und <lb/>wenn jenes Weſen dort geiſtbegabt iſt, ſinnt es vielleicht darüber <lb/>nach, ob nicht auch hier Weſen ſind, die fühlen und ſinnen; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11311" xml:space="preserve">und in Wiſſensdrang und Forſcher-Sehnſucht kommt ein Gruß <lb/>herüber aus der weiten, weiten Ferne, und begegnet dem <lb/>Gedankengruß, den auch wir aus ahnungsvollem Herzen hin-<lb/>über ſenden!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11312" xml:space="preserve">Soll uns dies ſtolz, ſoll uns dies demütig machen? </s>
  <s xml:id="echoid-s11313" xml:space="preserve">Soll <lb/>dies Schwermut, ſoll es in uns Hochmut wecken? </s>
  <s xml:id="echoid-s11314" xml:space="preserve">— Wahrlich <lb/>nicht! Aber einen heiter ernſten Sinn darf es in uns anregen, <lb/>einen heiter ernſten Sinn für alles, was den Geiſt bereichert, <lb/>einen heiter ernſten Sinn, den — ſo wünſchen wir’s von <lb/>Herzen — auch unſere Leſer heimbringen mögen von unſerer <lb/>flüchtigen Weltreiſe!</s>
</p>
<pb file="0837" n="837"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div296" type="section" level="1" n="242">
<head xml:id="echoid-head268" xml:space="preserve"><emph style="bf">Über die Grötze der Erdbahn.</emph></head>
<head xml:id="echoid-head269" xml:space="preserve"><emph style="bf">I. Der Zollſtock der Aſtronomie.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11315" xml:space="preserve">Im Reiche der Natur, im Reiche der ewigen Geſetzlichkeit <lb/>und der unabwendbaren Ordnung, walten nicht Wunder und <lb/>nicht Willkür; </s>
  <s xml:id="echoid-s11316" xml:space="preserve">darum ergiebt auch der Einblick in die Menſchen-<lb/>geſchichte, daß die Geiſtes-Freiheit erſt dann ganze Völker er-<lb/>leuchtet und ſie entfeſſelt aus den Schlingen des Vorurteils <lb/>und den Banden der Knechtſchaft, wenn ſie bis zur Kenntnis <lb/>der Natur und ihrer Geſetze heranreifen, und im Fortſchritt <lb/>ihres Wiſſens die Bürgſchaft für den Fortſchritt ihrer Ent-<lb/>wickelung finden.</s>
  <s xml:id="echoid-s11317" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11318" xml:space="preserve">Wenn wir uns daher der Betrachtung der Natur und <lb/>ihrer Geſetze, dem Gebiete des realen Wiſſens und den Ergeb-<lb/>niſſen ihrer fortſchreitenden Erfortſchung zuwenden, werden wir <lb/>der Aufgabe nicht abtrünnig, am Aufbau der Freiheit zu ar-<lb/>beiten. </s>
  <s xml:id="echoid-s11319" xml:space="preserve">Es herrſcht eine erhabenere Solidarität im Reiche der <lb/>Wahrheiten, als die Feinde es ahnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11320" xml:space="preserve">Es iſt die Wahrheit <lb/>eine Kette, die Glied an Glied hangend, ſtets zum ſelben Ziele <lb/>leitet. </s>
  <s xml:id="echoid-s11321" xml:space="preserve">Pflege die Liebe zu ihr nur getroſt auf unverwehrten <lb/>Gebieten, und ſie wird bald deine Leuchte ſein auf Gefilden, <lb/>wo nächtliches Dunkel herrſcht.</s>
  <s xml:id="echoid-s11322" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11323" xml:space="preserve">So folge uns denn, Du treuer Leſer, auf der Bahn des
<pb o="214" file="0838" n="838"/>
Fortſchrittes, wo keine der Errungenſchaften mehr der Umkehr <lb/>verfällt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11324" xml:space="preserve">Wohl wiſſen wir’s, wir leiten Dich fern, ſehr fern <lb/>ab von allem, was Dein Herz bewegt; </s>
  <s xml:id="echoid-s11325" xml:space="preserve">aber Du wirſt Dich <lb/>immer und ſtets zur rechten Stunde wieder finden, ſobald Du <lb/>nur unabwendbar die Liebe zur Wahrheit in Dir wach erhältſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11326" xml:space="preserve">Je unbeſiegbarer dieſe in Dir Wurzel ſchlägt, je lichter ſie Deinen <lb/>Geiſt macht, deſto inniger wird ſie Dein ſein, wo Du ihrer <lb/>anderweitig bedarfſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11327" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11328" xml:space="preserve">Wir leiten Dich weit, weit hinaus in die Ferne des Welt-<lb/>raumes, in welchem die Wiſſenſchaft der Himmelskunde dem <lb/>Menſchengeiſt eine freie Bahn geſchaffen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11329" xml:space="preserve">Wir wollen Dir von <lb/>den Fortſchritten in dieſem Bereiche des Forſchens getreulich <lb/>das Neue berichten. </s>
  <s xml:id="echoid-s11330" xml:space="preserve">Wir werden Dir von Ergebniſſen er-<lb/>zählen, welche die Löſung ſchwieriger Berechnungen von den <lb/>Wirkungen der Anziehungskraft herausgefördert. </s>
  <s xml:id="echoid-s11331" xml:space="preserve">Wir laden <lb/>Dich ein, uns auf den Flügeln des Lichtſtrahls zu begleiten, <lb/>durch welchen neue Forſcher-Verſuche weite Fernen ſicherer als <lb/>je bisher gemeſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11332" xml:space="preserve">Wir werden Dir auch von der Feinheit <lb/>der Beobachtungen erzählen, welche durch eine eigentümliche <lb/>Planeten-Konſtellation im Sommer des Jahres 1862 be-<lb/>günſtigt, zu zuverläſſigeren Ergebniſſen als zeither geführt <lb/>haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s11333" xml:space="preserve">Du wirſt, wenn Du uns getreulich folgſt, Erbauung <lb/>und Erholung empfinden in der Wahrnehmung, wie auf dem <lb/>Gebiete in der unverkümmerten Forſchung die Wahrheit zu <lb/>harmoniſchen Reſultaten führt, und wie übereinſtimmend der <lb/>geiſtige Fortſchritt hier iſt, ſelbſt wenn er, wie in unſerm Falle, <lb/>von drei ganz verſchiedenen und von einander völlig unab-<lb/>hängigen Wegen ſeinen Aufgaben entgegenſtrebt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11334" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11335" xml:space="preserve">Und ſomit zur Sache.</s>
  <s xml:id="echoid-s11336" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11337" xml:space="preserve">Der geſamten Meß-Kunſt unſerer weit in den Weltraum <lb/>hinausdrängenden Himmelskunde liegt als Hauptmaßſtab die <lb/>Entfernung der Erde von der Sonne zu Grunde. </s>
  <s xml:id="echoid-s11338" xml:space="preserve">Nur die <lb/>Entfernung des Mondes von der Erde kann direkt in ge-
<pb o="215" file="0839" n="839"/>
nügender Sicherheit mit unſeren Inſtrumenten gemeſſen <lb/>werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s11339" xml:space="preserve">Der Mond iſt der Erde noch ſo nahe, daß der <lb/>Raum auf der Erdoberfläche beträchtlich genug iſt, um zwei <lb/>Orte auszuwählen, wo man in demſelben Augenblick Fernröhre <lb/>nach dem Monde richtet, um aus den verſchiedenen Winkeln, <lb/>die die Fernröhre mit dem Horizonte des Ortes machen, die <lb/>Entfernung des Mondes zu meſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11340" xml:space="preserve">Anders verhält es ſich <lb/>indeſſen mit der Sonne. </s>
  <s xml:id="echoid-s11341" xml:space="preserve">Dieſe iſt ſchon ſo weit von der <lb/>Erde, daß der Durchmeſſer der Erdkugel dagegen verſchwindend <lb/>klein erſcheint. </s>
  <s xml:id="echoid-s11342" xml:space="preserve">Wollte man zur Zeit der Tag- und Nacht-<lb/>gleiche ein Fernrohr am Südpol der Erde und eines am <lb/>Nordpol der Erde aufſtellen, und beide im ſelben Augenblicke <lb/>zur Sonne richten, ſo würden beide Fernröhre parallel oder <lb/>ſenkrecht auf der Axe der Erde zu ſtehen ſcheinen; </s>
  <s xml:id="echoid-s11343" xml:space="preserve">der <lb/>Winkel, um welchen ſie von dieſer Lage abweichen, iſt jeden-<lb/>falls ſo klein, daß er kein ſicheres Reſultat der Meſſung mehr <lb/>zuläßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11344" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11345" xml:space="preserve">Gleichwohl iſt die Entfernung der Erde von der Sonne <lb/>gewiſſermaßen der Zollſtock, durch den man alle anderen Ent-<lb/>fernungen im Himmelsraum beſtimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11346" xml:space="preserve">Wie man mit einem <lb/>ungenauen Zollſtock keinen Raum ſicher ausmeſſen kann, ſo <lb/>vermag man auch, wenn man die wirkliche Entfernung der <lb/>Erde von der Sonne nicht kennt, keine andere Entfernung, ſei <lb/>es die eines Planeten oder Kometen oder gar eines Fixſternes, <lb/>abſolut anzugeben.</s>
  <s xml:id="echoid-s11347" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11348" xml:space="preserve">Im Bereiche der Wiſſenſchaft iſt dies eine längſt bekannte <lb/>Thatſache. </s>
  <s xml:id="echoid-s11349" xml:space="preserve">Man findet daher in fachwiſſenſchaftlichen Werken <lb/>niemals eine poſitive Angabe der Meilenzahl für irgend welche <lb/>Entfernung eines Himmelskörpers aufgeſtellt, ſondern begnügt <lb/>ſich mit der Feſtſtellung einer Verhältnis-Zahl, das heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s11350" xml:space="preserve">man <lb/>giebt an, wie ſich die fragliche Entfernung zu der Entfernung <lb/>der Erde von der Sonne verhält, um wie viel ſie größer oder <lb/>kleiner als dieſe iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11351" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="216" file="0840" n="840"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11352" xml:space="preserve">Die Entfernung der Sonne von der Erde beträgt etwa <lb/>20 Millionen Meilen — — wie aber hat man das wohl <lb/>feſtgeſtellt?</s>
  <s xml:id="echoid-s11353" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div297" type="section" level="1" n="243">
<head xml:id="echoid-head270" xml:space="preserve"><emph style="bf">II. Die Venus-Durchgänge.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11354" xml:space="preserve">Der Verſuch, die Entfernung der Sonne von der Erde <lb/>zu meſſen, wurde bereits im hohen Altertum angeſtellt allein <lb/>die Griechen, die Träger und Pfleger aller exakten Wiſſen-<lb/>ſchaften, erkannten auch ſchon, daß dieſe Entfernung für ihre <lb/>wiſſenſchaftlichen Hilfsmittel unermeßlich ſei, und ſie begnügten <lb/>ſich daher mit Annahmen, die mehr auf Vermutungen als auf <lb/>ſicheren Grundlagen der Forſchungen beruhten.</s>
  <s xml:id="echoid-s11355" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11356" xml:space="preserve">Erſt mit dem Erwachen der Wiſſenſchaften in Europa <lb/>nach den finſtern Zeiten des glaubensſtarken Mittelalters kam <lb/>man auf Methoden, dieſe Frage gründlicher zu löſen, wozu <lb/>freilich ſehr viel gehörte, was den Griechen nicht zu Gebote <lb/>ſtand. </s>
  <s xml:id="echoid-s11357" xml:space="preserve">Vor allem gehört zu der Methode, von der wir nun-<lb/>mehr ſprechen wollen, die Kenntnis von der Thatſache, daß <lb/>der Planet Venus zuweilen in ſeinem Umlauf um die Sonne <lb/>ſo vor der Sonnenſcheibe vorüberwandert, daß wir die Venus-<lb/>kugel als ſchwarzen, runden Flecken den lichten Hintergrund der <lb/>Sonne durchſchreiten ſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11358" xml:space="preserve">Dieſe ſeltene, in einem Jahr-<lb/>hundert höchſtens zweimal vor ſich gehende Himmelserſcheinung, <lb/>deren Beobachtung die Grundlage der Kenntnis der Sonnen-<lb/>Entfernung iſt, war in alten Zeiten, wo man kein Fernrohr <lb/>beſaß, unbekannt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11359" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11360" xml:space="preserve">Ferner gehört zur Anwendung dieſer Methode die Kennt-<lb/>nis eines Geſetzes über das Verhältnis der Umlaufszeiten der <lb/>Planeten zu ihren Entfernungen von der Sonne, welches Geſetz
<pb o="217" file="0841" n="841"/>
erſt von Kepler im Anfang des ſiebzehnten Jahrhunderts ent-<lb/>deckt wurde.</s>
  <s xml:id="echoid-s11361" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11362" xml:space="preserve">Endlich beruht der Vorzug dieſer Methode auf dem Ge-<lb/>brauch der Uhr als genaues Zeitmaß, welche die Alten eben-<lb/>falls nicht beſaßen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11363" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11364" xml:space="preserve">Nach mehrfachen vergeblichen Bemühungen, die Entfernung <lb/>der Erde von der Sonne mit einiger wiſſenſchaftlichen Sicher-<lb/>heit feſtzuſtellen, erwarb ſich der engliſche Aſtronom <emph style="sp">Halley</emph> <lb/>den Ruhm, die Methode, welche bis auf die neueſte Zeit als <lb/>die einzig ſichere galt, erdacht und in der Forſcherwelt bekannt <lb/>gemacht zu haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s11365" xml:space="preserve">— Die Art, wie er dies that, und der Um-<lb/>ſtand, daß er die Beobachtung einer Himmelserſcheinung zur <lb/>Erforſchung der Wahrheit ſo dringend der Nachwelt anempfahl, <lb/>von der er wußte, daß er ſie nicht erleben werde, ſind ſo ſchlicht <lb/>und anſprechend, daß wir gern einige ſeiner Worte hierüber <lb/>unſern Leſern vorführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11366" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11367" xml:space="preserve">Halley war der große Aſtronom, der, wie wir ſchon oben <lb/>hörten, die Wahrheit entdeckte, daß die Kometen, die bis zu <lb/>ſeiner Zeit Gegenſtände abergläubiſcher Furcht waren, Himmels-<lb/>körper ſeien, welche in regelmäßigen und berechenbaren Bahnen <lb/>um die Sonne laufen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11368" xml:space="preserve">Halley war aber eben ſo zuverläſſig <lb/>in den Beobachtungen, wie in den Rechnungen, und gehört <lb/>überhaupt zu den hohen Geiſtern der Bildung und Aufklärung, <lb/>die in glänzender und erfolgreicher Weiſe den Geiſt der <lb/>Menſchheit von vielen Übeln des Aberglaubens und der Vor-<lb/>urteile nicht nur für ihre, ſondern auch für die folgenden <lb/>Zeiten befreiten.</s>
  <s xml:id="echoid-s11369" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11370" xml:space="preserve">Über die Methode, die Sonnen-Entfernung zu meſſen, <lb/>ſagt er nun in ſeiner Abhandlung Folgendes:</s>
  <s xml:id="echoid-s11371" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11372" xml:space="preserve">“Es giebt viel Dinge in der Welt, die auf den erſten Blick <lb/>ſonderbar, ja unglaublich erſcheinen, und die dennoch wahr und <lb/>mit Hilfe der Mathematik leicht zu beweiſen ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s11373" xml:space="preserve">Was ſollte <lb/>es wohl Schwereres geben als die Beſtimmung der Entfernung
<pb o="218" file="0842" n="842"/>
der Sonne von der Erde? </s>
  <s xml:id="echoid-s11374" xml:space="preserve">Gleichwohl iſt dieſe Beſtimmung <lb/>leicht, ſobald ihr nur die nötigen Beobachtungen vorangehen, <lb/>wie ich ſogleich zeigen werde.</s>
  <s xml:id="echoid-s11375" xml:space="preserve">”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11376" xml:space="preserve">“Vor vierzig Jahren (im Jahre 1677) war ich auf der <lb/>Inſel St. </s>
  <s xml:id="echoid-s11377" xml:space="preserve">Helena, um daſelbſt die Sterne des ſüdlichen Himmels <lb/>zu beobachten. </s>
  <s xml:id="echoid-s11378" xml:space="preserve">Zufällig ereignete ſich in dieſer Zeit ein Durch-<lb/>gang des Planeten Merkur vor der Sonnenſcheibe. </s>
  <s xml:id="echoid-s11379" xml:space="preserve">Indem ich <lb/>dieſen mit einem guten Fernrohr beobachtete, bemerkte ich bald, <lb/>daß ſich dieſe Erſcheinungen mit beſonderer Genauigkeit ver-<lb/>folgen laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11380" xml:space="preserve">Dabei fiel mir ein, daß durch ſolche Beob-<lb/>achtungen wohl die Entfernung des Merkur von der Erde <lb/>könnte gemeſſen werden und daß ſich hiernach auch die Sonnen-<lb/>Entfernung genau durch Berechnung müßte finden laſſen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11381" xml:space="preserve">Allein bei näherer Erwägung erkannte ich ſofort, daß der <lb/>Planet Merkur der Sonne zu nahe und der Erde zu fern iſt, <lb/>um auf dieſem Wege zu einem ſichern Ziele zu gelangen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11382" xml:space="preserve">”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11383" xml:space="preserve">“Aber bei Venus — fiel mir ein — iſt dies Verhältnis <lb/>viel günſtiger. </s>
  <s xml:id="echoid-s11384" xml:space="preserve">Denn dieſer Planet kommt der Erde im Mo-<lb/>ment, wo er als ſchwarzer Fleck auf der Sonnenſcheibe ſicht-<lb/>bar iſt, viel näher als Merkur. </s>
  <s xml:id="echoid-s11385" xml:space="preserve">Zwei Beobachter auf ver-<lb/>ſchiedenen Punkten der Erde würden in einem und demſelben <lb/>Augenblick dieſen Flecken auf verſchiedenen Stellen der Sonnen-<lb/>ſcheibe erblicken. </s>
  <s xml:id="echoid-s11386" xml:space="preserve">Dadurch aber würde ſich ſofort verraten, um <lb/>wie viel uns die Venus näher ſein muß als die Sonne und <lb/>bei genauer Beobachtung würde die Grundlage gegeben ſein, <lb/>dieſe Enfernungen zu berechnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11387" xml:space="preserve">”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11388" xml:space="preserve">Halley weiſt nun nach, daß es hierbei gar nicht einmal <lb/>einer Meſſung bedarf, ſondern nur ein gutes Fernrohr und <lb/>eine gute Uhr nötig ſind, um an verſchiedenen Orten der Erde <lb/>die <emph style="sp">Dauer</emph> des ganzen Durchganges der Venus durch die <lb/>Sonnenſcheibe genau zu notieren. </s>
  <s xml:id="echoid-s11389" xml:space="preserve">Dieſe Dauer wird, wie er <lb/>richtig zeigt, ſehr verſchieden ſein, je nachdem man ſich auf <lb/>einem Punkte der Erde befindet, wo man die Erſcheinung im
<pb o="219" file="0843" n="843"/>
Zenith hat, oder auf einem, wo man ſie im Horizonte ſieht. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11390" xml:space="preserve">Im erſteren Falle iſt man der Venus um einen Halbmeſſer <lb/>der Erdkugel näher, und die Dauer des Durchganges wird <lb/>etwas kürzer ſein, während man im letzteren Falle der Venus <lb/>um den Halbmeſſer der Erdkugel ferner iſt, und demnach den <lb/>Durchgang der Venus etwas langſamer ſehen wird. </s>
  <s xml:id="echoid-s11391" xml:space="preserve">Aus dem <lb/>Unterſchied dieſer Dauer aber würde ſich eben die Entfernung <lb/>von Venus ergeben, und hieraus läßt ſich nach dem Keplerſchen <lb/>Geſetz die Entfernung von der Sonne ſehr leicht finden.</s>
  <s xml:id="echoid-s11392" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11393" xml:space="preserve"><emph style="sp">Halley</emph> berechnete nun den nächſten Durchgang der Venus <lb/>und fand, daß er erſt am 26. </s>
  <s xml:id="echoid-s11394" xml:space="preserve">Mai 1761 ſtattfindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s11395" xml:space="preserve">Da er <lb/>im Jahre 1656 geboren war, wußte er ſehr wohl, daß er <lb/>dieſe Erſcheinung nicht mehr erleben werde. </s>
  <s xml:id="echoid-s11396" xml:space="preserve">Er ſchließt daher <lb/>ſeine Abhandlung hierüber mit folgenden ſchlichten Worten, die <lb/>ein ſchönes Zeugnis ſeiner Geiſtesgröße wie Seelentiefe ſind:</s>
