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author | Klaus Thoden <kthoden@mpiwg-berlin.mpg.de> |
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date | Thu, 02 May 2013 15:04:28 +0200 |
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<?xml version="1.0" encoding="UTF-8"?> <archimedes> <info> <author>Schlick, Moritz </author> <title>Schlick to Reichenbach, 26.11.1920</title> <date>1920</date> <place>Rostock</place> <translator/> <lang>de</lang> <locator/> <echodir>/permanent/echo/quantum_project/hr-ms/MS_an_Reichenbach_19201126</echodir> </info> <text> <body> <pb/> <p type="place" id="id7600432">Rostock, </p> <p type="date" id="id7600504">den 26. Nov.1920.<lb/></p> <p type="address" id="id7600648">Orleans-Str. 23<lb/></p> <p type="title" id="id7600792">Sehr geehrter Herr Kollege,<lb/></p> <p type="main" id="id7600936">schönen Dank für Ihr Schreiben vom 17. des vorigen Monats.<note id="id7601008" n="1"><p type="main" id="id7601080"> Hans Reichenbach an Moritz Schlick, Stuttgart, 17. Oktober 1920.</p></note> Hundert <lb/>kleine Störungen sind an der Verspätung der Antwort schuld, denn sie lie-<lb/>ßen mich nicht die Muße finden, die für einen längeren Brief erforderlich <lb/>ist, in dem ich meinen Standpunkt dem Ihren in aller Ausführlichkeit ge-<lb/>genüberstellen möchte, um, wie ich hoffe, durch gegenseitige Annäherung <lb/>schließlich zu einer Übereinstimmung zu gelangen. Ich darf vielleicht mit <lb/>einigen Bemerkungen allgemeinerer Natur beginnen, und dann auf einige Ein-<lb/>zelheiten Ihrer Schrift <note id="id7601728" n="2"><p type="main" id="id7601800"> Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori. Berlin: Springer 1920.</p></note>Punkt für Punkt eingehen.<lb/></p> <p type="main" id="id7602016">Wie Sie ganz richtig bemerkten, habe ich in meinem Verhältnis zur Kant-<lb/>schen Philosophie hauptsächlich die negative Seite betont, während Sie al-<lb/>les Haltbare daran in der freundlichsten Weise hervorkehren; und dadurch <lb/>erscheint die Kluft zwischen uns größer als sie in Wirklichkeit ist. Sie <lb/>werden gewiß glauben, daß ich im Grunde vor dem al-<lb/>ten Königsberger einen gewaltigen Respekt habe. Aber ich muß bekennen, daß mir in allen sei-<lb/>nen großen Kritiken doch ein reaktionärer Geist am Werke zu sein scheint. <lb/>Kant war eingestandenermaßen in die Metaphysik verliebt, und als der Posi-<lb/>tivismus Humes ihn im Innersten erschüttert hatte, blieb sein sehnlichster <lb/>Wunsch, zu retten, was sich an Notwendigem und Allgemeingültigem retten <lb/>ließ. Synthetische Sätze dieser Art glaubte er in der Mathematik und in <lb/>der "reinen Naturwissenschaft" vorzufinden, und er erkläre sie und recht-<lb/>fertigte ihre Geltung, indem er die allgemeinsten Gesetze der Natur <lb/> zugleich als die Prinzipien der Natur<emph type="underline">erkenntnis</emph> enthüllte (als Prin-<lb/>zipien der Möglichkeit der Erfahrung). Mit andern Worten (denn für ihn war <lb/>dies dasselbe): er identifizierte die evidenten allgemeinen Sätze der Na-<lb/>turwissenschaft mit den Prinzipien, die den Erfahrungsgegenstand konstitu-<lb/>ieren. Gerade hierin, d.h. in der Vereinigung der beiden von Ihnen sehr <lb/>richtig unterschiedenen Begriffe des Apriori scheint mir ein so wesentli-<lb/>cher Gedanke des Kritizismus zu liegen, daß man nicht daran