  <s xml:id="echoid-s11397" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11398" xml:space="preserve">“Ich empfehle daher dieſe Methode auf das dringendſte <lb/>allen Aſtronomen, welche Gelegenheit haben ſollten, dieſe Er-<lb/>ſcheinung zu einer Zeit zu beobachten, wenn ich ſchon ge-<lb/>ſtorben ſein werde. </s>
  <s xml:id="echoid-s11399" xml:space="preserve">— Mögen ſie dieſes meines Rates ein-<lb/>gedenk ſein, und ſich recht fleißig mit aller ihrer Kraft auf <lb/>dieſe wichtigen Beobachtungen verlegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11400" xml:space="preserve">Ich wünſche ihnen <lb/>von Herzen, daß ſie erſtens durch ungünſtiges Wetter des er-<lb/>ſehnten Anblicks nicht beraubt werden, und dann, daß ihnen, <lb/>wenn ſie die wahre Größe der Planeten-Bahnen mit mehr <lb/>Genauigkeit beſtimmt haben, hierdurch unſterblicher Ruhm und <lb/>Ehre erſprieße!”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11401" xml:space="preserve">Dieſe weiſen Worte der Wahrheitsliebe und der Geiſtes-<lb/>größe ſind von den Überlebenden in vollem Maße beachtet <lb/>worden, wie wir dies nunmehr zeigen werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s11402" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="220" file="0844" n="844"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div298" type="section" level="1" n="244">
<head xml:id="echoid-head271" xml:space="preserve"><emph style="bf">III. Ergebniſſe der Beobachtungen der Venus-</emph> <lb/><emph style="bf">durchgänge.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11403" xml:space="preserve">Die Geſchichte der Aſtronomie iſt reich an prophetiſchen <lb/>Blicken, welche die wiſſenſchaftlichen Aufgaben der Zukunft <lb/>ſamt ihren Erfolgen lange Zeiten vorher bezeichnen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11404" xml:space="preserve">Solch <lb/>ein Blick prophetiſcher Natur war auch der Halleys: </s>
  <s xml:id="echoid-s11405" xml:space="preserve">ſein Hin-<lb/>weis auf die Arbeit derer, die ihn überleben werden, hat ſich <lb/>vollkommen beſtätigt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11406" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11407" xml:space="preserve">Neunzehn Jahre nach dem Tode des großen Mannes trat <lb/>im Jahre 1761 der Durchgang des Planeten Venus durch die <lb/>Sonnenſcheibe ein, und die Aſtronomen verabſäumten nicht, <lb/>die ihnen geſtellte Aufgabe zu erfüllen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11408" xml:space="preserve">Allein Halley ſelber <lb/>hatte ſchon darauf hingewieſen, daß acht Jahre darauf, am <lb/>3. </s>
  <s xml:id="echoid-s11409" xml:space="preserve">Juni 1769, die Erſcheinung wiederum und zwar unter <lb/>Umſtänden ſtattfände, die der Beobachtung günſtiger ſein <lb/>würden, und ſo wurde denn von den Trägern der Wiſſenſchaft <lb/>damaliger Zeit alle Aufmerkſamkeit auf dieſes Himmels-Ereignis <lb/>gerichtet, von welchem jeder wußte, daß er eine dritte noch-<lb/>malige Wiederholung nicht erleben würde.</s>
  <s xml:id="echoid-s11410" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11411" xml:space="preserve">Die Bahn, in welcher Venus um die Sonne läuft, und <lb/>das Verhältnis der Zeit dieſes Umlaufs zur Umlaufszeit der <lb/>Erde iſt nämlich ſo beſchaffen, daß die Wiederholung der be-<lb/>ſprochenen Erſcheinung zwei ſehr ungleiche Epochen hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s11412" xml:space="preserve">Wenn <lb/>Venus einmal zwiſchen Erde und Sonne ſo hindurchgegangen <lb/>iſt, daß ſie uns als ſchwarzer Flecken auf der Sonnenſcheibe <lb/>ſichtbar wird, ſo folgt dieſe Erſcheinung nochmals nach circa <lb/>acht Jahren. </s>
  <s xml:id="echoid-s11413" xml:space="preserve">Nach dieſem zweiten Durchgang vergeht aber <lb/>mehr als ein ganzes Jahrhundert, bevor dies Ereignis <lb/>wiederum eintritt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11414" xml:space="preserve">— Die letzten beiden Durchgänge, die <lb/>ſehr eifrig beobachtet wurden, fanden ſtatt am 9. </s>
  <s xml:id="echoid-s11415" xml:space="preserve">Dezember <lb/>1874 und am 6. </s>
  <s xml:id="echoid-s11416" xml:space="preserve">Dezember 1882; </s>
  <s xml:id="echoid-s11417" xml:space="preserve">den nächſten aber dürfte
<pb o="221" file="0845" n="845"/>
keiner unſrer Leſer mehr erleben, da er erſt am 8. </s>
  <s xml:id="echoid-s11418" xml:space="preserve">Juni 2004 <lb/>ſtattfindet.</s>
  <s xml:id="echoid-s11419" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11420" xml:space="preserve">Im Bewußtſein, daß der letzte Termin zur Erforſchung <lb/>der Entfernung der Sonne für das lebende Geſchlecht des <lb/>vorigen Jahrhunderts in das Jahr 1769 falle, wurden denn <lb/>auch die Vorbereitungen zur würdigen Benutzung der Gelegen-<lb/>heit in außerordentlichem Grade getroffen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11421" xml:space="preserve">Es galt, die an-<lb/>gemeſſenen Orte der Erde aufzuſuchen, wo die Erſcheinung <lb/>mit Ausſicht auf Erfolg wahrgenommen werden konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s11422" xml:space="preserve">Es <lb/>galt auch zugleich, viele Beobachter in all jenen Gegenden nach <lb/>verſchiedenen Plätzen zu beordern, damit ihre Beobachtungen <lb/>ſich gegenſeitig zu ergänzen vermochten, und um ſich zu ſichern <lb/>gegen trübe Witterung, die an einem und demſelben Orte ſämt-<lb/>liche Beobachtungen ſtören konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s11423" xml:space="preserve">Die Aſtronomen wandten <lb/>ſich daher an ſämtliche Regierungen, um deren Wetteifer zur <lb/>Erreichung eines ſichern Ergebniſſes anzuſpornen, und es <lb/>wurden Expeditionen ſyſtematiſch ausgerüſtet, um auf allen <lb/>Punkten der Erde, die für dieſen Zweck geeignet erſchienen, <lb/>die koſtbaren Stunden ausbeuten zu können.</s>
  <s xml:id="echoid-s11424" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11425" xml:space="preserve">Während Frankreich ſeine Gelehrten nach Kalifornien, nach <lb/>St. </s>
  <s xml:id="echoid-s11426" xml:space="preserve">Domingo und nach Oſtindien ausſandte, beſetzte die Akademie <lb/>der Wiſſenſchaften in London die Poſten in Nordamerika, <lb/>Madras und Otaheiti. </s>
  <s xml:id="echoid-s11427" xml:space="preserve">Die Kaiſerin Katharina von Rußland <lb/>ließ Gelehrte und aſtronomiſche Inſtrumente aus Deutſchland <lb/>und der Schweiz kommen und ſtattete und rüſtete damit wiſſen-<lb/>ſchaftliche Expeditionen in die Nordpolgegenden aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s11428" xml:space="preserve">Überdies <lb/>nahmen auch Gelehrte und Laien in allen Teilen Europas an <lb/>dem Ereignis regen Anteil und beeiferten ſich, ihre Dienſte <lb/>der Wiſſenſchaft anzubieten und darzubringen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11429" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11430" xml:space="preserve">So brachte denn der Durchgang der Venus vom Jahre <lb/>1769 ein ſehr reichhaltiges, wiſſenſchaftliches Beobachtungs-<lb/>Material zuſammen, und es galt nunmehr dies zu prufen, zu <lb/>ſichten und aus den zuverläſſigſten derſelben das Reſultat
<pb o="222" file="0846" n="846"/>
zu gewinnen; </s>
  <s xml:id="echoid-s11431" xml:space="preserve">es galt einer Arbeit, die bei weitem ſchwieriger <lb/>war als die Beobachtung ſelbſt, zu der nichts als ein ruhiges <lb/>Auge, ein gutes Fernrohr, eine richtig gehende Uhr und ein <lb/>gewiſſenhaftes, ſicheres Notieren der Erſcheinung nötig war.</s>
  <s xml:id="echoid-s11432" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11433" xml:space="preserve">Die Aſtronomen von England, Frankreich und Schweden <lb/>verabſäumten nicht, die Ergebniſſe ihrer Berechnungen bekannt <lb/>zu machen, der Ruhm jedoch, die beſte, umfangreichſte und <lb/>ſicherſte Arbeit hierüber geleiſtet zu haben, gebührte dem ehe-<lb/>maligen Direktor der Berliner Sternwarte, Encke, deren <lb/>Reſultate bis in neuere Zeit Gemeingültigkeit in allen wiſſen-<lb/>ſchaftlichen Werken gewonnen haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s11434" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11435" xml:space="preserve">Nach Durchmuſterung und Prüfung aller brauchbaren <lb/>Materialien ſowohl aus dem Venus-Durchgang des Jahres <lb/>1761 wie dem des Jahres 1769 lieferte Encke 1825 ſein <lb/>zweibändiges Werk: </s>
  <s xml:id="echoid-s11436" xml:space="preserve">“Die Entfernung der Sonne”, welche den <lb/>jungen Forſcher zu einer Autorität in ſeinem Gebiete machte <lb/>und ſeinem gefundenen Reſultat allgemeine Annahme verſchaffte. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11437" xml:space="preserve">Nach dieſem Reſultat iſt die Entfernung der Sonne ſo groß, <lb/>daß zwei Linien, die eine vom Mittelpunkt der Erde und die <lb/>andere von einem der Pole der Erde nach einem Punkt in der <lb/>Sonne hingezogen, dort einen Winkel von nur 8 {1/2} Sekunden <lb/>bilden würden, und das iſt ein ſo kleiner Winkel, daß er in <lb/>der That durch direkte Meſſung nur ſehr unſicher würde be-<lb/>ſtimmt werden können. </s>
  <s xml:id="echoid-s11438" xml:space="preserve">Dieſes Reſultat in geographiſchen Meilen <lb/>ausgedrückt, von welchen 15 auf einen Grad des Äquators <lb/>der Erde gehen, ergiebt eine Entfernung der Sonne von <lb/>20 Millionen und 680 000 Meilen, wobei noch eine Unſicher-<lb/>heit von circa 90 000 Meilen obwaltet.</s>
  <s xml:id="echoid-s11439" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11440" xml:space="preserve">So ſind denn bis jetzt die Durchgänge der Venus als <lb/>das Hauptmittel zur Beſtimmung der Sonnen-Entfernung <lb/>geltend geweſen, und ſo mußte es denn auch bei den bisher feſt-<lb/>geſtellten Reſultaten verbleiben, und es ſchien kaum möglich, <lb/>mindeſtens bis zu der Zeit, wo wiederum zwei ſolche Durch-
<pb o="223" file="0847" n="847"/>
gänge ſtattfanden (1874 und 1882), eine Korrektur dieſe@ Werte <lb/>zu erlangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11441" xml:space="preserve">— Allein die neueſte Zeit hat trotzdem bewieſen, <lb/>daß die Wiſſenſchaft, die — Heil uns! — nicht umkehrt, auch <lb/>nicht einmal ſtill ſtehen will, ſondern im Fortſchritt des <lb/>Menſchengeiſtes ſtets ſich ergänzt, auch in dieſem Punkte nach <lb/>neueren Bahnen zur richtigern Würdigung und Ergänzung <lb/>erkannter Wahrheiten ſtrebt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11442" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div299" type="section" level="1" n="245">
<head xml:id="echoid-head272" xml:space="preserve"><emph style="bf">IV. Die Störungen des Mondlaufs.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11443" xml:space="preserve">Um unſeren Leſern treuen Bericht zu erſtatten von dem <lb/>ſtets regen Fortſchritt des Geiſtes in dem Bereiche der Natur-<lb/>wiſſenſchaft, um ihnen ein erhebendes Beiſpiel ausdauernder <lb/>und konſequenter Forſchungen vorzuführen, die auf dieſem <lb/>Gebiete auch in neueſter Zeit zu Ergebniſſen geführt haben, <lb/>auf welche wir mit dem tröſtlichen Bewußtſein hinblicken dürfen, <lb/>daß Licht und Wahrheit unvertilgbar ſiegreich walten, um all <lb/>dies faßlich und in geordneter Reihenfolge darzuſtellen, müſſen <lb/>wir für einen Augenblick die fernen Himmelsräume der Planeten-<lb/>bahnen verlaſſen, um bei unſerem nächſten Nachbar, dem Monde <lb/>vorzuſprechen, deſſen ſtiller Gang am Himmelszelt ſeinen ver-<lb/>trauten Freunden, den Aſtronomen, viel mehr erzählt als all <lb/>die ahnen, welche “von Wiſſensqualm entladen, in ſeinem Licht <lb/>geſund ſich baden.</s>
  <s xml:id="echoid-s11444" xml:space="preserve">”</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11445" xml:space="preserve">Unſer Mond ſpielt im Organismus des Sonnen-Syſtems <lb/>eine Rolle wie der Puls im Organismus des menſchlichen <lb/>Körpers. </s>
  <s xml:id="echoid-s11446" xml:space="preserve">Wie der Arzt an der Verlangſamung oder Be-<lb/>ſchleunigung des Pulsſchlages die Hemmungen und Störungen <lb/>der Ordnung erkennt, denen das Herz ausgeſetzt iſt, und den <lb/>Reiz der Nerven ermißt, die als Triebkraft in demſelben
<pb o="224" file="0848" n="848"/>
wirken, ſo erkennt der Himmelskundige an jeder Verzögerung <lb/>und Beſchleunigung im Lauf des Mondes um die Erde, die <lb/>Verſchiedenheiten in der Einwirkung der Anziehungskraft, die <lb/>die Erde auf den Mond ausübt, oder richtiger die Ver-<lb/>ſchiedenheit der Nähe und der Ferne, in welcher ſich der Mond <lb/>zeitweiſe zur Erde befindet.</s>
  <s xml:id="echoid-s11447" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11448" xml:space="preserve">Nun aber giebt es viele Urſachen für die zei@weiſe Ver-<lb/>ſchiedenheit des Mondlaufs am Himmelsdome. </s>
  <s xml:id="echoid-s11449" xml:space="preserve">Zuerſt iſt die <lb/>Mondbahn ſelber nicht ein Kreis, ſondern eine Ellipſe, in deren <lb/>einem Brennpunkt die Erde ſich befindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s11450" xml:space="preserve">Der Mond kommt <lb/>alſo in ſeinem Umlauf allmonatlich auf einem Teil ſeiner <lb/>Bahn der Erde näher, als auf dem andern Teile, und in einem <lb/>durch Geſetze längſt feſtgeſtellten Maße bewegt er ſich während <lb/>ſeiner Erdnähe geſchwinder in ſeiner Bahn, als in der Erdferne. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11451" xml:space="preserve">Dieſe Ungleichheit im Mondlaufe tritt jeden Monat ein und <lb/>gleicht ſich denn auch in dem Monat aus. </s>
  <s xml:id="echoid-s11452" xml:space="preserve">Es iſt dieſe Ungleich-<lb/>heit wie der Pulsſchlag eines geſunden Menſchen, der auch gegen <lb/>Abend etwas ſchneller und gegen Morgen etwas langſamer geht, <lb/>in vierundzwanzig Stunden aber in ſeinem Durchſchu<unsure/>ittsgang <lb/>ſich ausgleicht.</s>
  <s xml:id="echoid-s11453" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11454" xml:space="preserve">Zu dieſer erſten in der Geſtalt der Mondbahn ſelbſt <lb/>liegenden und periodiſch leicht überſichtlichen Verſchiedenheit des <lb/>Mondlaufs kommen aber noch andere von außen her, welche <lb/>die Erſcheinung ſehr verwickelt machen, ſo daß es der aller-<lb/>feinſten Beobachtung und der allerſchärſſten Berechnung noch <lb/>immer nicht gelingt, den Mondlauf zu jeder Zeit mit der <lb/>Genauigkeit anzugeben, nach welcher die exakte Wiſſenſchaft hin-<lb/>ſtrebt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11455" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11456" xml:space="preserve">Dem Laien freilich iſt die Genauigkeit, mit welcher die <lb/>Himmelskunde die auffallendſten Erſcheinungen auf Jahrhunderte <lb/>vorausberechnet und verkündet, ſchon mehr, als zur Befriedigung <lb/>ſeiner Wißbegierde nötig iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11457" xml:space="preserve">Die Wiſſenſchaft aber, der es <lb/>nicht um ihren Glanz und Ruhm, ſondern um die Erforſchung
<pb o="225" file="0849" n="849"/>
der Wahrheit, die Ergründung der Naturgeſetze und die richtige <lb/>Erklärung ihrer regelmäßigen wie abweichenden Erſcheinungen <lb/>zu thun iſt, die Wiſſenſchaft ſpürt mit ganz beſonderem Eifer <lb/>jeder Grenze ihres Wiſſens nach und erblickt in jedem Rätſel, <lb/>das ſich ihr auf dieſem Wege entgegenſtellt, nur einen Sporn <lb/>zum Fortſchritt des Geiſtes, einen neuen Antrieb, der Erkennt-<lb/>nis der Wahrheit näher zu kommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11458" xml:space="preserve">— Und zu dieſen feinſten, <lb/>verwickeltſten und der direkten Löſung am meiſten widerſtehenden <lb/>Rätſeln gehört eben die Genauigkeit des Mondlaufs, von der <lb/>gar viele Laien meinen, daß ſie längſt vollkommen gelöſt ſei.</s>
  <s xml:id="echoid-s11459" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11460" xml:space="preserve">Als eine Haupturſache der Störung des Mondlaufs iſt nun <lb/>ſchon ſeit zwei Jahrhunderten die Anziehungskraft der Sonne <lb/>bekannt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11461" xml:space="preserve">In der Zeit des Neumondes, wo ſich der Mond <lb/>zwiſchen Erde und Sonne befindet, alſo der Sonne um funfzig-<lb/>tauſend Meilen näher iſt als die Erde, übt die Sonne natürlich <lb/>auf den Mond eine ſtärkere Anziehung aus als auf die Erde, <lb/>und dadurch entfernt ſich der Mond etwas von der Erde, und <lb/>die Geſchwindigkeit ſeines Umlaufs wird geringer. </s>
  <s xml:id="echoid-s11462" xml:space="preserve">Zur Zeit des <lb/>Vollmondes ſteht die Erde zwiſchen Sonne und Mond und iſt <lb/>alſo der Sonne um funfzigtauſend Meilen näher als der Mond, <lb/>da iſt denn auch die Anziehungskraft der Sonne auf die Erde <lb/>ſtärker als auf den Mond und dadurch wird wiederum die Ent-<lb/>fernung zwiſchen Mond und Erde größer und die Umlaufs-<lb/>geſchwindigkeit des Mondes kleiner. </s>
  <s xml:id="echoid-s11463" xml:space="preserve">In der Zeit der erſten <lb/>und des letzten Mondviertels dagegen ſtehen Mond und Erde <lb/>gleich weit entfernt von der Sonne und die Anziehung der <lb/>Sonne bewirkt, daß Mond und Erde ſich einander ein Weniges <lb/>nähern, wodurch wiederum eine Beſchleunigung des Mondlaufs <lb/>zu Wege kommt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11464" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11465" xml:space="preserve">Allein auch dieſe Störung des regelmäßigen Mondlaufs <lb/>durch Anziehung der Sonne wird wiederum durch zwei Um-<lb/>ſtände weſentlich geändert, die den Lauf des Mondes noch ver-<lb/>wickelter machen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11466" xml:space="preserve">Die Richtung, in welcher der Mond ſich um</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11467" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s11468" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s11469" xml:space="preserve">Volksbücher XVI.</s>
  <s xml:id="echoid-s11470" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="226" file="0850" n="850"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11471" xml:space="preserve">die Erde bewegt, geht in der Zeit eines Monats bald auf die <lb/>Sonne zu, bald von ihr fort, und es wechſeln daher Be-<lb/>ſchleunigung und Verzögerung dieſes Ganges noch außer der <lb/>oben erwähnten Störung viermal in jedem Monat ab. </s>
  <s xml:id="echoid-s11472" xml:space="preserve">Dazu <lb/>kommt aber auch noch der Umſtand, daß die Erde in ihrer <lb/>elliptiſchen Bahn in einem halben Jahre der Sonne näher <lb/>iſt als in dem andern, wodurch all die Wirkungen der Sonne <lb/>auf den Mondlauf in Zeit eines Jahres bald ſtärker, bald <lb/>ſchwächer werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s11473" xml:space="preserve">Es iſt darnach zur richtigen Beſtimmung <lb/>des Mondlaufes in jeder beliebigen Zeit eine Berechnung von <lb/>zunächſt vier verſchieden wirkenden Verhältniſſen nötig, die, <lb/>in einander wirkend und einander wieder ſtörend, eine ſehr <lb/>verwickelte Aufgabe bilden.</s>
  <s xml:id="echoid-s11474" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11475" xml:space="preserve">Mit all’ dem, was wir hier flüchtig erwähnt haben, iſt <lb/>aber keineswegs die Summe aller Störungen erſchöpft, die <lb/>der Mond in ſeinem Laufe erleidet, es treten vielmehr noch <lb/>andere viel feinere und verwickeltere Umſtände hinzu, die jede <lb/>für ſich geſondert ihre Einwirkung auf die Bewegung dieſes <lb/>Begleiters der Erde ausüben, und die mit jedem Augenblicke <lb/>wiederum in ihrer Veränderlichkeit die ganze Lage der Rechnung <lb/>ändern.</s>
  <s xml:id="echoid-s11476" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11477" xml:space="preserve">Die fleißige Beobachtung des Mondlaufs und die genaue <lb/>Feſtſtellung jeder noch ſo geringen Abweichung desſelben von <lb/>dem Reſultat der Berechnungen iſt daher die beſte Kontrolle der <lb/>Wiſſenſchaft. </s>
  <s xml:id="echoid-s11478" xml:space="preserve">Dieſe Kontrolle wurde von der Wahrheitsliebe <lb/>ihrer Jünger ſtets aufs treueſte ausgeübt, und infolge der <lb/>gewiſſenhaften Kontrolle erkannte der verdienſtvolle Aſtronom <lb/><emph style="sp">Hanſen</emph>, der ehemalige Direktor der Sternwarte Seeberg bei <lb/>Gotha, zuerſt im Jahre 1854, daß die bisher nach Enckes <lb/>Arbeiten angenommene Entfernung der Sonne von der Erde <lb/>zu groß ſei und einer beträchtlichen Verbeſſerung bedürfe.</s>
  <s xml:id="echoid-s11479" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11480" xml:space="preserve">Wie richtig die Behauptung Hanſens war und wie wunder-<lb/>bar ſich bald von den verſchiedenſten Seiten her eine Beſtätigung
<pb o="227" file="0851" n="851"/>
derſelben ergeben hat, das wollen wir in den ferneren Artikeln <lb/>unſeren Leſern darthun.</s>
  <s xml:id="echoid-s11481" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div300" type="section" level="1" n="246">
<head xml:id="echoid-head273" xml:space="preserve"><emph style="bf">V. Wie die Erde und der Moud um die Sonne</emph> <lb/><emph style="bf">wandern.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11482" xml:space="preserve">Hanſen legte ſeinen wertvollen Unterſuchungen des Mond-<lb/>laufs hauptſächlich die Beobachtungen zu Grunde, welche in <lb/>den Sternwarten zu Greenwich in England und Dorpat in <lb/>Rußland ſeit Jahrzehnten mit aller Sorgfalt wiſſenſchaft-<lb/>licher Strenge angeſtellt wurden. </s>
  <s xml:id="echoid-s11483" xml:space="preserve">Er ging hierbei von dem <lb/>theoretiſch ſichern Geſichtspunkt aus, daß alle Störungen im <lb/>Lauf des Mondes, die von der Sonne bewirkt werden, abhängig <lb/>ſind von dem Verhältnis der Entfernung der Sonne zu der <lb/>Entfernung des Mondes von der Erde. </s>
  <s xml:id="echoid-s11484" xml:space="preserve">Auch dem Laien wird <lb/>es wohl leicht begreiflich, daß, wenn die Anziehung der Sonne <lb/>eine Veränderung in dem Gang des Mondes um die Erde <lb/>bewirkt, hierbei die Nähe oder Ferne der Sonne eine Haupt-<lb/>rolle ſpielen müſſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s11485" xml:space="preserve">Als nun Hanſen die Größe dieſer Störung, <lb/>wie ſie die Beobachtungen ergeben, mit derjenigen verglich, <lb/>welche aus der Theorie folgt, kam er zu dem Reſultat, daß die <lb/>Störung in Wirklichkeit größer ſei, als ſie nach der Theorie <lb/>ſein müßte, und er zog hieraus den Schluß, daß die Sonne nicht <lb/>ſo entfernt ſein könne, als es bisher nach Enckes Berechnungen <lb/>der Venus-Durchgänge angenommen wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s11486" xml:space="preserve">Aus Hanſens Rech-<lb/>nungen ergab ſich, daß die Sonne uns faſt um {1/30} näher ſein <lb/>müſſe, als die bisherigen Angaben behaupten.</s>
  <s xml:id="echoid-s11487" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11488" xml:space="preserve">Dieſes Reſultat der Hanſenſchen Unterſuchungen aus dem <lb/>Jahre 1854 wurde von dem engliſchen Aſtronomen <emph style="sp">Airy</emph> im <lb/>Jahre 1859 beſtätigt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11489" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="228" file="0852" n="852"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11490" xml:space="preserve">Inzwiſchen hatte aber auch ſchon <emph style="sp">Leverrier</emph> in Paris zwei <lb/>andere und von einander ganz verſchiedene Wege zur Feſtſtellung <lb/>der Sonnen-Entfernung mit günſtigem Erfolge eingeſchlagen <lb/>und von dieſen haben wir nunmehr unſeren Leſern Bericht zu <lb/>erſtatten.</s>
  <s xml:id="echoid-s11491" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11492" xml:space="preserve">Es iſt ſeit den Zeiten, wo <emph style="sp">Newtons</emph> Lehre von der <lb/>Anziehungskraft der Himmelskörper näher entwickelt worden, <lb/>bereits allen Naturforſchern bekannt, daß genau genommen nicht <lb/>der Mond ſich um die Erde bewege und nicht die Erde um <lb/>die Sonne, ſondern daß Erde und Mond ein zuſammengehöriges <lb/>Paar bilden, deren gemeinſchaftlicher Schwerpunkt in einem <lb/>Jahre um die Sonne wandert, während Mond und Erde in <lb/>jedem Monat einen Umlauf um dieſen ihren gemeinſchaftlichen <lb/>Schwerpunkt machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11493" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11494" xml:space="preserve">Um ſich ein Bild von dieſem Zuſtande zu verſchaffen, <lb/>wollen wir uns denken, daß jemand eine große und eine kleine <lb/>Kugel durch einen langen Faden mit einander verbindet und <lb/>beide Kugeln mit ſtarker Kraft fortſchleudert. </s>
  <s xml:id="echoid-s11495" xml:space="preserve">Die kleine Kugel <lb/>wird ſich infolge der ſchleudernden Kraft viel ſchneller fort-<lb/>bewegen wollen als die große, da ſie aber durch den Faden an <lb/>die große Kugel befeſtigt iſt, wird ſie genötigt ſein den lang-<lb/>ſamern Flug ihrer größern Genoſſin mitzumachen, dafür aber <lb/>wird ſie noch eine zweite Bewegung vollführen und ihre größere <lb/>Flugkraft durch einen Umlauf um die große Kugel befriedigen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11496" xml:space="preserve">Wer ein ſolches Kugelpaar durch die Luft dahinfliegen ſieht, <lb/>der wird auch bemerken, daß beide Kugeln während ihres <lb/>Fluges ſtets von der Erde angezogen werden, auf welche ſie <lb/>dann auch endlich niederfallen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11497" xml:space="preserve">Man wird alſo eigentlich nicht <lb/>ſagen können, daß die große Kugel ihren Flug mache und von <lb/>der kleinen, die um ſie kreiſt, begleitet werde, ſondern man <lb/>wird mit Recht beider Flug als einen gemeinſamen betrachten <lb/>müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11498" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11499" xml:space="preserve">Bei noch genauerer Beobachtung wird ſich’s aber ergeben,
<pb o="229" file="0853" n="853"/>
daß es mit dem Flug beider Kugeln noch eine andere Be-<lb/>wandtnis habe. </s>
  <s xml:id="echoid-s11500" xml:space="preserve">Sind nämlich die beiden Kugeln nicht ſehr <lb/>verſchieden an Größe, oder eigentlich an Schwere, ſo wird <lb/>man ſofort ſehen, daß ſie während ihres Fluges beide um <lb/>einander Kreiſe beſchreiben, oder richtiger, daß ſie beide <lb/>einen Umſchwung um einen Punkt nahe in der Mitte des <lb/>Fadens machen, der ſie verbindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s11501" xml:space="preserve">Dieſer Punkt iſt eben <lb/>der gemeinſame Schwerpunkt beider Kugeln, denn wenn <lb/>man ſtatt des Fadens eine feſte Stange nimmt und dieſen <lb/>Punkt der Stange wie den Balken einer Wagſchale unter-<lb/>ſtützt, ſo werden ſich beide Kugeln das Gleichgewicht <lb/>halten. </s>
  <s xml:id="echoid-s11502" xml:space="preserve">Iſt eine der Kugeln zweimal ſo ſchwer als die <lb/>andere, ſo wird der gemeinſame Schwerpunkt nicht in der <lb/>Mitte des Fadens oder der Stange, ſondern zweimal ſo <lb/>weit ab von der leichteren Kugel liegen als von der <lb/>ſchwereren. </s>
  <s xml:id="echoid-s11503" xml:space="preserve">Je leichter die eine Kugel gegen die andere iſt, <lb/>deſto näher wird der gemeinſame Schwerpunkt zu der andern, <lb/>der ſchwereren Kugel, hinrücken. </s>
  <s xml:id="echoid-s11504" xml:space="preserve">Und dieſer gemeinſame <lb/>Schwerpunkt wird auch der Drehpunkt ſein, um welchen beide <lb/>Kugeln in ihrem Fluge einen Kreis beſchreiben. </s>
  <s xml:id="echoid-s11505" xml:space="preserve">Dieſer ge-<lb/>meinſame Schwerpunkt wird es eben ſein, der infolge der <lb/>Schleuderkraft ſeine regelrechte Bahn durch die Luft macht, <lb/>während beide Kugeln um dieſen Punkt herum noch einen be-<lb/>ſonderen Umlauf machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11506" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11507" xml:space="preserve">Da nun der gemeinſame Schwerpunkt ſtets der größeren <lb/>Kugel näher liegt als der kleineren, ſo verſteht es ſich von <lb/>ſelbſt, daß die kleinere, oder richtiger leichtere Kugel einen <lb/>größeren Kreis um den Schwerpunkt zu machen hat, als die <lb/>andere. </s>
  <s xml:id="echoid-s11508" xml:space="preserve">Ja, es kann, wenn die eine Kugel ſehr groß und <lb/>ſchwer und die andere ſehr klein und leicht iſt, kommen, <lb/>daß der gemeinſame Schwerpunkt gar <emph style="sp">innerhalb der <lb/>großen Kugel liegt</emph>, ſo daß die große Kugel einen ganz <lb/>unmerklichen Kreis um dieſen Punkt beſchreibt, während die
<pb o="230" file="0854" n="854"/>
kleinere Kugel, allem Anſcheine nach, um die große herum-<lb/>fliegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11509" xml:space="preserve">In Wahrheit aber iſt dies nur ein Schein. </s>
  <s xml:id="echoid-s11510" xml:space="preserve">Theorie <lb/>und Praxis lehren und beweiſen es unter all’ ſolchen Um-<lb/>ſtänden, daß der gemeinſame Schwerpunkt der eigentliche Punkt <lb/>ſei, der die richtige Bahn inne hält, während der ſchwere <lb/>wie der leichte Körper um dieſen Punkt einen beſonderen Um-<lb/>ſchwung machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11511" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11512" xml:space="preserve">Ganz dasſelbe, was wir hier von den zwei Kugeln geſagt <lb/>haben, die man in die Luft hineinſchleudert, gilt aber auch von <lb/>den zwei Himmelskörpern, Erde und Mond, die, von gemein-<lb/>ſamer Kraft getrieben, ihren Umlauf um die Sonne machen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11513" xml:space="preserve">Es iſt in Wirklichkeit nicht die Erde, die um die Sonne ihren <lb/>Jahres-Umlauf macht, und auf dieſem Spaziergang von dem <lb/>um ſie herum rennenden Monde begleitet wird, ſondern Erde <lb/>und Mond machen wie zwei geſchleuderte Kugeln dieſe Reiſe <lb/>gemeinſchaftlich. </s>
  <s xml:id="echoid-s11514" xml:space="preserve">Ihre gegenſeitige Anziehungskraft iſt der un-<lb/>ſichtbare Faden, der ſie verbindet. </s>
  <s xml:id="echoid-s11515" xml:space="preserve">Auf dieſer Verbindungs-<lb/>Linie iſt es in Wahrheit nur der gemeinſame Schwerpunkt der <lb/>Erd- und der Mondkugel, welcher regelrecht ſeinen Weg um <lb/>die Sonne macht. </s>
  <s xml:id="echoid-s11516" xml:space="preserve">Und um dieſen Schwerpunkt — der freilich <lb/>noch innerhalb der Erdkugel liegt, weil dieſe viel ſchwerer iſt <lb/>als die Mondkugel, — macht ſowohl die Erde wie der Mond <lb/>einen monatlichen Umlauf; </s>
  <s xml:id="echoid-s11517" xml:space="preserve">die ſchwerere Erde in ganz unmerk-<lb/>licher Weiſe und der leichtere Mond ſo merklich, als ob er <lb/>wirklich um die Erde ſelber herumginge.</s>
  <s xml:id="echoid-s11518" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11519" xml:space="preserve">Auf Durchforſchung und Berechnung dieſer Thatſachen, <lb/>die an ſich ſchon längſt allen Naturforſchern bekannt waren, <lb/>beruht nun, wie wir ſehen werden, die erſte Methode, welche <lb/>Leverrier in Paris angewendet hat, um die Sonnen-Entfernung <lb/>näher kennen zu lernen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11520" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="231" file="0855" n="855"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div301" type="section" level="1" n="247">
<head xml:id="echoid-head274" xml:space="preserve"><emph style="bf">VI. Der Schwerpunkt der Erd- und Mondmaſſe.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11521" xml:space="preserve">Geht man auf die vollkommen richtige und von der <lb/>Wiſſenſchaft längſt feſtgeſtellte Vorſtellung ein, daß nicht die <lb/>Erde um die Sonne, und nicht der Mond um die Erde wandert, <lb/>ſondern daß der <emph style="sp">gemeinſame Schwerpunkt</emph> der Erd- und <lb/>der Mondmaſſe es iſt, der die regelrechte Bewegung um die <lb/>Soune macht und Erde und Mond einen allmonatlichen Um-<lb/>lauf um dieſen ihren gemeinſamen Schwerpunkt machen, ſo er-<lb/>giebt ſich eine Reihe von Fragen, deren Beantwortung von der <lb/>höchſten Wichtigkeit iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11522" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11523" xml:space="preserve">Erſtens entſteht die Frage: </s>
  <s xml:id="echoid-s11524" xml:space="preserve">wo denn eigentlich der gemein-<lb/>ſame Schwerpunkt der zwei ſehr ungleichen Kugeln, Erde und <lb/>Mond, liegt?</s>
  <s xml:id="echoid-s11525" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11526" xml:space="preserve">Zweitens: </s>
  <s xml:id="echoid-s11527" xml:space="preserve">läßt ſich der monatliche Umlauf der Erde um <lb/>dieſen gemeinſamen Schwerpunkt auch durch Beobachtungen <lb/>ſicher erkennen und meſſen?</s>
  <s xml:id="echoid-s11528" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11529" xml:space="preserve">Endlich drittens: </s>
  <s xml:id="echoid-s11530" xml:space="preserve">wenn ſich dieſe Bewegung erkennen und <lb/>meſſen läßt, welch’ andere Rätſel des Himmels vermag man <lb/>wohl durch dieſe Wahrnehmung zu löſen?</s>
  <s xml:id="echoid-s11531" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11532" xml:space="preserve">Die zwei erſten Fragen waren bereits längſt von der <lb/>Wiſſenſchaft aufgeſtellt und bis auf eine gewiſſe Grenze auch <lb/>mit Genauigkeit beantwortet worden.</s>
  <s xml:id="echoid-s11533" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11534" xml:space="preserve">Leverrier hat bei ſeiner Arbeit nur nötig gehabt, alle Vor-<lb/>arbeiten der Rechner und Beobachter genau zu revidieren und <lb/>die Reſultate derſelben für ſeinen Zweck nutzbar zu machen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11535" xml:space="preserve">Die dritte Frage beantwortet Leverrier dahin, daß aus den <lb/>Ergebniſſen der zwei erſten Fragen eben die Sonnen-Entfernung <lb/>genauer als bisher würde beſtimmt werden können.</s>
  <s xml:id="echoid-s11536" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11537" xml:space="preserve">Wir wollen nun der Reihe nach die drei Fragen verfolgen, <lb/>um deren Geſamt-Reſultat unſern Leſern deutlich zu machen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11538" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11539" xml:space="preserve">Um die Lage des gemeinſamen Schwerpunkts der zwei
<pb o="232" file="0856" n="856"/>
Kugeln, Erde und Mond, genau zu beſtimmen, dazu gehört, <lb/>daß man zuvörderſt die Entfernung der beiden Kugeln von <lb/>einander kennt, und zwar die Entfernung ihrer Mittelpunkte. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11540" xml:space="preserve">Dieſe Kenntnis iſt in hinreichendem Maße bereits von der <lb/>Wiſſenſchaft durch direkte Meſſungen gegeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s11541" xml:space="preserve">Nunmehr muß <lb/>man aber auch die Maſſe, das Gewicht beider Kugeln kennen, <lb/>oder was dasſelbe iſt: </s>
  <s xml:id="echoid-s11542" xml:space="preserve">ihre Anziehungskräfte. </s>
  <s xml:id="echoid-s11543" xml:space="preserve">Hierin bietet <lb/>die Kenntnis der Erdmaſſe, oder deren Anziehungskraft keine <lb/>Schwierigkeit dar; </s>
  <s xml:id="echoid-s11544" xml:space="preserve">denn dieſe iſt durch Meſſung von Pendel-<lb/>ſchwingungen in außerordentlich zahlreichen und genauen Ver-<lb/>ſuchen hinreichend ſicher feſtgeſtellt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11545" xml:space="preserve">Dahingegen iſt die Be-<lb/>ſtimmung der Mond-Maſſe oder die Anziehungskraft des <lb/>Mondes nicht ſo leicht zu ermitteln, und man muß hier ſchon <lb/>zu anderweitigen Erſcheinungen ſeine Zuflucht nehmen, die ſehr <lb/>verwickelter Natur ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s11546" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11547" xml:space="preserve">Indeſſen hat die Wiſſenſchaft hierin ſchon reiche Vor-<lb/>arbeiten geliefert, die ein befriedigendes Reſultat ergeben, wenn-<lb/>gleich eine Verbeſſerung derſelben noch immer wird erſtrebt <lb/>werden müſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11548" xml:space="preserve">Um dieſe Vorarbeiten im allgemeinen zu <lb/>erwähnen, wollen wir unſere Leſer nur daran erinnern, daß <lb/>Ebbe und Flut eine Folge der Anziehung des Mondes iſt. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11549" xml:space="preserve">Aus der Höhe der Fluten hat ſchon Laplace im vorigen Jahr-<lb/>hundert die Stärke der Anziehungskraft des Mondes zu be-<lb/>ſtimmen geſucht, und auf demſelben Wege hat man bis in die <lb/>neueſte Zeit dieſe Kraft fortdauernd der Beobachtung und der <lb/>Berechnung unterzogen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11550" xml:space="preserve">Es giebt aber noch einige andere Er-<lb/>ſcheinungen, die gleichfalls von der Anziehungskraft des <lb/>Mondes herrühren und zur Meſſung dieſer Kraft große <lb/>Dienſte leiſten. </s>
  <s xml:id="echoid-s11551" xml:space="preserve">Um eine dieſer Erſcheinungen hier vorzu-<lb/>führen, wollen wir nur andeuten, daß unſere Erde bekanntlich <lb/>nicht eine vollkommene Kugel iſt, ſondern eine Abplattung an <lb/>beiden Polen und eine Anſchwellung am Äquator hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s11552" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11553" xml:space="preserve">Denken wir uns nun eine vollkommene Kugel aus der
<pb o="233" file="0857" n="857"/>
Erde herausgeſchnitten, ſo bliebe noch ein ſtarker, breiter Ring <lb/>aus dem Äquator der Erde übrig. </s>
  <s xml:id="echoid-s11554" xml:space="preserve">Es haben nun die Aſtro-<lb/>nomen durch Rechnung nachgewieſen, daß der Mond, der in <lb/>ſeinem Lauf bald nördlich, bald ſüdlich von dem Äquator der <lb/>Erde ſteht, noch eine beſondere Anziehung auf den erwähnten <lb/>Äquator-Ring ausübt und dadurch der Erdaxe eine kleine <lb/>Schwankung erteilt, die in je neunzehn Jahren ihren Lauf <lb/>vollendet. </s>