rütteln kann, <lb/>ohne sich weit außerhalb der Kantischen Philosophie zu stellen. Da Sie nun <lb/>jene Identifizierung mit derselben Energie ablehnen wie ich, so sind wir <lb/>m.E. beide weit davon entfernt, Kantianer zu sein. Ich bitte Sie, im Zwei-<lb/>felsfalle folgendes zu bedenken 1), das Apriori im ersten Sinne (evident, <lb/>apodictisch giltig) ist ja ganz gewiß nicht für den Kritizismus characte <lb/>ristisch, sondern bildet von Descartes her ein altes Erbstück der Philoso-<lb/>phie; 2) bei der zweiten Art des Apriori (Gegenstandsbegriff bestimmend) <lb/>hat Kant zwar das große Verdienst der ausdrücklichen scharfen Formulierung, <lb/>der Sache nach aber wird es implizite von jeder Erkenntnistheorie anerkannt, <lb/>der Leibnizschen wie der Humeschen, und eine Ausnahme bildet nur der ex-<lb/>tremste Sensualismus, von dessen Unhaltbarkeit ich natürlich ebenso wie <lb/>Sie überzeugt bin. Mir ist die Voraussetzung gegenstandskonstitutierender <lb/>Prinzipien so selbstverständlich, daß ich, zumal in der "Allg. Erkenntnis1." <note id="id7625008" n="3"><p type="main" id="id7625080"> Moritz Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre. Berlin: Springer 1918.</p></note><lb/>nicht nachdrücklich genug darauf hinwies (gelegentlich aber hab' ichs doch <lb/>getan. Nachher noch mehr hierüber). Es ist ganz klar, daß eine Wahrnehmung <lb/>nur dadurch zur "Beobachtung" oder gar "Messung" wird, daß gewisse Prinzi-<lb/>pien vorausgesetzt werden, durch die dann der Begriff des beobachteten oder<pb/> gemessenen Gegenstandes aufgebaut wird. In diesem Sinne sind die Prinzi-<lb/>pien a priori zu nennen - Kant aber würde uns unzweifelhaft sagen, daß <emph type="underline">dies</emph> <lb/>Apriori <emph type="underline" >allein</emph> keinen Pfifferling wert sei; es komme vielmehr darauf an,<lb/> daß jene Prinzipien identisch mit den evidenten Axiomen wären (z.B. Kausal-<lb/> satz, Substanzgesetz); erst dann haben sie alle Merkmale des Kantschen A-<lb/> priori. Es bestehen ja aber außerdem noch die beiden Möglichkeiten, daß je-<lb/>ne Prinzipien Hypothesen oder daß sie Konventionen sind. Nach meiner Mei-<lb/>nung trifft gerade das zu, und es ist der Kernpunkt meines Briefes, daß <lb/>ich nicht herauszufinden vermag, worin sich Ihre Sätze a priori von den <lb/>Konventionen eigentlich unterscheiden - sodaß wir also im wichtigsten Punk-<lb/>te einer Meinung wären. Daß Sie über die Poincarésche Konventionslehre mit <lb/>so wenigen Worten hinweg gehen, hat mich an Ihrer Schrift am meisten ge-<lb/>wundert.-- Damit komme ich zu den speziellen Punkten Ihres Buches. Da es <lb/>eben <emph type="underline" >Differenz</emph>punkte sind, auf die es heute ankommt, so muß das folgende <lb/> als Mäkelei erscheinen; ich bitte Sie deshalb, sich vor Augen zu halten, <lb/>daß gerade die Ausführlichkeit in der Aufzählung der Abweichungen wieder <lb/>ein Zeichen dafür ist, welch hohe Bedeutung ich Ihrer Arbeit im ganzen wie <lb/>im einzelnen beimesse.<lb/></p> <p type="main" id="id7631184">Sie sagen in Anm. 1 zu S. 3 <note id="id7631256" n="4"><p type="main" id="id7631328"> Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori. Berlin: Springer 1920, S. 104, Anm. 1 zu S. 3. Darin Verweis auf Henri Poincaré, Wissenschaft und Hypothese. Leipzig: Teubner 1906, S. 49-52. Vgl. ebd., S. 51f.: „Was soll man dann aber von der folgenden Frage denken: Ist die Euklidische Geometrie richtig? Die Frage hat keinen Sinn. […] Eine Geometrie kann nicht richtiger sein wie eine andere; sie kann nur bequemer sein. Und die Euklidische Geometrie ist die bequemste und wird es immer bleiben […]'.