  <s xml:id="echoid-s11555" xml:space="preserve">Dieſe kleine Schwankung iſt durch Meſſungen am <lb/>Fixſternhimmel beſtätigt und genau beſtimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11556" xml:space="preserve">Dadurch iſt ſie <lb/>gleichfalls ein Maßſtab, um die Mond-Maſſe oder deſſen <lb/>Anziehungskraft näher kennen zu lernen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11557" xml:space="preserve">Aus all’ ſolchen <lb/>ſehr ſubtilen, aber mit außerordentlichem Scharfſinn benutzten <lb/>Erſcheinungen iſt die Wiſſenſchaft auf weitem Umwege zur <lb/>Kenntnis der Mond-Maſſe gelangt, und ſomit war ſie auch <lb/>imſtande, die erſte unſerer Fragen dahin zu löſen, daß der <lb/>gemeinſame Schwerpunkt der Erd- und der Mond-Kugel nur <lb/>etwa 560 Meilen vom Mittelpunkt der Erde entfernt iſt, das <lb/>heißt: </s>
  <s xml:id="echoid-s11558" xml:space="preserve">dieſer Schwerpunkt liegt noch circa 290 Meilen unter <lb/>der Oberfläche der Erde.</s>
  <s xml:id="echoid-s11559" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11560" xml:space="preserve">Da nun dieſer Schwerpunkt es eigentlich iſt, der alljährlich <lb/>den regelmäßigen Umlauf um die Sonne macht, und Erde <lb/>und Mond dabei allmonatlich um dieſen ihren gemeinſamen <lb/>Schwerpunkt einen Kreis beſchreiben, ſo haben wir uns den <lb/>wahren Weg der Erde um die Sonne ſo vorzuſtellen, daß der <lb/>Mittelpunkt der Erde, der in einem Monat mehr als 10 Millionen <lb/>Meilen dahin fliegt, einmal 560 Meilen <emph style="sp">über</emph> und einmal <lb/>560 Meilen <emph style="sp">unter</emph> dieſer Bahn ſich befindet, und alſo im <lb/>Jahre circa zwölf ſolch kleine Schwankungen und Abweichungen <lb/>von ſeiner Bahn macht, die freilich ſo geringfügig ſind, daß <lb/>ſie für die gewöhnliche Beobachtung ganz unmerklich ſein <lb/>müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11561" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11562" xml:space="preserve">Gleichwohl hat die genaue Meßkunde unſerer Zeit bewieſen, <lb/>daß auch dieſe ſehr geringfügige Abweichung, oder richtiger
<pb o="234" file="0858" n="858"/>
der kleine, allmonatliche Umlauf der Erde um jenen gemein-<lb/>ſamen Schwerpunkt eine Größe iſt, die der Beobachtung nicht <lb/>entgeht, und ſomit iſt denn auch die zweite der obigen Fragen <lb/>erledigt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11563" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11564" xml:space="preserve">Bekanntlich erſcheinen uns alle Bewegungen der Erde ſo, <lb/>als ob die Erde feſtſtände und die Himmelskörper ſich um <lb/>dieſelbe bewegten. </s>
  <s xml:id="echoid-s11565" xml:space="preserve">Gilt dies nun von der jährlichen Bewegung <lb/>der Erde um die Sonne ſo gut wie von der täglichen Um-<lb/>drehung der Erde um ihre Axe, ſo iſt es leicht einzuſehen, daß <lb/>auch der allmonatliche Umſchwung der Erde um den gemein-<lb/>ſamen Schwerpunkt eine Scheinbewegung der Sonne hervor-<lb/>bringen, daß alſo die Sonne zwölfmal im Jahre ein wenig <lb/>von ihrer Bahn abzuweichen ſcheinen müſſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s11566" xml:space="preserve">Hierin wäre <lb/>denn ein merkbares Zeichen vorhanden, die Exiſtenz jener <lb/>Erdbewegung feſtzuſtellen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11567" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11568" xml:space="preserve">Dies iſt nun wirklich der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s11569" xml:space="preserve">Dieſe Scheinbewegung <lb/>der Sonne, hervorgerufen durch die wirkliche, allmonatliche Be-<lb/>wegung der Erde um den erwähuten Schwerpunkt, iſt durch <lb/>Beobachtungen nachgewieſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11570" xml:space="preserve">Hiermit aber war, wie wir nun-<lb/>mehr zeigen werden, auch der Weg geebnet genug, um Leverrier <lb/>zum Ziele ſeiner Unterſuchungen zu führen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11571" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div302" type="section" level="1" n="248">
<head xml:id="echoid-head275" xml:space="preserve"><emph style="bf">VII. Die Störungen der Planeten-Bahnen.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11572" xml:space="preserve">Die kleine Umlaufsbewegung, welche die Erde allmonatlich <lb/>um den erwähnten gemeinſamen Schwerpunkt macht, ſpiegelt <lb/>ſich wirklich am Himmel in einer kleinen Schwankung der <lb/>Sonne in ihrer ſcheinbaren Bahn wieder.</s>
  <s xml:id="echoid-s11573" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11574" xml:space="preserve">Wenn man den Weg der Sonne mit der Genauigkeit ver-<lb/>folgt, welche unſere gegenwärtigen Meß-Inſtrumente geſtatten,
<pb o="235" file="0859" n="859"/>
ſo bemerkt man, daß zur Zeit des erſten und zur Zeit des <lb/>letzten Mond-Viertels die Sonnenkugel am Himmel eine ge-<lb/>ringe Abweichung von der geraden Bahn der Ekliptik hat. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11575" xml:space="preserve">Dieſe Abweichung liegt ſtets nach der Seite hin, wo ſich zur <lb/>Zeit der Mond befindet, und es iſt nicht dem geringſten <lb/>Zweifel unterworfen, daß dies nur eine <emph style="sp">ſcheinbare</emph> Bewegung <lb/>der Sonne und ein Gegenbild der <emph style="sp">wirklichen Bewegung <lb/>der Erde</emph> iſt, die dieſe in ihrem Umlauf um den gemein-<lb/>ſamen Schwerpunkt macht.</s>
  <s xml:id="echoid-s11576" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11577" xml:space="preserve">Da es Leverrier darauf ankam, dieſe ſcheinbare Ab-<lb/>weichung genau zu beſtimmen, ſo unterzog er die Meſſungen, <lb/>welche in Greenwich, Königsberg und Paris am Stand der <lb/>Sonne durch viele Jahre angeſtellt worden, einer genauen <lb/>Unterſuchung, und es ergab ſich, daß dieſe Abweichung, in ſehr <lb/>naher Übereinſtimmung all der Beobachtungen, einen Winkel <lb/>von 6 {1/2} Sekunden beträgt, oder — um unſern Leſern ein an-<lb/>ſchaulicheres Maß von der Kleinheit der Abweichung zu geben <lb/>— daß die Sonne in ihrer größten Abweichung nur ein ſo <lb/>kleines Stückchen aus der Bahn geht, wie der <emph style="sp">dreihundertſte</emph> <lb/>Teil ihres ſcheinbaren Durchmeſſers beträgt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11578" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11579" xml:space="preserve">Es läßt ſich nunmehr mit Leichtigkeit erkennen, wie <lb/>Leverrier nach dieſer genauen Feſtſtellung die wahre Ent-<lb/>fernung der Sonne zu berechnen imſtande war. </s>
  <s xml:id="echoid-s11580" xml:space="preserve">Wenn es <lb/>nämlich ſicher iſt, wie weit der gemeinſame Schwerpunkt der <lb/>Erd- und Mondkugel vom Mittelpunkt der Erde abſteht, ſo <lb/>bildet dieſer Abſtand den Halbmeſſer des Kreiſes, den die Erde <lb/>allmonatlich beſchreibt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11581" xml:space="preserve">Nehmen wir nun dieſen Abſtand in <lb/>runder Zahl auf circa 560 Meilen an, ſo muß die Sonne ſo <lb/>entfernt ſein, daß die 560 Meilen von der Sonne aus geſehen, <lb/>nur unter einem Winkel von 6 {1/2} Sekunden erſcheinen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11582" xml:space="preserve">Hier-<lb/>aus ergiebt denn eine ſehr einfache Berechnung die Entfernung <lb/>der Sonne in Meilen, und ſo gelangte Leverrier zu einem <lb/>Reſultat, welches mit dem von Hanſen gefundenen ſehr genau
<pb o="236" file="0860" n="860"/>
übereinſtimmt, daß <emph style="sp">nämlich die Sonnen-Entfernung um <lb/>ein Dreißigſtel geringer ſei, als man bisher an-<lb/>genommen</emph>.</s>
  <s xml:id="echoid-s11583" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11584" xml:space="preserve">Leverrier wurde aber auch noch von einer zweiten ander-<lb/>weitigen und von der erſten völlig unabhängigen Forſchung zu <lb/>ganz demſelben Reſultat geführt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11585" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11586" xml:space="preserve">Es iſt nämlich eine durch die Wiſſenſchaft längſt anerkannte <lb/>und durch Beobachtung wie durch die Theorie ſicher feſtgeſtellte <lb/>Thatſache, daß jeder Planet des Sonnenſyſtems den regel-<lb/>mäßigen Lauf aller anderen Planeten um die Sonne beein-<lb/>flußt und bald fördernd, bald hindernd auf dieſen Lauf ein-<lb/>wirkt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11587" xml:space="preserve">— Nicht ein einziger aller Planeten geht ſo regelrecht <lb/>in ſeiner Bahn um die Sonne, wie er gehen würde, wenn er <lb/>alleiniger Bewohner des Sonnenſyſtems wäre. </s>
  <s xml:id="echoid-s11588" xml:space="preserve">Es wirkt viel-<lb/>mehr die Auziehungskraft jedes einzelnen auf alle übrigen <lb/>Planeten, wie alle anderen auch auf ſeinen Lauf wirken, je im <lb/>Verhältnis der Maſſe und der augenblicklichen Entfernung jedes <lb/>einzelnen Himmelskörpers. </s>
  <s xml:id="echoid-s11589" xml:space="preserve">In der Natur ſelbſt gehören dieſe <lb/>höchſt verwickelten und durch einander wirkenden Anziehungen <lb/>aller auf alle freilich zur <emph style="sp">Ordnung</emph> im Sonnen-Syſteme. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11590" xml:space="preserve">Eine viel höhere Rechnungsgabe, als wir Menſchenkinder ſie <lb/>beſitzen oder mindeſtens zur Zeit ſie zu faſſen imſtande ſind, <lb/>wird ganz ſicher aus der Anarchie all der unüberſehbaren <lb/>Einwirkungen die Ordnung herausfinden. </s>
  <s xml:id="echoid-s11591" xml:space="preserve">Da wir aber dies <lb/>nicht vermögen, helfen wir uns damit durch, daß wir zunächſt <lb/>jede Planetenbahn ſo berechnen, wie ſie wäre, wenn der Planet <lb/>allein um die Sonne ginge, und betrachten und berechnen jede <lb/>Einwirkung, die ein Nachbar-Planet auf dieſen Lauf ausübt, <lb/>als eine <emph style="sp">Störung</emph> der Bahn.</s>
  <s xml:id="echoid-s11592" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11593" xml:space="preserve">Viele ſolche Störungs-Rechnungen ſind nun ſchon im <lb/>vorigen Jahrhundert mit dem Aufwand des feinſten Scharf-<lb/>ſinns durchgeführt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11594" xml:space="preserve">So hat z. </s>
  <s xml:id="echoid-s11595" xml:space="preserve">B. </s>
  <s xml:id="echoid-s11596" xml:space="preserve">der große Laplace die <lb/>Störungen, welche die zwei an Maſſe ſtärkſten Planeten,
<pb o="237" file="0861" n="861"/>
Jupiter und Saturn, gegenſeitig auf ihren beiderſeitigen Um-<lb/>lauf bewirken, in einer von allen ſeinen Zeitgenoſſen und allen <lb/>ſeinen Nachfolgern bewunderten Weiſe berechnet. </s>
  <s xml:id="echoid-s11597" xml:space="preserve">Leverrier <lb/>ſelbſt hat, wie wir ſchon wiſſen, im Jahre 1846 ſeinen <lb/>Namen unſterblich gemacht durch eine Störungs-Rechnung, <lb/>durch welche er die Exiſtenz, die Entfernung, die Maſſe und <lb/>ſogar den Ort des Planeten <emph style="sp">Neptun</emph> nachwies. </s>
  <s xml:id="echoid-s11598" xml:space="preserve">Störungs-<lb/>Rechnungen ſind daher auch noch heutigen Tages der Schlüſſel <lb/>zur Löſung verſchiedener Himmels-Rätſel. </s>
  <s xml:id="echoid-s11599" xml:space="preserve">Sie ſind eine Stufe <lb/>auf der großen Himmelsleiter des Geiſtes, auf welcher die <lb/>unſterbliche Wiſſenſchaft zu den Geheimniſſen des Weltalls <lb/>emporſteigt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11600" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11601" xml:space="preserve">Eine ſolche Störungs-Rechnung ſtellte nun Leverrier an, <lb/>um auszukundſchaften, welche Einwirkung unſere Erde auf den <lb/>Lauf ihrer Nachbar-Planeten Venus und Mars ausübt; </s>
  <s xml:id="echoid-s11602" xml:space="preserve">und <lb/>da fand ſich das auffallende Reſultat, daß die Erde eine <lb/><emph style="sp">größere</emph> Einwirkung ausübt, alſo eine ſtärkere Anziehungskraft <lb/>beſitzt, als man bis jetzt angenommen hatte.</s>
  <s xml:id="echoid-s11603" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11604" xml:space="preserve">Das Auffallende dieſes Reſultats liegt aber darin, daß <lb/>die Anziehungskraft der Erde durch die genaueſten Pendel-<lb/>Verſuche feſtgeſtellt und eine irrige Annahme hierin nicht ob-<lb/>walten kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s11605" xml:space="preserve">Es ſchien hier ein Widerſpruch zwiſchen den <lb/>irdiſchen und den himmliſchen Meſſungen der Anziehungskraft <lb/>der Erde obzuwalten, welcher der Wiſſenſchaft ein neues Rätſel <lb/>darbot. </s>
  <s xml:id="echoid-s11606" xml:space="preserve">Allein wie all ſolche Rätſel fand auch dieſes in der <lb/>wahrheitsgetreuen Forſchung der Naturwiſſenſchaft nicht bloß <lb/>ſeine Ausgleichung und Löſung, ſondern zeigte eine <emph style="sp">neue <lb/>Harmonie</emph> des Geiſtes, als man nur erſt den richtigen Leit-<lb/>faden hierzu ergriff.</s>
  <s xml:id="echoid-s11607" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11608" xml:space="preserve">Die Anziehungskraft der Erde erwies ſich in den Himmels-<lb/>räumen nur deshalb ſo groß, weil man dieſe Anziehungskraft <lb/>der Erde ſtets gemeſſen nach der Anziehungskraft der Sonne. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11609" xml:space="preserve">Die Anziehungskraft der Sonne aber iſt abhängig von der
<pb o="238" file="0862" n="862"/>
Sonnen-Entfernung. </s>
  <s xml:id="echoid-s11610" xml:space="preserve">Iſt dieſe Entfernung in Wahrheit ge-<lb/>ringer, als man ſie bisher angenommen, ſo folgt daraus, daß <lb/>man bisher auch die Maſſe der Sonne für zu groß annahm. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11611" xml:space="preserve">— Dies erkannte nun Leverrier ſofort. </s>
  <s xml:id="echoid-s11612" xml:space="preserve">— Als er daher infolge-<lb/>deſſen die Sonnen-Entfernung um {1/30} der bisherigen Annahme <lb/>verminderte, klärte ſich das Rätſel auf, und es trat eine neue <lb/>Harmonie an die Stelle des Widerſpruches zwiſchen dem <lb/>Schwung des Pendels und den Einwirkungen der Erdmaſſe <lb/>auf die Bahnen von Mars und Venus.</s>
  <s xml:id="echoid-s11613" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11614" xml:space="preserve">So war die Lage der Dinge im Herbſte des Jahres 1862, <lb/>als der Himmel ſelber zu Gunſten ſeiner treuen Forſcher durch <lb/>eine Gelegenheit zum Erkunden der Wahrheit intervenirte und <lb/>gleichzeitig ein vielverdienter Jünger der ewigen Wahrheit auf <lb/>den Fittigen des Lichtes eine neue Geiſtes-Eroberung in Bezug <lb/>auf die Erkenntnis der Sonnenferne machte.</s>
  <s xml:id="echoid-s11615" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div303" type="section" level="1" n="249">
<head xml:id="echoid-head276" xml:space="preserve"><emph style="bf">VIII. Beobachtungen des Planeten Mars im</emph> <lb/><emph style="bf">Jahre 1862.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11616" xml:space="preserve">Im Herbſt des Jahres 1862 wurde der Sternenhimmel <lb/>bei hereinbrechendem Abend durch den rötlichen Lichtglanz des <lb/>Planeten Mars verſchönt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11617" xml:space="preserve">Den Planeten Mars in ſolcher <lb/>Stellung zu ſehen, in welcher er bei Sonnenuntergang im <lb/>Oſten aufgeht und durch die ganze Nacht am Himmel leuchtet, um <lb/>im Weſten unterzugehen, wenn die Sonne morgens im Oſten <lb/>emporſteigt, iſt keineswegs ein ſeltenes Schauſpiel, da es ſich <lb/>in 780 Tagen ſtets wiederholt; </s>
  <s xml:id="echoid-s11618" xml:space="preserve">der Planet ſelbſt indeſſen er-<lb/>ſcheint in ſolcher Stellung ſo verſchieden an Glanz und Größe, <lb/>daß es mit ihm doch eine beſondere Bewandtuis haben muß.</s>
  <s xml:id="echoid-s11619" xml:space="preserve">
<pb o="239" file="0863" n="863"/>
Jedenfalls bemerkte damals jeder aufmerkſame Laie, daß er <lb/>dieſen Planeten noch nicht ſo groß und leuchtend geſehen habe, <lb/>und jeder Sternkundige würde die Verſicherung haben hinzu-<lb/>fügen können, daß dies ſeinen guten Grund habe.</s>
  <s xml:id="echoid-s11620" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11621" xml:space="preserve">Die Bahn des Mars nämlich weicht mehr als die irgend <lb/>eines andern großen Planeten von der Form eines Kreiſes ab. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11622" xml:space="preserve">Sie bildet eine verhältnismäßig ſehr längliche Ellipſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s11623" xml:space="preserve">Mars <lb/>kommt daher der Sonne auf einen Teil ſeiner Bahn bis auf <lb/>6 Millionen Meilen näher als auf der andern. </s>
  <s xml:id="echoid-s11624" xml:space="preserve">Es ſchwankt <lb/>deſſen Enfernung zur Sonne von 34 {1/2} bis auf 28 {1/2} Millionen <lb/>Meilen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11625" xml:space="preserve">Da nun die Erde in ihrer Bahn in je 780 Tagen <lb/>zwiſchen Sonne und Mars zu ſtehen kommt, ſo hängt auch die <lb/>Entfernung zwiſchen Erde und Mars in dieſer Stellung ſehr <lb/>von Umſtänden ab. </s>
  <s xml:id="echoid-s11626" xml:space="preserve">Befindet ſich Mars in ſolcher Zeit in <lb/>ſeiner Sonnenferne und die Erde in ihrer Sonnennähe, ſo <lb/>beträgt die Strecke zwiſchen Erde und Mars an 15 Millionen <lb/>Meilen; </s>
  <s xml:id="echoid-s11627" xml:space="preserve">iſt jedoch das Entgegengeſetzte der Fall, ſteht die <lb/>Erde zwiſchen Mars und Sonne in der Zeit, wo die Erde der <lb/>Sonne am entfernteſten und Mars der Sonne am nächſten iſt, <lb/>ſo vermindert ſich die Strecke zwiſchen Mars und Erde auf <lb/>die Hälfte, ſo daß wir dem Planeten bis auf 7 Millionen <lb/>Meilen nahe kommen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11628" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11629" xml:space="preserve">Dieſer ſeltene Fall war nun nahezu im Herbſte des Jahres <lb/>1862 eingetreten; </s>
  <s xml:id="echoid-s11630" xml:space="preserve">es iſt daher natürlich, daß man den Planeten <lb/>glänzender und größer als ſonſt am Himmel leuchten ſah.</s>
  <s xml:id="echoid-s11631" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11632" xml:space="preserve">Was aber für den Laien ein bloßes intereſſantes Schau-<lb/>ſpiel, das ward für die Wiſſenſchaft eine längſt erſehnte Ge-<lb/>legenheit zur Durchforſchung einer Wahrheit.</s>
  <s xml:id="echoid-s11633" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11634" xml:space="preserve">Nach den von Kepler entdeckten und durch Newton be-<lb/>wieſenen Geſetzen des Himmels beſteht ein ſo ſicheres Verhält-<lb/>nis zwiſchen den Umlaufszeiten und den Entfernungen aller <lb/>Planeten zur Sonne, daß man die Sonnen-Entfernung ſofort <lb/>berechuen kann, ſobald man nur imſtande iſt, die direkte Ent-
<pb o="240" file="0864" n="864"/>
fernung irgend eines Planeten von der Erde durch Beobachtung <lb/>zu ermitteln. </s>
  <s xml:id="echoid-s11635" xml:space="preserve">Zu Gunſten dieſer Ermittelung hat nun die <lb/>Aſtronomie ſchon längſt ihr Augenmerk auf Mars gerichtet und <lb/>namentlich in den Zeiten, wo er der Erde am nächſten ſteht. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11636" xml:space="preserve">Schon im Jahre 1671 wurde ſolch ein Moment zur Meſſung <lb/>der Entfernung benutzt, deren Reſultat freilich wegen der Un-<lb/>vollkommenheit der damaligen Meß-Inſtrumente ſehr wenig <lb/>genügen konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s11637" xml:space="preserve">Unſere gegenwärtigen, ſehr verbeſſerten Meß-<lb/>Apparate ließen ein ſichereres Ergebnis vorausſehen, und <lb/>darum wurde die günſtige Gelegenheit im Herbſte 1862 von <lb/>allen vorzüglichen Sternwarten der Welt eifrig benutzt, um <lb/>die Mars-Entfernung und durch dieſe die richtige Sonnen-<lb/>Entfernung genauer kennen zu lernen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11638" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11639" xml:space="preserve">Die Sternwarten von Berlin, Pulkowa (bei Petersburg), <lb/>Greenwich, Leyden, Helſingfors, Williamstown (in Auſtralien), <lb/>Kapſtadt, Madras und St. </s>
  <s xml:id="echoid-s11640" xml:space="preserve">Jago verabſäumten nicht, ihre <lb/>Beobachtungen anzuſtellen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11641" xml:space="preserve">Die Ergebniſſe ſtimmen ſehr merk-<lb/>würdig überein, und auch aus ihnen folgt mit großer Zuver-<lb/>ſicht, daß der Planet Mars uns näher geſtanden, als man aus <lb/>den bisherigen Annahmen berechnet hatte, oder was ganz <lb/>dasſelbe iſt, daß die Sonne nicht ſo entfernt von uns iſt, als <lb/>aus den Beobachtungen der letzten Venus-Durchgänge ge-<lb/>ſchloſſen wurde.</s>
  <s xml:id="echoid-s11642" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11643" xml:space="preserve">Bis ſo weit hat die Himmelskunde neuerer Zeit, von ſehr <lb/>verſchiedenen Seiten ausgehend, die wiſſenſchaftlichen Reſultate <lb/>früherer Jahrzehnte verbeſſert. </s>
  <s xml:id="echoid-s11644" xml:space="preserve">Es hat die Himmelskunde ſich <lb/>in dieſen intereſſanten Fällen ſelber korrigiert, wie das ſtets in <lb/>einer ſo wahrheitsgetreuen Wiſſenſchaft der Fall iſt, die ſich <lb/>ſorgſam vor Selbſttäuſchungen bewahrt, weil ſie nie andere <lb/>durch vorgeſpiegelte Allwiſſenheit zu täuſchen oder mit dem <lb/>Glanz ihrer Ergebniſſe zu blenden die Abſicht hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s11645" xml:space="preserve">— Da <lb/>trat denn auch noch ein ganz anderer Zeuge der Wahrheit <lb/>anf, der durch ein merkwürdiges irdiſches Experiment den
<pb o="241" file="0865" n="865"/>
Himmels-Forſchern neue Wege zu jetzt noch unüberſehbaren <lb/>Zielen eröffnet hat.</s>
  <s xml:id="echoid-s11646" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11647" xml:space="preserve">Dies neue Zeugnis der Wahrheit beſteht in einer von <lb/><emph style="sp">Foucault</emph> (1819—1868) in Paris durch Experimente feſtgeſtellten <lb/>Geſchwindigkeit des Lichts, worüber wir in dem nächſten Abſchnitt <lb/>das Nähere berichten werden. </s>
  <s xml:id="echoid-s11648" xml:space="preserve">Durch dieſe Experimente, die den <lb/>unendlichen Wert haben, daß ſie unausgeſetzt wiederholt und <lb/>ohne Schwierigkeit in ihren Reſultaten korrigiert und bis zur <lb/>vollendetſten Sicherheit der Ergebniſſe gebracht werden können <lb/>— iſt die Sonnen-Entfernung in ganz anderer Weiſe meßbar <lb/>geworden, als man bisher meinte, und auch aus dieſen, auf <lb/>der Erde anzuſtellenden Meſſungen hat ſich dasſelbe Reſultat <lb/>ergeben, daß bis auf die neuere Zeit die ſämtlichen Entfernungen <lb/>im Sonnen-Syſtem um {1/30} zu groß angenommen worden ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s11649" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div304" type="section" level="1" n="250">
<head xml:id="echoid-head277" xml:space="preserve"><emph style="bf">IX. Die Geſchwindigkeit des Lichts.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11650" xml:space="preserve">Um die Bedeutung der von Foucault gewonnenen Reſultate <lb/>über die Geſchwindigkeit des Lichtes unſern Leſern vorführen <lb/>zu können, müſſen wir auf den geſchichtlichen Verlauf zurück-<lb/>blicken, den die Erforſchung auf dieſem Gebiete überhaupt durch-<lb/>gemacht hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s11651" xml:space="preserve">Wir werden dadurch imſtande ſein, die Über-<lb/>zeugung zu gewähren, daß ein Experiment, in einem gewöhn-<lb/>lichen Zimmer angeſtellt, und die Meſſung einiger feinen Linien <lb/>auf einem kleinen Glas-Streifen mittelſt eines Mikroſkops wirklich <lb/>ausreichend iſt, die Frage zu entſcheiden, wie viel Millionen <lb/>Meilen die Erde von der Sonne entfernt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11652" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11653" xml:space="preserve">Bereits vor mehr als dritthalbhundert Jahren hegten <lb/>denkende Menſchen die richtige Vermutung, daß das Licht der</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11654" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s11655" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s11656" xml:space="preserve">Volksbücher XVI.</s>
  <s xml:id="echoid-s11657" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="242" file="0866" n="866"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11658" xml:space="preserve">Himmelskörper wohl eine Zeit brauchen werde, um durch die <lb/>Fernen des Weltraumes zu dringen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11659" xml:space="preserve">Die Akademie zu Florenz <lb/>ſetzte daher einen Preis aus für die Löſung der Frage; </s>
  <s xml:id="echoid-s11660" xml:space="preserve">allein <lb/>die Löſung ſchien ſich der menſchlichen Erkenntnis ganz entziehen <lb/>zu wollen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11661" xml:space="preserve">Wie ſollte man es auch anſtellen, Geſchwindigkeiten, <lb/>das heißt Raum-Veränderungen in Zeitteilen zu meſſen, wo <lb/>vorausſichtlich ganz unbegreiflich große Räume in unglaublich <lb/>kleinen Zeiten durchſchritten werden?</s>
  <s xml:id="echoid-s11662" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11663" xml:space="preserve">Da hat denn ein däniſcher Naturforſcher, <emph style="sp">Olav Römer</emph>, <lb/>zu Paris im Jahre 1675 die intereſſante Entdeckung gemacht, <lb/>daß der Himmel ſelber ſo gnädig ſei, die Preisaufgabe durch <lb/>ein ſehr häufiges Experiment zu löſen, und wir keines Verſuches, <lb/>ſondern nur des Verſtändniſſes der Erſcheinungen bedürfen, <lb/>um die Löſung zu begreifen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11664" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11665" xml:space="preserve">Olav Römer ſtellte nämlich mit <emph style="sp">Caſſini</emph> (1625—1712) auf <lb/>der Sternwarte zu Paris Beobachtungen an. </s>
  <s xml:id="echoid-s11666" xml:space="preserve">In damaliger Zeit <lb/>war die größte Aufmerkſamkeit auf den Planeten Jupiter gerichtet, <lb/>deſſen vier Monde ſofort nach Entdeckung und Gebrauch des <lb/>Fernrohrs das Staunen aller Welt hervorriefen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11667" xml:space="preserve">Nun hatte <lb/>Galilei, der Entdecker dieſer Monde, bereits im Jahre 1610 <lb/>bemerkt, daß jeder dieſer Monde, wenn er zwiſchen Sonne und <lb/>Jupiter ſteht, einen Schatten auf Jupiter werfe, und eben ſo <lb/>jeder dieſer Monde verfinſtert und unſichtbar werde, ſobald er <lb/>in ſeinem Umlauf um Jupiter in deſſen Schatten gerät.</s>
  <s xml:id="echoid-s11668" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11669" xml:space="preserve">Dieſe Finſterniſſe genau kennen zu lernen und die Zeit <lb/>ihres Eintritts voraus zu berechnen, war in mehr als einer <lb/>Hinſicht von der größten Wichtigkeit; </s>
  <s xml:id="echoid-s11670" xml:space="preserve">wie denn auch gegenwärtig <lb/>noch jeder Seefahrer in den Verfinſterungen der Jupiter-Monde <lb/>ein vorzügliches Mittel beſitzt, ſich auf bahnloſem Meere zurecht <lb/>zu finden. </s>
  <s xml:id="echoid-s11671" xml:space="preserve">Es galt alſo, zur Zeit als Olav Römer ſeine Be-<lb/>obachtungen anſtellte, genau die Zeit nach Minute und Sekunde <lb/>vorauszuberechnen, wo ſolch eine Finſternis eintritt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11672" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11673" xml:space="preserve">Die Rechnung an ſich bot keine großen Schwierigkeiten dar,
<pb o="243" file="0867" n="867"/>
da man die Umlaufszeiten der vier Monde ſehr leicht beſtimmen <lb/>kann und es nur nötig iſt, den Stand der Sonne und der Erde <lb/>in Betracht zu ziehen, um die Lage des Schattens mit Sicher-<lb/>heit anzugeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s11674" xml:space="preserve">Allein zur Verwunderung Römers wollten <lb/>ſeine Rechnungen nicht immer mit den Beobachtungen ſtimmen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11675" xml:space="preserve">Es traten dieſe Finſterniſſe zuweilen bis auf 8 Minuten 13 <lb/>Sekunden zu früh, bald bis um dieſelbe Zeit zu ſpät ein. </s>
  <s xml:id="echoid-s11676" xml:space="preserve">Als <lb/>aber Römer die Umſtände, wo dieſe Unregelmäßigkeiten ſich <lb/>zeigten, näher in Betracht zog, kam er nicht bloß auf die <lb/>wahre Urſache dieſer Abweichung, ſondern auch auf die <lb/>Entdeckung, daß in derſelben die Löſung einer für unlösbar ge-<lb/>haltenen Frage liege.</s>
  <s xml:id="echoid-s11677" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11678" xml:space="preserve">Die Erde kommt nämlich in ihrem Umlauf um die Sonne <lb/>zu gewiſſen Zeiten ſo zu ſtehen, daß ſie ſich zwiſchen Sonne <lb/>und Jupiter befindet; </s>
  <s xml:id="echoid-s11679" xml:space="preserve">hier iſt ſie dem Jupiter am nächſten. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11680" xml:space="preserve">Sechs Monate darauf hat ſie aber ihren halben Umlauf gemacht, <lb/>und ſteht jetzt, — da Jupiter ſich in dieſer Zeit nur ein kleines <lb/>Stück in ſeiner Bahn bewegt — auf der andern Seite der <lb/>Sonne; </s>
  <s xml:id="echoid-s11681" xml:space="preserve">hier alſo iſt ſie dem Planeten Jupiter faſt um den <lb/>ganzen Durchmeſſer der Erdbahn entfernter, als vor einem <lb/>halben Jahre. </s>
  <s xml:id="echoid-s11682" xml:space="preserve">Die Verfinſterungen der Jupiter-Monde — ſo <lb/>ſchloß nun Olav Römer ſehr richtig — ſind ein Schauſpiel, <lb/>das wir auf Erden einmal in der Nähe und einmal aus der <lb/>Entfernung zu beobachten die Ehre haben. </s>
  <s xml:id="echoid-s11683" xml:space="preserve">Wenn nun das <lb/>Licht eine Zeit braucht, um ſich durch den Weltraum fortzu-<lb/>pflanzen, ſo iſt es wohl klar, daß wir das Schauſpiel am <lb/>Jupiter früher müſſen zu ſehen bekommen, wenn wir ihm <lb/>nahe, und ſpäter zur Zeit, wo wir ihm um den ganzen <lb/>Durchmeſſer der Erdbahn entfernter ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s11684" xml:space="preserve">Hiernach alſo fand <lb/>er es ganz erklärlich, weshalb dieſe Himmelserſcheinungen, <lb/>die an ſich ſehr regelmäßig vor ſich gehen, ſich ſcheinbar <lb/>verfrühen und verſpäten, wenn wir dem Ort der Erſcheinung <lb/>näher oder entfernter ſind.</s>
  <s xml:id="echoid-s11685" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="244" file="0868" n="868"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11686" xml:space="preserve">Dieſe Erklärung Römers beſtätigte ſich vollkommen durch <lb/>die weiteren Beobachtungen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11687" xml:space="preserve">Es wächſt wirklich die ſcheinbare <lb/>Verſpätung ganz regelmäßig mit der Entfernung der Erde vom <lb/>Jupiter, und es tritt ſcheinbar eine ſtets wachſende Verfrühung <lb/>der Erſcheinungen ein, je mehr die Erde ſich dem Jupiter wieder <lb/>nähert. </s>
  <s xml:id="echoid-s11688" xml:space="preserve">Der Eintritt ſämtlicher Verfinſterungs-Erſcheinungen <lb/>im Jupiter-Gebiet ward hierdurch auch vollkommen berechenbar, <lb/>ſobald man nur die Nähe der Erde zu Jupiter mit in Betracht <lb/>zog. </s>
  <s xml:id="echoid-s11689" xml:space="preserve">Es war damit aber noch eine zweite Frage gelöſt, die <lb/>ſich Römer eigentlich nicht geſtellt hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s11690" xml:space="preserve">Es erwies ſich nämlich, <lb/>daß die erwähnte Verfrühungs- und Verſpätungszeit beiſammen, <lb/>die 16 Minuten 26 Sekunden betrug, eben die Zeit iſt, die das <lb/>Licht braucht, um die Strecke zu durchlaufen zwiſchen dem <lb/>Punkte der Erdbahn, wo die Erde dem Jupiter nahe iſt, bis zu <lb/>dem Punkte, wo ſie ihm am entfernteſten iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11691" xml:space="preserve">Dieſe Strecke iſt <lb/>aber der Durchmeſſer der Erdbahn. </s>
  <s xml:id="echoid-s11692" xml:space="preserve">Man wußte alſo, daß die <lb/>Geſchwindigkeit des Lichtes ſo groß iſt, daß es den Durchmeſſer <lb/>der Erdbahn in Zeit von 16 Minuten 26 Sekunden durchläuft.</s>
  <s xml:id="echoid-s11693" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11694" xml:space="preserve">Die von Römer einmal gefundene Wahrheit iſt eine <lb/>Errungenſchaft aller Zeiten geworden. </s>
  <s xml:id="echoid-s11695" xml:space="preserve">Sie legte, wie jede <lb/>wahrhafte Geiſtes-Eroberung, die weder auf Dichtung noch auf <lb/>Täuſchung beruht, den Grund zu weiteren Eroberungen, von <lb/>welchen wir eine, die funfzig Jahre nach Römer gemachte Ent-<lb/>deckung der Aberration, hier noch werden vorführen müſſen. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11696" xml:space="preserve">Für jetzt wollen wir dieſen Abſchnitt nur mit der Bemerkung <lb/>ſchließen, daß die früher allgemein angenommene Geſchwindigkeit <lb/>des Lichtes in einer Sekunde, die auf 41,900 Meilen angegeben <lb/>wird, auf Römers Entdeckung beruht, und zwar unter der Vor-<lb/>ausſetzung, daß der Durchmeſſer der Erdbahn, alſo die doppelte <lb/>Entfernung der Sonne, 41 Millionen Meilen beträgt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11697" xml:space="preserve">— Es <lb/>folgt hieraus auch, daß, wenn die Sonnen-Entfernung nicht ſo <lb/>groß iſt, dann auch die Geſchwindigkeit des Lichtes in einer <lb/>Sekunde geringer ſein müſſe, und hieraus ſchon werden unſere
<pb o="245" file="0869" n="869"/>
Leſer erkennen, daß, wenn es gelingt, die Geſchwindigkeit des <lb/>Lichtes ohne Hilfe der Aſtronomie zu finden, man darin ein <lb/>ſicheres Mittel beſitzt, die wahre Sonnen-Entfernung und über-<lb/>haupt die ſämtlichen Entfernungen innerhalb des Sonnenſyſtems <lb/>kennen zu lernen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11698" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div305" type="section" level="1" n="251">
<head xml:id="echoid-head278" xml:space="preserve"><emph style="bf">X. Bradley’s Entdeckung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11699" xml:space="preserve"><emph style="sp">Olav Römer’s</emph> Entdeckung hatte, wie bereits erwähnt, <lb/>noch eine zweite Entdeckung zur Folge, die wir gleichfalls <lb/>unſern Leſern vorführen müſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11700" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11701" xml:space="preserve">Fünfzig Jahre nach der Entdeckung der Geſchwindigkeit des <lb/>Lichtes ſtellte nämlich der engliſche Aſtronom <emph style="sp">Bradley</emph> (1692 bis <lb/>1762) den Verſuch an, ob es ihm wohl gelingen würde, die jähr-<lb/>liche Bewegung der Erde um die Sonne an irgend einem Stern <lb/>des Fixſternhimmels bemerklich nachzuweiſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11702" xml:space="preserve">Er ging hierbei <lb/>von dem vollkommen richtigen Grundſatz aus, daß, wenn die <lb/>kleine Scheinbewegung, die ein Fixſtern in der entgegengeſetzten <lb/>Richtung zur wirklichen Bewegung der Erde alljährlich machen <lb/>muß, mit unſern Inſtrumenten merklich und meßbar wäre, <lb/>wir auch imſtande ſein würden, die Entfernung des Fixſterns <lb/>von uns zu berechnen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11703" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11704" xml:space="preserve">Das was Bradley ſuchte, die Meßbarkeit der Entfernung <lb/>eines Fixſternes, fand er nicht. </s>
  <s xml:id="echoid-s11705" xml:space="preserve">In der That iſt die Ent-<lb/>fernung ſelbſt des uns wahrſcheinlich nächſten Fixſternes im <lb/>Sternbild des Centauren noch ſo groß, daß ſie mit Bradley’s <lb/>Inſtrumenten nicht meßbar werden konute. </s>
  <s xml:id="echoid-s11706" xml:space="preserve">Aber wie ſo oft <lb/>auf dem Wege zu einem wichtigen Ziele ward auch in dieſem <lb/>Falle von Bradley ſtatt der vergeblich geſuchten Wahrheit un-<lb/>vermutet eine andere, nicht minder wichtige gefunden.</s>
  <s xml:id="echoid-s11707" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="246" file="0870" n="870"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11708" xml:space="preserve">Dieſe neue von Bradley im Jahre 1725 gefundene Wahr-<lb/>heit lautet dahin, daß unſer Auge und eben ſo jedes unſerer <lb/>Fernrohre die Fixſterne nicht an ihrer wahren Stelle ſehen <lb/>läßt, ſondern ſtets ein wenig nach <emph style="sp">vorwärts</emph> geſchoben zeigt <lb/>in der Richtung, wohin ſich gerade unſere Erde um die <lb/>Sonne bewegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11709" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11710" xml:space="preserve">Die Richtigkeit dieſes merkwürdigen Lehrſatzes läßt ſich <lb/>leicht einſehen, wenn man ſich des folgenden Beiſpiels bedient.</s>
  <s xml:id="echoid-s11711" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11712" xml:space="preserve">Denken wir uns, daß jemand ſeitwärts an der Eiſenbahn <lb/>ſtehend, ein Piſtol abſchießt auf einen an ihm ſchnell vorüber-<lb/>fahrenden Eiſenbahnwagen und nehmen wir an, daß die Kugel <lb/>durch beide Wände des Wagens fliegt, ſo werden die zwei <lb/>Löcher, welche die Kugel in den Wänden gemacht hat, den <lb/>Weg bezeichnen, den ſie in ihrem Lauf genommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11713" xml:space="preserve">Unterſucht <lb/>man nun dieſen Weg, ſo wird man finden, daß wenn auch die <lb/>Kugel ganz ſenkrecht auf den Wagen abgeſchoſſen wurde, doch <lb/>die zwei Löcher keineswegs ſenkrecht zu den Wänden liegen, <lb/>ſondern daß das Loch in der erſten Wand, wo die Kugel in <lb/>den Wagen hineindrang, mehr nach vorn liegt, als das in der <lb/>zweiten Wand, wo ſie wieder aus dem Wagen hinausflog.</s>