</p></note>Poincaré hätte für seine Äquivalenzbeweise <lb/>die Riemannsche Geometrie ausgeschlossen. Das trifft für die von Ihnen an-<lb/>geführte Stelle in "Wissenschaft und Hypothese" zu, nicht aber für die Parallelstellen in "Wert der Wissenschaft" und "Wissenschaft und Methode" <note id="id7631544" n="5"><p type="main" id="id7631616"> Henri Poincaré, Wissenschaft und Methode. Leipzig: Teubner 1914. Vgl. ebd., S. 102: „Man sieht, daß, wenn die Geometrie keine Experimentalwissenschaft ist, sie doch eine im Zusammenhange mit der Erfahrung entstandene Wissenschaft ist; daß wir den Raum, den diese Wissenschaft studiert hat, erschaffen haben, indem wir den Raum der Welt, in der wir leben, anpaßten. Wir wählten den Raum, der uns am bequemsten schien.'</p></note>. <lb/>Hier behauptet er, und nach meiner Meinung mit vollem Recht, die Willkür-<lb/>lichkeit der Geometrie ganz allgemein (was sogar schon Helmholtz getan hat <note id="id7631832" n="6"><p type="main" id="id7631904"> Vgl. Hermann von Helmholtz, „Ueber den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome', in: ders., Vorträge und Reden, Braunschweig: Vieweg 1896, S. 1-31.</p></note>). <lb/>In der Tat kann man die physikalischen Gesetze stets so wählen, daß sie mit <lb/>jeder Geometrie in Einklang bleiben. Man gelangt zwar zu einer verrückten <lb/>Physik mit ev. tollen Deformationen der Körper - aber es ist doch nötig zu <lb/>betonen, daß darin prinzipiell keine Unmöglichkeit liegt und ich vermag <lb/>mit Poincaré kein anderes Motiv zu finden, daß uns von einer derartigen In-<lb/>terpretation der Wirklichkeit abhält als den Gesichtspunkt der <emph type="underline">Einfachheit</emph>.<lb/></p> <p type="main" id="id7632552">Daß die Relativitätstheorie die Falschheit der Euklidischen Geometrie <lb/>behauptet, heißt doch (dies zu S.3 unten): <emph type="underline">wenn</emph> wir nur den Begriff der re-<lb/>lativen Bewegung in der Naturbeschreibung zulassen wollen, <emph type="underline">dann</emph> ist dies <lb/>mit Euklidischer Geo-<lb/>metrie unmöglich. Ist also einer auf Euklidische Geometrie versessen (ein echter Kantianer <emph type="underline" >müßte</emph> es sein, wie Sie sehr richtig <lb/>feststellen), so muß er die Rel.-Th. ablehnen. Darf er es nicht? Nur das <lb/>Prinzip der Einfachheit kann ihn daran hindern. Will er aber lieber dies <lb/>Prinzip aufgeben als die Eukl. Geometrie, so kann er auch diese seine Kon-<lb/>vention ohne Widerspruch durchführen; mit Hilfe einer sonderbaren absolu-<lb/>tistischen Physik könnte er Lichtablenkung, Perihelverschiebung usw. sicher-<lb/>lich erklären. Ihr Wortlaut auf S. 3 und 4 und in Anm. 2 steht dieser Auf-<lb/>fassung nicht direkt entgegen; ich bin aber Ihrer Meinung nicht ganz sicher. <lb/>Weyl (Raum, Zeit, Materie1, S.84 <note id="id7633704" n="7"><p type="main" id="id7633776"> Hermann Weyl, Raum, Zeit, Materie. 