  <s xml:id="echoid-s11714" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11715" xml:space="preserve">Der Grund dieſer Erſcheinung läßt ſich auch leicht er-<lb/>kennen, wenn man bedenkt, daß die Kugel, wenn fie auch mit <lb/>großer Geſchwindigkeit durch den Wagen flog, doch immer eine <lb/>gewiſſe Zeit gebraucht hat, um von der einen Wand des <lb/>Wagens zur andern zu fliegen; </s>
  <s xml:id="echoid-s11716" xml:space="preserve">während dieſer Zeit aber iſt <lb/>der Wagen ein kleines Stückchen vorwärts gefahren, ohne daß <lb/>die Kugel an dieſer Fahrt teilgenommen; </s>
  <s xml:id="echoid-s11717" xml:space="preserve">ſo konnte alſo ganz <lb/>natürlich die zweite Wand des Wagens nicht ſo weit vorne <lb/>treffen als die erfte.</s>
  <s xml:id="echoid-s11718" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11719" xml:space="preserve">Machen wir uns nun die Vorſtellung, daß jemand, der <lb/>im Wagen ſitzt, unterſuchen will, in welcher Richtung der <lb/>Schuß gekommen, ſo wird er aus den beiden Löchern in der <lb/>Wänden ſchließen, daß der Schuß in ſchiefer Richtung auf den
<pb o="247" file="0871" n="871"/>
Bahnzug abgefeuert worden ſein müſſe, und zwar von einer <lb/>Stelle aus, die vor dem Zuge gelegen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11720" xml:space="preserve">Nur derjenige, der <lb/>die Geſchwindigkeit des fahrenden Zuges und die Geſchwindig-<lb/>keit der Kugel mit in Rechnung bringt, wird die <emph style="sp">wahre</emph> <lb/>Schußlinie von der <emph style="sp">ſcheinbaren</emph> zu unterſcheiden wiſſen <lb/>und die Richtung genau angeben können, von wo aus <lb/>das Piſtol auf den fahrenden Zug abgefeuert wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s11721" xml:space="preserve">Dieſe <lb/>Richtung wird ſtets hinter derjenigen liegen, auf welche eine <lb/>gerade Linie durch die beiden Löcher des Wagens hindeutet, <lb/>und das heißt nichts anderes, als daß ein Menſch, der bloß <lb/>nach der Lage der zwei Löcher des Wagens urteilt, ohne die <lb/>Geſchwindigkeiten der Kugel und des Wagens in Betracht zu <lb/>ziehen, dem Augenſchein nach die Richtung der Kugel ſtets ein <lb/>Stück nach vorwärts herausfinden wird, wohin der Zug ſich <lb/>bewegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11722" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11723" xml:space="preserve">In einem ganz gleichen Falle aber befinden wir Erd-<lb/>bewohner uns, wenn wir von unſerm Wohnſitz aus, der mit <lb/>uns eine jährliche Spazierfahrt um die Sonne macht, unſer <lb/>Auge zu den Fixſternen erheben, die unbekümmert um uns ihre <lb/>Lichtſtrahlen auf uns herabſenden. </s>
  <s xml:id="echoid-s11724" xml:space="preserve">Der Lichtſtrahl fliegt zwar <lb/>außerordentlich geſchwind, aber die Geſchwindigkeit der Erde <lb/>in ihrer Bahn um die Sonne iſt doch dagegen nicht ganz <lb/>geringfügig. </s>
  <s xml:id="echoid-s11725" xml:space="preserve">Das Licht durchfliegt in einer Sekunde freilich <lb/>mehr als 40 000 Meilen, wohingegen die Erde in ihrer Bahn <lb/>nur 4 Meilen in derſelben Zeit zurücklegt, das Licht iſt alſo <lb/>an zehntauſend mal flinker als unſere Erde, aber trotz der <lb/>großen Überlegenheit des Lichts iſt doch der Lauf der Erde <lb/>in dieſer Beziehung nicht ganz unbemerkbar. </s>
  <s xml:id="echoid-s11726" xml:space="preserve">Denken wir uns <lb/>den Lichtſtrahl eines Fixſterns wie eine Kugel ſenkrecht auf <lb/>den Lauf der Erde abgeſchoſſen, ſo wird er uns dadurch ſicht-<lb/>bar, daß er die Vorderwand des Auges, die glashelle Horn-<lb/>haut paſſiert und zur Hinterwand dringt, wo ſich die Nerven-<lb/>tapete ausbreitet. </s>
  <s xml:id="echoid-s11727" xml:space="preserve">Der Raum zwiſchen dieſen zwei Wänden
<pb o="248" file="0872" n="872"/>
unſeres Auges iſt freilich ſehr klein, nicht einmal ein Zoll <lb/>groß, und die Zeit, mit welcher der Lichtſtrahl dieſen Raum <lb/>durchfliegt, füllt noch nicht den zwölftauſendmillionſten Teil <lb/>einer einzigen Sekunde aus, und dennoch hat in dieſer unfaßbar <lb/>kleinen Zeit unſer Auge nicht ſtill geſtanden, ſondern iſt mit <lb/>der Erde ungefähr den dreizehntauſendſten Teil einer Linie <lb/>ſeitwärts fortgegangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11728" xml:space="preserve">Der Lichtſtrahl trifft alſo die Hinter-<lb/>wand des Auges unter einem andern Winkel als die Vorder-<lb/>wand, und da wir die Sterne ſtets in der Richtung ſehen, in <lb/>welcher ihre Strahlen unſer Auge durchlaufen, vermögen wir <lb/>eben ſo wenig ohne Berechnung der zwei Geſchwindigkeiten <lb/>die <emph style="sp">wahre</emph> Stelle eines Fixſternes anzugeben, ſo wenig <lb/>jemand imſtande iſt, die Richtung der abgeſchoſſenen Kugel <lb/>auf den fahrenden Wagen zu beſtimmen, wenn er nicht die <lb/>Geſchwindigkeit der Kugel und die des Wagens mit in Betracht <lb/>zieht.</s>
  <s xml:id="echoid-s11729" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11730" xml:space="preserve">Was von unſerm Auge gilt, gilt auch von dem Fernrohr, <lb/>das wir auf einen Stern richten. </s>
  <s xml:id="echoid-s11731" xml:space="preserve">In der kleinen Zeit, die das <lb/>Licht braucht, um durch das Fernrohr zu gehen, rückt die Erde <lb/>ſamt dem Fernrohr ein Stückchen weiter in der Bahn. </s>
  <s xml:id="echoid-s11732" xml:space="preserve">Will <lb/>man alſo einen Fixſtern ſehen, ſo muß man das Fernrohr um <lb/>einen kleinen Winkel verſchieben, deſſen Maß abhängt von dem <lb/>Verhältnis der beiden Geſchwindigkeiten, der Licht- und der <lb/>Erdgeſchwindigkeit zu einander. </s>
  <s xml:id="echoid-s11733" xml:space="preserve">Dieſe Thatſache und auch das <lb/>Maß des Winkels hat nun ſchon der große Entdecker Bradley <lb/>genau angegeben, ſo daß jeder Aſtronom noch heutigen Tages <lb/>hierauf acht geben muß, ſobald er irgend eine Himmels-<lb/>erſcheinung genau feſtſtellen will.</s>
  <s xml:id="echoid-s11734" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="249" file="0873" n="873"/>
</div>
<div xml:id="echoid-div306" type="section" level="1" n="252">
<head xml:id="echoid-head279" xml:space="preserve"><emph style="bf">XI. Die Geſchwindigkeit des Lichts und die</emph> <lb/><emph style="bf">Größe der Erdbahn.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11735" xml:space="preserve">Wir haben im vorhergehenden Abſchnitt dargethan, wie <lb/>die Entdeckung Bradley’s von der Abweichung oder der <lb/>Aberration des Lichtes auf den zwei Thatſachen, auf der <lb/>Geſchwindigkeit des Lichtes durch den Weltraum und der <lb/>Geſchwindigkeit der Erde in ihrem Umlauf um die Sonne <lb/>beruht. </s>
  <s xml:id="echoid-s11736" xml:space="preserve">Wir müſſen aber nunmehr daran erinnern, daß die <lb/>Kenntnis beider Geſchwindigkeiten doch wiederum nur in einer <lb/>und derſelben Vorausſetzung wurzelt, in der Vorausſetzung <lb/>nämlich, daß wir die Entfernung der Erde von der Sonne <lb/>genau kennen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11737" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11738" xml:space="preserve">Die Geſchwindigkeit des Lichtes durch den Weltraum hat <lb/>Olav Römer, wie wir bereits gezeigt haben, nur aus den <lb/>Verfrühungen und Verſpätungen geſchloſſen, in welchen uns <lb/>die Verfinſterungen der Jupiter-Monde ſichtbar werden, je <lb/>nachdem die Erde dem Jupiter ſich nähert oder von ihm ent-<lb/>fernt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11739" xml:space="preserve">Aus dem geſamten Unterſchied dieſer Zeit, der 16 Minuten <lb/>26 Sekunden ausmacht, folgerte er ſehr richtig, daß das Licht <lb/>ſo viel Zeit brauche, den Unterſchied in den Entfernungen zu <lb/>durchlaufen, und da dieſer Unterſchied den ganzen Durchmeſſer <lb/>der Erdbahn, oder die doppelte Entfernung der Erde von der <lb/>Sonne beträgt, war er vollkommen berechtigt zu dem Schluß, <lb/>daß das Licht ſo geſchwind durch den Weltraum gehe, daß es <lb/>die Entfernung zwiſchen Erde und Sonne in 8 Minuten <lb/>13 Sekunden durchlaufe.</s>
  <s xml:id="echoid-s11740" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11741" xml:space="preserve">Wie groß aber dieſe Entfernung ſei? </s>
  <s xml:id="echoid-s11742" xml:space="preserve">wieviel Meilen das <lb/>Licht wirklich in jeder Sekunde durchlaufe? </s>
  <s xml:id="echoid-s11743" xml:space="preserve">konnte Olav Römer <lb/>nicht wiſſen und hat hierüber auch keine Zahl angegeben. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11744" xml:space="preserve">Eben ſo wenig aber wie Römer’s Entdeckung konnte Bradley’s <lb/>Entdeckung hierüber einen Aufſchluß bieten. </s>
  <s xml:id="echoid-s11745" xml:space="preserve">Bradley’s Scharf-
<pb o="250" file="0874" n="874"/>
ſinn fand richtig heraus, daß die Geſchwindigkeit des Lichtes <lb/>in Verbindung mit der Geſchwindigkeit der Erde in ihrer <lb/>Bahn eine beſtimmte Abweichung des Lichtſtrahls ſowohl in <lb/>unſeren Augen, wie im Fernrohr zu Wege bringe, Er war <lb/>auch imſtande, das Maß dieſer Abweichung genau und <lb/>richtig anzugeben, weil er das <emph style="sp">Verhältnis</emph> beider Geſchwin-<lb/>digkeiten zu einander kannte. </s>
  <s xml:id="echoid-s11746" xml:space="preserve">Aber den <emph style="sp">abſoluten</emph> Wert <lb/>dieſer Geſchwindigkeiten, das heißt <emph style="sp">die Zahl der Meilen <lb/>für eine Sekunde</emph>, vermochte auch er weder für das Licht <lb/>noch für die Erde zu beſtimmen, da zu beiden Angaben <lb/>die Kenntnis der Sonnen-Entfernung nötig iſt: </s>
  <s xml:id="echoid-s11747" xml:space="preserve">zur Licht-<lb/>geſchwindigkeit, weil Römer’s Entdeckung nur lehrte, wie <lb/>ſchnell das Licht den Durchmeſſer der Erdbahn durchläuft, <lb/>gleichviel wie groß man denſelben annimmt, und zur Erd-<lb/>geſchwindigkeit, weil ſich der Umfang ihrer Bahn eben ſo <lb/>wenig in Meilen beſtimmen läßt, wenn man über die Meilen-<lb/>zahl ihrer Entfernung von der Sonne im Ungewiſſen iſt, <lb/>ſo wenig ſich der Umfang eines Kreiſes angeben läßt, deſſen <lb/>Halbmeſſer unbekannt iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11748" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11749" xml:space="preserve">Bradley’s große Entdeckung hat daher freilich die Ent-<lb/>deckung Römer’s aufs glänzendſte beſtätigt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11750" xml:space="preserve">Ja, Bradley hat <lb/>den Raum der Römerſchen Entdeckung bis in die Unendlichkeit <lb/>hinaus erweitert. </s>
  <s xml:id="echoid-s11751" xml:space="preserve">Was Römer zeigte, betraf nur das Licht <lb/>Jupiters und ſeiner Monde, oder richtiger: </s>
  <s xml:id="echoid-s11752" xml:space="preserve">das Sonnenlicht, <lb/>welches Jupiter ſamt ſeinen Monden zurückſtrahlt, während <lb/>Bradley den Beweis führte, daß das Licht ſämtlicher Fixſterne, <lb/>wie groß auch ihre unendliche Menge iſt, und von wie unermeßlich <lb/>fernen Räumen es zu uns gelangt, wie verſchieden es auch an <lb/>Glanz und an Farbe iſt, gleichviel ob es herrührt aus der <lb/>Milchſtraßen-Region, der unſer ganzes Sonnenſyſtem als ver-<lb/>ſchwindendes Pünktchen angehört, oder aus Nebelflecken ſtammt, <lb/>die als ferne Milchſtraßen unſerm Auge erſcheinen, — mit Einem <lb/>Worte: </s>
  <s xml:id="echoid-s11753" xml:space="preserve">Bradley zeigte, wie dasſelbe Geſchwindigkeitsgeſetz des
<pb o="251" file="0875" n="875"/>
Lichtes für <emph style="sp">alle</emph> Lichter des Himmels, aller Entfernungen, aller <lb/>Zonen, ja ſogar auch aller <emph style="sp">Zeiten</emph> gilt, denn unter den ent-<lb/>fernten Fixſternen des Himmels ſind auch ſolche, deren Licht viele <lb/>Jahrtauſende braucht, um zu uns zu gelangen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11754" xml:space="preserve">— <emph style="sp">Bradley’s</emph> <lb/>Entdeckung hat alſo das Gebiet der Wahrheit und der Er-<lb/>kenntnis weit über Räume und Zeiten hinausgetragen, zu <lb/>welchen ſich unſere Gedanken nur erheben können, wenn ſie <lb/>ſich zur Unendlichkeit des Weltalls emporſchwingen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11755" xml:space="preserve">Allein <lb/>die Frage, die uns ſpeziell intereſſiert, die Frage nach der <lb/><emph style="sp">abſoluten</emph>, nach Zeit und Raum beſtimmten Geſchwindigkeit <lb/>des Lichtes, und ebenſo nach der abſoluten, in gleicher Weiſe <lb/>zu beſtimmenden Geſchwindigkeit der Erde in ihrer Bahn, <lb/>konnte auch Bradley’s Entdeckung nicht löſen, da zur Kenntnis <lb/>beider abſoluten Geſchwindigkeiten die Kenntnis der abſoluten <lb/>in Meilen auszudrückenden Entfernung der Erde von der <lb/>Sonne gehörte, eine Kenntnis, die zu Bradley’s Zeiten noch <lb/>nicht zu erreichen war.</s>
  <s xml:id="echoid-s11756" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11757" xml:space="preserve">Ja, das Streben, die abſolute Geſchwindigkeit des Lichts <lb/>kennen zu lernen, mußte zu den Zeiten <emph style="sp">Römer’s</emph> und <lb/><emph style="sp">Bradley’s</emph> noch ein viel größeres als vorher geworden ſein; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11758" xml:space="preserve">denn mit der Beantwortung dieſer Frage wäre ja auch eine <lb/>andere Frage, die nach der Entfernung der Erde von der <lb/>Sonne gelöſt, um welche ſich nachweisbar beide genannten <lb/>Forſcher ſehr eifrig bemüht haben.</s>
  <s xml:id="echoid-s11759" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11760" xml:space="preserve">Wenn man aber ſchon vor den Zeiten Römer’s an dem <lb/>Gedanken verzweifelte, die Geſchwindigkeit des Lichtes durch <lb/>ein irdiſches Experiment kennen zu lernen, mußte man nach <lb/>der Entdeckung Römer’s ſolchen Gedanken gewiß als einen <lb/>Wahn aufgeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s11761" xml:space="preserve">Man wußte durch Römer’s Entdeckung, daß <lb/>das Licht in 8 Minuten 13 Sekunden von der Sonne bis zu <lb/>uns kommt, man wußte aber auch ſchon durch Meſſungen, die <lb/>der Freund Römer’s, der ältere Caſſini in Paris angeſtellt <lb/>hatte, daß die Sonne ganz gewiß mehr als achtzehn Millionen
<pb o="252" file="0876" n="876"/>
Meilen von uns entfernt ſein müſſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s11762" xml:space="preserve">Hieraus war man alſo <lb/>ſchon damals imſtande zu ſchließen, daß das Licht in einer <lb/>einzigen Sekunde jedenfalls mehr als dreißigtauſend Meilen <lb/>dahin fliegt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11763" xml:space="preserve">Wie ſollte man ſolchen Flug auf unſerer Erde <lb/>meſſen, die in ihrem ganzen Umfang nur 5400 Meilen beträgt, <lb/>einen Raum, den das Licht in einer einzigen Sekunde achtmal <lb/>durcheilt?</s>
  <s xml:id="echoid-s11764" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11765" xml:space="preserve">In der That finden wir keine Spur in der Geſchichte der <lb/>Wiſſenſchaft, daß ſich der Menſchengeiſt bis auf unſere Zeit <lb/>daran gewagt hätte, ſolche Geſchwindigkeiten auf Erden meſſen <lb/>zu wollen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11766" xml:space="preserve">Erſt als die merkwürdige Zwillingsſchweſter des <lb/>Lichtes, als die Elektrizität vor dem Geiſte der Menſchen ſich <lb/>zu enthüllen begann und kühner Forſchertrieb und treue <lb/>Wahrheitsliebe auf die Vermutung kam, daß auch in dieſer <lb/>jetzt ſo dienſtbar gewordenen Botin des Menſchengeiſtes eine <lb/>Schnelligkeit waltet, die der des Lichtes, der Botin des Himmels, <lb/>wohl gar den Preis ablaufen könnte; </s>
  <s xml:id="echoid-s11767" xml:space="preserve">erſt da geriet man nach <lb/>kühnen Verſuchen über die Geſchwindigkeit der Elektrizität auf <lb/>Experimente, die zur Meſſung der Geſchwindigkeit des Lichtes <lb/>führten, und zwar zu Experimenten, welche, wie wir nunmehr <lb/>zeigen werden, den Raum eines Zimmers hinreichend machen, <lb/>Geſchwindigkeiten zu meſſen, für welche man bis dahin nur <lb/>Weltenräume ausreichend erachtet hatte.</s>
  <s xml:id="echoid-s11768" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div307" type="section" level="1" n="253">
<head xml:id="echoid-head280" xml:space="preserve"><emph style="bf">XII. Wie man größte Räume durch kleinſte</emph> <lb/><emph style="bf">Zeitteilchen meſſen kann.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11769" xml:space="preserve">Der Plan, Geſchwindigkeiten, wie die des Lichts, durch <lb/>irdiſche Experimente meſſen zu wollen, wurde in der That erſt <lb/>wieder aufgenommen, nachdem einer der ſcharfſinnigſten Ge-
<pb o="253" file="0877" n="877"/>
lehrten Englands, der Naturforſcher <emph style="sp">Wheatſtone</emph>, einen genialen <lb/>Apparat erſonnen hatte, die Geſchwindigkeit des elektriſchen <lb/>Stromes zu meſſen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11770" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11771" xml:space="preserve">Der elektriſche Strom hatte ſich nämlich aus Verſuchen, <lb/>die man in England bereits in den Jahren 1745—1750 an-<lb/>geſtellt hatte, als unmeßbar ſchnell ergeben. </s>
  <s xml:id="echoid-s11772" xml:space="preserve">Man machte die <lb/>Erfahrung, daß, wenn man einen elektriſchen Funken in einem <lb/>Metalldraht fortleitete, er am andern Ende des Drahtes, wie <lb/>lang dieſer auch gewählt wurde, ſtets augenblicklich zum Vor-<lb/>ſchein kam, und hieraus ſchloß man, daß der elektriſche Strom <lb/>eine viel zu große Geſchwindigkeit habe, um mit unſeren <lb/>Apparaten gemeſſen werden zu können. </s>
  <s xml:id="echoid-s11773" xml:space="preserve">Sollte ein Verſuch <lb/>derart gelingen, ſo mußte ein Apparat erſonnen werden, der <lb/>Unterſchiede der kleinſten Zeitteilchen einer Sekunde merkbar <lb/>machte, und dergleichen ſchien zu den Unmöglichkeiten zu <lb/>gehören.</s>
  <s xml:id="echoid-s11774" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11775" xml:space="preserve">Da trat denn Wheatſtone im Jahre 1825 zunächſt mit einem <lb/>Verſuche auf, der den Beweis lieferte, wie im Bereich der Natur-<lb/>wiſſenſchaften die ſogenannten Unmöglichkeiten ſich oft gar leicht <lb/>löſen laſſen, ſobald ſie nur nicht dem Gebiet der Unwahrheiten <lb/>angehören. </s>
  <s xml:id="echoid-s11776" xml:space="preserve">Er ſtellte einen höchſt einfachen Apparat her, der es <lb/>vorerſt zweifellos machte, daß ſelbſt der millionſte Teil einer <lb/>einzigen Sekunde für uns einen merkbaren, ja ſogar meßbaren <lb/>Zeitabſchnitt ausmacht.</s>