1. Aufl. Berlin: Springer 1918, §11, S. 84: „Wir werden bald sehen, dass es auf eine sehr einfache und völlig willkürlose Weise gelingt, beispielsweise die Gesetze des elektromagnetischen Feldes, die zunächst nur unter der Voraussetzung der Euklidischen Geometrie aufgestellt sind, auf den Riemannschen Raum zu übertragen. Ist dies aber geschehen, so kann sehr wohl die Erfahrung darüber entscheiden, ob der spezielle Euklidische Standpunkt aufrecht zu erhalten ist oder ob wir zu dem allgemeineren Riemannschen übergehen müssen.'</p></note>) bekämpft die Auffassung; Einstein selbst <lb/>hat mir vor Jahresfrist mündlich gegen Weyl und Hilbert recht gegeben. Ich <lb/>zweifle nicht, daß Sie sich in dieser Frage auf unsere Seite stellen.<lb/></p> <p type="main" id="id7634064">Die entscheidenden Stellen, an denen Sie den Charakter Ihrer apriori-<lb/>schen Zuordnungsprinzipien beschreiben, erscheinen mir geradezu als wohl-<pb/> gelungene Definitionen des Konventionsbegriffs. <emph type="underline">Welche</emph> Festsetzungen unse-<lb/>rer Naturwissenschaft zugrunde liegen, dies herauszufinden, ist in der Tat <lb/>eine Sache "allmählicher wissenschaftsanalytischer Arbeit" (S. 74) <note id="id7634496" n="8"><p type="main" id="id7634568"> Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori. Berlin: Springer 1920, S. 74.</p></note>. Beson-<lb/>ders das gesperrt Gedruckte auf S. 85 <note id="id7634712" n="9"><p type="main" id="id7634784" > Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori. Berlin: Springer 1920, S. 85: „Nicht darin drückt sich der Anteil der Vernunft aus, dass es unveränderte Elemente des Zuordnungssystems gibt, sondern darin, dass willkürliche Elemente im System auftreten.'</p></note>scheint mir eine vortreffliche Bestä-<lb/>tigung zu sein. Ich fürchte nicht, daß Sie einwerfen könnten, die Konven-<lb/>tionslehre müsse auch von der Hypothese Gebrauch machen, die Sie implizit <lb/>ins Kants Philosophie finden (S. 5) <note id="id7647424" n="10" ><p type="main" id="id7647496"> Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori. Berlin: Springer 1920, S. 5.</p></note>. Es sind ja nur solche Konventionen <lb/>gestattet, die sich in ein gewisses System von Prinzipien einfügen, und <lb/>dies System <emph type="underline">als Ganzes</emph> wird durch die Erfahrung bestimmt; die Willkür kommt <lb/>erst bei der Art seines Aufbaus hinein und wird gelenkt durch das Prinzip <lb/>der Einfachheit, der Ökonomie, oder, wie ich lieber gesagt habe, das Prin-<lb/>zip des Minimums der Begriffe. Hier scheint mir eine kleine Lücke in Ihrer <lb/>Schrift vorhanden zu sein, die nicht ohne Folgen bleibt: von dem Erkenntnis-<lb/>begriff berücksichtigen Sie explizite nur die <emph type="underline">eine</emph> Seite, die Zuordnung, <lb/>und vernachlässigen darüber ein wenig die andere, daß die Zuordnung durch <lb/>möglichst wenige und folglich möglichst allgemeine Begriffe geleistet wer-<lb/>den soll. Das ist zwar bei Ihnen selbstverständliche Voraussetzung, da Sie <lb/>von vornherein nur die exakt-naturwissenschaftliche Begriffsbildung ins <lb/>Auge fassen: der größte Teil menschlicher Erkenntnis ist aber nicht von dies-<lb/>er Art, und läßt sich doch dem allgemeinen Wahrheitsbegriff unterordnen.