  <s xml:id="echoid-s11777" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11778" xml:space="preserve">Wheatſtone’s Apparat beſtand aus einem kleinen Spiegel <lb/>von der Größe eines Thalers, der mit großer Geſchwindigkeit <lb/>um eine aufrecht ſtehende Axe gedreht wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s11779" xml:space="preserve">Brachte man in <lb/>einem finſtern Zimmer das Auge an den Spiegel und beſah <lb/>durch denſelben die Flamme eines brennenden Lichtes, ſo erſchien <lb/>ſie natürlich, ſobald der Spiegel gedreht wurde, als langer <lb/>Lichtſtreifen, wie ja bekanntlich im drehenden Spiegel jedes <lb/>Bild, das man in demſelben ſieht, einen Rundlauf zu machen <lb/>ſcheint. </s>
  <s xml:id="echoid-s11780" xml:space="preserve">Nun aber ließ Wheatſtone an die Stelle des Kerzen-
<pb o="254" file="0878" n="878"/>
lichtes einen elektriſchen Funken treten und ſagte ſich ganz richtig, <lb/>wenn dieſer Funke auch nur eine ganz kleine Weile leuchtet, <lb/>ſo wird während dieſer Zeit mein Spiegel eine kleine Drehung <lb/>machen, und ich muß alſo auch den Funken wie einen kleinen <lb/>Lichtſtreifen zu ſehen bekommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11781" xml:space="preserve">— Der angeſtellte Verſuch er-<lb/>gab aber, daß dies nicht der Fall war. </s>
  <s xml:id="echoid-s11782" xml:space="preserve">Wie ſchnell auch der <lb/>Spiegel gedreht wurde, jeder elektriſche Funke wurde nur <lb/>als Funke und nie als Lichtſtreifen geſehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11783" xml:space="preserve">Hieraus ſchloß <lb/>Wheatſtone mit vollſter Gewißheit, daß ein elektriſcher Funke, <lb/>der namentlich, wenn er hell und ſtark iſt, auf unſer Auge oft <lb/>ſo wirkt, daß wir ihn nach vielen Sekunden noch zu ſehen <lb/>glauben, dennoch nur äußerſt kurze Zeit exiſtiert, eine gar ſo <lb/>kurze Zeit, daß die Drehung des Spiegels während derſelben <lb/>völlig unmerklich wird.</s>
  <s xml:id="echoid-s11784" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11785" xml:space="preserve">Dieſer Apparat, der faſt wie ein Kinderſpiel einfach iſt, <lb/>hat den geiſtvollen Erfinder auf Schlüſſe von der weitgreifendſten <lb/>Bedeutung geführt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11786" xml:space="preserve">Vor Allem wurde die Geſchwindigkeit <lb/>der Umdrehung des Spiegels geregelt und gemeſſen, und nach <lb/>den Geſetzen der Optik berechnet, wie kurz die Zeitdauer eines <lb/>elektriſchen Funkens mindeſtens ſein muß, wenn er bei einer <lb/>gegebenen Umdrehungs-Geſchwindigkeit des Spiegels immer <lb/>noch als Funke und nicht als Streifen erſcheint. </s>
  <s xml:id="echoid-s11787" xml:space="preserve">Das Reſultat <lb/>war freilich ein negatives. </s>
  <s xml:id="echoid-s11788" xml:space="preserve">Auch bei der allergrößten Ge-<lb/>ſchwindigkeit, mit der der Spiegel gedreht wurde, erſchien der <lb/>Funke ſtets als Funke, und nicht als Streifen, und dies gab <lb/>den Beweis, daß die Zeitdauer eines elektriſchen Funkens für <lb/>unſere Wahrnehmung faſt Null iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11789" xml:space="preserve">Als in ſpäteren, mit ver-<lb/>beſſerten Apparaten angeſtellten Verſuchen Wheatſtone’s die <lb/>Geſchwindigkeit des Spiegels ſich noch mehr ſteigerte, erſchien <lb/>der Funke zwar etwas verlängert, dieſe Verlängerung war aber <lb/>ſo gering, daß er auch hieraus die wirkliche Dauer des elektriſchen <lb/>Funken nicht beſtimmen konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s11790" xml:space="preserve">Aber dieſe negativen Reſultate <lb/>hatten den unendlich wichtigen, poſitiven Wert, daß man nun-
<pb o="255" file="0879" n="879"/>
mehr die Grenze der Meßbarkeit kleiner Zeitteilchen kennen <lb/>lernte, denn die Theorie ergab, daß, wenn ein Funke auch nur <lb/>eine Dauer hat, die den millionſten Teil einer einzigen Sekunde <lb/>ausmacht, dies durch den Drehſpiegel nicht nur merkbar, ſondern <lb/>auch meßbar werden müſſe.</s>
  <s xml:id="echoid-s11791" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11792" xml:space="preserve">Dies war der erſte derartige Verſuch Wheatſtone’s, der <lb/>die Möglichkeit einer unglaublich erſcheinenden Zeitmeſſung be-<lb/>weiſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11793" xml:space="preserve">Wheatſtone ging aber noch weiter und führte auf dieſem <lb/>Wege eine Meſſungs-Methode ein, die, auf die Geſchwindigkeit <lb/>des Lichtes angewendet, von der weitgreifendſten Bedeutung <lb/>wurde.</s>
  <s xml:id="echoid-s11794" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11795" xml:space="preserve">Um dieſe Erweiterung in Wheatſtone’s Apparat deutlich <lb/>zu machen, wollen wir uns vorſtellen, daß wir nicht einen, <lb/>ſondern zwei elektriſche Funken in einem Zimmer erzeugen, und <lb/>die Einrichtung ſo treffen, daß beide Funken in gerader ſenk-<lb/>rechter Linie unter einander zu ſtehen kommen, ſo daß ſie beide <lb/>wie der nebenſtehende Doppelpunkt (:) </s>
  <s xml:id="echoid-s11796" xml:space="preserve">erſcheinen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11797" xml:space="preserve">Betrachten wir <lb/>ſolch zwei zugleich erzeugte Funken mit bloßem Auge, ſo haben <lb/>wir nicht den geringſten Maßſtab des Urteils darüber, ob ſie <lb/>auch wirklich gleichzeitig entſtanden ſind, oder ob der eine um <lb/>ein kleines Zeitteilchen früher da iſt als der andere. </s>
  <s xml:id="echoid-s11798" xml:space="preserve">Nehmen <lb/>wir aber zum Drehſpiegel unſere Zuflucht, und blicken wir unter <lb/>geeigneten Vorrichtungen durch dieſen auf die zwei Funken, <lb/>ſo werden wir eines ganz anderen Urteils fähig. </s>
  <s xml:id="echoid-s11799" xml:space="preserve">Entſtehen <lb/>nämlich wirklich die zwei Funken gleichzeitig, ſo werden wir <lb/>ſie im Drehſpiegel ebenfalls grade einen über dem andern <lb/>ſtehend erblicken. </s>
  <s xml:id="echoid-s11800" xml:space="preserve">— Kommt aber einer der Funken etwas <lb/>ſpäter als der andere, ſo macht der Spiegel in der Zwiſchen-<lb/>zeit eine Drehung, und der ſpäter erſcheinende Funke wird <lb/>nicht mehr in gerader, ſenkrechter Linie mit dem früheren, <lb/>ſondern von dieſem ab ſeitwärts geſchoben erſcheinen, ſo <lb/>daß die zwei Funken in folgender Stellung (:) </s>
  <s xml:id="echoid-s11801" xml:space="preserve">im Spiegel <lb/>geſehen werden.</s>
  <s xml:id="echoid-s11802" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="256" file="0880" n="880"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11803" xml:space="preserve">Dieſer Verſuch mit zwei Funken oder, genauer noch, mit <lb/>drei Funken wurde von Wheatſtone angeſtellt, um zu ſehen, ob <lb/>ſich ein Funke verſpätet, wenn er einen langen Draht zu durch-<lb/>laufen hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s11804" xml:space="preserve">Der Drehſpiegel hatte dabei eine ſolche Geſchwindig-<lb/>keit, und die Anſtellung des Verſuchs war ſo genau, daß eine <lb/>Verſpätung eines Funkens von einem millionſten Teil einer <lb/>einzigen Sekunde ſchon eine merkbare und meßbare Verſchiebung <lb/>zu Wege brachte. </s>
  <s xml:id="echoid-s11805" xml:space="preserve">Der Verſuch ergab denn auch wirklich, daß <lb/>die Elektrizität eine Zeit braucht, um durch einen längeren Draht <lb/>zu gehen, daß dieſe Zeit es bewirkt, daß der aus dem Draht <lb/>austretende Funke ſich verſpätet gegen den Eintrittsfunken, und <lb/>alſo ſeitwärts verſchoben im Drehſpiegel erſcheint; </s>
  <s xml:id="echoid-s11806" xml:space="preserve">und aus der <lb/>Größe dieſer Verſchiebung gewann Wheatſtone das Reſultat, <lb/>daß die Geſchwindigkeit der Elektrizität ſo groß iſt, daß ſie an <lb/>60,000 Meilen in der Sekunde durchläuft, eine Zahl, die in <lb/>den letzten Jahren als zu hoch gegriffen erkannt worden iſt, <lb/>da die Geſchwindigkeit der Elektrizität derjenigen des Lichts <lb/>gleich iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11807" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11808" xml:space="preserve">Die Vorarbeiten in der Meſſung unendlich großer Räume <lb/>durch unendlich kleine Zeit-Abſchnitte gingen den neueſten <lb/>Forſchungen des Lichtes voran, die wir jetzt vorführen wollen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11809" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div308" type="section" level="1" n="254">
<head xml:id="echoid-head281" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIII. Fizeau’s Meſſungen der Geſchwindigkeit</emph> <lb/><emph style="bf">des Lichtes.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11810" xml:space="preserve">Nachdem Wheatſtone’s Verſuch die Möglichkeit dargethan <lb/>hatte, unbegreiflich kleine Zeit-Abſchnitte zur Meſſung unbe-<lb/>greiflich großer Geſchwindigkeiten zu benutzen, ließ ſich’s wohl <lb/>vorausſehen, daß man die Geſchwindigkeit des Lichtes bald
<pb o="257" file="0881" n="881"/>
ebenſo werde durch ein Experiment meßbar machen können, <lb/>wie die Geſchwindigkeit der Elektrizität. </s>
  <s xml:id="echoid-s11811" xml:space="preserve">Gleichwohl verging <lb/>faſt ein Menſchenalter, ehe ſich die Naturforſcher auch dieſer <lb/>Aufgabe bemächtigten.</s>
  <s xml:id="echoid-s11812" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11813" xml:space="preserve">Der Erſte, der einen glücklich erdachten, wenn auch nicht <lb/>von wiſſenſchaftlich wichtigen Erfolgen begleiteten Verſuch zur <lb/>Meſſung der Lichtgeſchwindigkeit anſtellte, war der franzöſiſche <lb/>Naturforſcher <emph style="sp">Fizeau</emph>. </s>
  <s xml:id="echoid-s11814" xml:space="preserve">Obwohl dieſer Verſuch gegenwärtig <lb/>durch Foucault’s Arbeiten überflügelt worden iſt, verdient doch <lb/>die Methode von Fizeau volle Anerkennung, weshalb wir es <lb/>nicht verabſäumen wollen, ſie unſeren Leſern vorzuführen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11815" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11816" xml:space="preserve">Fizeaus Apparat beruhte auf folgendem Prinzip. </s>
  <s xml:id="echoid-s11817" xml:space="preserve">Er be-<lb/>ſtand aus einem Fernrohr, durch welches man auf einen Spiegel <lb/>blicken konnte, der in einer Entfernung von einer Meile auf-<lb/>geſtellt war. </s>
  <s xml:id="echoid-s11818" xml:space="preserve">Seitwärts vom Fernrohr war eine hellleuchtende <lb/>Lampe angebracht, welche einen Lichtſtrahl in das Fernrohr <lb/>warf, daſelbſt aber befand ſich ein ſo geneigter Spiegel, daß er <lb/>den Lichtſtrahl auffing und denſelben nach dem entfernten <lb/>Spiegel reflektierte, von wo ab er wieder zurückgeſtrahlt wurde <lb/>und ins Fernrohr zurückkam. </s>
  <s xml:id="echoid-s11819" xml:space="preserve">Blickte man nun durch das <lb/>Fernrohr, ſo ſah man das Licht der danebenſtehenden Lampe, <lb/>aber nicht direkt, ſondern auf einem Umweg. </s>
  <s xml:id="echoid-s11820" xml:space="preserve">Der Lichtſtrahl <lb/>mußte nämlich erſt ſeitwärts ins Fernrohr eindringen, ſo-<lb/>dann mußte er den Weg von dem Fernrohr durch die ganze <lb/>Meile hin machen, wo der Spiegel aufgeſtellt war, von <lb/>hier aus wurde er ins Fernrohr hinein zurückgeſtrahlt, er <lb/>mußte alſo noch eine Meile Wegs zurücklegen und konnte <lb/>nun erſt von dem Auge geſehen werden, das man an das <lb/>Fernrohr anlegte.</s>
  <s xml:id="echoid-s11821" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11822" xml:space="preserve">Nun aber brachte <emph style="sp">Fizeau</emph> an ſeinem Fernrohr noch folgende <lb/>Vorrichtung an. </s>
  <s xml:id="echoid-s11823" xml:space="preserve">Er ließ in dasſelbe den Rand eines gezahnten <lb/>Rades hineinragen, das an die Stelle, wo der Lichtſtrahl vom <lb/>Fernrohr zum entfernten Spiegel und vom Spiegel zurück zum</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11824" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s11825" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s11826" xml:space="preserve">Volksbücher XVI.</s>
  <s xml:id="echoid-s11827" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="258" file="0882" n="882"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11828" xml:space="preserve">Fernrohr wandert, bald einen Zahn, bald eine Lücke treten <lb/>ließ, wenn es gedreht wurde. </s>
  <s xml:id="echoid-s11829" xml:space="preserve">Stellte man einen Zahn des <lb/>Zahnrades an dieſen Punkt, ſo konnte kein Licht zum entfernten <lb/>Spiegel dringen und natürlich auch keins zurückſtrahlen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11830" xml:space="preserve">Stellte <lb/>man eine Lücke des Zahnrades an dieſen Punkt, ſo hatte der <lb/>Lichtſtrahl die freie Paſſage hin und zurück, und wurde von <lb/>dem Auge in dem Fernrohr geſehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11831" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11832" xml:space="preserve">Wenn aber das Zahnrad gedreht wurde und abwechſelnd <lb/>bald Zahn bald Lücke an dem Punkte ſtand, den der Lichtſtrahl <lb/>ſowohl auf dem Hin-, wie auf dem Rückwege zu durchlaufen <lb/>hatte, ſo ſtellte ſich Folgendes heraus. </s>
  <s xml:id="echoid-s11833" xml:space="preserve">Wenn das Rad lang-<lb/>ſam gedreht wurde, ging der Lichtſtrahl durch eine Lücke hin <lb/>und kam flugs ſo ſchnell wieder zurück, daß er noch durch <lb/>dieſelbe Lücke geſehen werden konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s11834" xml:space="preserve">Beim langſamen Drehen <lb/>hatte das ſchnelle Licht vollauf Zeit zur Hin- und Rückfahrt, <lb/>ehe noch ein Zahn des Zahnrades auf die Lücke folgte, um <lb/>dem Licht den Heimweg abzuſchneiden. </s>
  <s xml:id="echoid-s11835" xml:space="preserve">Begann man jedoch <lb/>das Rad ſchnell und ſchneller zu drehen, ſo kam es dahin, daß <lb/>der Lichtſtrahl zwar durch jede Lücke hin zum Spiegel wan-<lb/>derte, aber wenn er zurückkam, fand er ſeinen Weg durch <lb/>einen Zahn verſperrt, ſo daß das Licht nicht bis zum Auge <lb/>des Beobachters gelangen konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s11836" xml:space="preserve">— Man ſah alſo in dieſem <lb/>Falle gar kein Licht, weil jeder Lichtſtrahl, der durch eine <lb/>Lücke ſeine Hinreiſe machte, bei ſeiner Heimkehr auf einen <lb/>Zahn fiel. </s>
  <s xml:id="echoid-s11837" xml:space="preserve">Trieb man aber die Schnelligkeit des Rades noch <lb/>weiter, ſo gelangte man wieder an eine Grenze, wo das Auge <lb/>des Beobachters das Licht ſehen konnte, denn der Lichtſtrahl, <lb/>der durch eine Lücke des Zahnrades hinging, fand, ſobald das <lb/>Rad ſchnell genug gedreht wurde, bei ſeiner Rückkehr eine <lb/>Nachbarlücke, durch die es hindurch konnte. </s>
  <s xml:id="echoid-s11838" xml:space="preserve">In ſolchem Falle <lb/>konnte natürlich Fizeau mit Beſtimmtheit ſagen: </s>
  <s xml:id="echoid-s11839" xml:space="preserve">der Lichtſtrahl <lb/>braucht genau ſo viel Zeit, um die Meile hin- und zurückzu-<lb/>laufen, wie das drehende Rad braucht, um eine Lücke an die
<pb o="259" file="0883" n="883"/>
Stelle der Nachbarlücke treten zu laſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11840" xml:space="preserve">Fizeau brauchte da-<lb/>her nur die Geſchwindigkeit der Drehung des Zahnrades zu <lb/>meſſen, ſodann die Zeitteilchen zu beſtimmen, in welchen bei <lb/>beſtimmter Geſchwindigkeit die Zahnlücken auf einander folgen, <lb/>um angeben zu können, wie geſchwind jeder Lichtſtrahl die <lb/>zwei Meilen durchwandert.</s>
  <s xml:id="echoid-s11841" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11842" xml:space="preserve">Wie ſich’s von ſelbſt verſteht, waren an Fizeau’s Apparat <lb/>auch all die Vorrichtungen angebracht, die nötig ſind, um die <lb/>Umdrehung des Rades, wie das Folgen der Zähne und Lücken <lb/>aufeinander genau zu beſtimmen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11843" xml:space="preserve">Man konnte durch dieſe <lb/>Vorrichtungen auch die Geſchwindigkeit der Rad-Umdrehung <lb/>ſo regulieren, daß, während der Lichtſtrahl ſeinen Lauf hin <lb/>und zurück durch die zwei Meilen machte, mehrere Zähne oder <lb/>Lücken den Durchgangspunkt paſſierten und beliebig dem Licht-<lb/>ſtrahl die Rückkehr verſperrten oder frei ließen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11844" xml:space="preserve">— Aus wieder-<lb/>holten Verſuchen ergab ſich denn, daß das Licht eine Zeit von <lb/>circa dem ein und zwanzigtauſendſten Teil einer Sekunde ge-<lb/>braucht habe, um die Strecke von zwei Meilen zu durchlaufen <lb/>oder genauer, daß das Licht in {1/18144} Sekunden durch 17266 <lb/>Meter ging, was ſo ungefähr mit der Lichtgeſchwindigkeit über-<lb/>einſtimmte, welche man bis dahin auf aſtronomiſchem Wege <lb/>beſtimmt hatte.</s>
  <s xml:id="echoid-s11845" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11846" xml:space="preserve">Das Sinnreiche in dem Verſuche von Fizeau hat, als er <lb/>damit auftrat, mit Recht volle Anerkennung gefunden. </s>
  <s xml:id="echoid-s11847" xml:space="preserve">Obwohl <lb/>dieſe Verſuche jetzt ſehr überflügelt ſind, läßt ſich wohl voraus-<lb/>ſehen, daß einmal Verbeſſerungen an Fizeau’s Apparat auch <lb/>wiſſenſchaftlich ſtrengere Reſultate würden ergeben können. </s>
  <s xml:id="echoid-s11848" xml:space="preserve">Der <lb/>Hauptſache nach aber konnte der Verſuch wegen vieler Umſtände <lb/>nicht auf jene Genauigkeit Anſpruch machen, um durch ihn <lb/>aſtronomiſche Angaben zu verbeſſern. </s>
  <s xml:id="echoid-s11849" xml:space="preserve">Eine Entfernung von <lb/>einer Meile iſt für feine Meſſungen eine zu unſichere Größe; <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11850" xml:space="preserve">Zähne und Lücken eines Rades mögen wohl bei noch ſo <lb/>feiner Arbeit ſtets Unſicherheiten in Beobachtung von Licht-
<pb o="260" file="0884" n="884"/>
ſtrahlen darbieten; </s>
  <s xml:id="echoid-s11851" xml:space="preserve">hauptſächlich aber iſt die Empfindlichkeit <lb/>eines ſolchen Apparates ſehr gering im Vergleich mit der <lb/>eines Drehſpiegels, wie ihn Wheatſtone zur Meſſung der <lb/>Elektrizitäts-Geſchwindigkeit angewendet hatte. </s>
  <s xml:id="echoid-s11852" xml:space="preserve">Wir werden <lb/>daher ſehen, wie <emph style="sp">Foucault</emph>, der dieſen Weg Wheatſtone’s <lb/>wieder aufnahm, zu glücklicheren und wichtigeren Reſultaten <lb/>als ſeine Vorgänger in der Meſſung der Lichtgeſchwindigkeit <lb/>gelangen konnte.</s>
  <s xml:id="echoid-s11853" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div309" type="section" level="1" n="255">
<head xml:id="echoid-head282" xml:space="preserve"><emph style="bf">XIV. Genauere Beſtimmung der Licht-</emph> <lb/><emph style="bf">Geſchwindigkeit.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11854" xml:space="preserve">Die Erfindung Wheatſtone’s, ſich eines drehenden Spiegels <lb/>zur Meſſung großer Geſchwindigkeit in ſehr kleinen Zeiten zu <lb/>bedienen, wurde unſeres Wiſſens ſchon einmal um das Jahr <lb/>1840 von <emph style="sp">Arago</emph> in Paris auf das Licht angewendet, um zu <lb/>ermitteln, ob ſich ein Lichtſtrahl verſpäte, wenn er durch Waſſer <lb/>geleitet wird, im Vergleich mit einem Lichtſtrahl, der durch <lb/>die Luft ſeinen Weg nimmt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11855" xml:space="preserve">— Der Aragoſche Verſuch ſcheint <lb/>indeſſen auf Schwierigkeiten geſtoßen zu ſein, die ſein Ergebnis <lb/>unſicher machten, weshalb denn auch jetzt des Verſuches, der <lb/>anfangs viel verſprechend zu ſein ſchien, keine weitere Erwäh-<lb/>nung geſchieht. </s>