<lb/></p> <p type="main" id="id7648720">Was Sie über die Möglichkeit der Erweiterung dieses Wahrheitsbegriffs <lb/>sagen, will mir nicht recht einleuchten. Ich denke folgendermaßen. Nachdem <lb/>man durch Zergliederung der Erkenntnis festgestellt hat, daß darunter <lb/>eindeutige Bezeichnung durch ein Minimum von Begriffen verstanden wird, <lb/>ist es weder "auffallend", noch deutet es auf eine "notwendige menschliche <lb/>Veranlagung" (Anm. 27) <note id="id7649152" n="11"><p type="main" id="id7649224"> Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori. Berlin: Springer 1920, S. 109f., Anm. 27.</p></note>, daß Eindeutigkeit der Zuordnung zur Erkenntnis ge-<lb/>hört, sondern dies ist ein schlichtes analytisches Urteil, wie etwa der <lb/>Satz, daß Fieber mit Temperaturerhöhung verbunden ist. Mir ist daher nicht <lb/>klar, wieso die "Eindeutigkeit" bei mir ein "synthetisches Urteil a priori" <lb/>sein soll. Ob man unter Umständen auch da noch von Erkenntnis sprechen soll, <lb/>wo Eindeutigkeit der Zuordnung fehlt, ist eine reine Zweckmäßigkeitsfrage. <lb/>So vermag ich nicht zuzugeben, daß ich, indem ich diese Frage nicht stell-<lb/>te, den fehlerhaften Teil der Kantschen Lehre übernommen hätte. Eine andere <lb/>Frage ist es, ob der von Ihnen fingierte Fall (Form der Konstanten C + kα) <lb/>es wirklich nahe legen würde, den Erkenntnisbegriff auf Fälle mangelnder <lb/>Eindeutigkeit auszudehnen (S. 79 f.) <note id="id7650016" n="12"><p type="main" id="id7650088"> Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori. Berlin: Springer 1920, S. 79.</p></note>Auch dies scheint mir nicht zweckmäßig. <lb/>Man kann hier zwei Standpunkte einnehmen. Entweder man fordert als Merkmal <lb/>der Eindeutigkeit mit Ihnen die Möglichkeit der Verifikation, d.h. das Zu-<lb/>sammentreffen zweier Überlegungsketten: dann erscheint es mir durchaus kon-<lb/>sequent und zulässig, von Erkenntnis auch nur dort zu reden, wo eine <emph type="underline">Vor-</emph><lb/> <emph type="underline">aussage</emph> möglich ist. Man dürfte mit vollem Recht behaupten, eine eigentli-<lb/>che Erkenntnis der Größe C + kα gebe es in den fraglichen Fällen <emph type="underline">nicht</emph>. In <lb/>dem Beispiel S. 81 Zeile 8 ff wäre es durchaus natürlich, zu sagen, nur der <lb/>"Gesamtvorgang", nicht die Einzelgrößen, seien erkennbar. Oder man könnte <lb/>zweitens die Eindeutigkeit nach Einführung der Konstanten in der Form C + kα <lb/>als gewahrt ansehen. Sie halten dies für unzulässig, weil ihr Wert nur nach-<lb/>träglich, nicht auf mehreren Wegen, aus der Beobachtung bestimmt werden <lb/>könnte. Man kann aber auch sagen: eben darum ist auch kein Widerspruch gegen<pb/> den einmal bestimmten Wert möglich, und man kann die Zuordnung deshalb <lb/>ex definitione als eindeutig ansehen. In diesem Falle ist also die Defi-<lb/>nition der Wahrheit als eindeutiger Zuordnung wohl aufrecht zu erhalten. <lb/>Ob es in einer Welt, in der eine solche Zuordnung nicht möglich ist, prakt-<lb/>isch werden kann, einen Erkenntnisbegriff auf andere Weise zu definieren -<lb/>diese Frage braucht uns kaum zu beunruhigen.<lb/></p> <p type="main" id="id7651808">Daß Kant mit der Aufstellung seiner Kategorieen im Grunde nicht mehr <lb/>behauptet hätte, als daß alle Erkenntnis unserm Wahrheitsbegriff gemäß <lb/>sein müßte, will mir nun gar nicht einleuchten. Seine Behauptungen sind viel-<lb/>mehr durchaus synthetischer Natur, während ich nur entwickelte, was analy-<lb/>tisch aus meinem Erkenntnisbegriff folgt. Deswegen scheint es mir auch ganz <lb/>unerlaubt, meine Charakterisierung der Erkenntnis mit Kants Analyse der Ver-<lb/>nunft (welche zur Auffindung synthetischer Sätze führt) zu vergleichen. <lb/>Meine gegen Kant gerichteten "Beweise" wollen nicht die Existenz von Zuord-<lb/>nungsprinzipien mit konstitutiver Bedeutung leugnen - und ich finde nach <lb/>sorgfältiger Lektüre der in Betracht kommenden Stellen nicht einmal, daß <lb/>meine Ausführungen diese Interpretation sehr nahe legen. Sie wenden sich <lb/>vielmehr nur gegen Kants Meinung, <emph type="underline">seine</emph> Prinzipien seien die <emph type="underline">unumgänglichen</emph> <lb/>(evidenten, notwendigen) Grundlagen. Dem widerspricht auch nicht, daß nach <lb/>meiner Ansicht die "Relationen" bereits anschaulich vorgefunden werden, denn <lb/>diese müssen ja begrifflich-quantitativ beschrieben werden, und dann setzt <lb/>sofort die Konvention ein, dann kommen die konstitutiven Prinzipien ins <lb/>Spiel. Ich habe, wie schon bemerkt, den didaktischen Fehler gemacht, die <lb/>Kritik zu wenig durch positive Ausführungen zu ergänzen. In der geplanten <lb/>"Naturphilosophie" sollte der Aufbau deutlicher werden.<lb/></p> <p type="main" id="id7653392">Ein Punkt verdient vielleicht noch mit einigen Worten berührt zu <lb/>werden. Wenn Sie S. 40 <note id="id7653536" n="13"><p type="main" id="id7653608"> Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori. Berlin: Springer 1920, S. 40.</p></note>zu dem Schluß kommen, daß bei der Zuordnung die de-<lb/>finierte und die undefinierte Seite sich wechselseitig bestimmen, so ver-<lb/>mag ich dies doch nicht streng anzuerkennen. Ich glaube, daß nur die un-<lb/>definierte Seite, durch Vermittlung der Wahrnehmung, die begriffliche Sei-<lb/>te bestimmt, nicht aber umgekehrt. Jene Lehre scheint mir darauf zurückzu-<lb/>führen zu sein, daß man so leicht den Begriff der Wirklichkeit mit der <lb/>Wirklichkeit selbst verwechselt... ein Schein, dem die Marburger Neukanti-<lb/>aner zum Opfer gefallen sind. Die Festlegung der Länge eines Stabes (S.38) <note id="id7654184" n="14"><p type="main" id="id7654256"> Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori. Berlin: Springer 1920, S. 38.</p></note><lb/>scheint mir z.B. nicht zur Definition des wirklichen Stabes zu gehören -<lb/>das Wirkliche ist immer jenseits aller Definition - sondern sie ist Bestim-<lb/>mung eines Merkmals unseres <emph type="underline">Begriffes</emph> von dem Stabe. Begriffe fügen sich <lb/>wohl nicht zu Abläufen zusammen (S. 47 <note id="id7654688" n="15"><p type="main" id="id7654760"> Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori. Berlin: Springer 1920, S. 47.</p></note>oben), sondern zu Begriffen von Ab-<lb/>läufen.- Zu S. 40 <note id="id7654904" n="16"><p type="main" id="id7654976"> Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori. Berlin: Springer 1920, S. 40.</p></note>noch schnell die Bemerkung (wenn Sie diese Pedanterie <lb/>vergeben wollen), daß Berkeley's Standpunkt m.E. nicht als Solipsismus <lb/>bezeichnet werden darf.