  <s xml:id="echoid-s11856" xml:space="preserve">Der Naturforſcher <emph style="sp">Foucault</emph> in Paris hatte <lb/>indeſſen in ſpäterer Zeit die Erfindung Wheatſtone’s wieder <lb/>aufgenommen und durch verbeſſerte Einrichtungen eine Meſſung <lb/>der Lichtgeſchwindigkeit bewerkſtelligt, welche an Feinheit kaum <lb/>etwas zu wünſchen übrig läßt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11857" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11858" xml:space="preserve">Um unſeren Leſern eine Vorſtellung von dieſen Meſſungen <lb/>zu geben, wollen wir zunächſt bemerken, daß der ganze Ap-<lb/>parat Foncault’s im Raume eines gewöhnlichen Zimmers auf-
<pb o="261" file="0885" n="885"/>
geſtellt iſt, alſo der weiten Strecken, wie der Verſuch von <lb/>Fizeau, nicht bedarf; </s>
  <s xml:id="echoid-s11859" xml:space="preserve">auch ſind die Meſſungen Foucault’s <lb/>mittelſt eines Mikroſkops ausgeführt, das große Feinheiten <lb/>der Meſſungen zuläßt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11860" xml:space="preserve">Der Apparat ſelbſt beſitzt folgende <lb/>Einrichtung.</s>
  <s xml:id="echoid-s11861" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11862" xml:space="preserve">Vor einem Mikroſkop, an das der Beobachter ſein Auge <lb/>bringen kann, befindet ſich ein kleiner, von Sonnenſtrahlen be-<lb/>leuchteter Glasſpiegel mit Silberbelegung, in welchem äußerſt <lb/>feine, ſenkrechte Striche gezogen ſind, die {1/10} Millimeter, alſo <lb/>etwa in der Breite eines feinen Menſchenhaares von einander <lb/>abſtehen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11863" xml:space="preserve">Beim Blick durch das Mikroſkop ſieht man dieſe <lb/>Striche, die von einem der vorzüglichſten Mechaniker in Paris <lb/>mit großer Genauigkeit gezeichnet ſind, ſehr deutlich und <lb/>vermag ihre Lage mit großer Schärfe zu meſſen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11864" xml:space="preserve">Wir nennen <lb/>dieſe Spiegelplatte mit den feinen Strichen: </s>
  <s xml:id="echoid-s11865" xml:space="preserve">das <emph style="sp">Seh-<lb/>Zeichen</emph>.</s>
  <s xml:id="echoid-s11866" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11867" xml:space="preserve">Drei Fuß ab von dieſem Seh-Zeichen befindet ſich ein <lb/>kleiner, aufrecht ſtehender Spiegel, welcher durch ein Triebwerk <lb/>von großer Gleichmäßigkeit um eine ſenkrechte Axe gedreht <lb/>werden kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s11868" xml:space="preserve">Für den Augenblick wollen wir annehmen, daß <lb/>der Spiegel, den wir fortan <emph style="sp">Drehſpiegel</emph> nennen wollen, <lb/>nicht gedreht wird und ſich in einer Stellung befindet, wo er <lb/>das Licht des Seh-Zeichens wiederſpiegelt und auf einen ihm <lb/>gegenüberſtehenden Hohlſpiegel wirft, der in etwa zwölf Fuß <lb/>Entfernung aufgeſtellt iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11869" xml:space="preserve">Von dieſem Hohlſpiegel aus hat <lb/>das Licht aber noch weitere Wanderungen durch vier andere <lb/>Hohlſpiegel zu machen, die in gleich weiter Entfernung von <lb/>12 Fuß einander gegenüberſtehen und ſo eingerichtet ſind, daß <lb/>ſie das Licht der Reihe nach, von einem zum andern ſpiegeln, <lb/>bis es an den fünften Hohlſpiegel kommt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11870" xml:space="preserve">Dieſer iſt ſo ſenk-<lb/>recht zum Lichtſtrahl geſtellt, daß er das Licht genau in der-<lb/>ſelben Linie zurückwirft, wie er es empfangen, und ſomit einen <lb/>Rücklauf des Lichtes durch die ganze Reihe der Hohlſpiegel
<pb o="262" file="0886" n="886"/>
veranlaßt, durch welche es wieder heimkehrend auf die Fläche <lb/>des Drehſpiegels gelangt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11871" xml:space="preserve">Denken wir uns den Drehſpiegel <lb/>noch immer ruhend, ſo wird das rückkehrende Bild des Seh-<lb/>Zeichens genau mit dem Seh-Zeichen zuſammenfallen und <lb/>durch das Mikroſkop betrachtet nur einfach und in der ur-<lb/>ſprünglichen Lage erſcheinen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11872" xml:space="preserve">Sobald jedoch der Drehſpiegel <lb/>in Umdrehung verſetzt wird, findet das Licht des Seh-Zeichens, <lb/>wenn es aus den Hohlſpiegeln wieder heimkehrt, den Dreh-<lb/>ſpiegel nicht mehr an derſelben Stelle als auf der Hinreiſe. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11873" xml:space="preserve">Der Drehſpiegel hat in der geringen Zeit, die das Licht zur <lb/>Durchwanderung der Strecke zwiſchen allen Spiegeln hin und <lb/>zurück gebraucht, eine kleine Wendung gemacht und wirft den <lb/>heimkehrenden Strahl nicht mehr in derſelben Linie zurück, wie <lb/>er ihn empfing. </s>
  <s xml:id="echoid-s11874" xml:space="preserve">Es fallen demnach die Bilder des Seh-Zeichens <lb/>nicht mehr auf einander, ſondern das heimkehrende Bild iſt <lb/>wegen der Drehung des Spiegels ein wenig verſchoben. </s>
  <s xml:id="echoid-s11875" xml:space="preserve">In-<lb/>dem man nun dieſe Verſchiebung genau durch das Mikroſkop <lb/>mißt, vermag man bei genauer Kenntnis der Geſchwindigkeit, <lb/>mit der der Drehſpiegel gedreht wurde, die Zeit zu berechnen, <lb/>die das Licht gebraucht hat, um die Wanderung hin und zurück <lb/>durch die ganze Strecke zu machen, die zwiſchen all den <lb/>Spiegeln liegt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11876" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11877" xml:space="preserve">Es verſteht ſich von ſelbſt, daß die Genauigkeit all der <lb/>nötigen Meſſungen abhängig iſt von der Feinheit ſämtlicher <lb/>Teile des Apparates und der Schärfe, die ſie für die Beobach-<lb/>tung gewähren. </s>
  <s xml:id="echoid-s11878" xml:space="preserve">Da nun die Leiſtungen des Apparates ſehr <lb/>zuverläſſig waren, konnte das Reſultat im Vergleich mit dem <lb/>von Fizeau ein genaueres ſein. </s>
  <s xml:id="echoid-s11879" xml:space="preserve">Die Rechnung ergab nach ſehr <lb/>fleißig wiederholten Meſſungen, daß das Licht in einer Sekunde <lb/>rund 298 000 Kilometer oder 40 367 geographiſche Meilen <lb/>durchläuft.</s>
  <s xml:id="echoid-s11880" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11881" xml:space="preserve">So hat denn ein Experiment, angeſtellt im Raume eines <lb/>Zimmers, durch eine Meſſung von haarfeinen Strichen, über
<pb o="263" file="0887" n="887"/>
eine Frage entſchieden, die Erſcheinungen betrifft, welche im <lb/>weiten Himmelsraum ſpielen, und Fernen in ſich begreift, zu <lb/>welchen ſich nur der Geiſt der Wiſſenſchaft erhebt, die kühn <lb/>über Zeiten und Räume ihre Bahnen verfolgt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11882" xml:space="preserve">Das Merk-<lb/>würdigſte aber iſt hierbei die Übereinſtimmung, die ſich auch <lb/>hieraus ergiebt, daß man bis jetzt die Sonnen-Entfernung zu <lb/>groß angenommen und darum bisher die Geſchwindigkeit des <lb/>Lichtes zu hoch berechnet hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s11883" xml:space="preserve">Die Geſchwindigkeit des Lichtes, <lb/>wie ſie Foucault durch ſeine Verſuche feſtgeſtellt, entſpricht <lb/>ganz und gar den Reſultaten all der bereits angeführten, neuen <lb/>aſtronomiſchen Forſchungen, nach welchen die früher ange-<lb/>nommene Entfernung der Sonne von der Erde um {1/30} ver-<lb/>mindert werden muß.</s>
  <s xml:id="echoid-s11884" xml:space="preserve"/>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div310" type="section" level="1" n="256">
<head xml:id="echoid-head283" xml:space="preserve"><emph style="bf">XV. Schlußbetrachtung.</emph></head>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11885" xml:space="preserve">Die Übereiuſtimmung, welche ſich in den neueſten Ergeb-<lb/>niſſen der Naturforſcher über die Sonnen-Entfernung zeigt, <lb/>gewährt eine Bürgſchaft für die Sicherheit des Reſultats, wie <lb/>ſie in ſolchem Grade ſelten auf wiſſenſchaftlichem Gebiete zu <lb/>erreichen iſt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11886" xml:space="preserve">Es liegt aber auch in dieſer Übereinſtimmung <lb/>ein Zeugnis für die Wahrhaftigkeit des Strebens der Natur-<lb/>wiſſenſchaft, wie es in ſo glänzender Weiſe in keinem andern <lb/>Zweige der menſchlichen Forſchung nachzuweiſen iſt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11887" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11888" xml:space="preserve">Die Sicherheit des Reſultats betreffend brauchen wir nur <lb/>darauf hinzuweiſen, wie es äußerſt ſelten in der Wiſſenſchaft <lb/>vorkommt, daß irgend eine Frage auf <emph style="sp">fünf</emph> verſchiedenen <lb/>Wegen, die zu einander in keiner Beziehung ſtehen, gelöſt <lb/>werden kann. </s>
  <s xml:id="echoid-s11889" xml:space="preserve">Man hält in der Regel ſchon jedes wiſſenſchaft-<lb/>liche Reſultat für ſehr zuverläſſig, wenn zwei verſchiedenartige
<pb o="264" file="0888" n="888"/>
Methoden ein übereinſtimmendes Ergebnis liefern, wodurch die <lb/>möglichen Fehler und Irrtümer der einen Methode durch die <lb/>andere korrigiert würden. </s>
  <s xml:id="echoid-s11890" xml:space="preserve"><emph style="sp">Fünf</emph> unabhängig von einander <lb/>unternommene Unterſuchungen, die zu einem und demſelben <lb/>Reſultate führen, gewähren ſchon eine Zuverſicht, die jeden <lb/>Zweifel niederſchlägt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11891" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11892" xml:space="preserve">Mehr aber noch als dieſe Zuverſicht des wiſſenſchaftlichen <lb/>Reſultates iſt die Wahrheitstreue erfreulich, welche in all <lb/>ſolchen Fällen zum Ruhme der Naturwiſſenſchaft an das <lb/>Licht tritt.</s>
  <s xml:id="echoid-s11893" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11894" xml:space="preserve">Vergleichen wir nämlich dieſe Wiſſenſchaft, wie ſie ſich <lb/>auf dem Boden der thatſächlichen Wirkſamkeit hält, mit irgend <lb/>einer anderen, die auf ſpekulativen Grundſätzen beruht, ſo <lb/>nehmen wir wahr, daß im Reiche der Naturwiſſenſchaft der <lb/>Fortſchritt in der immer wachſenden Genauigkeit beſteht, mit <lb/>welcher die Erſcheinungen beobachtet werden, und mit der man <lb/>Schlüſſe zu ziehen imſtande iſt, die der Wahrheit immer näher <lb/>und näher kommen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11895" xml:space="preserve">Hier iſt eine neue Methode der Unter-<lb/>ſuchung nicht eine <emph style="sp">Verwerfung</emph>, ſondern eine <emph style="sp">Verbeſſerung</emph> <lb/>der älteren. </s>
  <s xml:id="echoid-s11896" xml:space="preserve">Betreten auf dem Gebiete der Naturwiſſenſchaft <lb/>verſchiedene Forſcher verſchiedenartige Bahnen zu einem Ziele, <lb/>ſo wird jeder von ihnen nur dann ſein gefundenes Reſultat <lb/>für ſicher halten, wenn es nicht in Widerſpruch, ſondern in <lb/>Übereinſtimmung ſteht mit den gefundenen Reſultaten der <lb/>anderen. </s>
  <s xml:id="echoid-s11897" xml:space="preserve">In den ſogenannten ſpekulativen Wiſſenſchaften iſt <lb/>gerade das Gegenteil der Fall. </s>
  <s xml:id="echoid-s11898" xml:space="preserve">Ein jeder Forſcher philoſo-<lb/>phiert nicht nur in eigener Weiſe fort, ſoudern ſieht den Wert <lb/>ſeiner Philoſophie darin, daß ſie durchaus anders ſei, als die <lb/>ſeines Vorgängers. </s>
  <s xml:id="echoid-s11899" xml:space="preserve">Er beginnt die ganze Wiſſenſchaft immer <lb/>noch einmal von vorne und baut ſein Syſtem ſtets nur auf, <lb/>damit dieſes, wie die Erfahrung lehrt, von ſeinem Nachfolger <lb/>nicht fortgebaut, ſondern umgeſtoßen und auf Grund neuer <lb/>ſpekulativer Ideen ganz neu wieder aufgerichtet werde.</s>
  <s xml:id="echoid-s11900" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="265" file="0889" n="889"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11901" xml:space="preserve">Der ſiegreiche Gang der Naturwiſſenſchaft beruht denn <lb/>auch in der That in dieſem ſtetigen Fortbau der Wahrheit, in <lb/>dem, was in Wirklichkeit eine volle Geſchichte des Fortſchrittes <lb/>bereits aufzuweiſen hat. </s>
  <s xml:id="echoid-s11902" xml:space="preserve">Was beiſpielsweiſe zur Erforſchung <lb/>der Sonnen-Entfernung <emph style="sp">Tycho</emph> vermutet, was <emph style="sp">Caſſini</emph> erſtrebt, <lb/>was <emph style="sp">Halley</emph> gehofft, was <emph style="sp">Encke</emph> berechnet, was <emph style="sp">Hanſen</emph> ver-<lb/>beſſert, was <emph style="sp">Leverrier</emph> korrigiert, was neuere Meſſungen der <lb/>Mars-Entfernung ergeben und <emph style="sp">Foucault’s</emph> Experimente lehren, <lb/>all’ das ſind immer fort und fort ſtete Näherungen zur Wahr-<lb/>heit. </s>
  <s xml:id="echoid-s11903" xml:space="preserve">Jeder Schritt im Tempel des wahren Wiſſens entſcheidet <lb/>Fragen, ohne einen Streit zu entzünden, und betreten verſchie-<lb/>dene Jünger verſchiedene Pforten, ſo wird es als höchſter <lb/>Triumph der Wiſſenſchaft und als Zeugnis ihres wahrhaften <lb/>Strebens betrachtet, wenn ſie zuſammentreffend zum gemein-<lb/>ſamen Ergebnis gelangen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11904" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11905" xml:space="preserve">Dieſe herrliche Harmonie, die wir als beſte Bürgſchaft der <lb/>Wahrheit und edelſtes Zeugnis des fortſchreitenden Wiſſens <lb/>zu betrachten haben, legt uns aber auch ganz beſonders die <lb/>Pflicht auf, die höchſte Achtung und treueſte Verehrung der-<lb/>jenigen Wiſſenſchaft und all ihren Trägern und Jüngern zu <lb/>zollen, die die Grundbaſis all unſerer Natur-Erkenntnis, ja <lb/>die all unſeres realen Wiſſens bildet. </s>
  <s xml:id="echoid-s11906" xml:space="preserve">Die <emph style="sp">Aſtronomie</emph>, die <lb/>Kenntnis des unendlichen Weltbaues, die Einſicht in die <lb/>Fernen, zu denen der Menſchenblick nur mit Scheu ſich empor-<lb/>richtet, die Erklärung der Erſcheinungen, von denen der Geiſt <lb/>der Menſchen durch Jahrtauſende in demutsvoller Unwiſſenheit <lb/>zagend ſtand, die Lehren der Bewegungen, deren Rätſel zu <lb/>enthüllen einſt Vermeſſenheit erſchien, die Beſtimmung von <lb/>Kräften und Wirkungen, von Fernen und Geſchwindigkeiten, <lb/>zu welchen ſich ſonſt die menſchliche Phantaſie nicht empor <lb/>gewagt; </s>
  <s xml:id="echoid-s11907" xml:space="preserve">die <emph style="sp">Aſtronomie</emph> iſt die Urquelle des wahren <lb/>Fortſchrittes ſchon von allen Zeiten her, und ſie iſt gegen-<lb/>wärtig auch der <emph style="sp">Beleg</emph> und der <emph style="sp">Prüfſtein</emph> der meiſten</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11908" xml:space="preserve">A. </s>
  <s xml:id="echoid-s11909" xml:space="preserve"><emph style="sp">Bernſtein</emph>, Naturw. </s>
  <s xml:id="echoid-s11910" xml:space="preserve">Volksbücher XVI.</s>
  <s xml:id="echoid-s11911" xml:space="preserve"/>
</p>
<pb o="266" file="0890" n="890"/>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11912" xml:space="preserve">Wahrheiten, die wir auf dem Gebiete des realen Wiſſens <lb/>erringen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11913" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11914" xml:space="preserve">Wir haben in unſerem Thema mehrfach der Störungs-<lb/>Rechnungen gedacht, durch welche ſowohl <emph style="sp">Hanſen</emph> wie <emph style="sp">Le-<lb/>verrier</emph> auf die erwähnten Reſultate über die Sonnen-Ent-<lb/>fernung geführt worden ſind. </s>
  <s xml:id="echoid-s11915" xml:space="preserve">Wir haben hier in unſerer <lb/>Schlußbetrachtung die Pflicht es auszuſprechen, daß keine dieſer <lb/>Rechnungen möglich geweſen wäre und ebenſo keine in irgend <lb/>einem Punkte hätte eine Entſcheidung gewähren können, wenn <lb/>den rechnenden Aſtronomen nicht als Belege und Prüfſteine <lb/>ihrer kühnen Kombinationen die fleißigſten Beobachtungen zu <lb/>Gebote geſtanden hätten, welche auf den Sternwarten durch <lb/>lange Jahrzehnte ganz objektiv und ohne jede vorgefaßte <lb/>Meinung angeſtellt und mit Sorgſamkeit notiert werden. <lb/></s>
  <s xml:id="echoid-s11916" xml:space="preserve">Dieſe unzähligen Beobachtungen und Meſſungen, die an ſich <lb/>nur Thatſachen feſtſtellen, ohne zunächſt Folgerungen daraus <lb/>zu ziehen, bilden die feſte Grundlage, auf die allein der ſpäter <lb/>auftretende, rechnende Denker ſich zu ſtützen vermag, wenn er <lb/>von neuen Ideen erfaßt nach neuen Aufſchlüſſen und Ent-<lb/>deckungen ſtrebt. </s>
  <s xml:id="echoid-s11917" xml:space="preserve">Die unausgeſetzten Meſſungen auf den euro-<lb/>päiſchen Sternwarten im Verein mit den Meſſungen aller <lb/>beſſeren Obſervatorien fremder Weltteile ſind Regiſtrierungen <lb/>thatſächlicher Erſcheinungen, die den Leitfaden geiſtiger For-<lb/>ſchungen abgeben für oft erſt ſehr ſpät ans Licht tretende <lb/>Folgerungen und Erkenntniſſe. </s>
  <s xml:id="echoid-s11918" xml:space="preserve">Es iſt ein Ineinanderwirken <lb/>und eine Gemeinſamkeit der Leiſtungen, deren Frucht erſt die <lb/>kommenden Zeiten genießen, wenn nach der Feſtſtellung der <lb/>Wirklichkeit der Erſcheinungen die Geiſter auftreten, welche <lb/>die Geſetze derſelben zu entwickeln, die Rätſel zu löſen ver-<lb/>ſtehen.</s>
  <s xml:id="echoid-s11919" xml:space="preserve"/>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11920" xml:space="preserve">Die Aſtronomie iſt eine der unbezwinglichſten Fortſchritts-<lb/>Wiſſenſchaften von Alters her. </s>
  <s xml:id="echoid-s11921" xml:space="preserve">Sie iſt es, die den Schein <lb/>zerſtört, die das Vorurteil am gründlichſten vernichtet, die den
<pb o="267" file="0891" n="891"/>
Menſchengeiſt am kühnſten von den Schranken des Wahns <lb/>und des Aberglaubens frei macht und die zu allen Zeiten <lb/>Troſt, Erholung und Erhebung bietet, wenn man in düſtern, <lb/>geiſtbedrückenden Verhältniſſen und herzbekümmernden Zu-<lb/>ſtänden bei ihr Zuflucht ſucht!</s>
</p>
<p>
  <s xml:id="echoid-s11922" xml:space="preserve">Möge, wie in ihrem Bereiche, auch auf jedem geiſtigen <lb/>Gebiete des menſchlichen Fortſchrittes die Zeit ungetrübter <lb/>Wahrheiten bald nahen!</s>
</p>
</div>
<div xml:id="echoid-div311" type="section" level="1" n="257">
<head xml:id="echoid-head284" xml:space="preserve">Druck von G. Bernſtein in Berlin.</head>
<pb file="0892" n="892"/>
<pb file="0893" n="893"/>
<pb file="0894" n="894"/>
<pb file="0895" n="895"/>
<pb file="0896" n="896"/>
  </div></text>
</echo>