<lb/></p> <p type="main" id="id7655264">Die allerletzten Seiten Ihres Büchleins, die von der Vorstellbarkeit <lb/>des Riemannschen Raumes handeln, scheinen mir nicht mit der gleichen Gründ-<lb/>lichkeit geschrieben zu sein wie das übrige. (Verzeihen Sie diese Bemerkung: <lb/>sie ist auch auf den letzten § meiner Erkenntnislehre anwendbar. Mir wurde <lb/>während seiner Niederschrift immer mehr bewußt, daß die Behandlung des In-<lb/>duktionsproblems eigentlich ein besonderes Buch erfordere, und so habe ich <lb/>mich mit teilweise recht unzulänglichen Wendungen - z.B. über die Wahrschein-<pb/>lichkeit begnügt). Also wie steht es mit der <emph type="underline">Evidenz</emph> der Euklidischen <lb/>Geometrie? Ich halte das Problem nicht für so dunkel wie Sie. Die Eukli-<lb/>dische Gemometrie gilt m.E. für den Durchschnittsmenschen aus genau dem-<lb/>selben Grunde, aus dem sie für den mit den feinsten Hilfsmitteln beobach-<lb/>tenden Astronomen <emph type="underline" >nicht</emph> gilt. Jeder von beiden wendet <emph type="underline">die</emph> Mathematik an, <lb/>die für seine Zwecke die bequemste ist. Den psychologischen Räumen der <lb/>verschiedenen Sinne fehlt noch die Euklidische Struktur; sie entsteht erst <lb/>beim Übergang zum physischen Raumbegriff. Man darf nur nicht vergessen <lb/>(ich glaube es deutlich hervorgehoben zu haben), daß dieser Übergang kei-<lb/>neswegs erst in der wissenschaftlichen Physik stattfindet, sondern schon <lb/>in den alltäglichen Erfahrungen des Maurers, Schreiners, Straßenbauers, <lb/>oder vielmehr jedes überhaupt seine Gliedmaßen gebrauchenden Menschen. <lb/>Sein Raum ist nur deshalb euklidisch, weil eben die Alltags-Physik eukli-<lb/>disch ist, d.h. unter Benutzung der Euklidischen Geometrie zu den einfach-<lb/>sten Gesetzmäßigkeiten führt. Die "Evidenz" der euklidischen Sätze ist <lb/>wohl nichts als das Buewußtsein, durch ihre Hilfe mit der physischen Welt <lb/>am leichtesten fertig zu werden. Daß die bequemste Axiome sich dem Be-<lb/>wußtsein mit großer Kraft aufdrängen und ihm Erkenntnis bedeuten, dies <lb/> ist eben der Sinn des Prinzips der Einfachheit, der Ökonomie. Dem Abgehen <lb/>von den euklidischen Sätzen widerstrebt in der Tat die Gewöhnung, und sie <lb/>ist, gleich der Ökonomie, wirklich eine Macht, nicht bloß ein "Schlagwort". <lb/>Es handelt sich eben <emph type="underline">doch</emph> um Assoziationen (wenn auch nicht um "ausgefah-<lb/>rene Assoziationsketten"! S. 101 <note id="id7665968" n="17" ><p type="main" id="id7666040"> Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori. Berlin: Springer 1920, S. 101.</p></note>), um Verknüpfungen von Wahrnehmungen und <lb/>Bewegungen. Dies hat wieder der von Ihnen so wenig berücksichtigte Poin-<lb/>caré sehr schön dargetan, der überhaupt in dieser Frage m.E. Entscheiden <lb/>des geleistet hat. Er hat völlig überzeugend entwickelt, daß wir eine un-<lb/>mittelbare Anschauung z.B. von einer geraden Linie entgegen der Evidenz-<lb/>theorie überhaupt nicht besitzen, sondern diejenigen Linien "gerade" <lb/>nennen, denen eine ausgezeichnete physikalische Wichtigkeit zukommt (etwa <lb/>Lichtstrahlen). Die Psychologie findet eben einen wesentlichen Punkt des <lb/>Problems schon durch die Physik des Alltags erledigt vor. Der Gedanke <lb/>"in uns liegender geometrischer Bilder" (S. 101, 102) <note id="id7666760" n="18"><p type="main" id="id7666832"> Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori. Berlin: Springer 1920, S. 101f.</p></note>scheint mir danach <lb/>höchst fragwürdig; der Verstand hat kein "mitgebrachtes System" (S.69) <note id="id7666976" n="19"><p type="main" id="id7667048"> Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori. Berlin: Springer 1920, S. 69.</p></note>, <lb/>es gibt kein "evidentes System der Vernunft" (ebenda). Ich hoffe zuversicht-<lb/>lich, daß Sie in der Frage der Evidenz der Geometrie schließlich zu einer <lb/>Modifikation Ihrer Ansicht gelangen werden. Einstein glaubt (nach mündli-<lb/>cher Mitteilung), daß man in der Schule der Zukunft die Anfänge der Geo-<lb/>metrie so in ihrer Abhängigkeit von physischen Erfahrungen lehren wird, <lb/>daß die euklidischen Axiome ihre ausgezeichnete Stellung von vornherein <lb/>einbüßen. Ich zweifle nicht, daß er recht hat.<lb/></p> <p type="main" id="id7680048">Zum Schluß noch ein Wort über den "Psychologismus". Versteht man <lb/>darunter (dies würde mir historisch am besten gerechtfertigt erscheinen) <lb/>die Lehre, daß die logischen Regeln eine Art psychologischer Gesetzmäßig-<lb/>keit wären, so gibt es sicherlich keine verkehrtere Anschauung, und ich <lb/>bin ganz gewiß nicht Psychologist in diesem Sinne. Will man aber auch schon <lb/>die Behauptung als Psychologismus charakterisieren, daß alle unsere Fest-<lb/>stellungen ohne Ausnahme nicht möglich wären ohne gewisse psychologische <lb/>Voraussetzungen, so sehe ich nicht, wie man <emph type="underline">diesem</emph> Psychologismus ent-<pb/> fliehen kann. Es heißt, scheint mir, vor sich selbst Verstecken spielen, <lb/>wenn man z.B. nicht anerkennen wollte, daß die Sätze "es gibt Konstanten <lb/>in der Welt" und "es gibt Erlebnisse der Gleichheit" für uns eben doch <lb/>äquvalent sind. Das Logische ist ein Letztes, aber das Psychologische <lb/>auch, eins läßt sich nicht auf das andere gründen.<lb/></p> <p type="main" id="id7681128">Genug für heute. Vielleicht habe ich Ihre Geduld schon zu viel in <lb/>Anspruch genommen. Ich wäre Ihnen außerordentlich dankbar, wenn Sie mir <lb/>auf die einzelnen Punkte ausführlich antworten wollten, denn mir liegt <lb/> wirklich sehr viel an der Aufklärung dieser Dinge und ich glaube, daß <lb/>aus unserm Meinungsaustausch ein wissenschaftlicher Nutzen entspringen <lb/>kann. Überaus erwünscht wäre es mir ferner, Ihre Gegenäußerung so bald <lb/>wie nur möglich zu erhalten. Ich bin nämlich bereits von zwei Zeitschrif-<lb/>ten gebeten worden, zu Ihrer Schrift im Druck Stellung zu nehmen, und da <lb/>möchte ich mich gern von Ihnen vorher über die zweifelhaften Punkte auf-<lb/>klären lassen, um Ihnen nicht etwa Unrecht zu tun.<lb/></p> <p type="main" id="id7681920">Prof. Révész <note id="id7681992" n="20"><p type="main" id="id7682064"> Gezá Révész, Psychologe (geb. 9. Dezember 1878 in Siófok, gest. 19. August 1955 in Amsterdam).</p></note>hält sich jetzt in Heidelberg auf. Die Absicht einer <lb/>Habilitation in Stuttgart schien er mir nach seinen Äußerungen gänzlich <lb/>aufgegeben zu haben. Kürzlich erhielt ich aber einen Brief von ihn, in <lb/>dem er mich bat, Ihnen mitzuteilen, daß er doch nächstens nach Stuttgart <lb/>reisen wolle, um ev. die Angelegenheit vorzubereiten. Ich bitte Sie also, <lb/>davon Kenntnis zu nehmen. Oder ist er vielleicht inzwischen schon da ge-<lb/>wesen?<lb/></p> <p type="salutation" id="id7682640">Mit herzlichen kollegialen Grüßen<lb/></p> <p type="salutation" id="id7682784">Ihr sehr ergebener<lb/></p> <p type="salutation" id="id7682928">M. Schlick</p> </body> </text> </archimedes>